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Einleitung
Aus einem Zeitungsbericht:
"Die
zum Tode Verurteilten können frei darüber entscheiden, |
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Weil über sie verfügt ist.
Auch wir können frei darüber entscheiden, ob wir uns unser Heute als Bombenexplosion oder als Bobsleighrennen servieren lassen. Weil über uns, die wir diese freie Wahl treffen, weil über unsere freie Wahl, bereits verfügt ist. Denn daß wir als Rundfunk-, bzw. Fernsehkonsumenten die Wahl zu treffen haben: als Wesen also, die dazu verurteilt sind, statt Welt zu erfahren, sich mit Weltphantomen abspeisen lassen; und die Anderes, selbst andere Arten von Wahlfreiheit, schon kaum mehr wünschen, andere sich vielleicht schon nicht einmal mehr vorstellen können — darüber ist bereits entschieden.
Als ich diesen Gedanken auf einer Kulturtagung ausgesprochen hatte, kam der Zwischenruf, schließlich habe man doch die Freiheit, seinen Apparat abzustellen, ja sogar die, keinen zu kaufen; und sich der "wirklichen Welt" und nur dieser zuzuwenden.
Was ich bestritt. Und zwar deshalb, weil über den Streikenden nicht weniger verfügt ist als über den Konsumierenden: ob wir nämlich mitspielen oder nicht — wir spielen mit, weil uns mitgespielt wird. Was immer wir tun oder unterlassen — daß wir nunmehr in einer Menschheit leben, für die nicht mehr "Welt" gilt und Welterfahrung, sondern Weltphantom und Phantomkonsum, daran ist ja durch unseren Privatstreik nichts geändert: diese Menschheit ist nun die faktische Mitwelt, mit der wir zu rechnen haben; und dagegen zu streiken, ist nicht möglich.
Aber auch die sogenannte "wirkliche Welt", die der Geschehnisse, ist durch die Tatsache ihrer Phantomisierung bereits mitverändert: denn diese wird ja bereits weitgehend so arrangiert, daß sie optimal sende-geeignet ablaufe, also in ihrer Phantom-Version gut ankomme. — Vom Wirtschaftlichen ganz zu schweigen. Denn die Behauptung, "man" habe die Freiheit, derartige Apparate zu besitzen oder nicht, zu verwenden oder nicht, ist natürlich reine Illusion.
Durch freundliche Erwähnung der 'menschlichen Freiheit' läßt sich das Faktum des Konsumzwanges nicht aus der Welt schaffen; und daß gerade in demjenigen Lande, in dem die Freiheit des Individuums großgeschrieben wird, gewisse Waren "musts", also 'Muß-Waren' genannt werden, verweist ja nicht gerade auf Freiheit. Diese Rede von 'musts' ist aber vollkommen berechtigt: denn das Fehlen eines einzigen solchen "must" -Geräts bringt die gesamte Lebensapparatur, die durch die anderen Geräte und Produkte festgelegt und gesichert wird, ins Wanken; wer sich die 'Freiheit' herausnimmt, auf eines zu verzichten, der verzichtet damit auf alle und damit auf sein Leben. "Man" könnte das? Wer ist dieses 'man'?
Was von diesen Geräten gilt, gilt mutatis mutandis von allen. Daß sie noch "Mittel" darstellen, davon kann keine Rede sein. Denn zum "Mittel" gehört wesensmäßig, etwas Sekundäres zu sein; das heißt: der freien Zielsetzung nachzufolgen; ex post, zum Zwecke der "Vermittlung" dieses Ziels, eingesetzt zu werden.
Nicht "Mittel" sind sie, sondern "Vorentscheidungen": Diejenigen Entscheidungen, die über uns getroffen sind, bevor wir zum Zug kommen. Und, genau genommen, sind sie nicht "Vorentscheidungen"; sondern die Vorentscheidung.
Jawohl, die. Im Singular. Denn einzelne Geräte gibt es nicht. Das Ganze ist das Wahre. Jedes einzelne Gerät ist seinerseits nur ein Geräte-Teil, nur eine Schraube, nur ein Stück im System der Geräte; ein Stück, das teils die Bedürfnisse anderer Geräte befriedigt, teils durch sein eigenes Dasein anderen Geräten wiederum Bedürfnisse nach neuen Geräten aufzwingt. Von diesem System der Geräte, diesem Makrogerät, zu behaupten, es sei ein "Mittel", es stehe uns also für freie Zwecksetzung zur Verfügung, wäre vollends sinnlos. Das Gerätesystem ist unsere "Welt" . Und "Welt" ist etwas anderes als "Mittel". Etwas kategorial anderes. —
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Es gibt nichts Prekäreres heute, nichts, was einen Mann so prompt unmöglich machte, wie der Verdacht, er sei ein Maschinenkritiker. Und es gibt keinen Platz auf unserem Globus, auf dem die Gefahr, in diesen Verdacht zu geraten, geringer wäre als auf einem anderen. In dieser Hinsicht sind sich Detroit und Peking, Wuppertal und Stalingrad heute einfach gleich.
Und gleich sind in dieser Hinsicht auch alle Gruppen: Denn in welcher Klasse, in welchem Interessenverband, in welchem sozialen System, im Umkreis welcher politischen Philosophie auch immer man sich die Freiheit herausnimmt, ein Argument über "entwürdigende Effekte" dieses oder jenes Gerätes vorzubringen, automatisch zieht man sich' mit ihm den Ruf eines lächerlichen Maschinenstürmers zu, und automatisch verurteilt man sich damit zum intellektuellen, gesellschaftlichen oder publizistischen Tode. Daß die Angst vor dieser automatischen Blamage den meisten Kritikern die Zunge lahmt, und daß eine Kritik der Technik heute bereits eine Frage von Zivilcourage geworden ist, ist also nicht erstaunlich. Schließlich (denkt der Kritiker) kann ich es mir nicht leisten, mir von jedermann (von Lieschen Müller bis hinauf zur computing machine) sagen zu lassen, ich sei der einzige, der der Weltgeschichte in die Speichen falle, der einzige Obsolete und weit und breit der einzige Reaktionär. Und so hält er seinen Mund.
Jawohl, um nicht als Reaktionär zu gelten.
Auf der soeben schon erwähnten Tagung ist dem Schreiber das Folgende passiert:
Er schilderte, im Zusammenhang mit dem, was er <post-literarisches Analphabetentum> nennt, die globale Bilderflut von heute:
die Tatsache, daß man den heutigen Menschen, und zwar überall, mit allen Mitteln der Reproduktionstechnik:
mit illustrierten Blättern, Filmen, Fernsehsendungen,
zum Angaffen von Weltbildern, also zur scheinbaren Teilnahme an der ganzen Welt (bzw. an dem, was ihm als "ganze" gelten soll) einlade;
und zwar um so generöser einlade, je weniger man ihm Einblick in die Zusammenhänge der Welt gewähre, je weniger man ihn zu den Hauptentscheidungen über die Welt zulasse; daß man ihm, wie es in einem molussischen Märchen heißt, "die Augen stopfe":
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ihm nämlich um so mehr zu sehen gebe, je weniger er zu sagen habe; daß die "Ikonomanie", der man ihn durch diese systematische Überflutung mit Bildern erzogen habe, schon heute alle diejenigen unerfreulichen Züge des Voyeurtums aufweise, die wir mit diesem Begriff, im engeren Sinne, zu verbinden gewohnt seien; daß Bilder, namentlich dann, wenn sie die Welt überwucherten, stets die Gefahr in sich trügen, zu Verdummungsgeräten zu werden, weil sie, qua Bilder, im Unterschied zu Texten, grundsätzlich keine Zusammenhänge sichtbar machten, sondern immer nur herausgerissene Weltfetzen: also, die Welt zeigend, die Welt verhüllten.
Nachdem der Verfasser diesen Gedankengang ausgeführt hatte — in reiner Darstellung wohlgemerkt, ohne alle therapeutischen Vorschläge — geschah es also, daß er, und zwar von einem Vertreter des juste milieu, ein "romantischer Reaktionär" genannt wurde.
Diese Apostrophierung machte ihn einen Augenblick lang stutzig, denn als Reaktionär verdächtigt zu werden, ist ihm keine gerade vertraute Situation. Aber doch nur einen Augenblick lang, denn der Zwischenrufer verriet in der nun einsetzenden Diskussion sofort, was er mit seiner Apostrophierung gemeint hatte. "Wer derartige Phänomene und Effekte ausdrücklich ins Licht rückt", erläuterte er nämlich, "der kritisiert. Wer kritisiert, der stört sowohl den Entwicklungsgang der Industrie wie den Absatz des Produktes; mindestens hat er die naive Absicht, solche Störung zu versuchen. Da aber der Gang der Industrie und der Absatz auf jeden Fall vorwärtsgehen soll (oder etwa nicht?), ist Kritik eo ipso Sabotage des Fortschritts; und damit eben reaktionär."
Daß diese Erklärung etwas an Deutlichkeit übriggelassen habe, darüber konnte ich nicht klagen. Besonders instruktiv an ihr schien mir, daß sie die robuste Wiederauferstehung des Fortschrittsbegriffes bewies, von dem man unmittelbar nach der Katastrophe 45 den Eindruck gehabt hatte, daß er im Eingehen begriffen war; und daß sie zeigte, daß dieser Begriff, der früheren Restaurationsepochen ein Dorn im Auge gewesen war, nun zum Argument der prosperierenden Restauration selbst geworden war. — Was aber das Epitheton "romantisch" betrifft, so bequemte sich der Zwischenrufer, da ich nicht lockerließ, schließlich zu der Antwort, meine "Romantik" bestünde darin, daß ich "offensichtlich stur auf einem humanen Begriffe des Menschen insistierte".
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Die arglos vorgebrachte Verbindung von "stur" und "human", die stillschweigend gemachte Unterstellung, daß der Mensch auch anders als eben "human" bestimmt werden könnte, und schließlich die Tatsache, daß diese Antwort nicht einen Teilnehmer im Diskussionskreise verblüffte, gab dem Zwischenfall für mein Gefühl eine ziemlich schauerliche Pointe.
Gewiß, anderswo ist mir ähnliches auch schon passiert.
Aber mir scheint doch, daß sich die Gleichung von <kritisch> und <reaktionär> in Deutschland größerer Beliebtheit erfreut, als in anderen Ländern; und zwar deshalb, weil dort die Prinzipien jenes Regimes, das Kritik durch Liquidierung der Kritiker überhaupt abgeschafft hatte, teils rudimentär noch, teils keimhaft schon wieder existieren; jedenfalls nicht tot sind.
Es ist ja bekannt, daß die Identifizierung von "Kritik" und "Reaktion", die Anprangerung des Kritikers als reaktionären Saboteurs, zur ideologischen Taktik des Nationalsozialismus gehört hatte; der beliebte Ausdruck "Nörgler" schillerte ja in der Tat nach beiden Seiten. Durch die Identifizierung ehrte die "Bewegung" sich selbst, nämlich als Fortschrittsbewegung: denn wenn sie Kritik als eo ipso reaktionär hinstellte, ergab sich ja notwendigerweise, daß deren Gegenstand, also das Regime selbst, fortschrittlich sein mußte.* Und sehr viel anders hatte es der Zwischenrufer auch nicht gemeint.
Aber übertreiben wir nicht die heute für eine Kritik der Technik erforderliche Zivilcourage. Daß wir es sind, die das Problem der Maschinenstürmerei wieder aufnähmen, davon kann keine Rede sein. Die Debatte ist längst schon wieder in Gang. Denn was wäre denn z.B. die nun schon seit einem Jahrzehnt laufende Diskussion für oder gegen die Abschaffung der Atombombe anderes als eine Debatte über die eventuelle Zerstörung eines Gerätes? Nur umgeht man eben die direkten Assoziationen und diejenigen Vokabeln, die zu deutlich machen könnten, wovon man spricht.
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Denn jeder schämt sich ja vor jedem, sich dem Verdacht der Maschinenstürmerei auszusetzen: der Wissenschaftler vor dem Laien, der Laie vor dem Wissenschaftler, der Ingenieur vor dem Politiker, der Politiker vor dem Ingenieur, der Linke vor dem Rechten, der Rechte vor dem Linken, der Westen vor dem Osten, der Osten vor dem Westen — wahrhaftig, es gibt kein Tabu, das in so globaler Übereinstimmung anerkannt wäre wie das des "Maschinensturms": eine Übereinstimmung, die einer besseren Sache würdig wäre.
Wenn ich aber sage: "Die Debatte ist längst schon wieder in Gang", so meine ich nicht etwa, daß sie sich heimlich an die Argumente des klassischen Kampfes, etwa aus der "Weber"-Zeit, anschließen könnte. Denn dieses Mal — und darin besteht der fundamentale Unterschied zwischen dem Maschinensturmproblem unserer heutigen industriellen Revolution und dem der vorigen — dieses Mal handelt es sich keineswegs um eine Debatte zwischen Vertretern zweier verschiedener Produktionsstufen.
Wer heute durch die Maschinen gefährdet ist, ist ja nicht der Handwerker (den gibt es ja im klassischen Sinne kaum mehr; und die Idee eines Heimarbeiters, der revoltierte, weil er seine Fernseh-Geräte oder seine Wasserstoffbombe weiter zuhause herstellen möchte, ist eine Abstrusität); auch nicht nur der Fabrikarbeiter, dessen "Entfremdung" ja seit einem Jahrhundert gesehen wird; sondern jedermann; und zwar jedermann deshalb, weil jedermann effektiv Konsument, Verwender und virtuelles Opfer der Maschinen und Maschinenprodukte ist.
Ich sage: der Produkte: denn nicht wer herstellt, ist heute der springende Punkt; auch nicht, wie die Herstellung vor sich gehe; noch nicht einmal, wieviel hergestellt wird; sondern — und damit sind wir bei dem zweiten fundamentalen Unterschied zwischen der damaligen Gefahr und der heutigen: was hergestellt wird. Während es damals nicht die Erzeugnisse qua Erzeugnisse waren, die kritisiert wurden; jedenfalls bestimmt nicht in erster Linie; und der Kampf fast ausschließlich der, den Klein- oder gar Heimbetrieb ruinierenden, Konkurrenzlosigkeit der maschinellen Herstellung galt, ist es diesmal das hergestellte Produkt selbst, das zur Debatte steht: z.B. die Bombe; oder auch der heutige Mensch, der ja (da er seine Erzeugung, mindestens seine, ihn total alterierende, Prägung als Konsument industriell hergestellter Welt- und Meinungsbilder erfährt) gleichfalls Produkt ist.
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Das Thema hat also mit der Ablösung einer veralteten Produktionsart durch eine neue, mit Konkurrenz zwischen Arbeitstypen, primär nichts mehr zu tun; der Kreis derer, die von ihm betroffen sind, ist ungleich größer als damals; das Thema hat sich neutralisiert; es läuft quer durch alle Gesellschaftsgruppen: Den Unterschied zwischen einem großbourgeoisen Fernseh-Problem und einem middleclass-Fernseh-Problem müßte man an den Haaren herbeiziehen; ein middleclass-Atombomben-Problem von einem proletarischen zu unterscheiden, wäre vollkommen absurd.
Und so quer wie es durch die Klassen läuft, läuft das Problem durch die Länder und die Erdteile. "Vorhänge" sind ihm unbekannt. Hüben wie drüben ist die Frage der Verwandlung oder Liquidierung des Menschen durch seine eigenen Produkte brennend, gleich ob man die Flammen sieht oder nicht; gleich ob man sie — vom Löschen zu schweigen — diskutiert oder nicht. Wie unglaubhaft oder, gemessen am gegenwärtigen politischen Kälteklima, wie veraltet es auch klingen mag: Im Vergleich mit diesen Problemen ist die Differenz zwischen den politischen "Philosophien" der beiden (sich zu Unrecht "frei", einander zu Recht "unfrei" nennenden) Welten bereits zu einer Differenz zweiten Ranges geworden.
Um diese Unterschiede scheren sich die psychologischen Effekte der Technik genau so wenig, wie es die Technik selbst tut. Und glaubt man nicht an die vorgestern formulierte "One World" -These — durch die Tatsache der hier wie dort konditionierten Seelen wird sie nicht weniger, und nicht weniger makaber, bestätigt als durch die Tatsache der um Grenzen unbekümmerten radiumverseuchten Atmosphäre. Was in den folgenden drei Aufsätzen diskutiert wird, ist also ein von allen Erdteilen, politischen Systemen oder Theorien, sozialen Programmen oder Planungen unabhängiges Phänomen; eines unserer Epoche, mithin ein epochales. Nicht was Washington oder Moskau aus der Technik macht, wird gefragt; sondern was die Technik aus uns gemacht hat, macht und machen wird, noch ehe wir irgendetwas aus ihr machen können. In keinem anderen Sinne, als Napoleon es vor 150 Jahren von der Politik, und Marx es vor 100 Jahren von der Wirtschaft behauptet hatte, ist die Technik nun unser Schicksal. Und ist es uns vielleicht auch nicht möglich, die Hand unseres Schicksals zu leiten, ihm auf die Finger zu sehen, darauf sollten wir nicht verzichten.
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Damit könnte ich nun eigentlich medias in res springen. Aber ehe ich den Sprung mache, möchte ich doch ein paar methodische Bemerkungen vorausschicken, richtiger: zwei Warnungen, die mir deshalb geboten scheinen, weil die nachfolgenden Aufsätze weder einfach literarische Essays sind noch philosophische Analysen in üblicher akademischer Manier, sondern Beispiele dessen, was man mit einem alten Ausdruck "Okkasionalismus", also "Gelegenheitsphilosophie" nennen könnte. Darunter verstehe ich etwas, was auf den ersten Blick wie ein Unding aussehen muß, wie eine hybride Kreuzung von Metaphysik und Journalismus: ein Philosophieren nämlich, das die heutige Situation, bzw. charakteristische Stücke unserer heutigen Welt zum Gegenstande hat; aber nicht nur zum Gegenstande, da es der opake und beunruhigende Charakter dieser Stücke selbst ist, der dieses Philosophieren recht eigentlich erst in Gang bringt. Aus der Hybridität des Vorhabens ergibt sich ein ungewohnter Stil der Darstellung.
Was dem Leser vor allem, und vermutlich unangenehm, auffallen wird, ist der ständige Perspektive-Wechsel, der ihm zugemutet wird: der Wechsel zwischen, Leibnizisch gesprochen, "verites de fait" und "verites de raison"; die Tatsache also, daß er aus der Erörterung aktuellster Erscheinungen (also der "Gelegenheiten") immer wieder, und zwar aufs Unerwartetste, in die Diskussion von Problemen hineingeworfen wird, die, (da sie eben "philosophische" Grundprobleme sind) mit den Gelegenheitsthemen unmittelbar nichts zu tun zu haben scheinen. So wird er z. B. bei der Lektüre des ersten Aufsatzes, der eine neue Spielart von Scham (die Scham des Menschen vor seinen "beschämend perfekten" Geräten) behandelt, plötzlich in ausführliche metaphysische Erörterungen über die "Nicht-Identität des Menschen mit sich selbst" hineingezogen werden.
Wo es irgend möglich war, habe ich solche Erörterungen zwar in den Anmerkungsapparat verwiesen, der dadurch nicht nur ziemlich umfangreich geworden ist, sondern nun zum großen Teil statt aus Nebenbemerkungen aus Hintergrundsgedanken, statt aus Beilagen aus Unterlagen besteht. Aber das durchweg zu tun, wäre nicht erlaubt gewesen, da die Untersuchungen eben beanspruchen, philosophisch zu sein; und die Relegierung des Philosophischen "unter den Strich" eine Akzentverschiebung dargestellt hätte, die auf eine Entstellung der Wahrheit herausgelaufen wäre.
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Wären die Aufsätze nur einzelwissenschaftliche Monographien, dann hätte der Leser natürlich recht, über unvermittelte Abschweifungen verstimmt zu sein. In der Philosophie aber bedeutet "Abschweifung" etwas anderes als in den Einzelwissenschaften oder gar als im Alltag; für den philosophischen Rigoristen sogar dessen Gegenteil.
Um zu verdeutlichen, was wir damit meinen, erteilen wir einem solchen Rigoristen das Wort; einem Mann also, der den Typ der hier versuchten "Gelegenheitsphilosophie" radikal ablehnt. "Wenn du", argumentiert dieser, "den Anspruch erhebst, wirklich zu philosophieren, dann können Spezial- oder gar Tagesprobleme für dich nicht mehr in Betracht kommen; so wenig wie für den Gläubigen beliebige creata in Betracht kommen können, oder für den Ontologen dies oder jenes nur-Ontische. Philosophie kennt keine wechselnden Menü-Karten; Zeiten oder Zeitungen existieren für sie nicht; und philosophische Monographien sind contradictiones in adjecto. Jede Beschäftigung mit einem Einzel- oder Tagesthema ist bereits Abschweifung. Durch Beschränkung auf Singulares oder gar Okkasionelles verzichtest du auf "das Allgemeine", verleugnest du "den Grund", blendest du "das Ganze" ab — oder wie immer du den Gegenstand der Philosophie nennen willst; und deinen Anspruch, Philosophie zu treiben, hast du verspielt."
"Du hast da", fährt er eilig fort (denn den heiklen Fragen, wo Philosophieren denn nun ansetzen dürfe, und worin dessen "Treiben" denn überhaupt bestehe, wenn jeder bestimmte Gegenstand seiner bereits unwürdig sei, versucht er zuvorzukommen) — "du hast da in deinem Versuche über "Rundfunk und Fernsehen" grundsätzliche Bemerkungen über das "Wesen des Bildes" eingeschaltet. Worin besteht deine Abschweifung? In dieser Einschaltung? Oder nicht vielmehr darin, daß du dich, statt "Kunstphilosophie überhaupt", nein, statt Philosophie schlechthin zu treiben, auf etwas singular-Empirisches, eben auf das Fernsehen, eingelassen und dieses zum angeblichen Gegenstand deines Philosophierens gemacht hattest? — Und da du damit in ein Revier vorgedrungen bist, das (abgesehen von seiner Unwürdigkeit) für den philosophischen Begriff unzugänglich ist, ist deine Abschweifung sogar "überspannt".
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Mißverstehe den Ausdruck nicht: ich meine ihn philosophisch. Was du "überspannt", das heißt: zu scharf angespannt hast, ist nämlich das Band, das, verankert in der Allgemeinheit des Begriffes, zwar mehr oder minder elastisch sein mag, dessen Elastizität aber nicht unbegrenzt ist, und das man nicht so auseinanderzerren kann, daß ihr loses Ende schließlich mit jeder kontingentesten individuellen Erscheinung, also etwa mit dem Fernsehen, in Kontakt gebracht werden könnte. Deine Abschweifung hat also bereits in deiner Themenstellung bestanden. — Deine Bemerkungen über das Wesen des Bildes eine "Abschweifung" zu nennen, wäre dagegen verfehlt. Denn durch sie hast du ja versucht, dem Singularen "auf den Grund" zu gehen: und von einer "Abschweifung zum Grunde" zu reden, wäre ja widersinnig. Sie war also kein philosophisches Vergehen, sondern umgekehrt ein Akt der Reue: der Reue vor dem Tribunal der Idee; ein Wiedergutmachungsversuch". — So der Rigorist.
Und nicht nur er. Mit ihm Warner aus zweiundeinhalb Jahrtausenden. Denn worin hätte die Leidenschaft der Philosophie, und zwar die der disparatesten Philosophen, denn bestanden, wenn nicht in der großartigen Abwendung vom Kontingenten, vom "mundus sensibilis", und in der Hinwendung zu "Eigentlichem", zum "mundus intelligibilis"? In der Tat ist dieser Dualismus, das heißt: die stillschweigende Unterstellung der Rechtmäßigkeit dieser Zweiteilung, die Metaphysik des Abendlandes gewesen, die allen Philosophen gemeinsame Metaphysik; die metaphysische Voraussetzung selbst der Empiristen, da diese ja, wenn sie sie nicht geteilt hätten, den Empirismus niemals als Prinzip und Grundlage hätten etablieren wollen. Von diesen Stimmen fortzuhören, ist in der Tat nicht möglich. Und die Tatsache, daß der Verfasser von der Schilderung der kontingenten und konkreten Epoche-Erscheinungen immer wieder abspringt, daß er immer wieder zurückspringt in grundsätzlichste Erörterungen, beweist ja, daß auch er sich der Warnung nicht einfach entziehen kann. Aber diese einfach befolgen kann er auch nicht.
Und zwar deshalb nicht, weil niemand sie befolgen kann; und wie sie von niemandem jemals befolgt worden ist.
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Denn das intransigente Ideal ist auf eigentümliche Weise unrealistisch; womit gemeint ist, daß die sklavische Befolgung der Warnung jede Aktion des Philosophierens einfach im Keime ersticken würde; daß, so wahr es sein mag, daß der Philosoph "im Allgemeinen lebt", Philosophieren, im Unterschied zur Mystik und zum bloßen Om-Sagen, sich ja niemals darin erschöpfen kann, die Idee des "Allgemeinen" oder "das Ganze" oder "den Grund" anzustarren; daß der Philosophierende vielmehr, und zwar immer, auf etwas losgehen muß, auf etwas Spezifisches* auf etwas vom Grund Verschiedenes, eben auf etwas, dem er auf den Grund geht — kurz: daß es zur Wirklichkeit des Philosophierens gehört, daß der Philosophierende das intransigent formulierte Wesen der Philosophie ignoriere; daß dieses Ignorieren die Bedingung seiner Existenz und Fortexistenz ist; und womit ferner gemeint ist, daß der Philosophierende sich nicht nur als Philosoph in der Welt aufhält, nicht nur umgeben vom Horizont der "Überhaupts", nicht nur fasziniert von der Schönheit des "Ganzen", nicht nur eingeschüchtert oder angezogen vom "Grunde"; sondern daß er außerdem, oder vielmehr zuerst, als normaler Nachbar seiner Nachbarn zur Rechten und zur Linken lebt, als geborener, bedürftiger und sterblicher Mensch, verfolgt, verlockt und umflattert von haecceitates; und daß es gerade diese haecceitates sind, die ihn in die Aktion des Philosophierens hineinzerren oder hineinjagen.
Ja, gerade diese. Denn durch die Beliebigkeit ihrer Faktizität, durch die absolute Unvorhergesehenheit und Unableitbarkeit ihres Da- und Soseins geben sie nicht weniger dunkle Rätsel auf, beunruhigen sie um nichts weniger tief, als es die "Überhaupts", das "Ganze" oder der "Grund" tun; ja, vielleicht sogar tiefer, da das "Ganze" oder der "Grund" ja gerade als die Dimensionen der Antwort gelten, in denen alle Fragen stille werden. "Im Grunde", heißt es sogar im Dialog eines molussischen Sophisten, "im Grunde ist es müßig, den Dingen auf den Grund zu gehen. Denn wäre der Grund ihr Grund, dann wären sie eben nicht diese Dinge hier, diese vom Grunde abgerissenen einzelnen Dinge. Es muß einen Grund dafür geben, daß sie nicht im Grund sind, sondern sie selbst; oder, wer weiß, soviele Gründe, als es Dinge gibt."
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Wenn der molussische Sophist mit seiner verzweifelten Überlegung recht hätte, dann wäre damit (was freilich gegen die Wahrheit seines Gedankens nichts besagte) der Konkurs der Philosophie besiegelt. Sein Argument weiterzuverfolgen, ist hier nicht der Ort. Wenn wir es zitierten, so nur zu dem Zwecke, um an einem äußersten Beispiel zu zeigen, daß es gerade das Spezifische, Singulare und Okkasionelle sein kann, was dem Philosophierenden am schärfsten zu schaffen macht.
Soviel aber ist gewiß: wer das Singulare als Gegenstand des Philosophierens einfach abweist, weil es nur kontingent und empirisch ist, der sabotiert sein eigenes Philosophieren; und gleicht jenem Schildbürger, der, ehe er sein Haus bezog, dessen Tür von außen zumauerte, weil diese, wie er sterbend an den Pfosten schrieb, "etwas Zweideutiges" sei, ein "Loch im Gehäuse, ein Ding, halb außen und halb innen"; und der vor der Schwelle erfroren aufgefunden wurde.
Aber lassen wir die Bilder. In der Tat ist kein Philosoph (es sei denn, er beschränke sich aufs Om-Sagen, ersetze Philosophie also durch Mystik), in der Lage, Auskunft darüber zu geben, was in sein Haus gehört und was nicht; das heißt: bei welchem Grad von empirischer Spezifizität er sich noch innerhalb der legitimen Befugnisgrenzen der Philosophie aufhält, und wann er diese Kompetenzgrenze zu überschreiten beginnt; glaubt er es aber angeben zu können, dann ist er doch außerstande, die Grenzziehung zu rechtfertigen. Daß die Philosophie sich diese Frage jemals ernsthaft vorgelegt hat, ist durchaus nicht so sicher. Jedenfalls entsinne ich mich nicht, jemals so etwas wie eine Geschichte dessen, was jemals als "philosophisch salonfähig", als gerade noch ertragbare Spezifizität, gegolten hat, vor Augen gehabt zu haben. Wenn es eine solche Untersuchung gäbe, ihre Ergebnisse wären für den Philosophen vermutlich aufs tiefste beschämend; denn sie würde wohl verraten, daß die Auswahlkriterien niemals andere als konventionelle, also stets un-, ja widerphilosophische gewesen sind. Es ist mir höchst zweifelhaft, ob Hegel auf die Frage, warum er in seiner Darstellung der Weltgeschichte dieses Geschehen als "philosophisch salonfähig" in seinem System empfing, jenem Ereignis, als einem Proleten der Empirie, den Zutritt verwehrte, eine Antwort hätte geben können. —
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Daß es heute besser damit stehe: daß die Grenze weniger verschwommen sei als früher, wird ja niemand mit gutem Gewissen behaupten können. Warum wir zum Beispiel in der offiziell anerkannten Philosophischen Anthropologie das Recht haben, über "den Menschen" (der ja schließlich auch nur ein empirisches Spezificum ist) zu philosophieren; während wir, schrieben wir eine "Philosophie der Mücke" oder eine "Philosophie des Kindes" sofort mangelnden Ernstes verdächtigt werden würden, ist philosophisch ja nicht zu beantworten. Daß Berufsphilosophen zumeist genau zu wissen glauben, was an Spezialität erlaubt ist, wie weit sie gehen dürfen, was sich philosophisch noch "schickt", will ich natürlich nicht leugnen. Aber ihre Selbstsicherheit ist doch zumeist nur die unphilosophische Selbstsicherheit derer, die einen Brauch mitmachen. Je selbstsicherer sie in dieser Hinsicht auftreten, um so berechtigter ist es, ihnen als Philosophen zu mißtrauen. Und oft haben sie für diese ihre Selbstsicherheit einen hohen Preis zahlen müssen.
Das Schauspiel der nachhegelschen Epoche, in der die meisten von ihnen, aus Angst vor faux pas, die wirklich neuen Schritte ins Spezielle und ins Okkasionelle den Kierkegaards und Nietzsches, den Feuerbachs und Darwins, den Marxens und Freuds, oder den großen Einzelwissenschaftlern, ja sogar großen Romanciers überlassen haben, den großen Amateuren der Philosophie, die ihr Philosophieren oft noch nicht einmal "Philosophie" nannten, und die keine Hemmung verspürten, die Verbotstafeln zu verpflanzen und die Grenzen zu erweitern, dieses Schauspiel war nicht gerade ehrfurchtgebietend. Und wenn sie heute nun emsig damit beschäftigt sind, sich innerhalb der damals von den Nichtprofessionellen vorgeschobenen und nunmehr legal gewordenen Grenzen häuslich einzurichten, oder wenn sie heute offiziell "elastische Systeme" annoncieren oder systematische Grundlegungen der Systemlosigkeit vorlegen, so macht dieses Schauspiel des Nachholens das damalige des Versäumens auch nicht wett. —
Der Leser wird verstehen, daß ein Liebhaber der Wahrheit, der in diesen großen Vorurteilslosen seine Vorbilder sieht, auch dann auf Spezielles losgeht, wenn die Frage, ob und inwiefern das, was er da tut, noch "Philosophie" heißen darf, unerledigt bleibt.
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Ob Tomaten "Früchte" genannt werden oder "Gemüse", ist, sofern sie nur nahrhaft sind, ziemlich gleichgültig. Der wirklich Philosophierende treibt sein Handwerk auch dann weiter, wenn er in actu seiner Arbeit nicht weiß, ob er nicht die erlaubte Grenze des Speziellen überschritten hat; ja selbst, wenn er keinen Augenblick lang Gewißheit darüber hat, ob er nicht jenes Band, das "im Grundsätzlichen verankert" ist, längst schon zu weit ausgezogen und "überspannt" hat, kurz: ob er nicht abschweift. Aber grundsätzliche Überlegungen darüber anzustellen, ob und bei wem diese oder jene Betrachtung noch oder nicht mehr "Philosophie" heißt, hält er eben für müßig. Die Sachen selbst sind ausschlaggebend. So wenig sich der Astronom für Astronomie interessiert, sondern für die Gestirne, und deshalb Astronomie treibt; so wenig interessiert er sich für Philosophie. Ob es diese "gibt" oder nicht, darauf kommt es zu allerletzt an. Und wie es mit den Eigentumsverhältnissen der Jagdreviere bestellt ist: ob diese der Kompetenz der Philosophie unterstehen oder nicht, das entscheidet nicht. Was gilt, ist allein, was man von den Exkursen, von den Exkursionen mitbringt. Ob es etwas Nahrhaftes ist oder nicht. —
Und damit wird unsere Warnung verständlich: Daß die Gefahr des "Zurückschnappens" um so größer wird, je schärfer ein "Band" angespannt wird, ist plausibel. Da wir das Band immer wieder, und immer wieder sehr scharf, anspannen werden, wird es also auch immer wieder scharf zurückspringen. In anderen Worten: Immer wieder wird es dem Leser, der sich eben noch gerade mitten in der Erörterung einer aktuellen Erscheinung befunden hatte, passieren, daß er plötzlich evakuiert und ins Dunkel philosophischer Grundfragen fortgetragen werden wird; und daß er umgekehrt, noch ehe er seine Beine dort ausgestreckt hat, schon wieder in Frontlinie der Aktualitäten zurückversetzt sein wird. —
An diese Warnung schließt sich nun eng die zweite: und zwar die vor einer Ungewöhnlichkeit, die noch anstößiger klingen wird als die erste. Sie bezieht sich nicht so sehr auf die "zu singularen" Gegenstände selbst als auf deren Darstellungen. Diese Darstellungen, mindestens einige von ihnen, werden nämlich den Eindruck von "Übertreibungen" machen. Und zwar aus dem einfachen Grunde, daß sie "Übertreibungen" sind.
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Natürlich verbinde ich mit dem Ausdruck, da ich ihn selbst verwende, einen anderen als den üblichen Sinn. Einen methodischen. Was bedeutet das?
Daß es Erscheinungen gibt, bei denen Überpointierung und Vergrößerung sich nicht vermeiden lassen; und zwar deshalb nicht, weil sie ohne diese Entstellung unidentifizierbar oder unsichtbar bleiben würden; Erscheinungen, die uns, da sie sich dem nackten Auge versagen, vor die Alternative: "Übertreibung oder Erkenntnisverzicht" stellen. — Mikro- oder Teleskopie sind die nächst-liegenden Beispiele, da sie mittels übertreibender Verbildlichung Wahrheit zu gewinnen suchen.
Inwiefern ist nun solche "Übertreibung" auch unserem Gegenstande gegenüber geboten? Warum sind die Gegenstände unserer Untersuchung dem nackten Auge so undeutlich, inwiefern versagen sie sich so, daß sie "übertreibende" Darstellung erfordern?
Die Antwort auf die Frage gibt, mindestens indirekt, der Untertitel unserer Schrift.Dieser Untertitel, in dem das Dachthema der Aufsätze zusammengefaßt ist, lautet: "Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution". Genauer wäre: "Über die Metamorphosen der Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution".
Nun, diese Revolution ist nicht erst gestern ausgebrochen. Die materiellen Voraussetzungen für die Metamorphosen hat sie der Seele längst beigestellt, und täglich stellt sie neue Voraussetzungen für sie bereit. Aber bedeutet das, daß die Seele mit diesen ihren völlig modifizierten Voraussetzungen Schritt gehalten hätte? Daß sie mit den täglich sich modifizierenden Voraussetzungen Schritt hielte?
Nichts weniger als das.
Vielmehr gibt es keinen Zug, der für uns Heutige so charakteristisch wäre wie unsere Unfähigkeit, seelisch "up to date", auf dem Laufenden unserer Produktion zu bleiben, also in dem Verwandlungstempo, das wir unseren Produkten selbst mitteilen, auch selbst mitzulaufen und die in die ("Gegenwart" genannte) Zukunft vorgeschossenen oder uns entlaufenen Geräte einzuholen.
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Durch unsere unbeschränkte prometheische Freiheit, immer Neues zu zeitigen (und durch den pausenlosen Zwang, dieser Freiheit unseren Tribut zu entrichten), haben wir uns als zeitliche Wesen derart in Unordnung gebracht, daß wir nun als Nachzügler dessen, was wir selbst projektiert und produziert hatten, mit dem schlechten Gewissen der Antiquiertheit unseren Weg langsam fortsetzen oder gar wie verstörte Saurier zwischen unseren Geräten einfach herumlungern. — Wenn es die surrealistische Konfiguration definiert, daß in ihr völlig disparate, ja einander widersprechende, sogar einander tödliche Elemente dennoch zugleich, ja zusammen, sogar in gegenseitig lähmender Interdependenz auftreten, dann gibt es keine "klassischere" Verwirklichung des Surrealismus als die Konfiguration, die eine "computing machine" und ein vor ihr stehender Mensch zusammen bilden. —
Die Tatsache der täglich wachsenden A-synchronisiertheit des Menschen mit seiner Produktewelt, die Tatsache des von Tag zu Tag breiter werdenden Abstandes, nennen wir "das prometheische Gefälle".
Unbekannt ist dieses "Gefälle" natürlich nicht geblieben. So war es z.B. in der "Überbau"-Doktrin des Marxismus, besonders in der Erörterung der Tempo-Differenz zwischen den zwei Etagen "Unterbau" und "Überbau" gesichtet worden. Aber mehr als gesichtet doch nicht. Denn das Gefälle, für das der Marxismus sich interessiert hatte, war doch nur eines unter vielen gewesen, nur ein Muster aus einem ungleich breiteren Komplex, in dem sich Gefälle-Phänomene der verschiedensten Art unterscheiden lassen. Außer der, im Marxismus behandelten, Differenz zwischen Produktionsverhältnissen und ("ideologischen") Theorien gibt es z. B. das Gefälle zwischen Machen und Vorstellen; das zwischen Tun und Fühlen; das zwischen Wissen und Gewissen; und schließlich und vor allem das zwischen dem produzierten Gerät und dem (nicht auf den "Leib" des Geräts zugeschnittenen) Leib des Menschen. Allen diesen "Gefallen", deren jedes im Laufe dieser Untersuchung seine Rolle spielen wird, kommt die gleiche Struktur zu: die des "Vorsprungs" des einen Vermögens vor dem anderen; bzw. die des "Nachhumpelns" des einen hinter dem anderen:
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So wie die ideologische Theorie hinter den faktischen Verhältnissen, so bleibt das Vorstellen hinter dem Machen zurück: Machen können wir zwar die Wasserstoffbombe; uns aber die Konsequenzen des Selbstgemachten auszumalen, reichen wir nicht hin. — Und auf gleiche Weise humpelt unser Fühlen unserem Tun nach: Zerbomben können wir zwar Hunderttausende; sie aber beweinen oder bereuen nicht. — Und so trottet schließlich als letzter Hintermann, als verschämtester Nachzügler, noch heute behängt mit seinen folkloristischen Lumpen, und gleich schlecht synchronisiert mit allen seinen Vordermännern — im weitesten Abstände hinter allen, der menschliche Leib nach.
Jeder von uns besteht also aus einer lockeren Reihe von verschieden altertümlichen und in verschiedenem Tempo marschierenden Einzelwesen. Und ist das auch nur ein Bild — um dem ohnehin schon brüchigen Ideal des Neunzehnten Jahrhunderts: dem der "harmonischen Persönlichkeit", seinen letzten Stoß zu versetzen, dazu reicht die Kraft dieses Bildes wohl aus.
In der Tat stellt diese A-synchronisiertheit der verschiedenen menschlichen "Vermögen", namentlich die A-synchronisiertheit des Menschen mit seinen Produkten, also das "prometheische Gefalle", eines der Hauptmotive unserer Arbeit dar. Das besagt aber nicht etwa, daß wir die übliche und gewöhnlich als selbstverständlich unterstellte Entscheidung: das Tempo der Produktionsverwandlung den anderen Tempi als gutes Beispiel vorzuhalten, unterschrieben. Die Tatsache, daß die Produkte alles tun, um die Tempo-Gleichschaltung des Menschen durchzusetzen, bestreiten wir zwar nicht. Und ebenso wenig, daß die Menschen dieser Forderung hektisch nachzueifern suchen. Aber ob sie das mit Erfolg tun, auch nur mit Recht, das ist eben die Frage. Denn es wäre ja durchaus denkbar, daß die Transformation der Geräte zu rapide vor sich ginge, schlechthin zu rapide*; daß die Produkte etwas Übertriebenes von uns verlangen, etwas Unmögliches; und uns durch ihre Zumutung wirklich in einen kollektiv pathologischen Zustand hineintrieben. Oder anders ausgedrückt, aus der Perspektive des Produzenten:
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Es wäre ja durchaus nicht unmöglich, daß wir, die wir diese Produkte herstellen, drauf und dran sind, eine Welt zu etablieren, mit der Schritt zu halten wir unfähig sind, und die zu ,fassen', die Fassungskraft, die Kapazität sowohl unserer Phantasie wie unserer Emotionen wie unserer Verantwortung absolut überforderte. Wer weiß, vielleicht haben wir eine solche Welt bereits etabliert. Schließlich ist ja der Mensch, abgesehen von der formalen Schrankenlosigkeit seines Produzierens, außerdem ein mehr oder minder bestimmter, also mehr oder minder in seiner Adaptierbarkeit begrenzter, morphologischer Typ; ein Wesen also, das weder durch andere Mächte noch durch sich selbst nach Belieben ummodelliert werden kann; ein Wesen, dessen Elastizität sich nicht ad libitum strapazieren läßt.
Daß er als sich selbst verändernder Schauspieler ungleich weniger Freiheit genießt und viel früher gegen starre Grenzen anrennt, denn als "frei schaffender" Bühnenarchitekt oder Requisiten-Konstrukteur seiner geschichtlichen Welt, ist ja offensichtlich. Und es ist weder bloßer Zufall noch Zeichen von philosophischem Dilettantismus, wenn trotz des ungeheuer bunten Wechselspiels der Geschichte die Frage, ob sich ,der Mensch verändert habe' und sich verändere, immer wieder auftaucht.
Eine Kritik der Grenzen des Menschen, also nicht nur der seiner Vernunft, sondern der Grenzen aller seiner Vermögen (der seiner Phantasie, seines Fühlens, seines Verantworten usf.), scheint mir heute, da sein Produzieren alle Grenzen gesprengt zu haben scheint, und da diese spezielle Grenzsprengung die noch immer bestehenden Grenzen der anderen Vermögen um so deutlicher sichtbar gemacht hat, geradezu das Desiderat der Philosophie geworden zu sein. Das vage Spekulieren über unsere Endlichkeit, das noch nicht einmal von unserer Bedürftigkeit ausgeht, sondern ausschließlich von unserem Tode (der eigentümlicherweise metaphysisch salonfähiger ist als unser Hunger), reicht heute nicht mehr aus. Die Grenzen verlangen, wirklich nachgezeichnet zu werden.
Was hatte nun diese Zwischenüberlegung mit der Ankündigung unserer Darstellungen als "Übertreibungen" zu tun?
Unsere eigene Metamorphose hat sich auf Grund des "prometheischen Gefälles" verschleppt; unsere Seelen sind weit hinter dem Metamorphose-Stand unserer Produkte, also unserer Welt, zurückgeblieben.
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Das bedeutet aber, daß viele ihrer Züge physiognomisch noch un-eingegleist sind, manche von ihnen sich nur erst auf un-prägnant skizzierte Art ankündigen; deutlichen Umriß und zeitgemäße (also der zweiten industriellen Revolution angemessene) Um-Artikulierung nur die wenigsten angenommen haben. Und schließlich (denn diese eben genannten Verschleppungen sind noch immer verhältnismäßig "gelungene" Fälle), schließlich mag es Metamorphose-Bemühungen geben, die, da ihr Gelingen durch die schicksalhafte Starre und die begrenzte Kapazität unserer Phantasie oder unseres Fühlens völlig vereitelt wird, unmittelbar erkennbares Aussehen niemals annehmen; und die nur indirekt aus panikartigem oder anderem pathologischen Benehmen als scheiternde Synchronisierungen erschlossen werden können.
Vor ein paar Jahren ging durch die amerikanische Presse der Fall eines Bombenpiloten, der, nachdem er als Einer von Vielen, völlig arglos, im Laufe der Kampfhandlungen, Länder und Städte mitverwüstet hatte, nun in der Nachkriegszeit versuchte,
"ganz nachzuspüren, was er selbst getan"
also "der zu werden, der er (auf Grund seiner Taten) war"; und der schließlich, da er die Gleichschaltung mit sich selbst nicht zustande brachte, also die "angemessene Seele der Epoche" nicht ausbilden konnte, verstört in ein Kloster floh.
Dieses Opfer der Zeit wird ja nicht das einzige seiner Art gewesen sein und gewiß nicht das einzige bleiben. Sein "I still don't get it", das die Blätter nach dem ersten Jahre seiner Klausur veröffentlichten, ist in seiner Einfachheit das klassische Zeugnis für die aussichtslose Anstrengung, mit der er, als der Sprecher der heutigen Menschheit, versuchte, sich selbst einzuholen.*
Dies also ist die Situation:
Die Seelen dieser unserer Epoche sind, eben auf Grund des "Gefälles", teils noch "in the making", also noch nicht fertig; teils nehmen sie endgültige Prägung überhaupt nicht an; werden also niemals fertig. Wenn man dennoch versucht, wie wir es hier tun, diese Seelen zu portraitieren, dann läuft man offensichtlich Gefahr, den tatsächlich noch formlosen und unprofilierten Gesichtern eine zu profilierte Physiognomie zu verleihen; deren Relief in eine Höhe vorzutreiben, die ihnen, mindestens im Urteil des Momentphotos, noch nicht zukommt; Karikaturen als Abbildungen auszugeben. Also zu übertreiben.
Verzichtet man aber auf solche Übertreibung; unterläßt man es, die Wegrichtung, in der die Seelen sich zu verwandeln abmühen, zu verlängern und das (oft nur intendierte, aber nur halbwegs oder garnicht erreichte) Metamorphose-Ziel als erreicht darzustellen, dann läuft man umgekehrt Gefahr, den Zügen, ja selbst der Wegrichtung, jede Erkennbarkeit zu nehmen. Diese Übertreibung ist um so legitimer, als die faktische Tendenz des Zeitalters ja dahin geht, die Metamorphose durch übertriebene Mittel zu forcieren, zum Beispiel mit dem Mittel des "Human Engineering". Unsere "übertreibende" Darstellung ist also nur ein Teil dieser heute faktisch vor sich gehenden "Übertreibung": nur die übertreibende Darstellung dessen, was in Übertreibung hergestellt wird.
Dies ist also der Zusammenhang zwischen "Gefälle" und "Übertreibung". Dem Verdacht, daß wir unter "Übertreibung" irgendetwas Sensationelles im Auge haben, ist damit wohl die Spitze abgebrochen.
Daher springen wir nun medias in res, in unsere erste übertreibende Darstellung: in die der "Prometheischen Scham".
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