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24.  Die Bundesrepublik Deutschland

 

 

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Die sowjetische Geheimdienstoffensive gegen Westdeutschland in der Zeit des Kalten Krieges zeichnete sich durch drei Besonder­heiten aus.

Erstens ermöglichte es die Spaltung Deutschlands, die Bundesrepublik leichter zu infiltrieren als jeden anderen größeren westlichen Staat. Aus der DDR flohen so viele Menschen in den Westen — etwa drei Millionen bis zur Errichtung der Berliner Mauer im Jahre 1961 —, daß es nicht schwer war, Hunderte oder sogar Tausende ostdeutsche und sowjetische Agenten im Flüchtlingsstrom heimlich mitzuschicken. Unter den falschen Flüchtlingen befanden sich zahlreiche Illegale. Einige davon waren KGB-Offiziere mit sowjetischer Staatsangehörigkeit, die mehrere Jahre damit verbracht hatten, in der sicheren Umwelt der DDR eine falsche Identität zu erwerben; viele von ihnen reisten weiter, um gegen nordamerikanische und andere Ziele tätig zu werden. Andere waren ostdeutsche Agenten mit einer falschen Identität, von denen die meisten gegen Ziele in der Bundes­republik eingeschleust wurden.1

Zweitens war die Bundesrepublik Deutschland der einzige westliche Staat, über den Moskau von einem verbündeten Dienst — der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA),2 dem Auslandsnachrichtendienst der Stasi — sogar höherkarätige Geheiminformationen erhielt als vom KGB. 

Von 1952 bis 1986 wurde die HVA von Markus Johannes (»Mischa«) Wolf, dem vielleicht fähigsten Spionagechef des Ostblocks, geleitet. Wolf war der Sohn eines bekannten kommunistischen Arztes und Schriftstellers, der sich nach Hitlers Machtergreifung gezwungen sah, nach Moskau zu fliehen. Seine Ernennung zum Leiter der ostdeutschen Auslands­aufklärung kurz vor seinem 30. Geburtstag verdankte Markus Wolf sowohl der Tatsache, daß er ein überzeugter Stalinist war und das Vertrauen des KGB (damals MGB) besaß, als auch seinen Fähigkeiten. 1947 erklärte er seinem Freund Wolfgang Leonhard, die ostdeutschen Kommunisten müßten die in ihrem Parteiprogramm erwähnte Idee von einem »deutschen Sonderweg zum Sozialismus« aufgeben.

Als Leonhard, der im Zentralsekretariat der Partei arbeitete, ihm erwiderte, Wolf habe nicht recht, antwortete dieser: »Es gibt höhere Instanzen als dein Zentral­sekretariat.« Kurz danach bereiteten die »höheren Instanzen« in Moskau dem Gerede von einem »deutschen Sonderweg« tatsächlich ein Ende.3

Wolf hat nie unter falscher Bescheidenheit gelitten. »Die HVA war, wie selbst meine erbitterten Feinde zugeben würden, wahrscheinlich der effektivste Dienst dieser Art auf dem europäischen Kontinent«,4 rühmte sich Wolf als Ruheständler.

 

Die dritte Besonderheit der sowjetischen Geheimdienstoperationen in Westdeutschland war, daß der KGB, abgesehen von den Berichten, die er von der HVA erhielt, von den Ostberliner Verbündeten intensiv dabei unterstützt wurde, die Bundesrepublik zu infiltrieren. Er schuf nicht nur »legale« Residenturen in Bonn, Köln und Hamburg,5 sondern konnte die westdeutschen Operationen von seiner Basis im Ostberliner Stadtteil Karlshorst aus leiten, dem größten sowjetischen Spionagezentrum außer­halb der UdSSR, und nutzte dabei ostdeutsche Illegale und andere Agenten, die von der Stasi und der HVA zur Verfügung gestellt wurden. Obwohl der KGB im Prinzip für die Finanzierung seiner Karlshorster Dependance verantwortlich war, schoß die DDR Mitte der siebziger Jahre jährlich 1,3 Millionen zu. 6

 

Die ersten großen Anwerbungen, welche die Karlshorster KGB-Basis in der Bundesrepublik durchführte, fallen in das Jahr 1950 und sind in den von Mitrochin erwähnten Akten erfaßt. SERGEJEW (auch NIKA) war ein junger westdeutscher Kommunist, der in jenen Jahren als Agent rekrutiert wurde. Er erhielt den Auftrag, sich von der kommunistischen Partei zu distanzieren, um Informationen über die Trotzkisten in der Bundesrepublik liefern zu können; trotz der politischen Bedeutungs­losigkeit der Trotzkisten blieb ihre Observierung aus ideologischen Gründen eine fixe Idee der Zentrale. Aus SERGEJEWs Akte geht hervor, daß er zu Beginn seiner Agentenlaufbahn Informationen lieferte, welche die Entführung des Trotzkisten Weiland aus West-Berlin ermöglichte; diese Aktion wurde von einem Spezialkommando ausgeführt. 7

SERGEJEW wurde einer der am längsten tätigen westdeutschen Agenten des KGB und erhielt bis etwa 1963 monatlich 400 DM. »Mit seiner Hilfe«, so wird in einem Bericht der Zentrale über seine Tätigkeit behauptet, »wurden von 1951 bis 1974 trotzkistische Organisationen in der BRD überwacht und enttarnt.« SERGEJEW war zugleich mehrere Jahre lang ein geachteter norddeutscher Bürgermeister. Da der KGB befürchtete, daß SERGEJEW überwacht wurde, brach er 1981 den Kontakt zu ihm ab und zahlte ihm eine Abfindung von 3000 DM. 8

* (d-2014:)  W.Leonhard bei detopia 

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Karlshorsts Haupterfolg in den Anfangsjahren der Bundesrepublik war die Infiltration des halbamtlichen Spionagedienstes, der Organisation Gehlen, die von 1956 an als Bundesnachrichtendienst (BND) dem Bundes­kanzleramt unterstellt war. Im März 1950 warb Karlshorst den arbeitslosen ehemaligen SS-Offizier Hans Clemens (HANNI) an, der ein Jahr später eine Anstellung in der Organisation Gehlen erhielt. Im darauffolgenden Jahrzehnt lieferte er, wie seiner Akte zu entnehmen ist, »wertvolle Informationen« über die Geheimdienstkreise der Bundesrepublik: »Dies ermöglichte es, die Enttarnung wertvoller Agenten zu verhindern und Operationen zu unterbinden, die gegen sowjetische Vertretungen in der BRD gerichtet waren.« 9

Clemens' größter Erfolg bestand in der Anwerbung eines früheren SS-Kameraden, Heinz Felfe (KURT), den er der Organisation Gehlen empfahl.10 Mit aktiver Unterstützung durch Karlshorst wurde Felfe rasch einer der erfolgreichsten Agenten des Kalten Krieges. In der Zeit von 1953 bis 1955 ermöglichten seine geheimen Informationen, kombiniert mit denen der britischen Spione George Blake und Kim Philby, »die Ausschaltung des feindlichen Agentennetzes in der DDR«, wie in einem KGB-Bericht festgestellt wurde. 11

1953 verblüffte Felfe seine Kameraden in der Organisation Gehlen mit der Mitteilung, er habe einen von einem Oberst der Roten Armee geführten Agenten­ring in Moskau geschaffen. Viele Nachrichten des fiktiven Agentenrings — eine Mischung aus Fakten und Erfindungen, die von der KGB-Zentrale fabriziert worden waren — wurden an Bundeskanzler Konrad Adenauer in Bonn weitergeleitet. Gleichzeitig lieferte Felfe Karlshorst viele Berichte des BND.

Dringende Berichte wurden über Funk übermittelt; die übrigen wurden in Koffern mit doppeltem Boden, auf Filmen, die in Gläsern mit Babynahrung versteckt waren, über tote Briefkästen oder durch Erwin Tiebel, einen Kurier der Organisation Gehlen, der auch für den KGB arbeitete, nach Karlshorst gebracht.

1958 hatte sich Felfe als der deutsche Philby etabliert. Er wurde, wie Philby vierzehn Jahre später, Chef der für die Sowjetunion zuständigen Abteilung Spionageabwehr.  

Im Unterschied zu Philby hatten seine Motive mehr mit Eitelkeit zu tun als mit Ideologie. Er war, wie er selbst erzählte, der überlegene professionelle Geheimdienstler, der als aufsteigender Stern des BND galt und diesen gleichzeitig überlistete. Karlshorst bemühte sich, sein Ego zu befriedigen, und ließ ihn glauben, seine Leistungen würden sogar die eines Richard Sorge übertreffen.

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»Ich wollte«, sagte Felfe später, »bei den Russen wie eine Eins dastehen.« Ein CIA-Offizier, der in Deutschland in den fünfziger Jahren diente, schlußfolgerte nach Felfes Verhaftung im Jahre 1961:

»Der BND-Schadensbericht muß sich auf Zehntausende von Seiten belaufen haben. Nicht nur Agenten und Adressen waren aufgeflogen; Agentenberichte aus einem Zeitraum von zehn Jahren mußten neu ausgewertet werden: Einige hatte die andere Seite zurechtgebastelt, andere waren vorsichtig verfälscht worden, wieder andere waren von vorne bis hinten erfunden.« 12

Bald nach Andropows Ernennung zum Vorsitzenden des KGB im Jahre 1967 bezeichnete er Felfe — neben Philby, Blake und Vassall — als jene Art von früheren Agenten, deren Anwerbung dringend nötig war, um die sowjetische Führung über die Entwicklung der westlichen Politik auf dem laufenden zu halten.13

 

Die Bundesrepublik Deutschland bildete nicht nur ein Hauptziel aktiver Maßnahmen des KGB, sondern auch einen Haupt­schwer­punkt beim Sammeln geheimer Informationen. In den fünfziger und sechziger Jahren hatten sowohl beim KGB als auch bei der HVA Operationen Priorität, deren Ziel es war, so viele westdeutsche Politiker wie möglich als Neonazis und »Revanchisten« zu diskreditieren. Die Desinformation ist fast immer dann erfolgreich, wenn sie wahre Tatsachen enthält. In der Anfangszeit der Bundesrepublik mangelte es nicht an ehemaligen Nazis, die sich in Machtpositionen und anderen einflußreichen Stellungen befanden und durch gezielte Kampagnen öffentlich angeprangert werden konnten. 

Zu den effektivsten »Entlarvern« zählte der Reuter-Korrespondent in Berlin, John Peet, der während des Spanischen Bürgerkriegs als NKWD-Agent angeworben worden war. 1950 setzte sich Peet nach Ost-Berlin ab. Peet hatte lediglich einen Telefonanruf von einem Ostberliner Professor erwartet, der ihn häufig in seiner Westberliner Wohnung besuchte, und mit einer Einladung zum Kaffee gerechnet. Statt dessen rief ihn der Professor an und teilte ihm mit einer seltsam hohen Stimme mit: »PRIMROSE hat eine Nachricht für DAFFODIL. Um 16.00 Uhr am Montag. Ich wiederhole, um 16.00 Uhr am Montag.« Sobald Peet in Ost-Berlin war, erklärte er auf einer Pressekonferenz:

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»Ich kann einfach nicht länger an der Kriegshetze teilnehmen, die nicht nur die Sowjetunion und die Volks­demokratien bedroht, sondern auch im Begriff ist, mein Heimatland England in eine machtlose amerikanische Kolonie zu verwandeln.« 14

Von 1952 bis 1975 gab Peet den vierzehntägig erscheinenden Democratic German Report heraus, der sich lange Zeit damit befaßte, die (häufig von Wolf gelieferten) Einzelheiten über die Vorgeschichte westdeutscher Politiker, Diplomaten, Industrieller, Juristen, Generäle und Polizeichefs zu veröffentlichen. Peet sah den wichtigsten Berater Adenauers, Hans Globke, Mitverfasser der infamen offiziellen Kommentare zu Hitlers Rassegesetzen von 1935, als sein »Prunkstück« an. 15

Peets Propaganda wurde durch den vom KGB arrangierten Übertritt von Otto John, dem ersten Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), im Juli 1954 effektvoll verstärkt. John hielt, wie Peet vier Jahre zuvor, eine Pressekonferenz ab, auf der er das angebliche Wiederaufleben des Nazismus in Westdeutschland anprangerte. Im Dezember 1955 tauchte John wieder im Westen auf und behauptete, er sei von Wolfgang Wohlgemuth, einem Arzt, der für den KGB arbeitete, betäubt worden. Das westdeutsche Oberlandesgericht war skeptisch. Aufgrund anderer Hinweise war John ein starker Trinker, der, wie beobachtet worden war, die Grenze zum Osten in ziemlich »vergnügter« Stimmung statt in einem fast bewußtlosen Zustand passiert hatte, nachdem Wohlgemuth ihn mit Whisky traktiert und Johns Furcht vor einem Wiederaufleben des Nazismus ausgenutzt hatte. Im Dezember 1959 wurde John zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, saß aber nur 18 Monate ab.

Der Fall John ist noch immer ziemlich geheimnis­umwittert. Der Leiter des KGB-Apparats in Karlshorst, Jewgeni Pitowranow, berichtete im Juli 1954 der Zentrale, John sei nach Ost-Berlin gekommen, weil er »wünschte, mit uns in Kontakt zu bleiben, um über politische Probleme und gemeinsame Aktionen gegen die Nazis in Ostdeutschland zu diskutieren«. Johns Entschluß, im Osten zu bleiben, war unter dem Druck des KGB zustande gekommen. Einer der KGB-Offiziere, die mit dem Fall John zu tun hatten, äußerte:

»Wir wollten ihn als Agenten anwerben, aber John wollte nicht... John mußte in Ost-Berlin bleiben, und daher taten wir ihm eine Schlaftablette in den Kaffee... Nachdem er etwa dreißig Stunden lang geschlafen hatte, wurde er von KGB-Experten mit psychologischen Mitteln bearbeitet. Endlich sagte er, er werde mit uns zusammen­arbeiten.«

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Zu den Mitteln, mit denen John unter Druck gesetzt wurde, gehörte eine falsche westliche Rundfunk­meld­ung, die besagte, John habe sich bereits in die DDR abgesetzt. 16 

Der HVA und dem KGB stand ein Archiv in Ost-Berlin zur Verfügung, das von der Roten Armee beschlag­nahmt worden war und Wehrmachts-, SS- und Naziakten enthielt. Die Abteilung X — die für aktive Maßnahmen zuständige Abteilung der HVA — stellte authentische Dokumente, die aus Archiven stammten, und gefälschte Beweise zusammen. Sie bildeten zusammengenommen eine vernichtende Anklage gegen die westdeutsche Elite in Politik, Wirtschaft und Militär und wurden in zwei umfangreichen Bänden über tatsächliche und angebliche Kriegsverbrecher und Neonazis veröffentlicht.17 Die Abteilung X fabrizierte ein weiteres sehr belastendes Kapitel der Memoiren Reinhard Gehlens, des ersten BND-Chefs, dessen Handschrift nachgemacht wurde. 18 

Die berühmteste westdeutsche Zielscheibe des KGB und der HVA war Willy Brandt (POLJARNIK, »Polarforscher«).19 Von dem Zeitpunkt an, da Brandt im Oktober 1957 Regierender Bürgermeister von Berlin wurde, war er das Opfer zahlreicher aktiver Maßnahmen, mit denen bezweckt wurde, ihn zuerst zu diskreditieren und dann zu erpressen. Aufgrund seiner antifa­schistischen Vergangenheit war es einfach unrealistisch, ihn in die KGB-Liste der neonazistischen Verschwörer aufzu­nehmen. Statt dessen versuchten der KGB und die HVA, ihn mal als einen Informanten der Gestapo, mal wieder als einen antideutschen Emigranten, mal als einen Kollaborateur des SIS und der CIA und dann sogar als einen ehemaligen sowjetischen Agenten hinzustellen.

1931, kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag, war Willy Brandt (eigentlich Herbert Frahm) Führer der Jugendsektion der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), einer aus der SPD hervorgegangenen linken Splitterpartei, gewesen. Nach Hitlers Macht­ergreifung ging Brandt nur mit einer Aktentasche, die den ersten Band des »Kapitals« von Marx, einige Hemden und 100 Reichsmark enthielt, nach Norwegen ins Exil. In Oslo angekommen, etablierte er sich als Vertreter der SAP und begann als Journalist tätig zu werden. Im Februar 1937 reiste er als Journalist, der über den Bürgerkrieg berichten wollte, nach Spanien; zugleich wollte er als Verbindungsmann zwischen SAP-Mitgliedern der Internationalen Brigade und der neotrotzkistischen POUM-Miliz fungieren.

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Brandt prangerte bald darauf den »blinden Terror« an, den die Kommunisten aufgrund sowjetischer Instruktionen gegen die POUM und gegen andere linke Abweichler entfalteten:

»Dabei handelt es sich recht und schlecht um die wahnwitzige Zielsetzung der Komintern, alle Kräfte zu vernichten, die sich ihr nicht gleichschalten wollen. Darum handelt es sich, und deshalb muß die ganze internationale Arbeiter­bewegung diesen Schlag der Komintern entsprechend parieren.«

Brandt wiederum wurde von den Kommunisten als »Agent Francos« und »Spion der Gestapo« bezeichnet. 20

Die erste Eintragung in Brandts KGB-Akte stammt aus dem Jahre 1936. Er wird darin als Mitglied der Danziger Trotzkisten bezeichnet. Die anderen Berichte über Brandt, die Ende der dreißiger Jahre — alle in einem feindlichen Ton — verfaßt wurden, spiegeln die Paranoia der Zeit des Großen Terrors wider. Sie enthalten falsche Behauptungen: daß POLJARNIK von der Pariser Sureté beauftragt worden sei, die POUM zu infiltrieren, daß er viele SPD-Mitglieder an die Gestapo verraten habe und daß er in die Ermordung von Mark Rein, dem Sohn eines bekannten russischen Menschewiken, verwickelt sei.21  Mark Rein war in Wirklichkeit vom NKWD in Spanien umgebracht worden.

Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 änderte sich Brandts Haltung zu Moskau. Die NKWD-Residentur in Stockholm berichtete über eine Spaltung in den Reihen der »norwegischen Trotzkisten«. Einige von ihnen, darunter auch Brandt, waren nun bereit, mit der Sowjetunion zusammen­zuarbeiten, um Hitlers Niederlage herbeiführen zu helfen. Im Herbst 1941 ging M. S. Ochunjow (OLEG), ein Agent der Stockholmer Residentur, bei Brandt vorbei, traf ihn aber nicht an und hinterließ seine Visitenkarte. Am nächsten Abend suchte Brandt die sowjetische Botschaft auf und sprach dort drei Stunden lang mit Ochunjow und dem NKWD-Residenten Michail Wetrow. Brandt sagte, er unterhalte eine Nachrichtenagentur, zu deren Kunden auch die amerikanische Presse gehöre; er sei bereit, alles zu tun, um das Ende des Nazismus so rasch wie möglich herbeiführen zu helfen, und würde gern Geschichten von »sowjetischen Genossen« in die Vereinigten Staaten schicken (die damals noch nicht in den Krieg eingetreten waren).

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Wetrow und Ochunjow erwiderten, der wichtigste Beitrag, den er zu den Kriegsanstrengungen leisten könne, bestünde darin, von seinen norwegischen Freunden geheim Informationen über die deutschen Truppen und Operationen in Norwegen zu beschaffen. Brandt willigte ein, und im Laufe der nächsten neu! Monate traf er sich alle vierzehn Tage heimlich mit Offizieren der Stockholmer Residentur. Einmal wurden ihm 500 Kronen, vermutlich zur Deckung seiner Unkosten, ausgehändigt, und er quittierte den Betrag.

Unter den Geheiminformationen, die Brandt lieferte, befand sich eine über das deutsche Schlachtschiff »Tirpitz«, das den norwegischen Hafen Trondheim verlassen hatte, um die arktischen Schiffskonvois anzugreifen. Brandt teilte dem NKWD mit, daß er die gleiche Information den Briten gegeben habe.22 Er lieferte der sowjetischen Residentur auch Informationen über den Druck, den die Deutschen auf Schweden ausübten, damit es dem Antikominternpakt beitrat, und über (nie verwirklichte) Pläne zum Verbot der schwedischen KP. Nachdem die schwedische Polizei im Sommer 1942 zwei tschechische Agenten der Residentur, TERENTI und WANJA,23 verhaftet hatte, lehnte Brandt weitere geheime Zusammenkünfte mit NKWD-Offizieren ab. Er willigte jedoch ein, offen in die sowjetische Botschaft zu kommen, wo er sich manchmal mit Offizieren des Geheimdienstes traf, die als Diplomaten getarnt tätig waren. 24

Nichts davon macht POLJARNIK zu einem sowjetischen Agenten. Die Stockholmer Residentur berichtete 1943, Brandt habe auch mit Offizieren des britischen und amerikanischen Geheimdienstes in Schweden sowie mit Trotzkis ehemaligem norwegischem Sekretär, der der Zentrale weiterhin sehr suspekt war, in Kontakt gestanden.25 Brandts Hauptmotiv war, allen drei Mitgliedern der Großen Allianz Informationen zu liefern, die vielleicht zur Niederlage Hitlers beitragen konnten. Was die Sowjetunion betraf, so schätzte er richtig ein, daß der beste Verbindungskanal zu Moskau der Weg über die Stockholmer Residentur war.

Der erste Versuch, Brandt nach seiner Wahl zum Regierenden Bürgermeister von Berlin im Jahre 1957 zu diskreditieren, war eine länger dauernde Operation, die der KGB und die HVA 1958/59 gemeinsam durchführten. Dabei wurden tendenziöse Versionen über Brandts Tätigkeit während des Krieges und andere Erfindungen in Umlauf gesetzt, die ihn als einen Agenten des britischen und amerikanischen Geheimdienstes hinstellten. In der Akte über diese Operation heißt es jedoch: »Dies erbrachte nicht das gewünschte Ergebnis, und Brandts Position als Politiker wurde nicht erschüttert.« 26

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Wolf schlug als nächstes vor, das alte Märchen aufzuwärmen, Brandt sei im norwegischen Exil ein Gestapoagent gewesen. Die ostdeutsche Führung befahl jedoch, den Plan aus Mangel an glaubwürdigen Beweisen fallenzulassen. 27

Bei den westdeutschen Wahlen von 1961 war Brandt der SPD-Kandidat für das Amt des Bundeskanzlers. Der Wahlkampf war der schmutzigste in der Geschichte der Bundesrepublik. Brandt war, wie er selbst formulierte, einer »Schmutzkampagne von rechts« ausgesetzt. Da er die Nazizeit im Exil verbracht hatte, wurde er beschuldigt, unpatriotisch zu sein, zugleich wurden aufgrund der Tatsache, daß er ein linker Sozialist gewesen war, versteckte Andeutungen gemacht, er sei ein verkappter Kommunist. Brandt bekannte später, daß er durch die Bemühungen, ihn zu diskreditieren, »verwundet war. Dieses Ziel haben meine Gegner gelegentlich erreicht. Sie hielten mich über Tage von meiner Arbeit ab.« — »Es war kaum ein Trost, daß die Schmutzkampagne von >rechts< damals — und noch Jahre später — munter aus Ostberliner Quellen gespeist wurde.« 28

Obwohl es die SPD — größtenteils dank der Errichtung der Berliner Mauer während des Wahlkampfes — schaffte, der christlich-demokratischen Mehrheit Stimmen abzujagen, beschloß die Zentrale, Brandt mit weit schädlicheren Beweisen zu drohen, als während der Wahlen zum Vorschein gekommen waren. Am 16. November 1962 billigte der Vorsitzende des KGB, Semitschastny, offiziell eine erpresserische Operation, die Sacharowski, Leiter des Ersten Hauptverwaltung des KGB, vorgeschlagen hatte. Obwohl über die Operation in der von Mitrochin eingesehenen Akte nichts erwähnt ist, kann fast mit Sicherheit angenommen werden, daß sie auch von Chruschtschow genehmigt war, der noch immer unter dem für ihn demütigenden Ausgang der Kubakrise litt. 29 

Der Operationsplan sah vor, daß sich der Iswestija-Korrespondent Poljanow, dem Brandt im gleichen Jahr ein Interview gegeben hatte, an Brandt wenden solle. Bei dieser Gelegenheit sollten Poljanow zwei Geheim­agenten des KGB begleiten, die zu Brandt sagen sollten: »Wir möchten unsere vertraulichen Beziehungen zu Ihnen erneuern, um vernünftige Lösungen für das West-Berlin-Problem gemeinsam zu entwickeln.« Wenn Brandt sich weigerte, sollte ihm gesagt werden: »Wir haben genügend Mittel in der Hand, Ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten, und deswegen nehmen wir an, daß Sie Ihre Haltung überdenken werden.« Die Drohung war größtenteils ein Bluff.

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Sacharowski hatte zu seinem Ärger feststellen müssen, daß die aus der Kriegszeit stammenden Originaldokumente in Brandts Akte 1959 vernichtet worden waren (das wäre undenkbar gewesen, wenn er tatsächlich ein Agent gewesen wäre), darunter auch solche offensichtlich kompromittierenden Dinge wie die Quittung für den Empfang von 500 Kronen von der Stockholmer Residentur. Brandt würde das aber nicht wissen. Der von Semitschastny genehmigte Operationsplan baute darauf, daß Brandt glauben mußte: »Es sind Materialien in unserem Besitz, die ihn kompromittieren könnten.« 30

Mitrochin hat keinen Bericht über ein Zusammentreffen mit Brandt gesehen.31 Klar ist jedoch, daß dieser den Erpressungs­versuch des KGB energisch zurückgewiesen hätte, wenn eine Begegnung zustande gekommen wäre. Es ist sicher, daß Semitschastny und Sacharowski mit Chruschtschows Billigung versuchten, Brandt vor der Begegnung mit dem Sowjetführer nachgiebig zu stimmen. Chruschtschow lud ihn im Januar 1963 während eines Besuchs in Berlin zu einem Treffen ein. Brandt, von der Notwendigkeit überzeugt, sowohl einen Modus vivendi zwischen der Bundesrepublik und der DDR zu finden als auch sich über die Berlin-Frage zu verständigen, war bereit, die Einladung anzunehmen.

Aber der Widerstand der CDU in der regierenden Westberliner Koalition gegen das vorgeschlagene Treffen bewogen ihn, ablehnend zu antworten. Brandt äußerte sich dazu folgendermaßen:

»Chruschtschow mußte meine Ablehnung als Brüskierung empfinden. Botschafter Abrassimow erzählte mir später sehr plastisch, sein ehemaliger Chef sei völlig konsterniert gewesen, als ihm meine Absage mitgeteilt wurde: Chruschtschow, der sich gerade umzog, habe in seiner Überraschung fast die Hosen fallen lassen...«32

In den viereinhalb Jahren, in denen Brandt vom 21. Oktober 1969 bis 6. Mai 1974 der erste SPD-Bundes­kanzler West­deutschlands war, erreichte die Geheimdienst­offensive der HVA und des KGB in der Bundesrepublik ihren Höhepunkt. Wolfs größter Erfolg war das Eindringen von Günter Guillaume (HANSEN) ins Kanzleramt. 1956 hatten Guillaume und seine Ehefrau Christel, beide HVA-Offiziere, eine sorgfältig geplante »Flucht« aus Ostdeutschland inszeniert, kleine Firmen in Frankfurt gegründet, die ihnen als Tarnung für ihre Spionagetätigkeit dienen sollten, und waren aktive, anscheinend anti­kommunistisch eingestellte Mitglieder der SPD geworden.

1968 war Guillaume Geschäftsführer des SPD-Unterbezirks Frankfurt und Stadtverordneter von Frankfurt geworden. Damit war er der einzige HVA-Offizier (im Gegensatz zu einem Agenten), der jemals ein offizielles Amt in der Bundesrepublik bekleidet hat.

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Im November 1969, drei Wochen nach der Wahl Brandts zum Bundes­kanzler, erhielt Guillaume eine Anstellung im Kanzleramt, zuerst als ein für Gewerkschaften und politische Organisationen zuständiger Referent. Fleißig und effizient in seiner Arbeit, jovial und kontaktfreudig im Umgang wurde er 1972 Persönlicher Referent des Kanzlers für Partei­angelegenheiten. Zugleich wurde er mit der Organisation der Reisen Willy Brandts betraut. Guillaumes Berichte wurden in der Zentrale so hoch bewertet, daß Andropow sie persönlich an Außenminister Gromyko weiterleitete.33

Der Hauptauftrag Guillaumes betraf Brandts Ostpolitik. Diese hatte, wie Brandt definierte, »ein dreifaches Ziel: verbesserte Beziehungen zur Sowjetunion, normale Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten und ein Modus vivendi zwischen den beiden Teilen Deutschlands«. In seinem »Bericht zur Lage der Nation«, den er Anfang 1970 dem Bundestag erstattete, forderte Brandt die Herstellung einer »kooperativen Gemeinschaft« zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Im selben Jahr besuchte er als erster Bundeskanzler Ostdeutschland und unterzeichnete Verträge mit der Sowjetunion und Polen.34

»Guillaumes Erkenntnissen und Schlußfolgerungen konnten wir«, schreibt Wolf in seinen Erinnerungen, »zweifelsfrei entnehmen ..., daß es sich bei Brandts neuer Ostpolitik um einen zwar widersprüchlichen, aber dennoch echten Kurswechsel in der bundesdeutschen Außenpolitik handelte.«35  Moskau gelangte zur gleichen Erkenntnis. Nach Brandts Besuch in Ostdeutschland berichtete Karlshorst jedoch über »eine sichtliche Zunahme seiner Popularität«,36 die bei der DDR-Führung Besorgnis hervorrief.

Da die Christdemokraten in offener Opposition zu Brandts Ostpolitik standen, bemühte sich die Zentrale nunmehr, Brandt nicht zu kompromittieren, sondern ihn an der Macht zu halten. Im Frühjahr 1972 war Brandts Mehrheit dadurch, daß einige Abgeordnete der SPD und der mit Ihr verbündeten FDP die Seiten gewechselt hatten, auf vier geschrumpft. Sollten noch mehr Abgeordnete diesem Beispiel folgen, so hing das Schicksal der Ostpolitik an einem seidenen Faden. Im April 1972 stellte der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Rainer Barzel, einen Mißtrauensantrag im Bundestag.37

Mit dem Segen der Zentrale unternahm Wolf den möglicherweise riskanten Versuch einer geheimen Einmischung in die Angelegenheiten des Bundestages, um Brandt an der Macht zu halten. Kurz vor der Abstimmung über den Mißtrauensantrag warb die HVA einen korrupten CDU-Abgeordneten, Julius Steiner, als Agenten (SIMSON) an. 38

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Wolf zahlte Steiner 50.000 DM, damit er für Brandt stimmte.39 Bei der Abstimmung fiel Barzels Antrag durch, weil zwei Abgeordnete gegen die eigene Partei gestimmt hatten. Bei der Bundestagswahl im November errang Brandt eine sichere Mehrheit im Bundestag. Damit hatte die SPD die Christdemokraten zum ersten Mal bei einer Abstimmung des Volkes geschlagen.40 SIMSON war weiter als Agent der HVA im neuen Bundestag tätig.

Im Februar 1973 schloß Steiner einen Vertrag mit der HVA (die sich euphemistisch »Strukturelle Arbeitsgruppe des DDR-Ministerrates« nannte) und erhielt daraufhin ein Honorar von monatlich 3000 DM. Bald danach (das Datum ist von Mitrochin nicht vermerkt) berichtete Wolf der Zentrale, daß Steiner mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) zusammenarbeite und daher als Agent wertlos sei. 41

Im Juni veröffentlichte die Münchener Wochenzeitschrift Quick das Foto eines Kontoauszugs, welches zeigte, daß einen Tag nach dem Mißtrauensvotum im April 1972  50.000 DM auf Steiners Konto überwiesen worden waren. Dies rief einen öffentlichen Skandal hervor, der rasch als »Bonns Watergate« oder »Rheingate« bezeichnet wurde. Steiner gab zu, daß er von der HVA angeworben worden war, behauptete aber, er sei mit Billigung des BfV als Doppelagent tätig gewesen, und sagte, die 50.000 DM seien vom Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Karl Wienand, überwiesen worden42 (der, wie später durchsickerte, ebenfalls ein Agent der HVA war).43 Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß folgerte, es gebe keinen schlüssigen Beweis für eine Bestechung.44

Zur Zeit des Sieges, den Brandt bei den Wahlen im November 1972 errang, hatte Guillaume als Agent, der an allen Beratungen der SPD und der Fraktionsführung im Bundestag teilnahm, den Gipfel seiner Karriere erreicht. Am 29. Mai 1973 informierte Günter Noilau, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), jedoch den Innenminister Hans-Dietrich Genscher, Guillaume sei der Spionage verdächtig und werde überwacht (allerdings unterscheiden sich ihre Erinnerungen daran, wie ernst der von Noilau gemeldete Verdacht war).45 

Kurz danach wies die HVA, die — laut Wolfs nicht ganz zuverlässigem Bericht — durch die ungeschickte Observierung von Guillaumes Frau gewarnt worden war, Günter und Christel Guillaume an, ihre Spionage­tätigkeit einzustellen.46 Am 24. April 1974 um 6.30 Uhr wurden die Guillaumes in ihrer Bonner Wohnung verhaftet. Gegen alle Regeln der Geheimdienst­tätigkeit gab Guillaume seine Schuld faktisch zu. Nur mit einem Bademantel bekleidet, rief er stolz: »Ich bin Offizier der Nationalen Volksarmee!« — »Im Grunde«, so schrieb Genscher in seinen Erinnerungen, »war es allein Guillaumes eigene Erklärung..., die ihn überführte 47

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Wolf äußert heute, sein Erfolg bei der Infiltration der unmittelbaren Umgebung Brandts sei »ein politisches Eigentor für die DDR« gewesen. Der politische Skandal, den die Verhaftung auslöste, war der unmittelbare Anlaß für Brandts Rücktritt am 6. Mai 1974.

Die HVA, so folgert Wolf, »half unabsichtlich die Karriere des weitsichtigsten heutigen Staatsmannes zu zerstören«.48

Wie Brandts Witwe mittlerweile offenbart hat, hegte er nach seinem Rücktritt den Verdacht, es habe noch einen weiteren Spion im Bundes­kanzleramt gegeben, der unentdeckt blieb.

 

Die HVA-Operationen, welche die Methoden des KGB am nachhaltigsten beeinflußten, waren wohl die ihrer »Romeo-Spione« (der von den westlichen Medien erfundene Ausdruck wurde später auch von Wolf übernommen).41 Der KGB hatte sich seit den dreißiger Jahren auf die Verführung westlicher Diplomaten und Besucher spezialisiert, die nach Moskau kamen. Das geschah nach einem bestimmten Muster: der Einsatz attraktiver Frauen oder Männer — sogenannter »Schwalben« — als Lockvögel, das heimliche Fotografieren des sexuellen Abenteuers (das manchmal von einem plötzlich auftauchenden, angeblich wütenden »Ehegatten« oder »Verwandten« unterbrochen wurde) und schließlich der Erpressungsversuch.50

Wolfs Taktik war sowohl subtiler als auch wirksamer. Liebe oder ein plausibler Ersatz für sie erbrachte auf Dauer mehr Geheim­informationen als kurze sexuelle Abenteuer.51 Romeo-Spione wurden in der Hauptsache auf alleinstehende Sekretärinnen angesetzt, die meist zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt waren und in westdeutschen Ministerien oder bei Geheimdiensten arbeiteten.

Ende der fünfziger Jahre begann die Karlshorster Filiale des KGB die »Sekretärinnenoffensive« der HVA zu imitieren. Tatsächlich zeigen die von Mitrochin eingesehenen Akten, daß einige »Sekretärinnenspione«, von denen später angenommen wurde, daß sie HVA-Agentinnen gewesen waren, in Wirklichkeit für den KGB arbeiteten. Karlshorsts ursprüngliche Zielpersonen waren weibliche Angestellte im Bonner Auswärtigen Amt, die von einer KGB-Agentin in der Personalabteilung des Ministeriums, Gisela Herzog (MARLENE), ausgewählt wurden; sie selbst war 1954 — offenbar ohne Verwendung eines »Romeo-Spions« — angeworben worden. MARLENE heiratete 1958 einen Beamten des französischen Verteidigungs­ministeriums und zog nach Paris.

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Das erste Opfer der »Sekretärinnenoffensive« war ihre Freundin Leonore Heinz (LOLA), Sekretärin eines Abteilungsleiters im Auswärtigen Amt. Ihr Verführer war Heinz Sütterlin (WALTER), ein Westdeutscher aus Freiburg, der 1957 vom KGB angeworben worden war. Als Herzog 1958 hörte, daß die dreißigjährige Leonore Heinz Sütterlins Annäherungsversuchen erlegen war, bekam sie Gewissens­bisse. Da sie wahrscheinlich voraussah, wie niedergeschmettert LOLA sein würde, wenn sie herausfand, daß sie betrogen worden war, schrieb Herzog an die Zentrale: »Ich möchte Sie bitten, LOLA nicht durch Sütterlin zur Zusammenarbeit mit uns zu gewinnen. Sie wäre sehr desillusioniert.« — »Ich bitte Sie«, schrieb sie ein anderes Mal, »LOLA in Ruhe zu lassen.«52 Die Zentrale schenkte dem, wie vorauszusehen war, keine Beachtung.

Im Dezember 1960 wurden Heinz Sütterlin und Leonore Heinz getraut. Im darauffolgenden Jahr sprach Sütterlin häufig mit seiner Frau darüber, daß der Kalte Krieg in einen heißen umschlagen könne. In einer Zeit, in der die westdeutsche Führung für sich Atombunker bauen lasse, so argumentierte er, müßten sie etwas für ihre eigene Sicherheit tun. Leonore willigte ein, ihm alles anzuvertrauen, was sie über die Ost-West-Beziehungen herausfand. 1961 wurde sie, zunächst ohne ihr Wissen, in das Agenten­netz des KGB aufgenommen. Zwei Jahre später berichtete Sütterlin der Zentrale, er habe seiner Frau, ohne den KGB zu erwähnen, erklärt, daß er ihre Informationen an eine Organisation weitergebe, die einen Atomkrieg verhindern wolle:

»Ich habe LOLA erzählt, es gebe in der Welt eine große Organisation, welche die Erhaltung des Friedens als ihre Aufgabe ansieht. Diese Organisation bitte sie um einen großen Gefallen. Sie solle im Auswärtigen Amt weiterarbeiten und mir alles, was sie herausfindet, berichten ... Sie hat zugestimmt, auf jede nur erdenkliche Weise zu kooperieren, und erklärt, daß sie es als die Pflicht jedes anständigen Menschen ansehe, den Kriegstreibern das Handwerk zu legen. Sie hat es abgelehnt, für ihre Hilfe Geld zu nehmen. Ich glaube, daß wir in LOLA eine Helferin haben, auf die man sich hundertprozentig verlassen kann.«

Während seine Frau jegliche Bezahlung ablehnte, kassierte Sütterlin 1000 DM monatlich. Von 1964 an übergab er Filme von Dokumenten, die LOLA aus dem Ministerium herausgeschmuggelt hatte, dem ostdeutschen Illegalen Eugen Runge (MAX), der für die Karlshorster KGB-Filiale arbeitete.

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Runge wiederum hinterlegte die Filme in einem toten Briefkasten, der von der Bonner Residentur geleert wurde. Nachdem Leonore schließlich erkannt hatte, daß sie für den Sowjetblock arbeitete, traf sich Runge persönlich mit ihr und stellte fest, daß sie durch ihre Entdeckung nicht weiter erschüttert war. Leonore sagte, sie vertraue ihrem Mann vollkommen, und ihre Tätigkeit für den Frieden sei etwas, das einfach getan werden müsse. Sütterlin erklärte Runge, Leonore sei auch vom »Haß gegen die Kaste der hochnäsigen Beamten des Auswärtigen Amtes« motiviert und empfinde »Genugtuung, wenn sie soviel wie möglich Schaden anrichte«.53 Diese Bemerkung enthält einen Hinweis, der in den traditionellen Erklärungsansätzen des Erfolges der »Sekretärinnen­offensive« der HVA und des KGB fehlt. Obwohl die meisten Sekretärinnen aus Liebe zu spionieren anfingen, fand ihre Tätigkeit wahrscheinlich auch — zumindest teilweise — Rückhalt in der Arroganz ihrer gebildeteren und besser bezahlten Vorgesetzten.

1967 lief Runge zur CIA über und verriet sowohl Leonore als auch Heinz Sütterlin. Er berichtete seinen Vernehmungsbeamten: »Wir haben [bundesdeutsche diplomatische] Dokumente bekommen, bevor sie von Leonores Schreibtisch aus in den Coderaum wanderten, und wir haben die von Kurieren beförderten Auslandsberichte meistens schon gelesen, bevor der deutsche Außenminister [Gerhard] Schröder sie erhielt.« 

Wie ihre Freundin Gisela Herzog bereits neun Jahre zuvor befürchtet hatte, war Leonore außer sich über die Entdeckung, daß ein »Romeo-Spion« auf sie angesetzt worden war. Während ihrer polizeilichen Vernehmung wurde ihr das Geständnis ihres Mannes vorgelegt, in dem er zugab, sie nicht aus Liebe, sondern auf Geheiß des KGB geheiratet zu haben. Daraufhin erhängte sich Leonore in ihrer Zelle.54

 

Unter den erfolgreichsten Verführungen im Rahmen der »Sekretärinnenoffensive« finden sich in den von Mitrochin eingesehen Akten zwei weitere Anwerbungen — die von DORIS und ROSIE —, die von ostdeutschen Illegalen »unter falscher Flagge« durchgeführt wurden. In diesem Fall glaubten DORIS und ROSIE jedoch, für eine geheime Neonazi-Gruppe und nicht, wie LOLA annahm, für eine illegale Friedensbewegung zu arbeiten.

DORIS war Margret Höke, eine Sekretärin im Bundespräsidialamt, wo sie nacheinander in verschiedenen Abteilungen tätig war. Ihr »Romeo-Spion« war der ostdeutsche Illegale Hans-Jürgen Henze (HAGEN), der die Identität von Franz Becker, einem in der DDR lebenden Westdeutschen, angenommen hatte.55

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Henze stieß durch Zufall auf die 33jährige Höke. Als er eines Tages im Jahre 1968 aus dem Fenster seiner Bonner Wohnung blickte, sah er eine einsame Spaziergängerin, die eine Staatsbeamtin zu sein schien. Das nächste Mal lauerte ihr Henze in einer Telefonzelle auf, und als Höke vorüberging, fragte er sie, ob sie Kleingeld für einen Telefonanruf habe. Er verwickelte sie in ein Gespräch, und als er heraus­fand, wo Höke arbeitete, arrangierte er eine weitere Begegnung mit ihr.

Allmählich »verliebte sie sich«, wie in ihrer Akte vermerkt war, »ernsthaft in ihn und war ihm sehr zugetan«. Henze erklärte ihr, er sei ein Hochschul­absolvent, der an einer Dissertation über die Arbeit des Bundespräsidenten schreibe; er benötige jedoch noch zusätzliches Quellenmaterial, bevor er seine angebliche Doktorarbeit beenden könne. Höke beschaffte ihm dafür Dokumente aus ihrer Arbeitsstelle. Obwohl Henze in Höke weniger vernarrt war als umgekehrt sie in ihn, entwickelte er eine emotionale Beziehung zu ihr, und einige Jahre lang »fiel es ihm schwer, ein rein sachliches Verhältnis zu ihr zu finden«.

Schließlich, 1971 oder 1972 (das Datum geht aus der Akte nicht eindeutig hervor), erzählte er ihr in der Hoffnung, damit ihren extrem rechten Auffassungen entgegenzukommen, er gehöre einer Organisation »deutscher Patrioten« an, die in Brasilien ihren Sitz habe. Diese traten für die nationale Erneuerung ein und brauchten zur Fortsetzung ihrer Tätigkeit interne Informationen über die Bonner Regierung. 56

Höke erwiderte, sie habe bereits etwas Ähnliches geahnt, und willigte ein, den »deutschen Patrioten« zu helfen. Auf Henzes Veranlassung unterschrieb sie einen Vertrag, den sein »Boß« angeblich aufgesetzt hatte. Darin verpflichtete sie sich, gegen eine monatliche Aufwands­entschädigung von 500 DM Informationen aus dem Bundespräsidialamt zu beschaffen. Unter den Geheim­informationen, die sie lieferte, befanden sich die Mobilisierungspläne des Bundeskanzleramtes und der großen Bonner Ministerien, Einzelheiten über den Regierungsbunker (die Breschnew übermittelt wurden), Telegramme der bundesdeutschen Botschafter aus Moskau, Washington und anderen Hauptstädten, die geheimen Wochenberichte des Auswärtigen Amts an den Bundespräsidenten, ein Dossier über Breschnews Besuch in der Bundesrepublik und Protokolle der Begegnungen des Bundes­präsidenten mit ausländischen Diplomaten.

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Höke kam bald ohne die 500 DM nicht mehr aus, die sie jeden Monat erhielt. Um keine Spuren in ihren Bankunterlagen zu hinterlassen, gab sie das Geld mit der Begründung, sie fände es schwierig, es zu sparen,57 ihrer Mutter, damit sie es für sie anlegte. Schließlich konnte sie sich damit ein neues Apartment m Oberkassel kaufen.58

Nachdem Höke ihren Agentenvertrag unterschrieben hatte, ging sie nicht mehr das Risiko ein, vertrauliches Material mit in ihre Wohnung zu nehmen. Statt dessen brachte Henze ihr bei, mit einer in einer Lippenstifthülse versteckten Miniaturkamera Dokumente im Bundespräsidialamt zu fotografieren. Eines Tages betrat Hökes Chef den Raum, als sie gerade ihre Kamera benutzen wollte, aber zu ihrer großen Erleichterung bemerkte er nicht, womit sie beschäftigt war.59

Höke übergab die Filme gewöhnlich entweder in Köln oder in Zürich. Das Geheimtreffen (jawka) fand jeweils am ersten Dienstag im Monat um 20.30 Uhr in Köln-Bayenthal am Ende des Bayenthalgürtels statt, etwa 50 Meter von der Bismarcksäule entfernt, und zwar an einer Telefonzelle neben einer Litfaßsäule. Höke sollte eine Ausgabe des Spiegel in der Hand halten, wenn sie zu der Begegnung bereit war. Um Gefahr zu signalisieren, sollte sie statt dessen einen Plastikbeutel tragen. Die Treffen in Zürich fanden jeweils samstags um 17 Uhr vor dem Schaufenster eines Porzellangeschäfts am Rennweg 35 statt.60

Henze wurde dafür, daß er Höke so erfolgreich als Agentin führte, zweimal mit dem Orden »Roter Stern« ausgezeichnet. 1976 kehrte er nach Ostdeutschland zurück, traf Höke aber weiter regelmäßig in Köln oder Zürich.61 1976 wurde sie zeitweilig »auf Eis gelegt«, als Untersuchungen gegen eine andere Sekretärin liefen, die im Verdacht stand, für den Osten zu spionieren. Ein Jahr später wurde sie mit dem neuen Codenamen VERA reaktiviert. 1980 füllten die von ihr gelieferten Dokumente zehn Bände.62 Obwohl Höke mit Henze in Kontakt blieb, gab sie geheim-dienstliche Informationen auch durch RENATA weiter, eine ostdeutsche Illegale, die für den KGB arbeitete.63  

Unter den Informationen, die sie zu Beginn der achtziger Jahre lieferte, befanden sich Einzelheiten der Gespräche, die Außenminister Hans Dietrich Genscher mit US-Außenminister George Shultz im Oktober 1982 über die Stationierung von Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik führte. Sie nahm auch an den beiden großen WINTEX-Manövern der NATO teil, bei denen sie geheime Informationen über das Kommando und Leitsystem der Bundes­republik im Kriegsfall lieferte, und berichtete über ihre Erfahrungen bei der Arbeit im geheimen Regierungsbunker in der Eiffel.

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Höke wurde 1985 verhaftet und legte bald ein Geständnis ab. 1987 wurde sie zu acht Jahren Zuchthaus und einer Geldstrafe in Höhe von 33.000 DM verurteilt — dem Gesamtbetrag dessen, was sie nach Meinung des Gerichts vom KGB bekommen hatte. Bei der Verkündung des relativ milden Urteils erklärte der Richter, er habe berücksichtigt, daß sie sich in den Mann, der sie anwarb, »hoffnungslos verliebt« hatte. Die britische Presse urteilte zwiespältig über Höke. Während sie der Daily Telegraph als eine »schäbige Sekretärin« bezeichnete, zeigte sich der Observer von ihr als »Glamour Spy« beeindruckt.64

Die zur Anwerbung von Höke benutzten Methoden ähnelten den bei Heidrun Hofer (ROSIE) angewandten. Sie war Sekretärin, Anfang dreißig und beim Bundesnachrichtendienst (BND) beschäftigt.65 Als sie Anfang der siebziger Jahre in der Pariser BND-Filiale tätig war, wurde sie von ROLAND, einem ostdeutschen Illegalen von militärisch straffem Auftreten verführt. Er behauptete wie Henze, für eine neonazistische Gruppe von »deutschen Patrioten« zu arbeiten.66 Bei Hofer ging man noch einen Schritt weiter als bei Höke. Am 26. Februar 1973 stellte ROLAND sie in Innsbruck WLADIMIR vor, der ihr mitteilte, er sei ein Führer der Untergrundbewegung der Neonazis. Am Tag darauf traf sich WLADIMIR mit Hofer allein. Dabei erzählte er ihr, er habe Admiral Wilhelm Canaris gekannt, den Chef der deutschen Abwehr, in der ihr Vater gedient hatte, und besprach mit ihr, welche Geheiminformationen sie ihm liefern sollte. WLADIMIR war, was Hofer nicht wußte, ein ranghoher Illegaler des KGB, Iwan Unrau, ein 1914 in Rußland geborener Volksdeutscher.67

1974 wurde Hofer in die BND-Zentrale nach Pullach in Bayern versetzt, wo sie nacheinander in den Verbindungs­büros Westeuropa und NATO arbeitete und sich mit einem BND-Major verlobte.68 Nach dem Ende ihrer Affäre mit ROLAND setzte der KGB zwei weitere ostdeutsche Illegale ein, MASON (der behauptete, ROLANDs Vater zu sein) und FRANK, um den Kontakt zu ihr aufrechtzuerhalten. Beide behaupteten, Mitglieder des neonazistischen Untergrunds zu sein.69

Obwohl in Mitrochins Notizen davon nichts erwähnt ist, hat Hofer wohl irgendwann bemerkt, daß sie »unter falscher Flagge« angeworben worden war, und dann als bezahlte Agentin weitergearbeitet. Am 21. Dezember 1977 wurde sie — möglicherweise aufgrund eines Hinweises des französischen Auslands­nachrichten­dienstes SDEC — verhaftet, als sie die österreichische Grenze passieren wollte, um ihren Führungsoffizier zu treffen. Am nächsten Tag gab sie zu, KGB-Agentin zu sein. Hofer blieb ziemlich ungerührt, bis ihr mitgeteilt wurde, der BND-Major habe ihre Verlobung gelöst.

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Da brach sie in Tränen aus und bat schließlich darum, das Fenster zu öffnen, um etwas frische Luft herein­zulassen. Dann sprang sie plötzlich auf und stürzte sich aus dem Fenster im sechsten Stock. Obwohl einige Büsche ihren Sturz milderten, wurde sie schwer verletzt.70

Neben Höke und Hofer scheint Elke Falk (LENA) die erfolgreichste Agentin gewesen zu sein, die in den siebziger Jahren von einem ostdeutschen Romeo angeworben wurde. Nachdem LENA in einer Kolumne für einsame Herzen inseriert hatte, nahm der Illegale Kurt Simon (GEORG), der sich als Gerhard Thieme vorstellte, Kontakt zu ihr auf. Aus Mitrochins Notizen geht nicht klar hervor, ob GEORG sie »unter falscher Flagge« anwarb. Angespornt von ihm, fand Falk 1974 eine Anstellung als Sekretärin im Bundeskanzleramt.71 Zur Arbeit nahm sie eine in einem Feuerzeug versteckte Miniaturkamera mit sowie eine unechte Haarspraydose, in der sie ihre Filme verstauen konnte.72 Wie Höke gehörte sie während der WINTEX-Manöver dem Stab des Krisenmanagements an. 

1977 verlieh die Zentrale Simon den Orden »Roter Stern«. Später wurde Falk von zwei anderen Illegalen geführt, von denen sich der eine »Peter Müller« nannte und der andere den Codenamen ADAM trug.73  LENA wechselte 1977 vom Bundeskanzleramt zum Verkehrsministerium und 1979 zum Ministerium für Entwicklungshilfe über.74 Als Mitrochin 1980 ihre operative Akte einsah, umfaßte sie sieben Bände.75 Falk wurde 1989 verhaftet, bei ihrem Prozeß aber fälschlicherweise als eine Agentin der HVA statt des KGB bezeichnet. Obwohl sie zu sechseinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, saß sie nur wenige Monate ab, da sie im Zuge eines Ost-West-Agentenaustauschs freikam. Falk erhielt für ihre Spionagetätigkeit angeblich insgesamt 20.000 DM.76

 

Nicht alle Romeo-Spione erzielten jedoch Resultate. Unter den Versagern befand sich ein für den KGB tätiger ostdeutscher Illegaler, Wilhelm Kahle (WERNER), der die Identität eines in der DDR lebenden West­deutschen annahm. Zu Kahles Tarn­berufen gehörten Tätigkeiten als Labortechniker an der Kölner und Bonner Universität sowie als Deutschlehrer in Paris. Anfang der siebziger Jahre knüpfte er Kontakte zu vier bundes­deutschen Außenamts- und Botschaftssekretärinnen, zur Angestellten einer amerikanischen Botschaft in Europa, zu einer amerikanischen Studentin an einer deutschen Universität und zu einer britischen Sekretärin bei der NATO an. Kahles zehnbändige Akte enthält jedoch keinen Hinweis darauf, daß er von seinen Quellen irgendwelche bedeutenden geheimen Informationen erhielt.

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Seine wichtigste westdeutsche Kontaktperson war BELLA, die in der bundesdeutschen Botschaft in Teheran und ab 1975 in London arbeitete. Laut Kahles Akte stießen seine Versuche, BELLA während ihres Aufenthalts in London anzuwerben, auf »ungenügende Entschlossenheit« und wurden dadurch vereitelt, daß der Sicherheitsbeamte der Botschaft mißtrauisch wurde. Kahle interessierte sich mehr für MONA, eine französische Übersetzerin, die für eine schwedische Papierfabrik in Paris arbeitete, wo er von 1975 an stationiert war. 

In seiner Akte steht, daß er ein »intimes Verhältnis« zu MONA unterhielt und sie heiraten wollte. Die Zentrale hegte jedoch verständlicherweise Zweifel sowohl an MONAs Möglichkeiten, geheimdienstliche Informationen zu liefern, als auch an Kahles Beweggründen. Der KGB, der das Telefon von Kahles Mutter in Ostdeutschland angezapft hatte und die an sie gerichtete Post abfing, fand heraus, daß er befürchtete, nach Moskau zurück­beordert zu werden, und sich außerdem um seine Kristall- und Porzellansammlung in Paris Sorgen machte, von der die Zentrale bislang nichts gewußt hatte.77

1978 wurde Kahle dann auch nach Moskau zurückgerufen und einem Lügendetektortest unterzogen. Dies geschah unter dem Vorwand, ihm wertvolle Erfahrungen für den Fall zu vermitteln, daß bei seinem nächsten Einsatz ein ähnlicher Test mit ihm gemacht würde. Außerdem wurde eine ideologisch zuverlässige Agentin, ANITA, auf ihn angesetzt, um herauszufinden, was er wirklich im Sinn hatte.

ANITAs Bericht bestätigte das Mißtrauen der Zentrale. Als sie Kahle fragte, ob er wüßte, weshalb er zurückbeordert wurde, antwortete er grinsend, er sei in Paris »zu bequem« geworden, habe viele Freundschaften und Bekanntschaften geschlossen und eine komfortabel eingerichtete Wohnung erworben, die er ungern verlassen wolle. Er habe auch gegen Regeln des KGB verstoßen, indem er einige seiner Sachen bei MONA deponiert und von ihr 3000 Franc geborgt habe. ANITA zeigte sich über Kahles »ideologische Krise« entsetzt:

»Es würde ihm nicht schaden, seine marxistisch-leninistischen Kenntnisse aufzufrischen und vor allem den Kursus über die politische Ökonomie des Sozialismus zu wiederholen. Er besitzt keinen Klasseninstinkt, da er in einer kleinbürgerlichen Umgebung aufgewachsen ist. Das Leben im Westen hat bei ihm Spuren hinterlassen: Steter Tropfen höhlt den Stein, wie das Sprichwort lautet. Seine Ansichten entsprechen denen der Französischen Kommunistischen Partei. Die Diktatur des Proletariats ist für ihn wie ein rotes Tuch; er ist nicht von ihrer Notwendigkeit überzeugt und glaubt wenig an die Vorzüge der sozialistischen Planwirtschaft. WERNER hat nur die Schokoladenseite des Westens kennengelernt. Er hat mit Leuten in Verbindung gestanden, die zufrieden, reich und erfolgreich sind. Er hat keine Arbeitslosigkeit und Armut kennengelernt.« 78  

Als Folge von ANITAs Bericht scheint Kahle auf ein Abstellgleis geschoben worden zu sein. 1982 wurde er formell aus dem Dienst als Illegaler entlassen.79

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Neben den Sekretärinnen, die spionierten, erwiesen sich in den siebziger Jahren zwei Anwerbungen im Geheim­dienstmilieu als außerordentlich produktive Quellen des KGB. Eine davon erhielt für »ergiebige Zusammenarbeit« das Ehrenabzeichen (Snak potschota) des KGB.80 Die andere Quelle, deren Anwerbung Andropow persönlich genehmigte, gehörte zu den wertvollsten Agenten der Karlshorster KGB-Basis.81 Beide Quellen scheinen jedoch zu Beginn der achtziger Jahre versiegt zu sein.

Die Erfolge der HVA beim Eindringen in die Geheimdienste der Bundesrepublik Deutschland waren nicht weniger beeindruckend als die des KGB.

1973 wurde Gabriele Gast, die drei Jahre zuvor von einem Romeo der HVA angeworben worden war, Analytikerin beim BND und 1987 stellvertretende Leiterin der Ostblockabteilung, die höchstplazierte Frau in dem von Männern beherrschten westdeutschen Nachrichtendienst. Gasts Motivation war komplex. Neben der emotionalen Beziehung zu ihrem Anwerber mißtraute sie dem politischen System der Bundesrepublik und war von Markus Wolf fasziniert. »Sie mußte«, wie Wolf schreibt, »fühlen, daß ich sie brauchte, und ich schenkte ihr meine persönliche Aufmerksamkeit.... Manchmal waren ihre Mitteilungen im Ton einer verletzten Geliebten abgefaßt ....«

Wolf traf sich siebenmal mit ihr. Seine Aufmerksamkeit wurde reich belohnt. »Gabys Arbeit für uns«, so erinnert er sich, »war tadellos. Sie lieferte uns ein genaues Bild vom Wissen und Urteil des Westens über den ganzen Ostblock. Dies erwies sich für uns als lebenswichtig, um uns auf den Aufschwung der Solidarnosc Anfang der achtziger Jahre in Polen einstellen zu können.« Einige ihrer geheimen Einschätzungen, die Wolf so beeindruckten, landeten auch auf dem Schreibtisch von Helmut Kohl und, wie angenommen werden kann, auch auf denen von Andropow, Tschernenko und Gorbatschow.82

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1981 bot Klaus Kuron vom BfV in einem Brief an die Bonner HVA-Dependance seine Dienste an. Kuron, ein hoher Offizier der Spionageabwehr, der darauf spezialisiert war, »umgedrehte« Agenten der HVA zu führen, war darüber verbittert, daß er bei der Vergabe von Spitzenposten übergangen worden war, und steckte in finanziellen Schwierigkeiten. Besonders fiel Wolf an ihm auf, daß ihm sein Verrat überhaupt nicht peinlich war. »Sein Paradigma war das von unerfüllten Ambitionen, wie es in jedem Staats­dienst vorkommt.« Die HVA nutzte geschickt sein verletztes Selbstwertgefühl aus und zahlte Kuron in den letzten acht Jahren ihrer Existenz insgesamt fast 700.000 DM.83

1985 sorgte Hans-Joachim Tiedge, Leiter der Spionageabwehr beim BfV, für eine noch größere Überrasch­ung als vier Jahre zuvor Kurons Brief. Er erschien betrunken und ungekämmt bei den ostdeutschen Grenzern und erklärte, daß er übertreten wolle. Tiedge war sowohl Spieler als auch Alkoholiker; einmal wäre er beinahe wegen Totschlags angeklagt worden, nachdem seine Frau bei einem Familienkrach den Tod gefunden hatte. »Wenn mir ein Fall wie meiner zur Entscheidung unterbreitet worden wäre«, so erzählte er der HVA, »hätte ich empfohlen, mich unverzüglich rauszuschmeißen.«

Die erste Prostituierte, die Wolf holen ließ, damit sie Tiedge nach seinem Übertritt die Zeit vertrieb, warf nur einen Blick auf ihn und rannte weg. Aber »Tiedge hatte«, wie Wolf behauptet, »ein computergleiches Gedächtnis für Namen und Verbindungen und füllte für uns eine Menge Lücken, jedoch nicht so viele, wie er dachte, da er nicht wußte, daß sein Kollege Kuron in unserem Sold stand«. 84 

 

Der vielleicht komplizierteste Aspekt der HVA-Operationen in der Bundesrepublik betraf die Kontakte, die die HVA entweder direkt oder durch Mittels­männer zu Politikern unterhielt. Die meisten Treffen zwischen westdeutschen Politikern und Vertretern der DDR waren Teil eines echten Versuchs, einen Dialog zwischen Ost und West zustande zu bringen. Dieser Dialog mußte oft unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden. Die Tatsache, daß die Stasi zwangsläufig ein starkes Interesse an diesen Begegnungen hatte, genügt nicht, um jene Politiker der Bundesrepublik, die an ihnen teilnahmen, als Kollaborateure der HVA zu brand­marken. Bei einer verschwindend kleinen Zahl der Fälle dienten solche Kontakte jedoch als Tarnmantel für Spionage oder etwas, das ihr nahekam.

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Der bekannteste Fall eines westdeutschen Politikers, der als HVA-Agent tätig wurde, ist der von Karl Wienand, der zur Zeit der Brandt-Regierung Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestags­fraktion und einer der engsten Vertrauten des Fraktions­vorsitzenden Herbert Wehner war. Nach dem Zusammenbruch der DDR tauchten in den Stasi-Akten Beweise dafür auf, daß Wienand von 1970 bis zum Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989 HVA-Agent gewesen war. 1996 wurde er zu zweieinhalb Jahren Haft und einer Geldstrafe von einer Million DM — der Summe, die er insgesamt von der HVA erhalten hatte — verurteilt. 85 

Wie Außenminister Hans-Dietrich Genscher schrieb, war Wienand derjenige, der im Spannungsdreieck Schmidt-Brandt-Wehner als einziger das Vertrauen aller drei Männer zu genießen schien, die nach Brandts Rücktritt die SPD leiteten: des neuen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, des Parteivorsitzenden Brandt und des Fraktionsvorsitzenden Wehner.86 Wolf behauptet, Wienand, der »im Geruch außergewöhnlicher materieller Interessiertheit stand«, habe ihm »einen beneidens­werten Einblick in die unterschiedlichen Vorstellungen, Absichten und Grabenkämpfe« innerhalb des Triumvirats an der SPD-Spitze vermittelt. Dieser Einblick scheint auch die Zentrale beeindruckt zu haben. Wolf zufolge unternahm der KGB einen Versuch, selbst »mit Wienand ins Geschäft zu kommen«, Wolf aber »konnte die sowjetischen Kollegen... davon abbringen«. (87)

 

    Herbert Wehner   

 

Der widersprüchlichste Fall eines hohen westdeutschen Politikers, der mit dem Osten in engem Kontakt stand, war Herbert Wehner. Hinweise auf Wehner, die seit dem Fall der Berliner Mauer in sowjetischen und ostdeutschen Dokumenten gefunden wurden, führten zu zahlreichen Spekulationen, ob er wie sein Kollege Wienand ein Agent der HVA oder des KGB gewesen war.88 Die Akte Wehner der Zentrale (Wehners Codename war KORNELIS) zeigt, daß er ein »vertraulicher Kontakt« sowohl des KGB als auch der HVA war, doch niemals ein voll rekrutierter Agent.89

Wehners Kontakte zum sowjetischen Geheimdienst reichten bis zu seinen Jahren als Mitglied des Politbüros der Exil-KPD in Moskau nach Hitlers Machtergreifung zurück. Während der Zeit des Großen Terrors hatte er mehrere seiner Genossen als Verräter denunziert90 und sollte als NKWD-Agent angeworben werden. Aus Wehners KGB-Akte ist jedoch ersichtlich, daß er selbst knapp der Hinrichtung entging. 

Heinrich Mayer (MOST), ein KPD-Funktionär, der Wehner im Exil denunzierte, wurde exekutiert; ein zweiter Mann, Erich Birkenhauer (BELFORT), wurde zu zwölf Jahren Gulag verurteilt. Eine dritte Denunziation — durch MIRRA, eine NKWD-Agentin unter den deutschen Kommunisten — führte beinahe zum Sturz Wehners. MIRRA berichtete, Wehners Verhalten scheine darauf hinzudeuten, daß er »mit der Gestapo in Kontakt« stehe.

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Am 15. Dezember 1937 wurde Wehner (damals unter dem Namen Herbert Funk bekannt) zur Vernehmung ins Hauptgebäude des NKWD bestellt. Aus einem Vermerk in seiner Akte geht hervor, daß er den Eindruck gewinnen sollte, er solle als Agent angeworben werden, daß man aber in Wirklichkeit in Vorbereitung seiner Verhaftung Beweise gegen ihn sammeln wollte.

1938 gestand Theodor Beutming, ehemaliger Sekretär des KPD-Bezirks Berlin-Brandenburg, zusammen mit Wehner Mitglied eines (nicht existierenden) »geheimen deutschen trotzkistischen Zentrums« in Moskau zu sein. Am 22. Juli schrieb der NKWD-Vorsitzende Jeschow auf Beutmings Geständnis: »Wo ist die Meldung über die Verhaftung von Funk?« Eine Mitteilung, die kurz danach an Jeschow gesandt wurde, enthielt die Namen mehrerer deutscher Kommunisten, die bei Verhören durch den NKWD Wehner als einen Gestapo-Agenten bezeichnet hatten. 91)

Wehner scheint der Hinrichtung nur dadurch entgangen zu sein, daß der Terror abebbte und daß Jeschow einige Monate später in Ungnade fiel. Anfang 1940 schickte ihn die Komintern nach Schweden, damit er dort unter Verwendung von Papieren, die auf den Namen H.M. Kornelis ausgestellt waren, »illegale Arbeit« leistete. Im Juni 1941, kurz vor Hitlers Überfall auf die Sowjetunion, zog die Zentrale Wehner noch einmal für eine Anwerbung als NKWD-Agent in Betracht. Als jedoch heraus­gefunden wurde, daß ein von ihm im Oktober des vorangegangenen Jahres verfaßter Bericht die richtige, aber politisch falsche Feststellung enthalten hatte, ein Angriff Nazideutschlands auf die Sowjetunion sei früher oder später unvermeidlich, wurde beschlossen, ihn nicht anzuwerben.92)

Wehner wurde später von der schwedischen Polizei verhaftet und gab, wie Markus Wolf in seinem Buch behauptet, die Namen von Mitgliedern des kommunistischen Untergrunds in Schweden und in Deutschland preis.93  Als er aus dem Gefängnis freikam, distanzierte er sich von den Kommunisten und schloß sich der SPD an.

Wolf empfand den Wehner der Nachkriegszeit als »eine Person von unversöhnlichen Gegensätzen«. Obwohl Wehner eine bedeutende Rolle bei der Umwandlung der SPD von einer marxistischen in eine sozialdemokratische Partei spielte, bewahrte er eine nostalgische Einstellung zu seinen kommunistischen Wurzeln. 1973 hatte er ein sehr herzliches Wiedersehen mit Ulbrichts Nachfolger, Erich Honecker, mit dem er fast ein halbes Jahrhundert zuvor als junger Kommunist im Saarland zusammengearbeitet hatte.

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Honecker gab sich enorme Mühe, das Wiedersehen in allen Einzelheiten vorzubereiten, und sorgte dafür, daß der Kuchen, der zum Tee serviert wurde, genauso schmeckte wie der, den Honeckers Mutter viele Jahre zuvor für Wehner gebacken hatte.94 Nach Wehners Tod im Jahre 1990 behauptete Honecker, daß dessen »Ziel noch immer die Einheit der Arbeiterbewegung und die Errichtung einer sozialistischen deutschen Republik« gewesen sei, obwohl er den Kommunismus abgelehnt hatte.95

Wolf zufolge begannen die geheimen Kontakte zu Wehner Mitte der fünfziger Jahre, wurden aber von Ulbricht mit großem Mißtrauen betrachtet. Für Ulbricht war er merkwürdigerweise »ein englischer Agent«. Die Verbindung zu Wehner wurde leichter, als er 1966 Minister für Gesamtdeutsche Fragen geworden war und regelmäßige Begegnungen mit dem ostdeutschen Anwalt Wolfgang Vogel stattfanden, der mit westdeutschen Beamten »humanitäre Fragen« verhandelte. Vogel wurde von Erich Mielke, dem Minister für Staatssicherheit der DDR, direkt instruiert und erstattete ihm nach jeder Begegnung mit Wehner Bericht. Wolf schreibt:

»Mielke allein redigierte die Berichte über die Gespräche mit Wehner für die Weitergabe an Honecker. Da das Formulieren nicht seine Stärke war, zog er sich oft einen ganzen Tag zurück, um die Botschaften des <Onkels> in die rechte Form zu bringen. Kaum etwas in der DDR war geheimer als diese Berichte. Außer den drei Exemplaren für Honecker, Mielke und mich gab es noch eine extra redigierte und zensierte Version der Protokolle, die an die sowjetischen Partner ging.« 96 

Mielke prahlte der Zentrale gegenüber, die Stasi habe durch Wehners regelmäßige Berichte einen direkten Draht zum Zentrum der westdeutschen Machtstruktur. In Mitrochins Notizen ist nicht ein einziger solcher Bericht zu finden. Was jedoch aus ihnen hervorgeht, ist ein Beweis dafür, welches Vertrauen in Wehner gesetzt wurde. 1973 wurde er — offensichtlich bevor die Nachricht publik wurde — darüber informiert, daß der von der HVA als Agent angeworbene Herausgeber der Wochenzeitschrift Quick, Heinz van Nouhuys (NANT), in Wirklichkeit ein für den BfV arbeitender Doppelagent war.97

Brandt kam später zu dem Schluß, Wehner habe hinter seinem Rücken mit der DDR verhandelt.98 Es ist jedoch unwahr­scheinlich, daß Wehner jemals bewußt das verriet, was er als Interessen der Bundesrepublik Deutschland betrachtete.

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»Die Konspiration war für ihn«, wie Wolf meint, »von Jugend an ein Mittel der Machtpolitik und auch des politischen, ja bisweilen des physischen Überlebens. Von den ersten Kontakten zu uns... hat er wohl immer geglaubt, der Stärkere im politischen Spiel zu sein.« 99)

Der KGB, der Wienand anscheinend völlig der HVA überließ und Wehner stets nur als einen »vertraulichen Kontakt« betrachtete, besaß in den siebziger Jahren in der SPD-Führung einen Agenten, KARDINAL, der bis heute unbekannt geblieben ist. Dieser war von einem anderen KGB-Agenten, MAWR, einem westdeutschen Filmemacher, empfohlen worden. KARDINAL lieferte Informationen über bundesdeutsche Politiker und Industrielle, nannte die Themen, die Brandt während seines Besuchs in Moskau im Jahre 1973 erörtern wollte, berichtete über Brandts Rücktritt im Jahre 1974 sowie über die Beziehungen der Bundesrepublik zu China, Israel und Portugal. KARDINAL erhielt eine Ikone und andere wertvolle Geschenke.

Außerdem wurden ihm 1974 und 1976 jeweils 5000 US-Dollar und 1977 11.635 DM gezahlt. Danach begannen die Zweifel. Eine genaue Prüfung seiner »geheimdienstlichen Informationen« durch die Zentrale förderte — abgesehen von einigen Dingen, bei denen es sich, wie der KGB vermutete, um Desinformationen handelte — nichts von Belang zutage, was nicht auch in der westdeutschen Presse gestanden hatte. Es wurde die Schlußfolgerung gezogen, daß KARDINAL und MAWR sich beim KGB einzuschmeicheln versucht hatten, um dessen Unterstützung beim Abschluß wertvoller Verträge in der Sowjetunion zu erhalten. Der Kontakt wurde abrupt abgebrochen.100) 

Mitrochins Notizen über die Versuche des KGB, die CDU zu infiltrieren, sind viel weniger umfangreich als über die SPD. Er identifizierte jedoch zwei Agenten in der CDU, die 1972 angeworben wurden: STOLPEN, einen Berater der Partei,101 und RADIST, ein Mitglied des Westberliner Abgeordneten­hauses.102) Es sind keine Einzelheiten darüber bekannt, welche Informationen sie lieferten. Mitrochin identifiziert auch ein führendes FDP-Mitglied mit dem Codenamen MARK, das aufgrund angeblicher »kompromittierender Umstände«, die mit seinem Kriegsdienst in der Wehrmacht in Zusammenhang standen, 1946 in Ostdeutschland angeworben worden war. Einige Jahre später gelang es MARK, in den Westen zu fliehen, wo er bald bestrebt war, als Politiker Karriere zu machen. 1956 nahm der KGB zu ihm Kontakt auf und blieb in den nächsten vierundzwanzig Jahren mit ihm in Verbindung.

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Es gibt keinen Beweis dafür, daß MARK in dieser Zeit irgendwelche wichtigen Informationen geliefert hätte. Einer späteren Einschätzung der Zentrale zufolge hatte er Informationen weitergegeben, die zugunsten der politischen Interessen der Bundesrepublik frisiert waren, und versucht, seine Verbindungen zum Osten für seine Karriere zu nutzen. 1980 kam die Zentrale endgültig zu dem Schluß, daß es keinen Sinn mehr hatte, den Kontakt zu ihm aufrechtzuerhalten.103

Sowohl die umfrisierten Zeitungsmeldungen, die KARDINAL geliefert hatte, als auch die Tatsache, daß ein Vierteljahrhundert für Versuche vergeudet wurden, von MARK geheime Nachrichten zu erhalten, sind ein weiterer Beweis für die beschränkte politisch-analytische Fähigkeit des KGB. Mitrochin berichtet über einen Fall, bei dem Andropow die schlechte Qualität der Einschätzungen der Ersten Hauptverwaltung über die Bundesrepublik Deutschland scharf rügte. Im Oktober 1977 unterbreitete Krjutschkow als Teil der Vorbereitungen auf den im darauffolgenden Jahr vorgesehenen offiziellen Staatsbesuch Breschnews in Westdeutschland einen alarmierenden Bericht über die angeblich zu erwartenden Sicherheitsprobleme, indem er behauptete, in der Bundesrepublik seien mindestens 250 Gruppen von Terroristen und Extremisten in der Lage, ein Attentat auf den Sowjetführer zu verüben. Andropow erwiderte sarkastisch:

»Genosse Keworkow [von der Zweiten Hauptverwaltung], der gerade aus der BRD zurückgekehrt ist, schätzt die Situation anders ein. Sie sollten ihre Uhren vergleichen, denn das ist keine triviale Sache.« 104  

Keworkows weniger schwarzseherische Einschätzung erwies sich als richtig, und Breschnews Besuch im Mai 1978 verlief ohne Zwischenfall.105)

 

Mitrochins Informationen über die westdeutschen Agenten des KGB sind zwar ausführlich, aber nicht erschöpfend. Die von ihm eingesehenen Akten enthalten zum Beispiel einen interessanten Hinweis auf einen KGB-Agenten in der Umgebung von Egon Bahr, der einer der engsten Berater Helmut Schmidts und ein rührender Architekt der Ostpolitik war. (Es gibt jedoch kein Anzeichen dafür, daß Bahr selbst der Agent war.)

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Am 5. Februar 1981 schickte Andropow Breschnew und dem Zentralkomitee der KPdSU einen geheimen Bericht (Nr. 259-A/OV), der den Vermerk »Besonders wichtig!« trug und den Inhalt eines Telefongesprächs wiedergab, das Schmidt am 27. Januar mit Reagan geführt hatte, der eine Woche zuvor in sein Präsidentenamt eingeführt worden war. Der Bericht enthielt auch Einzelheiten über Gespräche, die Schmidt danach mit Bahr und anderen Beratern geführt hatte. Schmidt war verärgert, weil ihn Reagan mit der Begründung, er sei »auf eine ernsthafte Diskussion über außenpolitische Probleme« noch nicht vorbereitet, bat, den für den 3. März geplanten Besuch des Bundeskanzlers in Washington um einen Monat zu verschieben. Schmidt sagte zu seinen Beratern, dies sei eine absichtliche Verzögerungstaktik der neuen Reagan-Administration, mit der Washington Zeit gewinnen wolle, »um seine Rüstung zu steigern mit dem Ziel, die UdSSR auf militärischem Gebiet zu überholen«.

Der Quelle des KGB zufolge äußerte Schmidt Bahr und anderen Personen gegenüber seine Unzufriedenheit darüber, daß Bonn von Spezialisten überflutet sei, die Washington entsandt habe, um die Zunahme der Handelsbeziehungen zwischen West­deutschland und der Sowjetunion zu stoppen. Schmidt glaubte zu Recht, daß die Reagan-Administration die Verhandlungen zwischen Bonn und Moskau über den Bau von Pipelines, durch die Erdgas von Sibirien in die Bundesrepublik geliefert werden konnte, torpedieren wollte. Moskau war zweifellos erfreut, daß Schmidt beabsichtigte, die Verhandlungen zu beschleunigen, um Reagan vor vollendete Tatsachen zu stellen. 106) 

Die Zuverlässigkeit der deutschen Quelle des KGB wurde in dem Bericht, der an Breschnew und an das Zentralkomitee gesandt wurde, sowohl von Andropow als auch von Generalleutnant Keworkow, dem damaligen Leiter der Siebenten Abteilung der Zweiten Hauptverwaltung des KGB, bestätigt.107 Daß Keworkow involviert war, deutet darauf hin, daß die Quelle nicht von der Ersten Hauptverwaltung angeworben worden war und gesteuert wurde, sondern von der Zweiten, vielleicht aufgrund einer Kompromittierung bei einem Besuch oder einer Stationierung in Moskau (einer charakteristischen Form der Erpressung, die mit Vorliebe von der Zweiten Hauptverwaltung praktiziert wurde).108

Obgleich weder die sowjetische noch die ostdeutsche Führung von Schmidt sehr begeistert waren, wollten sie eine Rückkehr der Christdemokraten an die Macht verhindern. Wie aus einer KGB-Akte hervorgeht, ließ Honecker der Regierung Schmidt 1978 die Nachricht zukommen, die DDR sei gewillt, Maßnahmen zu treffen, welche die sich offensichtlich verschlechternden Wahl­aussichten der SPD verbessern sollten.

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Dazu gehörte zum Beispiel die Lockerung der Reisebeschränkungen zwischen der DDR und der Bundes­republik.109 Es gibt jedoch keinen Beleg über irgendeine Antwort der SPD.

Für Moskau stellte der charismatische rechte bayerische CSU-Chef Franz Josef Strauß, der bei den Bundes­tags­wahlen 1980 für das Amt des Bundeskanzlers kandidierte, ein besonderes Schreckgespenst dar. Im Protokoll einer Begegnung zwischen Andropow und Mielke im Juli 1979 heißt es: »Es wurde festgestellt, daß Strauß ein ernsthafter Gegner Schmidts bei den Bundestagswahlen von 1980 ist. Es ist deshalb wichtig, Strauß und seine Anhänger zu kompromittieren 110  

Zu den aktiven Maßnahmen, die Andropow und Mielke vereinbarten, gehörte die Operation COBRA-2, die von einer HVA-Agentin — Inge Goliath, einer ehemaligen Sekretärin beim Leiter des Arbeitskreises Außenpolitik der CDU — gelieferte Informationen dazu verwendete, sinistre Verbindungen zwischen der CDU/CSU-Führung und rechten Elementen in den Geheimdiensten zu konstruieren. 1587 Exemplare einer Broschüre, in der behauptet wurde, BND-Offiziere hätten gemeinsam mit der Opposition gegen die Schmidt-Regierung konspiriert, wurden unter Politikern, Gewerkschaftsführern und anderen Meinungsmachern in der Bundesrepublik verbreitet. Den KGB-Akten über COBRA-2 zufolge wurden einige der in der Broschüre enthaltenen Desinformationen von der westdeutschen Presse übernommen und veranlaßten Bundeskanzler Schmidt, gerichtliche Untersuchungen anstellen zu lassen.111

Der KGB, der ständig dazu neigte, den Erfolg seiner aktiven Maßnahmen in den Berichten für das Politbüro zu übertreiben, behauptete, COBRA-2 habe große Beunruhigung in der CDU/CSU-Führung hervorgerufen und »einen positiven Einfluß« zur Sicherung eines SPD-Sieges bei den Bundestagswahlen 1980 ausgeübt.112 Die Wahlniederlage von Strauß war in Wirklichkeit kaum, wenn überhaupt, auf sowjetische und ostdeutsche aktive Maßnahmen zurückzuführen. Als schließlich die SPD-Regierung 1983 scheiterte, stand an der Spitze der neuen Regierung nicht Strauß, sondern der gemäßigtere Helmut Kohl.

Hauptziel der aktiven Maßnahmen des KGB zu Beginn der achtziger Jahre war der Versuch, sich den Widerstand der großen, militanten westdeutschen Friedensbewegung gegen die Aufstellung amerikanischer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik zunutze zu machen. Einer der beredtesten Gegner der Stationierung war Oskar Lafontaine, damals Oberbürgermeister von Saarbrücken, später erfolgloser SPD-Kanzlerkandidat (und 1998 kurzzeitig Finanzminister im Kabinett von Gerhard Schröder).

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Es wäre verwunderlich gewesen, hätte die Zentrale, die nur wenige Jahre zuvor völlig absurde Pläne geschmiedet hatte, Harold Wilson und Cyrus Vance zu rekrutieren, nicht auch Lafontaine aufs Korn genommen. 1981 wurde der operative Offizier L.S. Bratus auf ihn angesetzt, der aber, wie nicht anders zu erwarten, scheiterte.113

Dennoch scheint der KGB versucht zu haben, sich einen Teil des Verdienstes an einem Parteitagsbeschluß der SPD acht Monate nach ihrer Wahlniederlage von 1983, sich der Stationierung amerikanischer Mittel­strecken­raketen auf deutschem Boden zu widersetzen, selbst zugute zu halten. In einem ZK-Dokument von 1984 heißt es selbstgefällig: »... Zahlreiche Argumente, die den Vertretern der SPD zuvor von uns vorgehalten worden waren, sind nunmehr von ihnen übernommen worden.«114

Höchste Priorität bei der Beschaffung von Geheiminformationen in der Bundesrepublik Deutschland wie in anderen NATO-Staaten hatte in den achtziger Jahren die Operation RJAN* — der fruchtlose Versuch, alle Anzeichen für einen bevorstehenden nuklearen Erstschlag gegen die Sowjetunion festzustellen. Markus Wolf und sicherlich auch einige KGB-Offiziere in der Karlshorster KGB-Basis und in der westdeutschen Residentur betrachteten die ganze Operation als völlig irrsinnig. Keiner wagte jedoch die paranoide Denkweise der Zentrale in Frage zu stellen. Wolf fand, daß seine sowjetischen Verbindungsleute von RJAN und der Gefahr eines nuklearen Erstschlages »wie besessen« waren:

»Der HVA wurde befohlen, alle westlichen Pläne für einen solchen Überraschungsangriff aufzudecken, und wir schufen sowohl einen Sonderstab und ein Lagezentrum als auch Kommandozentren für den Kriegsfall. Das Personal mußte sich einem militärischen Training unterziehen und an Alarmübungen teilnehmen. Genauso wie die meisten Geheim­dienstler empfand ich diese Kriegsspiele als eine lästige Zeitvergeudung, aber über diese Befehle ließ sich ebensowenig diskutieren wie über andere Befehle von oben.« 115 

*  Abk. für Raketno-jadernoje napadenije, zu deutsch: Raketen-Kernwaffen-Angriff (A.d.Ü.).

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Da die wissenschaftlich-technische Spionage weniger durch falsche Auffassungen vom Westen beeinträchtigt war als die politische Aufklärung, war ihre Qualität wahrscheinlich höher. Krjutschkow schrieb im Juli 1977 in einer an die Residenturen gerichteten Direktive:

»Die Arbeit gegen Westdeutschland gewinnt im Zusammenhang mit dem wachsenden wirtschaftlichen Potential der Bundesrepublik und ihrem zunehmenden Einfluß auf die Lösung wichtiger internationaler Probleme gegenwärtig eine immer größer werdende Bedeutung. 

Die Bundesrepublik Deutschland ist sowohl ökonomisch als auch militärisch das führende westeuropäische kapitalistische Land. Es ist der wichtigste strategische Brückenkopf der NATO, wo sich eine bedeutende Konzentration der militärischen Stärke des Gegners feststellen läßt: Die Gesamtstärke der Streitkräfte der westlichen Verbündeten (einschließlich der Bundeswehr) in diesem Land beläuft sich auf fast eine Million.

Diese Situation unterscheidet die Bundesrepublik Deutschland von anderen europäischen kapitalistischen Staaten und macht sie zur wichtigsten Komponente des militärischen Blocks. In der Bundesrepublik Deutschland wird die militärisch-wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der Atomenergie, der Luftfahrt, des Raketenbaus, der Elektronik, der Chemie und der Biologie intensiv vorangetrieben.« 116 

Westdeutschland war, wie aus Krjutschkows Direktive ersichtlich, das europäische Hauptziel der Operationen der Gruppe X (wissenschaftlich-technische Spionage) geworden. 1980 stammten 61,5 Prozent der geheimen wissenschaftlich-technischen Informationen, welche die Militärisch-Industrielle Kommission (WPK) erhielt, von amerikanischen Quellen (nicht alle in den USA), 10,5 Prozent aus der Bundesrepublik Deutschland, 8 Prozent aus Frankreich, 7,5 Prozent aus Großbritannien und 3 Prozent aus Japan. Etwas mehr als die Hälfte der geheimen Informationen, welche die Direktion T der Ersten Hauptverwaltung des KGB im Jahre 1980 erhielt (was möglicherweise eine Ausnahme war), kam von den Diensten der Verbündeten, haupt­sächlich von der HVA und der StB, dem tschechoslowakischen Staatssicherheits­dienst. 117 

Zu den von der Direktion T in der Bundesrepublik verfolgten Hauptzielen gehörte Deutschlands größter Elektronikkonzern, Siemens. Zu den bei Siemens tätigen Wissenschaftlern und Technikern gehörten der in Ostdeutschland angeworbene KGB-Illegale RICHARD118 sowie mindestens zwei weitere sowjetische Agenten, HELMUT119 und KARL120. HELMUT wußte nicht, daß er ein KGB-Agent war, sondern glaubte, er arbeite für die HVA. 121

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Es erwies sich — wie im Fall der anderen westlichen Firmen — als leichter, geheime wissenschaftlich-tech­nische Informationen bei Siemens zu beschaffen, als sie in der Sowjetunion, besonders in der zivilen Wirtschaft, zu nutzen.

Die paranoiden Neigungen der Zentrale führten dazu, daß sie anwachsendem Maße befürchtete, die auf Umwegen beschafften Siemens-Computer enthielten absichtliche Programmfehler oder seien anderweitig manipuliert. Die Fünfzehnte Abteilung (Registratur und Archive) der Ersten Hauptverwaltung plante, einen Siemens-Computer für die Speicherung der Daten zu verwenden, die sich auf ihren Karteikarten befanden, auf denen über drei Millionen Personen erfaßt waren. Da die Zentrale befürchtete, der Computer könne irgendeinen verborgenen Programmfehler enthalten, den die sowjetischen Experten nicht entdeckt hatten, blieb er fünf Jahre lang ungenutzt in einem Lager.122 Statt dessen wurden ostdeutsche Computer verwendet, die weniger leistungsfähig waren.123

Der KGB profitierte nicht nur von den ausgedehnten HVA-Operationen im wissenschaftlich-technischen Bereich, sondern auch die Tätigkeit seiner eigenen Agenten der Gruppe X umspannte fast die ganze westdeutsche Hochtechnologie. Außer den Spionen, die bei Siemens beschäftigt waren, verweisen Mitrochins Notizen noch auf 29 weitere Agenten von unterschiedlicher Bedeutung, von denen einige für so große Firmen wie Bayer, Dynamit Nobel, Messer­schmitt und Thyssen arbeiten.124)

Die meisten dieser Spionagefälle kamen nie vor Gericht. Einer der wenigen, denen der Prozeß gemacht wurde, war Manfred Rotsch (EMIL), der von einem französischen Agenten in der Direktion T verraten wurde.125 Als Leiter der Planungsabteilung im größten Rüstungsunternehmen der Bundesrepublik, Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB), verriet er viele Geheimnisse des von MBB gemeinsam mit britischen und italienischen Herstellern produzierten neuen NATO-Kampfbombers Tornado, der Panzer­abwehrrakete Milan und der Boden-Luft-Raketen Hot und Roland.126

Rotsch war ein hochprofessioneller, gut ausgebildeter Spion, der seinen Führungsoffizieren die Informationen durch Mikropunkte übermittelte.127 Auch seine Tarnung war vorbildlich. Er führte ein scheinbar konventionelles, fast langweiliges Familienleben in einem Münchener Vorort, trat der CSU bei und ließ sich für die Kommunalwahlen in Bayern aufstellen.128 Aus Mitrochins kurzer Notiz über EMIL geht hervor, daß er vom KGB schon angeworben worden war, bevor er die DDR 1954 verließ.129

Rotsch war vielleicht der dienstälteste KGB-Agent, der mit ostdeutscher Hilfe in die Bundesrepublik eingeschleust wurde. 1984 verhaftet, wurde er 1986 zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt, aber ein Jahr später gegen einen Ostberliner Arzt ausgetauscht, der eine langjährige Zuchthausstrafe in Einzelhaft verbüßte.

Obwohl Rotsch mit seiner Frau in einer luxuriösen Villa an einem ostdeutschen See wohnte, war er an sein Leben im Westen gewöhnt. Binnen weniger Monate kehrten beide in ihr Haus in der Nähe von München zurück, wo ihnen ihre empörten Nachbarn einen frostigen Empfang bereiteten.(130)

 

Die Büros der Stasi und der HVA waren voll von Lenin- und Dserschinski-Büsten, Gedenktafeln mit dem Schwert und Schild der Tscheka und anderen Kinkerlitzchen, die bei geselligen Zusammenkünften ostdeutscher und sowjetischer Geheimdienstoffiziere verschenkt wurden. Auf diesen Zusammenkünften wurden operative Erfolge gefeiert, die gegen die Bundesrepublik errungen worden waren, und Trinksprüche auf die Zukunft ausgebracht. Doch nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 endete die beinahe vierzigjährige Zusammenarbeit von HVA und KGB — die erfolgreichste, aber bezeichnender­weise ziemlich einseitige Allianz der Geheimdienste des Ostblocks — mit ostdeutschen Vorwürfen, von Moskau verraten worden zu sein.  Hilferufe von ehemaligen Offizieren und Agenten der HVA an die Zentrale, die befürchteten, im Westen verfolgt zu werden, wurden vom KGB zumeist mit verlegenem Schweigen beantwortet. Am 22. Oktober 1990 schrieb Wolf an Gorbatschow:

»Wir waren Eure Freunde. Wir tragen viele Eurer Auszeichnungen an der Brust. Uns wurde gesagt, wir hätten einen großen Beitrag zu Eurer Sicherheit geleistet. Jetzt, in unserer Stunde der Not, nehme ich an, daß Sie uns Ihre Hilfe nicht versagen werden.«  

Gorbatschow aber tat genau das. Wolf appellierte an ihn, vor der Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands auf einer Amnestie für die Stasi und ihren Auslands­spionagedienst zu bestehen. Gorbatschow lehnte das ab. »Es war«, so schrieb Wolf verbittert,

»der letzte Verrat der Sowjets an ihren ostdeutschen Freunden, deren Arbeit mehr als vier Jahrzehnte lang den sowjetischen Einfluß in Europa verstärkt hatte.«(131)

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