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Einführung 

 Das Schicksal stellte alle gleich / Jenseits der Grenzen des Gesetzes. 

Ob Kulakensohn, ob roter Kommandeur, Ob Priestersohn, ob Kommissar... 

Alle Klassen gleichgestellt, Alles Menschen, Brüder, Mitgefangene, 
Jeder trug das Brandmal des Verräters ... 

A. Twardowski, <Das Recht auf Erinnerung> (1) 

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Dies ist eine Geschichte des Gulags — des riesigen Netzes von Arbeitslagern, das die Sowjetunion einst in ihrer ganzen endlosen Länge und Breite überzog: von den Inseln im Weißen Meer bis zu den Stränden des Schwarzen Meeres, vom Polarkreis bis zu den Ebenen Mittelasiens, von Murmansk und Workuta bis nach Kasachstan, vom Zentrum Moskaus bis zu den Vororten von Leningrad. Das Wort GULAG ist die russische Abkürzung für Glawnoje Uprawlenie Lagerej — Hauptverwaltung Lager. 

Nach und nach wurde dieser Begriff über die Verwaltung der Lager hinaus für das ganze Zwangsarbeitssystem in der Sowjetunion in all seinen Formen und Varianten verwendet: für Arbeitslager, Straflager, Lager mit kriminellen und politischen Häftlingen, Frauenlager, Kinderlager oder Transitlager. Schließlich umfasste »Gulag« das gesamte sowjetische Unterdrückungssystem und seine Verfahrensweise, die die Häftlinge den <Fleischwolf> nannten: die Verhaftungen, die Verhöre, die Transporte in ungeheizten Viehwagen, die Zwangsarbeit, die Zerstörung der Familien, die Jahre der Verbannung, den frühen, sinnlosen Tod.

Der Gulag hat seine Vorläufer im zaristischen Russland, in den Zwangsarbeitertrupps, die seit dem siebzehnten bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert in Sibirien schuften mussten. Seine heute bekannte Form nahm er im unmittelbaren Gefolge der russischen Revolution an. Bald wurde er zum festen Bestandteil des Sowjetsystems. 

 

Massenterror gegen wirkliche und vermeintliche Feinde gehörte von Anfang an zur Revolution. Schon im Sommer 1918 forderte ihr Führer Lenin, »unzuverlässige Elemente« in Konzentrationslagern außerhalb der Städte zu internieren.(2) Prompt wurden Adlige, Kaufleute und andere Personen festgesetzt, die man als potenzielle Feinde ansah. 

1921 gab es bereits 48 Lager in 43 Gouvernements, die angeblich der »Rehabilitierung« dieser ersten »Volksfeinde« dienen sollten. Ab 1929 erlangten die Lager eine neue Bedeutung. In jenem Jahr beschloss Stalin, Zwangsarbeiter einzusetzen, um die Industrialisierung der Sowjetunion voranzutreiben und die Bodenschätze im Hohen Norden des Landes zu erschließen, wo Menschen kaum leben konnten. 

Im selben Jahr begann die sowjetische Geheimpolizei, die Kontrolle über den Strafvollzug zu übernehmen, und entwand der Justiz ein Lager und ein Gefängnis nach dem anderen. Die Massenverhaftungen der Jahre 1937/38 ließen das Lagersystem rasch anwachsen: Ende der dreißiger Jahre hatte es sich über alle zwölf Zeitzonen des riesigen Landes ausgedehnt.

Entgegen der landläufigen Meinung expandierte der Gulag selbst während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit. Seine größte Ausdehnung erreichte er nicht in den Dreißigern, sondern erst Anfang der fünfziger Jahre. Zu diesem Zeitpunkt waren die Lager aus der Sowjetwirtschaft nicht mehr wegzudenken. Sie förderten ein Drittel des Goldes, den größten Teil von Kohle und Holz, und produzierten beträchtliche Mengen von nahezu allem, was in der Sowjetunion überhaupt hergestellt wurde. Über die Jahre entstanden mindestens 476 Lagerkomplexe mit Tausenden Einzellagern, in denen von einigen hundert bis zu mehreren tausend Menschen lebten.(3) 

Die Häftlinge wurden in jedem erdenklichen Industriezweig eingesetzt — von Holzeinschlag, Bergbau, Hausbau und Fabrikarbeit über Landwirtschaft bis zur Entwicklung von Flugzeugen und Geschützen. Ihr Lebensraum war ein Staat im Staate, im Grunde eine andere Zivilisation. Der Gulag hatte seine eigenen Gesetze, seine eigenen Sitten, seine eigene Moral und sogar seine eigene Sprache. Er brachte eine eigene Literatur mit eigenen Schurken und Helden hervor. Er prägte alle, die mit ihm in Berührung kamen — ob nun Häftlinge oder Wachpersonal. Auch Jahre nach ihrer Entlassung erkannten ehemalige Insassen einander schon am Blick.

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Solche Begegnungen kamen häufig vor, denn in den Lagern herrschte eine enorme Fluktuation. Es wurde viel verhaftet, aber auch viel entlassen. Häftlinge kamen frei, weil ihre Strafe abgelaufen war, weil die Rote Armee sie brauchte, weil sie Invaliden waren oder Frauen mit kleinen Kindern, weil man sie vom Häftling zum Aufseher beförderte. Im Schnitt saßen zwei Millionen Menschen in den Lagern ein. Die Gesamtzahl der Sowjetbürger, die als politische oder Strafgefangene mit den Lagern in Berührung kamen, liegt allerdings viel höher. Nach den glaubhaftesten Schätzungen haben von 1929, als der Gulag stark zu wachsen begann, bis zu Stalins Tod im Jahre 1953 insgesamt etwa achtzehn Millionen Menschen dieses riesige System durchlaufen. Weitere sechs Millionen wurden in die kasachische Wüste oder in die sibirische Taiga verbannt. Zwar lebten Letztere nicht hinter Stacheldraht, aber sie durften ihren Verbannungsort nicht verlassen und waren im Grunde ebenfalls Zwangsarbeiter.4)

Als System mit Millionen Insassen verschwanden die Lager bei Stalins Tod. Während er lebenslang geglaubt hatte, der Gulag sei entscheidend für das Wirtschafts­wachstum des Landes, erkannten seine politischen Erben, dass dieses System zu zahlreichen Fehlinvestitionen geführt und die Rückständigkeit der sowjetischen Wirtschaft geradezu konserviert hatte. Stalin war kaum einige Tage tot, als man es bereits zu demontieren begann. Drei große Revolten, dazu eine ganze Reihe kleinerer, aber nicht weniger gefährlicher Vorfälle beschleunigten diesen Prozess.

Ganz verschwanden die Lager allerdings nie. Sie veränderten sich nur äußerlich. In den siebziger und frühen achtziger Jahren wurden einige umgebaut und mit einer neuen Generation von Häftlingen gefüllt — Aktivisten der Demokratiebewegung, antisowjetischen Nationalisten und Kriminellen. Sowjetische Dissidenten und die internationale Menschenrechtsbewegung sorgten dafür, dass Informationen über diese poststalinistischen Lager regelmäßig in den Westen gelangten, und allmählich befasste sich auch die Diplomatie des Kalten Krieges mit diesem Thema. Noch in den achtziger Jahren sprachen der amerikanische Präsident Ronald Reagan und sein sowjetischer Partner Michail Gorbatschow darüber. Erst 1987 ließ Gorbatschow, dessen Großvater selbst im Gulag gesessen hatte, die Straflager für politische Gefangene endgültig abschaffen. 

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Obwohl es so lange existierte wie die Sowjetunion selbst, obwohl viele Millionen Menschen dort festgehalten wurden, war die Geschichte des sowjetischen Lagersystems bis vor kurzem kaum bekannt. So ist es in gewissem Maße noch immer. Selbst die einfachsten Tatsachen, die heute jeder kennt, der sich im Westen mit sowjetischer Geschichte beschäftigt, sind dem breiten Publikum nicht geläufig. »Das Wissen der Menschen«, schrieb einst der französische Kommunismus­forscher Pierre Rigoulot, »sammelt sich nicht an wie die Steine einer Mauer, die unter den Händen des Maurers ständig wächst. Ob es sich vermehrt, stagniert oder gar abnimmt, hängt vom sozialen, kulturellen und politischen Umfeld ab.« 5) 

Man könnte sagen, dass das soziale, kulturelle und politische Umfeld für gründliche Kenntnisse über den Gulag bis heute fehlt.

Mir wurde das Problem zum ersten Mal vor einigen Jahren bewusst, als ich über die Karlsbrücke in Prag ging, den Touristenmagnet einer Stadt, in der gerade die Demokratie Einzug gehalten hatte. Da gab es Straßenmusikanten und Taschendiebe, und alle paar Meter wurde etwas verkauft, was man an einem solchen Ort erwartet. Es gab Bilder von besonders malerischen Winkeln der Stadt, es gab Souvenirs und billigen Schmuck. Zwischen all dem Krimskrams wurden auch Ausrüstungsstücke der Sowjetarmee feilgeboten — Uniformmützen, Abzeichen, Koppelschnallen, Lenin oder Breschnew als kleine Anstecker, wie sie sowjetische Kinder an ihrer Schulkleidung trugen.

Ich fand die Szene absurd. Vor allem Amerikaner und Westeuropäer kauften die Symbole der verblichenen Sowjetmacht. Auf die Idee, sich ein Hakenkreuz anzustecken, wäre wohl niemand gekommen. Aber Hammer und Sichel auf einem T-Shirt oder an der Mütze schienen okay. Das war nur eine Beobachtung am Rande, aber zuweilen zeigt sich gerade darin ein kultureller Trend. Die Botschaft konnte klarer nicht sein: Während uns das Symbol für den einen Massenmord mit Schrecken erfüllt, bringt uns das für den anderen zum Lachen. 

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Wenn den Touristen in Prag die Stalinherrschaft im Wesentlichen gleichgültig war, dann ist das zum Teil damit zu erklären, dass es in der westlichen Massenkultur an entsprechenden Bildern fehlt. Der Kalte Krieg hat James Bond, Thriller und karikaturhafte Darstellungen von Russen, wie sie in Rambo-Filmen auftreten, hervorgebracht, aber kein anspruchsvolles Werk wie Schindlers Liste oder Sophies Entscheidung. Steven Spielberg — wahrscheinlich Hollywoods führender Regisseur, ob man ihn nun mag oder nicht — hat Filme über japanische Konzentrationslager (Das Reich der Sonne) und nationalsozialistische KZs gedreht, aber keinen einzigen über Stalinsche Lager. Letztere haben Hollywood nie in gleicher Weise inspiriert.

Seriöse Kunst und Wissenschaft haben dem Thema kaum offener gegenübergestanden. So nahm der Ruf des deutschen Philosophen Martin Heidegger schweren Schaden, weil er den Nationalsozialismus kurze Zeit offen unterstützt hatte, und dies bevor Hitler seine großen Verbrechen beging. Dagegen litt der französische Philosoph Jean-Paul Sartre überhaupt nicht darunter, dass er in der Nachkriegszeit, als jeder, der sich dafür interessierte, bereits genügend über Stalins Grausamkeiten wissen konnte, die Sowjetunion lautstark verteidigte. »Da wir keine Parteimitglieder waren«, äußerte er einmal, »mussten wir nicht über die sowjetischen Arbeitslager schreiben; wir konnten uns aus dem Streit über das Wesen des Systems heraushalten, solange nichts von soziologischer Bedeutung geschah.«6) Bei anderer Gelegenheit sagte er zu Albert Camus: »Ich finde wie Sie diese Lager unzulässig: doch ebenso unzulässig den Gebrauch, den die bürgerliche Presse täglich davon macht.«7) 

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich einiges geändert. Im Jahre 2002 bewegte zum Beispiel das Thema Stalin und Stalinismus den britischen Romancier Martin Amis so stark, dass er ein Buch darüber schrieb. Das wiederum bewog andere Schriftsteller, sich die Frage zu stellen, warum die politische und literarische Linke diesen Gegenstand bisher so stiefmütterlich behandelt hatte.8) 

Anderes hat sich überhaupt nicht geändert. Bis heute kann ein amerikanischer Wissenschaftler in einem Buch behaupten, die Säuberungen der dreißiger Jahre seien nützlich gewesen, weil sie soziale Mobilität nach oben ermöglicht und damit die Voraussetzungen für die Perestroika geschaffen hätten.9) 

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Oder ein britischer Chefredakteur kann einen Artikel ablehnen, weil er ihm »zu antisowjetisch« ist.10) Viel häufiger aber wird gelangweilt oder gleichgültig reagiert, wenn das Gespräch auf den Stalinschen Terror kommt. In einer Rezension eines Buches, das ich über die westlichen Republiken der ehemaligen Sowjetunion in den neunziger Jahren schrieb, kann man es so ausgedrückt lesen: »Hier kam es zu den Hungersnöten der dreißiger Jahre, mit denen Stalin mehr Ukrainer umbrachte, als Hitler Juden tötete. Aber wer im Westen erinnert sich schon daran? Schließlich war dieses Sterben so... trist und völlig undramatisch.«11) 

All das sind Kleinigkeiten — der Kauf eines Souvenirs, der Ruf eines Philosophen, die Präsenz eines Themas in Hollywood. Aber zusammengenommen ergeben sie eine Tendenz. Amerikaner und Westeuropäer wissen, was in der Sowjetunion geschehen ist. Alexander Solschenizyns berühmter Lagerroman Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch erschien 1962/63 im Westen in zahlreichen Sprachen. Seine Aufzeichnungen mündlicher Überlieferungen, Der Archipel Gulag, lösten bei ihrem Erscheinen 1973 lebhafte Diskussionen aus. In einigen Ländern wurde daraus eine mittlere intellektuelle Revolution, zum Beispiel in Frankreich, wo die Linken scharenweise zu einer antisowjetischen Haltung konvertierten. Weitere Enthüllungen über den Gulag folgten in den Jahren der Glasnost und wurden im Ausland ebenfalls breit publiziert.

Trotzdem rufen Stalins Verbrechen bei vielen Menschen nicht dieselbe instinktive Reaktion hervor wie die Hitlers. Ken Livingstone, ehemals Mitglied des britischen Unterhauses und heute Oberbürgermeister von London, hat mir einmal den Unterschied zu erklären versucht. Ja, die Nazis waren »böse«, meinte er. Die Sowjetunion dagegen war »deformiert«. Diesen Eindruck scheinen viele Menschen zu haben, auch solche, die keine altmodischen Linken sind: In der Sowjetunion ist etwas schiefgelaufen, aber sie war nicht von Grund auf schlecht wie das nationalsozialistische Deutschland.

Bis vor kurzem konnte man den weit verbreiteten Mangel an Gefühl angesichts der Tragödie des europäischen Kommunismus als logische Folge bestimmter Umstände erklären. Einer ist der Lauf der Zeit. Die kommunistischen Regime lockerten sich in der Tat mit den Jahren. General Jaruzelski und selbst Leonid Breschnew flößten kaum jemandem Angst ein, obwohl sie beträchtlichen Schaden angerichtet haben.

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Der Mangel an gesicherten, dokumentarisch belegten Informationen spielt ebenfalls eine Rolle. Die geringe Zahl wissenschaftlicher Arbeiten zu diesem Thema war lange Zeit durch den Mangel an Quellenmaterial bedingt. Die Archive waren nicht allgemein zugänglich. Ehemalige Lager konnten nicht besucht werden. Keine Fernsehkameras haben je sowjetische Lager oder deren Opfer gefilmt, wie es in Deutschland am Ende des Zweiten Weltkrieges geschah. Keine Bilder bedeuten weniger Verständnis.

Aber unser Blick auf die Geschichte der Sowjetunion und Osteuropas war auch ideologisch verstellt.12 Ein kleiner Teil der westlichen Linken versuchte seit den dreißiger Jahren die Lager und den dort ausgeübten Terror zu erklären oder gar zu entschuldigen. 1936, als Millionen sowjetischer Bauern bereits in Lagern schufteten oder in der Verbannung lebten, veröffentlichten die britischen Sozialisten Sidney und Beatrice Webb einen umfangreichen Bericht über die Sowjetunion, in dem unter anderem ausgeführt wurde, wie die »ehemals unterdrückte russische Bauernschaft allmählich zu begreifen beginnt, was politische Freiheit ist«.13) Als Stalin in den Moskauer Schauprozessen Tausende unschuldiger Parteimitglieder in die Lager schickte, erklärte der Dramatiker Bertolt Brecht gegenüber dem Philosophen Sidney Hook: »Je unschuldiger sie sind, um so mehr haben sie den Tod verdient.«14)

Selbst in den achtziger Jahren schrieben Wissenschaftler noch von den Vorzügen des ostdeutschen Gesundheitswesens oder polnischen Friedensinitiativen, fühlte sich mancher peinlich berührt, dass man um die Dissidenten in den osteuropäischen Lagern so viel Aufhebens machte. Vielleicht lag das daran, dass die ideologischen Väter der westlichen Linken, Marx und Engels, in der Sowjetunion ebenfalls verehrt wurden. Auch die Sprache war ähnlich — die Massen, der Kampf, das Proletariat, Ausbeuter und Ausgebeutete, das Eigentum an den Produktionsmitteln. Die Sowjetunion scharf zu kritisieren hätte bedeutet zu verurteilen, was auch Linken im Westen einst lieb und teuer war.

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Doch nicht nur die äußerste Linke und nicht nur Kommunisten brachten Entschuldigungen für Stalins Verbrechen vor, die im Falle Hitlers undenkbar gewesen wären. Die kommunistischen Ideale — soziale Gerechtigkeit, Gleichheit für alle — sind für die meisten Menschen im Westen viel attraktiver als der Rassismus oder das Recht des Stärkeren, die die Nationalsozialisten propagierten. Wenn die kommunistische Ideologie in der Praxis auch auf ganz andere Dinge hinauslief, fiel es den Nachfahren der amerikanischen und der französischen Revolution viel schwerer, ein System zu verurteilen, das zumindest so ähnlich klang wie ihr eigenes. 

Vielleicht ist auch damit zu erklären, dass Augenzeugenberichte über den Gulag von Anfang an von denselben Leuten häufig abgetan oder heruntergespielt wurden, denen es niemals in den Sinn gekommen wäre, Zeugnisse von Primo Levi oder Eli Wiesel über den Holocaust in Frage zu stellen. Seit der russischen Revolution waren für jeden, der es wissen wollte, bestätigte Informationen über die Lager in der Sowjetunion zu haben: Der berühmteste sowjetische Bericht über eines der ersten Lager, das am Weißmeer-Kanal, wurde sogar auf Englisch veröffentlicht. Dass westliche Intellektuelle dieses Thema mieden, ist allerdings nicht allein mit Ignoranz zu erklären.

Die Rechte im Westen gab sich alle Mühe, die Verbrechen der Sowjetunion zu verurteilen. Dabei griff sie jedoch manchmal zu Methoden, die ihrer Sache nur abträglich sein konnten. Der Mann, der der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus den größten Schaden zugefügt hat, war zweifellos US-Senator Joe McCarthy. Zwar zeigen jüngst aufgefundene Dokumente, dass einige seiner Anschuldigungen durchaus zutrafen, aber das ändert nichts an der Wirkung seiner übereifrigen Verfolgung von Kommunisten im gesellschaftlichen Leben der USA: Seine öffentlichen »Prozesse« gegen Leute, die mit den Kommunisten sympathisierten, gaben der Sache des Antikommunismus einen Anstrich von Chauvinismus und Intoleranz.15) Mit seinem Vorgehen leistete er der neutralen Geschichtsforschung keinen besseren Dienst als seine Gegner.

Unsere Haltung zur Sowjetunion hat aber nicht nur mit Ideologie zu tun. Oft ist sie von unseren mehr und mehr verblassenden Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg geprägt. Wir Amerikaner sind heute fest davon überzeugt, dass dies ein rundum gerechter Krieg war, und kaum einer ist bereit, diese Einstellung zu hinterfragen.

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Wir erinnern uns an D-Day, an die Befreiung der Konzentrationslager, an Kinder, die amerikanische Soldaten jubelnd begrüßten. Niemand will wissen, dass es auch eine andere, eine dunkle Seite des Sieges der Alliierten gab, dass die Lager unseres Verbündeten Stalin in dem Maße anschwollen, wie die unseres Feindes Hitler befreit wurden. Unsere Erinnerung an diese Zeit wäre moralisch weniger eindeutig, müssten wir zugeben, dass Tausende von Russen mit der Repatriierung nach dem Krieg in den sicheren Tod geschickt wurden, dass die westlichen Alliierten mit ihrer Zustimmung zur Sowjetherrschaft über Millionen Menschen in Jalta zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit beigetragen haben könnten. 

Niemand stellt sich gern vor, dass wir den einen Massenmörder mit der Hilfe eines anderen besiegt haben. Keiner will sich daran erinnern, wie gut sich jener Massenmörder mit westlichen Politikern verstand. »Ich mag Stalin wirklich«, sagte der britische Außenminister Anthony Eden einem Freund. »Er hat niemals sein Wort gebrochen.«16) Auf zahllosen Fotos sind Stalin, Churchill und Roosevelt lächelnd und in trauter Dreisamkeit abgelichtet.

Schließlich hatte auch die sowjetische Propaganda ihre Wirkung. Nicht ohne Erfolg säte sie Zweifel an Solschenizyns Berichten, stellte deren Autor als Geistesgestörten, Antisemiten oder Trinker hin.17) Sowjetischer Druck auf Wissenschaftler und Journalisten des Westens tat ein Übriges. Als ich in den achtziger Jahren in den USA russische Geschichte studierte, rieten mir Bekannte, das vorliegende Thema in meiner wissenschaftlichen Karriere nicht weiterzuverfolgen, weil ich damit Schwierigkeiten bekommen werde. Wer damals »wohlwollend« über die Sowjetunion schrieb, fand leichter Zugang zu den Archiven, erhielt mehr offizielle Informationen und längere Aufenthalte im Lande. Wer das nicht tat, riskierte Ausweisung und berufliche Probleme. Es versteht sich von selbst, dass Außenstehende damals kein Material über die Stalinschen Lager oder das System der Haftanstalten nach Stalins Tod zu sehen bekamen. Das Thema existierte einfach nicht, und wer zu hartnäckig bohrte, war bald wieder außer Landes.

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Alle diese Erklärungen zusammengenommen ergaben früher durchaus einen Sinn. Als ich ernsthaft über dieses Thema nachzudenken begann — 1989 beim Zusammenbruch des Kommunismus —, verstand auch ich diese Logik: Es schien nur natürlich, dass ich wenig über Stalins Sowjetunion wusste, deren geheime Geschichte sie nur noch faszinierender machte. Heute, über ein Jahrzehnt später, sehe ich die Dinge ganz anders. Der Zweite Weltkrieg ist heute Sache einer früheren Generation. Der Kalte Krieg ist ebenfalls vorbei. Die internationalen Bündnisse und Fronten jener Zeit gehören für immer der Vergangenheit an. Linke und Rechte im Westen streiten mittlerweile über andere Themen. Zugleich macht das Auftauchen der neuen, terroristischen Bedrohung der westlichen Zivilisation die Beschäftigung mit der alten, kommunistischen Bedrohung umso notwendiger.

Mit anderen Worten, das soziale, kulturelle und politische Umfeld hat sich verändert. Dasselbe gilt für den Zugang zu Informationen über die Lager. Ende der achtziger Jahre wurde Michail Gorbatschows Sowjetunion mit Dokumenten über den Gulag regelrecht überschwemmt. Zum ersten Mal druckten Zeitungen Berichte über das Leben in sowjetischen Lagern. Zeitschriften mit neuen Enthüllungen waren rasch vergriffen. Der alte Streit über die Zahlen — wie viele Insassen, wie viele Tote — lebte wieder auf Russische Historiker und ihre Organisationen, allen voran die Gesellschaft Memorial in Moskau, brachten Monographien, Darstellungen der Geschichte einzelner Lager und ihrer Insassen, Zahlen und Opferlisten heraus. Historiker der früheren Sowjetrepubliken und der ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes, schließlich auch westliche Geschichtsforscher fielen in diesen Chor ein.

Die Erforschung der sowjetischen Vergangenheit hält in Russland trotz vieler Rückschläge bis heute an. Dabei werden im ersten Jahrzehnt des 21. Jahr­hunderts bereits beträchtliche Unterschiede zu den letzten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts sichtbar. Die Suche nach der Wahrheit hat im Diskurs der russischen Öffentlichkeit nicht mehr dieses Gewicht und hält auch viel weniger Sensationen bereit, als es einst schien. Russische und ausländische Wissenschaftler haben jetzt wahre Kärrnerarbeit zu leisten, Tausende von Dokumenten zu sichten, Stunden und Tage in kalten, zugigen Archiven zu verbringen, um nach Fakten und Zahlen zu forschen.

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Aber die Arbeit beginnt erste Früchte zu tragen. Langsam und geduldig hat Memorial das erste Handbuch mit den Namen und Orten aller bekannten Lager erarbeitet, dazu eine ganze Reihe bahnbrechender Geschichtswerke veröffentlicht und einen gewaltigen Bestand an mündlichen und schriftlichen Berichten von Überlebenden zusammengetragen. Gemeinsam mit anderen — dem Sacharow-Institut und dem Verlag Woswraschtschenie (Rückkehr) — wurden einige dieser Erinnerungen der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Wissenschaftliche Zeitschriften und Organe einzelner Institutionen haben ebenfalls begonnen, Dokumentensammlungen und auf neuen Dokumenten beruhende Monographien zu veröffentlichen. Ähnliche Organisationen in anderen Ländern, vor allem die Gesellschaft Karta in Polen, Geschichtsmuseen in Litauen, Lettland, Estland, Rumänien und Ungarn leisten vergleichbare Arbeit. Eine Hand voll amerikanischer und westeuropäischer Wissenschaftler, die über genug Zeit und Kraft verfügen, in sowjetischen Archiven zu graben, hat sich angeschlossen.

Bei den Recherchen zu diesem Buch waren mir alle diese Arbeiten zugänglich. Dazu kamen zwei Arten von Quellen, die es vor zehn Jahren noch nicht gab. Die erste sind die zahlreichen neuen Memoiren, die in den achtziger Jahren in Russland, Amerika, Israel, Osteuropa und anderswo erschienen sind. Ich habe sie gründlich ausgewertet, was bisher nicht allgemein üblich ist. Wissenschaftler, die sich mit der Sowjetunion befassten, standen in der Vergangenheit Erinnerungen aus dem Gulag nicht sehr aufgeschlossen gegenüber. Aus ihrer Sicht hatten deren Verfasser politische Gründe, ihre Geschichten zuzuspitzen, Geschichten zumal, die sie häufig erst viele Jahre nach ihrer Entlassung aufschrieben und zuweilen von anderen übernahmen, wenn das eigene Gedächtnis versagte. 

Nachdem ich aber mehrere hundert derartige Geschichten gelesen und mit etwa zwei Dutzend Überlebenden gesprochen hatte, glaubte ich mich in der Lage, nicht plausibles, von anderen entlehntes oder stark politisiertes Material auszusondern. Was Namen, Daten und Zahlen betrifft, so sind Erinnerungen sicher nicht das zuverlässigste Material, aber sie liefern wertvolle Informationen anderer Art. 

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Ohne sie wäre es unmöglich, bestimmte wichtige Seiten des Lagerlebens zu beschreiben: das Verhältnis der Häftlinge zueinander, Konflikte zwischen einzelnen Gruppen, das Verhalten der Wachen und der Lagerleitung, die Rolle der Bestechung, sogar Liebe und Leidenschaft. Einen Autor habe ich dabei in besonderem Maße herangezogen — Warlam Schalamow, dessen Romane über sein Lagerleben bekanntlich auf wahren Begebenheiten beruhen.

Die Erinnerungen habe ich, soweit möglich, bei gründlichen Recherchen in den Archiven nachgeprüft, was, so paradox das klingt, auch nicht jeder gern tut. Wie in der vorliegenden Arbeit deutlich werden wird, war die Propaganda in der Sowjetunion wiederholt im Stande, die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu verändern. Aus diesem Grund vermieden es Historiker früher zu Recht, sich auf offiziell publizierte sowjetische Dokumente zu stützen, deren Zweck nicht selten darin bestand, die Wahrheit zu verschleiern. Dagegen hatten geheime Dokumente — die heute in den Archiven aufbewahrt werden — eine ganz andere Funktion. Um die Lager verwalten zu können, musste die Administration bestimmte Akten anlegen. Moskau musste wissen, was vor Ort geschah, die Basis erhielt Weisungen aus der Zentrale, Statistiken wurden geführt. Nicht einmal diese Akten sind absolut verlässlich — auch Bürokraten haben ihre Gründe, selbst die prosaischsten Tatsachen zu entstellen —, aber mit Bedacht benutzt, können sie Seiten des Lagerlebens erhellen, über die die Erinnerungsliteratur keinen Aufschluss gibt. Vor allem helfen sie zu erklären, warum die Lager überhaupt errichtet wurden, oder zumindest, was sich das stalinistische Regime von ihnen erhoffte.

Die Archive sind übrigens viel mannigfaltiger als erwartet und erzählen die Geschichte der Lager aus ganz verschiedenen Blickwinkeln. Ich hatte zum Beispiel Zugang zum Archiv der Zentrale des Gulags, wo Berichte von Inspektoren, Finanzabrechnungen, Briefe der Lagerchefs an ihre Vorgesetzten in Moskau, Berichte über Fluchtversuche oder Listen von Musikstücken, die in Lagertheatern aufgeführt wurden, zu finden sind. Dieses Material liegt im Russischen Staatsarchiv in Moskau. Ich habe auch Akten von Parteigremien eingesehen und Dokumente aus der »Osobaja papka«, Stalins Sonderarchiv. Mit Unterstützung russischer Historiker konnte ich Dokumente aus sowjetischen Militärarchiven und Archivbestände der Begleitmannschaften nutzen, wo ich zum Beispiel Auflistungen fand, welche Habseligkeiten die Häftlinge auf den Transport mitnehmen durften und welche nicht.

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Ich habe Archive in Petrosawodsk, Archangelsk, Syktywkar, Workuta und auf den Solowezki-Inseln aufgesucht, deren Akten vom Alltagsleben in den Lagern berichten. In Moskau studierte ich die Dokumente von Dmitlag, das den Moskwa-Wolga-Kanal baute, und konnte Bestellscheine ebenso einsehen wie Berichte von Häftlingen über das Lagerleben. Einmal wurden mir sogar Akten des Archivs von Kedrowy Schor, einem kleinen Außenlager des Bergwerks Inta nördlich des Polarkreises, zum Kauf angeboten.

Alle diese Quellen haben es mir ermöglicht, das Thema Gulag auf neue Weise zu behandeln. Ich hatte es nicht mehr nötig, die »Behauptungen« einiger weniger Dissidenten mit denen der Sowjetregierung zu vergleichen. Ich musste keinen Mittelweg zwischen den Berichten sowjetischer Flüchtlinge und denen sowjetischer Offizieller finden. Um zu schildern, was geschah, konnte ich die Sprache sehr verschiedener Menschen nutzen — von Aufsehern und Milizionären, von ganz verschiedenen Häftlingen, die ihre Strafen zu unterschiedlichen Zeiten absaßen. Die Emotionen und die Politik, die mit der Historiografie der sowjetischen Lager lange Zeit verquickt waren, stehen hier nicht im Mittelpunkt. Der ist den Erlebnissen der Opfer vorbehalten. 

 

Dies ist eine Geschichte des Gulags. Das bedeutet, es ist eine Geschichte der sowjetischen Straflager: ihrer Ursprünge in der russischen Revolution, ihrer Entwicklung zu einem wichtigen Teil der Sowjetwirtschaft und ihrer Auflösung nach Stalins Tod. Es ist auch ein Buch über das Erbe des Gulags. Ohne Frage sind die Ordnungen und Verfahrensweisen in den sowjetischen Lagern für Kriminelle und politische Gefangene der siebziger und achtziger Jahre aus den Erfahrungen früherer Zeiten abgeleitet. Daher glaube ich, dass auch sie hierher gehören.

Zugleich ist dies ein Buch über das Leben im Gulag, das die Geschichte der Lager auf zweierlei Weise erzählt. Der erste und dritte Teil sind chronologisch aufgebaut. Sie berichten von der Entwicklung der Lager und ihrer Verwaltung.

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Im mittleren Teil ist das Leben in den Lagern dargestellt, wobei ich thematisch vorgehe. Zwar stammen hier die meisten Beispiele und Zitate aus den vierziger Jahren, als die Entwicklung der Lager ihren Höhepunkt erreichte, aber entgegen dem historischen Prinzip werden immer wieder Brücken zu früheren oder späteren Perioden geschlagen. Bestimmte Aspekte des Lebens in den Lagern haben sich über die Jahre entwickelt, und ich fand es wichtig, dies darzustellen.

Nachdem ich erklärt habe, was dieses Buch ist, möchte ich auch klar sagen, was es nicht ist: Es ist keine Geschichte der UdSSR, der Säuberungen oder der Repressalien insgesamt. Es ist keine Geschichte von Stalins Regime, seines Politbüros oder seiner Geheimpolizei, deren komplizierte Entwicklung ich mit Vorbedacht zu vereinfachen versucht habe. 

Zwar verwende ich Material sowjetischer Dissidenten, das häufig unter großem Druck und mit großem Mut geschrieben wurde, aber dieses Buch erzählt nicht die vollständige Geschichte der sowjetischen Menschenrechtsbewegung. Es kann auch den Erlebnissen der verschiedenen Nationen und Häftlingskategorien nicht voll gerecht werden — etwa den Polen, Balten, Ukrainern, Tschetschenen, den deutschen und japanischen Kriegsgefangenen —, die innerhalb und außerhalb der Lager unter dem sowjetischen Regime gelitten haben. Es kann die Massenmorde von 1937/38 nicht vollständig erfassen, die zumeist außerhalb der Lager stattfanden, auch nicht das Massaker an Tausenden polnischen Offizieren bei Katyn und anderenorts. 

Da dieses Buch sich an einen breiten Leserkreis wendet und kein Fachwissen über die sowjetische Geschichte voraussetzt, werden alle diese Ereignisse und Erscheinungen angesprochen. Es wäre aber vermessen, ihnen allen in einem einzigen Buch gerecht werden zu wollen.

Vor allem soll gesagt werden, dass dieses Buch der Geschichte der so genannten Sonderumsiedler nicht gerecht wird, jener Millionen Menschen, die häufig zur selben Zeit und aus denselben Gründen festgenommen wurden wie die Häftlinge des Gulags, dann aber nicht in Lagern, sondern an entlegenen Verbannungs­orten endeten, wo viele Tausende an Hunger, Kälte und schwerer Arbeit starben. 

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Manche wurden aus politischen Gründen in die Verbannung geschickt — so die Kulaken in den dreißiger Jahren —, andere wegen ihrer Volkszugehörigkeit — darunter Polen, Balten, Ukrainer, Wolgadeutsche und Tschetschenen in den vierziger Jahren. In Kasachstan, Mittelasien oder Sibirien erwarteten sie die vielfältigsten Schicksale, zu vielfältig, um sie in einem Bericht über das Lagersystem darstellen zu können. Ich erwähne sie nur dann, wenn ihre Erlebnisse mir besonders ähnlich den Erfahrungen der Gulaginsassen oder relevant dafür erscheinen. Obwohl beides eng miteinander verwoben ist, müsste über die Verbannten ein anderes Buch von gleichem Umfang geschrieben werden. Ich hoffe, dass dies bald geschieht.

Auch wenn dieses Buch sich auf die sowjetischen Lager konzentriert, so können sie doch nicht isoliert betrachtet werden. Der Gulag entstand und entwickelte sich zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum und ist verknüpft mit anderen Geschehnissen. Dabei sind mir drei Zusammenhänge wichtig: Der Gulag gehört zum einen zur Geschichte der Sowjetunion, zum zweiten zur Geschichte von Gefängnis und Verbannung in Russland und in der ganzen Welt sowie drittens zu dem besonderen geistigen Klima Europas in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, das auch die nationalsozialistischen Konzentrationslager in Deutschland hervorgebracht hat.

Den Zusammenhang zur Geschichte der Sowjetunion sehe ich so: Der Gulag ist nicht fix und fertig vom Himmel gefallen, sondern spiegelte den allgemeinen Zustand der Gesellschaft wider, die ihn umgab. Wenn die Lager schmutzig, die Wärter brutal und die Arbeitsbrigaden schlampig waren, dann hat das auch damit zu tun, dass es solche Erscheinungen in anderen Bereichen des Lebens in der Sowjetunion ebenfalls gab. Wenn das Lagerleben schrecklich, unerträglich und unmenschlich war, wenn Menschen reihenweise starben, dann kann auch das kaum überraschen. Zu bestimmten Zeiten war das Leben in der Sowjetunion überhaupt schrecklich, unerträglich und unmenschlich, und hohe Sterberaten gab es auch außerhalb der Lager.

Es ist kein Zufall, dass die ersten Lager unmittelbar nach der blutigen, gewaltsamen und chaotischen russischen Revolution entstanden. Die Revolution selbst, der nachfolgende Terror und der Bürgerkrieg erweckten bei vielen in Russland den Eindruck, die Zivilisation sei für immer zu Ende.

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»Todesstrafen wurden willkürlich verhängt«, schreibt der Historiker Richard Pipes. »Menschen wurden ohne erkennbaren Grund erschossen und ebenso willkürlich aus dem Gefängnis entlassen.«18) Nach 1917 wurde das Wertesystem einer ganzen Gesellschaft auf den Kopf gestellt. Reichtum und Erfahrungen, in einem Leben angesammelt, wurden zu Schuld erklärt, Raub als »Enteignung« gerühmt, Mord zum legitimen Mittel im Kampf um die Diktatur des Proletariats erhoben. In diesem Klima konnte es kaum verwundern, dass Lenin bald nach der Revolution Tausende Menschen einsperren ließ, nur weil sie Reichtümer besaßen oder Adelstitel trugen.

Die in bestimmten Jahren auffällig hohen Sterberaten in den Lagern reflektieren ebenfalls die Entwicklung im ganzen Land. Sie schössen Anfang der dreißiger Jahre in die Höhe, als in Russland der Hunger grassierte. Im Zweiten Weltkrieg stiegen sie erneut an: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion brachte nicht nur Millionen von Menschen auf den Schlachtfeldern den Tod, sondern löste auch Ruhr- und Typhusepidemien sowie Hungersnöte aus, die die Menschen innerhalb wie außerhalb der Lager betrafen. Als im Winter 1941/42 ein Viertel der Gulaginsassen verhungerte, teilten auch eine Million Bürger der Stadt Leningrad, die von den Deutschen belagert wurde, dieses Schicksal.19) Die Chronistin der Blockade, Lidia Ginsburg, bezeichnete den Hunger jener Zeit als »etwas permanent Gegenwärtiges, das sich unaufhörlich bemerkbar macht. Am schlimmsten ist es, wenn sich das Essen mit entsetzlicher Geschwindig­keit seinem Ende nähert, ohne den Hunger zu stillen.«20) Fast die gleichen Worte gebrauchten ehemalige Häftlinge, wie der Leser bald sehen wird.

Allerdings starben die Leningrader zu Hause, während der Gulag Schicksale zerbrach, Familien zerstörte, Kinder ihren Eltern entriss und Millionen zum Dahinvegetieren in entlegener Einöde, fern von ihren Familien, verurteilte. Und doch kann man ihre schrecklichen Erlebnisse durchaus mit den furchtbaren Erinnerungen »freier« Sowjetbürger vergleichen. Jelena Koschina, die im Februar 1942 aus Leningrad evakuiert wurde, musste beispielsweise auf dem Treck erleben, wie ihr Bruder, ihre Schwester und ihre Großmutter Hungers starben. 

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Als die Deutschen immer näher kamen, floh sie mit ihrer Mutter über die Steppe, wo sie »unaufhaltsame Zertrümmerung und [Szenen] des Chaos« erlebte: »Die zerfetzte Welt zerstob in tausend Splitter. Noch immer hingen Qualm und Brandgeruch in der Luft und machten die unermeßlich weite Steppe eng und stickig, als ob sie von einer schmutzigen, verbrannten Faust zusammengepreßt würde.« Koschina, die nie ein Lager erlebte, wusste schon, was Kälte, Hunger und Todesangst bedeuteten, als sie noch keine zehn Jahre alt war. Die Erinnerung daran ließ sie ihr Leben lang nicht mehr los. Nie, so schrieb sie, »werde ich vergessen, wie Wadiks Körper unter einem Laken fortgebracht wurde, wie Tanja sterbend nach Luft rang, wie Mama und ich, die letzten, die noch übrig waren, uns in Rauch und Kanonendonner durch die brennende Steppe schleppten«.21) 

Die Menschen im Gulag und die Bevölkerung hatten noch manches andere gemeinsam. Schlampig gearbeitet wurde hier wie dort, die stumpfsinnige Bürokratie, die Korruption, die Missachtung menschlichen Lebens gab es überall. Als ich für dieses Buch recherchierte, beschrieb ich einem polnischen Freund das von Häftlingen entwickelte System der Tufta, der Tricks, mit denen man die Erfüllung der Arbeitsnorm vortäuschte. Er lachte laut auf: »Sie glauben, das haben Häftlinge erfunden? Das gab es im ganzen Sowjetblock.« 

In Stalins Sowjetunion war der Unterschied zwischen dem Leben innerhalb und außerhalb des Stacheldrahtes nicht grundsätzlicher, sondern eher gradueller Natur. Vielleicht ist der Gulag deshalb oft als die Quintessenz des Sowjetsystems beschrieben worden. Die Welt außerhalb des Lagerzaunes hieß daher in der Häftlingssprache auch nicht »die Freiheit«, sondern die »Große Gefängniszone«, größer und weniger tödlich als die »Kleine Zone«, das Lager, aber nicht viel menschlicher oder gar menschenwürdiger.

Der Gulag ist also vom Leben in der Sowjetunion nicht zu trennen. Ebenso gilt aber auch, dass die Geschichte der sowjetischen Lager nicht losgelöst von der jahrhundertelangen, Nationen und Kulturen übergreifenden Geschichte von Gefängnis, Verbannung, Einkerkerung und Konzentrationslagern zu sehen ist. 

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Die Verschickung von Gefangenen in ferne Gegenden, wo sie »ihre Schuld an der Gesellschaft sühnen«, sich nützlich machen können und andere nicht mit ihren Ideen oder Verbrechen anstecken, ist so alt wie die menschliche Zivilisation. Schon die Herrscher im antiken Griechenland oder Rom verbannten Andersdenkende in ferne Kolonien. Sokrates wählte den Freitod, weil er die Verbannung aus Athen nicht ertragen wollte. Der Dichter Ovid wurde in einen stinkenden Hafen am Schwarzen Meer deportiert. Das georgianische England sandte seine Räuber und Diebe nach Australien. Frankreich schickte seine Verbrecher im neunzehnten Jahrhundert nach Guyana. Portugal ließ unerwünschte Personen in Mosambik verschwinden.22) 

Die neue Führung der Sowjetunion musste nach 1917 nicht im fernen Portugal nach Vorbildern suchen. Russland hatte seit dem siebzehnten Jahrhundert sein eigenes Verbannungssystem. Ein entsprechendes Gesetz wurde erstmalig 1649 erwähnt. Die Verbannung galt damals als eine neue, humanere Form der Strafe, die der Hinrichtung, Brandmarkung oder Verstümmelung bei weitem vorzuziehen war. Sie wurde bei einer großen Zahl leichter, aber auch schwerer Vergehen verhängt, von Drogenkonsum über Wahrsagerei bis zu Mord.23) Zahlreiche russische Schriftsteller und Intellektuelle, darunter Dostojewski und Puschkin, erfuhren am eigenen Leibe, was Verbannung heißt. Aber auch andere ließ dieses Phänomen nicht los: So überraschte Anton Tschechow auf der Höhe seines Ruhmes im Jahr 1890 alle seine Freunde und Bekannten damit, dass er sich auf den Weg machte, um die Strafkolonien auf der Insel Sachalin vor der russischen Pazifikküste zu besuchen. Vor seiner Abreise erklärte er dies seinem staunenden Verleger mit den folgenden Zeilen:

»... wir [ließen] Millionen von Menschen in den Gefängnissen unnötig verfaulen [...], ohne Überlegung, auf barbarische Art. Wir trieben die Menschen gefesselt in die Kälte, Zehntausende von Werst weit, wir steckten sie mit Syphilis an, demoralisierten sie, vermehrten das Verbrechertum [...] aber uns kümmert das gar nicht, für uns ist das uninteressant...«24) 

Rückblickend kann man in der Geschichte des zaristischen Systems viele Praktiken entdecken, die später im Gulag angewandt wurden.

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Wie dieser war zum Beispiel auch die Verbannung nach Sibirien niemals nur Verbrechern vorbehalten. Wenn ein Dorf zu dem Schluss kam, einer aus ihrer Mitte habe schlechten Einfluss auf die anderen, dann konnten die Ältesten nach einem Gesetz von 1736 das Eigentum des Unglücklichen aufteilen und ihn aus ihrer Mitte vertreiben. Fand er keine andere Zuflucht, war der Staat berechtigt, ihn in die Verbannung zu schicken.25) Auf dieses Gesetz bezog sich Chruschtschow 1948, um (mit Erfolg) zu begründen, dass er Kolchosbauern mit Verbannung bestrafte, wenn sie angeblich nicht engagiert und fleißig genug arbeiteten.26) 

Menschen zu verbannen, die sich nicht einordneten, war im ganzen neunzehnten Jahrhundert gängige Praxis. In seinem Buch Sibirien und das Verbannungs­system beschreibt George Kennan, ein Onkel des bekannten amerikanischen Staatsmannes, das »administrative Verfahren«, das er 1891 in Russland kennen lernte:

»Die auf diese Weise verbannte Persönlichkeit kann sehr wohl gar keines Verbrechen schuldig sein ... sobald nach der Meinung der Lokalbehörden der Aufenthalt irgend jemandes an einem bestimmten Orte >der gesellschaftlichen Ordnung nachteilige ist, kann er ohne besondern Haftbefehl festgenommen, mit Zustimmung des Ministers des Innern zwangsweise nach irgend einem andern Orte innerhalb der Grenzen des Reiches gebracht und dort auf eine Zeit von 5 Jahren unter Polizeiaufsicht gestellt werden.«27

Die Verbannung auf behördliche Anweisung, wofür weder Gerichtsverfahren noch Urteil nötig waren, galt als ideale Strafe für Störenfriede, aber auch für politische Gegner des Regimes. In den Anfangsjahren waren dies oft polnische Adlige, die sich der Besetzung ihrer Ländereien und der Beschlagnahme ihrer Vermögen widersetzten. Später kamen religiöse Abweichler und Mitglieder der verschiedensten revolutionären Gruppen und Geheimgesellschaften hinzu, darunter auch die Bolschewiken. Die berühmtesten »Sonderumsiedler« des neunzehnten Jahrhunderts waren allerdings politische Gefangene, die man vor Gericht gestellt und abgeurteilt hatte — die Dekabristen, eine Gruppe hoher Adliger, die 1825 eine schwache Revolte gegen Zar Nikolaus I. gewagt hatten.

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Mit einem Rachedurst, der das damalige Europa schockierte, verurteilte der Zar fünf der Dekabristen zum Tode. Die übrigen wurden ihrer Adelsränge beraubt und in Ketten nach Sibirien verbracht, einige begleitet von ihren ungewöhnlich couragierten Ehefrauen. Nur wenige lebten lang genug, um noch die Begnadigung durch Nikolaus' Nachfolger Alexander II. dreißig Jahre später zu erleben. Als müde alte Männer kehrten sie nach St. Petersburg zurück.28) 

Ein anderer berühmter politischer Gefangener war Fjodor Dostojewski, der 1849 zu vier Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Nach seiner Rückkehr aus der sibirischen Verbannung schrieb er die Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, den meistgelesenen Bericht über das Leben in den Haftanstalten des Zaren.

Wie der Gulag war die Verbannung zur Zarenzeit nicht nur als eine Form der Strafe gedacht. Auch die Herrscher Russlands brauchten ihre Gefangenen, gleich welcher Art, um ein ökonomisches Problem zu lösen, das seit Jahrhunderten besteht — die spärliche Besiedlung des Hohen Nordens und Fernen Ostens der riesigen Landmasse Russlands, die eine Ausbeutung der dort lagernden Naturschätze unmöglich machte. So begann der russische Staat bereits im achtzehnten Jahrhundert Straftäter zu Zwangsarbeit zu verurteilen. Katorga nannte man das, abgeleitet vom griechischen kateirgon, »zwingen«, und auch hier gab es eine Vorgeschichte. Peter der Große setzte zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts Sträflinge und Leibeigene beim Bau von Straßen, Festungen, Fabriken, Schiffen und der Stadt St. Petersburg ein. 1722 ging er in einem besonderen Erlass noch weiter und ordnete die Verbannung von Strafgefangenen samt Frauen und Kindern zu den Silberminen von Dauria in Ostsibirien an.29) 

Der Einsatz von Zwangsarbeitern galt zu Peters Zeiten als großer wirtschaftlicher und politischer Erfolg. Die Geschichte der Hunderttausenden von Leibeigenen, die St. Petersburg errichteten, hatte enormen Einfluss auf die folgenden Generationen. Obwohl während der Bauarbeiten viele Menschen ihr Leben ließen, wurde die Stadt zu einem Symbol des Fortschritts und der Öffnung Russlands nach Europa. Die Methoden waren unmenschlich, und doch profitierte die Nation davon. Peters Beispiel kann möglicherweise erklären, weshalb die Herrscher nach ihm die Katorga so bereitwillig übernahmen. Auch Stalin war bekanntlich ein großer Bewunderer von Peters Taten.

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Trotzdem blieb die Katorga im neunzehnten Jahrhundert eine relativ seltene Strafe. Im Jahre 1906 gab es circa sechstausend Verurteilte, 1916, am Vorabend der Revolution, waren es 28.600.30) Wesentlich größere wirtschaftliche Bedeutung kam den Sonderumsiedlern zu, die ihr ganzes Leben in der Verbannung verbringen mussten, aber nicht in einem Gefängnis, sondern in einer dünn besiedelten Gegend, die über großes wirtschaftliches Potenzial verfügte. Von 1824 bis 1889 wurden 720.000 Menschen zwangsweise nach Sibirien umgesiedelt. Viele nahmen ihre Familien mit. Sie, nicht die in Ketten arbeitenden Sträflinge, bevölkerten nach und nach Russlands menschenleere, aber an Bodenschätzen reiche Landstriche im Norden und Osten.31) 

Diese Art Strafe war nicht gerade milde, und einige der Ansiedler hielten ihr Schicksal für schlimmer als das der Katorga-Sträflinge. An die Einöde mit schlechtem Boden und nur ganz vereinzelten Nachbarn gefesselt, verhungerten viele in den langen Wintern oder tranken sich aus Trübsinn zu Tode. Es gab nur wenige Frauen — ihre Zahl überstieg niemals 15 Prozent —, noch weniger Bücher und keinerlei Zerstreuung.32) 

Auf seiner Reise durch Sibirien nach Sachalin begegnete Anton Tschechow einigen dieser Menschen: »Die Mehrzahl von ihnen ist arm, schwächlich, von schlechter Bildung und hat nichts aufzuweisen als die Handschrift, die oft zu nichts taugt. Die einen beginnen nach und nach ihre Hemden aus holländischem Leinen, ihre Bettlaken und Tücher zu verkaufen, und es endet damit, daß sie nach zwei bis drei Jahren in furchtbarer Armut sterben.«33) 

Aber nicht alle Verbannten waren arm und elend. Zwischen dem europäischen Teil Russlands und Sibirien lagen endlose Weiten. Im Osten waren die Beamten milder und Adlige viel dünner gesät. Wohlhabendere Verbannte und Ex-Sträflinge brachten zuweilen großen Grundbesitz zusammen. Solche mit höherer Bildung wurden Ärzte, Rechtsanwälte oder Schuldirektoren.34) Die Frau des Dekabristen Sergej Wolkonski, Fürstin Maria Wolkonskaja, finanzierte den Bau eines Theaters und eines Konzertsaales in Irkutsk. Zwar hatte sie wie ihr Gatte ihren Titel verloren, aber die Einladungen zu ihren Soireen und Diners waren sehr gefragt und selbst noch im fernen Moskau und St. Petersburg Stadtgespräch.35) 

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Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatte das System etwas von seiner früheren Härte eingebüßt. Die Gefängnisreform, die sich im neunzehnten Jahr­hundert in Europa wie eine Mode ausbreitete, erreichte schließlich auch Russland. Das Gefängnisregime wurde gelockert, die Bewachung entschärft.36) Wenn man bedenkt, was danach kam, dann war der Marsch nach Sibirien für die kleine Gruppe von Männern, die später die russische Revolution anführen sollten, zwar auch kein Vergnügen, aber wohl kaum eine schwere Strafe. Die Bolschewiken galten als »politische« Gefangene, nicht als Kriminelle, und wurden daher durchaus bevorzugt behandelt, erhielten Bücher, Papier und Schreibgerät. So berichtete Ordschonikidse später, er habe in der Petersburger Festung Schlüsselberg Adam Smith, Ricardo, Plechanow, William James, Frederick W. Taylor, Dostojewski und Ibsen gelesen.37) 

Gemessen an späteren Standards waren die Bolschewiken ordentlich ernährt und gekleidet, ja selbst einen annehmbaren Haarschnitt hatten sie. Auf einem Foto von Trotzki während seiner Haft in der Peter-Paul-Festung im Jahr 1906 trägt er eine Brille, einen Anzug, eine Krawatte und ein Hemd mit beeindruckend weißem Kragen. Nur das Guckloch in der Tür hinter ihm weist daraufhin, wo diese Aufnahme entstand.38) Auf einem anderen Bild aus dem Jahr 1900, als er nach Ostsibirien verbannt war, ist er in Pelzmütze und dickem Mantel in der Gesellschaft weiterer Männer und Frauen zu sehen, die ebenfalls festes Schuhwerk und Pelzkleidung tragen.39) All das wäre fünfzig Jahre später im Gulag der reine Luxus gewesen.

Und wenn das Leben in der zaristischen Verbannung nicht mehr auszuhalten war, dann blieb immer noch die Flucht. Stalin wurde vier Mal verhaftet und in die Verbannung geschickt. Drei Mal entkam er — einmal aus dem Gouvernement Irkutsk und zwei Mal aus Wologda, einer Region, die später von Lagern übersät sein sollte.40) 

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Sein Hohn über das Zarenregime wegen dessen »Zahnlosigkeit« kannte daher keine Grenzen. Sein Biograf Dmitri Wolkogonow gab Stalins Meinung mit den Worten wieder: »Man konnte lesen, soviel es einem beliebte, man wurde nicht zum Arbeiten gezwungen, und man konnte sogar fliehen. Um aus der Verbannung zu fliehen, benötigte man nur eines: den Wunsch dazu.«41) Ihre eigene Erfahrung in Sibirien lieferte den Bolschewiken also ein Modell, auf das sie sich stützen konnten, und erteilte ihnen zugleich eine Lektion über die Notwendigkeit, Strafmaßnahmen mit besonderer Härte durchzusetzen.

 

So wie der Gulag fester Bestandteil der russischen und sowjetischen Geschichte ist, so kann er auch von der Geschichte Europas nicht getrennt werden. Die Sowjetunion war nicht der einzige Staat im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts, der eine totalitäre Gesellschaftsordnung entwickelte und Konzentrations­lager errichtete. Zwar sollen in diesem Buch die sowjetischen Lager nicht mit den nationalsozialistischen verglichen werden, aber völlig ignorieren kann man dieses Thema nicht. Beide Systeme entstanden nahezu zur selben Zeit auf demselben Kontinent. Hitler wusste von den sowjetischen Lagern, und Stalin vom Holocaust. 

Manche Häftlinge haben beide Arten von Lagern erlebt und beschrieben. Irgendwo in großer Tiefe gibt es Zusammenhänge.

Der erste besteht darin, dass der Nationalsozialismus und der sowjetische Kommunismus aus den barbarischen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und des darauffolgenden Bürgerkrieges in Russland erwuchsen. Die industriellen Methoden der Kriegführung, die in beiden Konflikten in hohem Maße zum Einsatz kamen, spiegeln sich in den Werken unzähliger Intellektueller und Künstler. Sie haben der Zeit ihren Stempel aufgedrückt. Weit weniger Beachtung schenkte man dagegen der verbreiteten Anwendung industrialisierter Haftmethoden. Seit 1914 baute man überall in Europa Internierungs- und Kriegsgefangenenlager. Im Jahr 1918 gab es allein in Russland 2,2 Millionen Kriegsgefangene. Neue Errungenschaften der Technik wie die Massenproduktion von Geschützen, Panzern und selbst von Stacheldraht machten diese und spätere Lager erst möglich. Und tatsächlich entstanden die ersten sowjetischen Lager an Standorten von Gefangenenlagern des Ersten Weltkrieges.42)

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Ein zweiter Zusammenhang besteht darin, dass beide in die Geschichte der Konzentrationslager einzuordnen sind, die bereits Ende des neunzehnten Jahr­hunderts beginnt. Unter Konzentrationslagern verstehe ich Lager, wo Menschen nicht dafür festgehalten werden, was sie getan haben, sondern dafür, was sie sind. Anders als Einrichtungen für Straf- oder Kriegsgefangene wurden Konzentrationslager für einen bestimmten Typ nichtkrimineller ziviler Gefangener errichtet, für Mitglieder einer »feindlichen« Gruppe, einer Kategorie von Personen, die wegen ihrer Rasse oder ihrer politischen Einstellung als für die Gesellschaft gefährlich oder als nicht dazugehörig eingeordnet wurde.43)

Folgt man dieser Definition, dann entstanden die ersten modernen Konzentrationslager nicht in Deutschland oder in Russland, sondern 1895 in der Kolonie Kuba. Um einer Reihe lokaler Aufstände ein Ende zu machen, griff das spanische Imperium in jenem Jahr zum Mittel der reconcentracion: Die Bauern wurden von ihrem Land entfernt und in Lagern »neu konzentriert«; damit waren den Aufständischen Nahrung, Unterschlupf und Hilfe entzogen. Im Jahre 1900 war das spanische Wort reconcentración bereits ins Englische gewandert, wo es ein analoges Projekt der Briten beschrieb, das diese aus ganz ähnlichen Gründen im südafrikanischen Burenkrieg in Angriff genommen hatten: Burische Zivilisten wurden in Lagern »konzentriert«, um den kämpfenden Buren Unterkunft und Unterstützung zu nehmen.

Von dort breitete die Idee sich aus. So scheint der Begriff »konz-lager« als Übersetzung des englischen »concentration camp« nach Russland gelangt zu sein, weil Trotzki die Geschichte des Burenkrieges gut kannte.44) 1904 übernahmen die deutschen Kolonisten in Südwestafrika das britische Modell mit einem Unterschied. Statt die Ureinwohner vom Stamme der Herero lediglich wegzuschließen, zwangen sie diese, für sich zu arbeiten.

Zwischen den ersten deutschen Lagern in Afrika und jenen, die dreißig Jahre später im nationalsozialistischen Deutschland errichtet wurden, ist eine ganze Reihe merkwürdiger, schauriger Zusammenhänge festzustellen. Von den südafrikanischen Arbeitskolonien wanderte der Begriff Konzentrationslager im Jahre 1905 ins Deutsche. 

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Der erste Reichskommissar für Deutsch-Südwestafrika war ein gewisser Dr. Heinrich Göring, der Vater jenes Hermann Göring, der 1933 die ersten NS-Konzentrationslager bauen ließ. In jenen Lagern in Afrika nahmen die Deutschen erstmals medizinische Experimente an Menschen vor: Theodor Mollison und Eugen Fischer, zwei Lehrer von Joseph Mengele, experimentierten dort an Hereros, Letzterer, weil er seine Theorien von der Überlegenheit der weißen Rasse beweisen wollte. Mit dieser Überzeugung stand er nicht allein. So heißt es in einem Bestseller, Das deutsche Denken in der Welt, der 1912 erschien:

»Keine falsche Philanthropie oder Rassentheorie ist imstande, für vernünftige Menschen zu beweisen, daß die Erhaltung irgendwelcher viehzüchtender südafrikanischer Kaffern ... für die Zukunft der Menschheit wichtiger sei, als die Ausbreitung der großen europäischen Nationen und der weißen Rassen überhaupt... Erst dadurch, daß der Eingeborene im Dienst der höheren Rasse, d.h. im Dienste ihres und seines eigenen Fortschritts, Werte schaffen lernt, gewinnt er ein sittliches Anrecht auf Selbstbehauptung.« (45)

Zwar werden derartige Theorien selten so klar ausgesprochen, aber ähnliche Gedanken lagen der praktischen Kolonialpolitik unterschwellig überall zu Grunde. Der Kolonialismus in verschiedenen Formen verstärkte den Mythos von der Überlegenheit der weißen Rasse, womit er die Anwendung von Gewalt gegen die Vertreter anderer Rassen zu legitimieren suchte. Daher kann durchaus argumentiert werden, dass die korrumpierenden Erfahrungen der europäischen Kolonialisten dazu beitrugen, dem europäischen Totalitarismus des zwanzigsten Jahrhunderts den Weg zu ebnen.46 Und nicht nur dem europäischen: Indonesien etwa steht beispielhaft für einen postkolonialen Staat, dessen Herrscher ihre Kritiker ebenso in Konzentrationslager sperrten, wie es die Kolonialherren zuvor getan hatten.

Das Russische Reich, das seine Ureinwohner auf dem Marsch nach Osten bezwungen hatte, war da keine Ausnahme.47) So verbreitet sich in Leo Tolstois Anna Karenina Annas Gatte, der als Beamter für die »Fremdvölker« zuständig ist, bei einer Dinnerparty darüber, dass höhere Kulturen die niederen absorbieren müssten. (48)

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Den Bolschewiken war wie allen gebildeten Russen natürlich bewusst, wie das Russische Reich mit Kirgisen, Burjaten, Tungusen, Tschuktschen und anderen Völkern umgesprungen war. Die Tatsache, dass sie, die sich sonst so vehement für das Schicksal der Unterdrückten einsetzten, das nicht besonders berührte, ist ein Hinweis darauf, wie sie wirklich dachten.

Und in der Tat war für die Entwicklung der Konzentrationslager in Europa keine Kenntnis der Geschichte Südafrikas oder Ostsibiriens erforderlich. Die Vorstellung, dass manche Menschen anderen überlegen seien, war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf dem alten Kontinent weit verbreitet. Und das ist es letztlich auch, was die Lager in der Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland im grundlegendsten Sinne miteinander verbindet: Beide Regime bezogen ihre Legitimation zum Teil daraus, dass sie sich Kategorien von »Feinden« oder »Untermenschen« schufen, die sie massenweise verfolgten und vernichteten.

Die Nationalsozialisten erprobten die Vernichtung zunächst an körperlich und geistig Behinderten und nahmen dann Sinti und Roma, Homosexuelle und vor allem die Juden ins Visier. In der UdSSR waren die ersten Opfer die »Ehemaligen«, angebliche Parteigänger des alten Regimes, später die »Volksfeinde«, ein verschwommener Begriff, der nicht nur vermeintliche politische Gegner des Regimes, sondern auch bestimmte nationale und ethnische Gruppen einschloss, wenn diese (aus ebenso verschwommenen Gründen) den Sowjetstaat oder Stalins Macht zu bedrohen schienen. So ließ Stalin mal Polen, mal Balten, Tschetschenen, Tataren und — kurz vor seinem Tode — auch Juden massenhaft einsperren.49)

Obwohl diese Kategorien niemals völlig willkürlich gewählt waren, standen sie auch nicht für immer fest. Bereits ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Hannah Arendt geschrieben, dass beide Regime gegen »objektive Gegner« vorgingen, deren Identität je nach den Umständen wechseln konnte; waren die einen liquidiert, konnte eine andere Gruppe ins Visier geraten. Die Aufgabe der Polizei im totalitären Staat sei daher auch nicht mehr die Verbrechensbekämpfung, sondern die Verhaftung bestimmter Bevölkerungsgruppen, wenn das Regime sich dazu entschied.50) Noch einmal: Die Menschen wurden nicht dafür festgesetzt, was sie getan hatten, sondern dafür, was sie waren.

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In beiden Gesellschaften ist die Errichtung der Lager nur als das letzte Stadium eines langen Prozesses anzusehen, in dem diesen objektiven Gegnern alles Menschliche abgesprochen wurde. Das begann zunächst rhetorisch. In Mein Kampf schreibt Hitler, wie ihm plötzlich aufgegangen sei, dass die Juden an Deutschlands Problemen schuld wären: »Gab es denn da einen Unrat, eine Schamlosigkeit in irgendeiner Form, vor allem des kulturellen Lebens, an der nicht wenigstens ein Jude beteiligt gewesen wäre? Sowie man nur vorsichtig in eine solche Geschwulst hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe, oft ganz geblendet vom plötzlichen Lichte, ein Jüdlein.«51)

Auch Lenin und Stalin machten zunächst »Feinde« für die zahllosen wirtschaftlichen Fehlschläge der Sowjetunion verantwortlich. Das waren »Schädlinge«, »Saboteure« oder Agenten ausländischer Mächte. Als in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre die Verhaftungen immer mehr zunahmen, verschärfte Stalin auch seine Wortwahl. Die »Volksfeinde« waren nun Ungeziefer, Abschaum oder »Giftkräuter«. Seine Gegner bezeichnete er als »Schmutz«, der ständig beseitigt werden müsse, so wie die NS-Propaganda Bilder entwarf, die Juden mit Ungeziefer, Parasiten oder ansteckenden Krankheiten in Verbindung brachten.52)

War der Feind einmal verteufelt, konnte man ernsthaft gegen ihn vorgehen und ihn auf juristischem Wege isolieren. Bevor die Juden zusammengetrieben und in Lager deportiert wurden, nahm man ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft, das Recht, als Beamte, Anwälte oder Richter zu arbeiten, Arier zu heiraten, arische Schulen zu besuchen und die deutsche Fahne zu zeigen. Sie mussten den gelben Davidstern tragen, man durfte sie auf offener Straße demütigen und schlagen.53) Bevor man in der Sowjetunion unter Stalin »Feinde« verhaftete, wurden auch sie auf öffentlichen Versammlungen erniedrigt, von ihrem Arbeits­platz vertrieben, aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, ließen sich ihre entrüsteten Ehepartner von ihnen scheiden, sagten sich ihre Kinder empört von ihnen los.

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Dieser Prozess der Entmenschlichung setzte sich in den Lagern fort. So wurden die Opfer eingeschüchtert und die Täter in ihrem Glauben bestärkt, das Rechte zu tun. In ihren Gesprächen mit Franz Stangl, dem Kommandanten des KZ Treblinka, stellte Gitta Sereny die Frage, warum die Lagerinsassen geschlagen, gedemütigt und sogar nackt ausgezogen wurden, bevor man sie tötete. Stangl antwortete: »Um die, die diese <Maßnahmen> ausführen mußten, vorzubereiten; um sie zu <konditionieren>... Um es ihnen zu ermöglichen, das zu tun, was sie dann taten.«54) Der deutsche Soziologe Wolfgang Sofsky zeigt in seinem Buch Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, wie die Entmenschlichung der Häftlinge methodisch das ganze Lagerleben durchdrang, angefangen mit der abgerissenen Häftlingskleidung über die Verweigerung jeglicher Intimsphäre und die harten Strafen bis hin zur ständigen Erwartung des Todes.

Auch im sowjetischen System begann die Entmenschlichung bereits mit der Festnahme: Den Häftlingen wurden ihre Kleider und ihre Identität genommen, sie hatten keinen Kontakt zur Außenwelt mehr, wurden gefoltert, verhört und in lächerlichen Prozessen abgeurteilt, wenn es überhaupt einen Prozess gab. Als sowjetische Besonderheit dieses Vorgangs wurden die Gefangenen aus der Sowjetgesellschaft ausgestoßen; es war ihnen verboten, die übliche Anrede »Genosse« zu gebrauchen, und ab 1937 blieb ihnen auch der begehrte Titel »Stoßarbeiter« versagt, wie gut sie sich auch führten und wie fleißig sie auch arbeiteten. In Lagern und Gefängnissen gab es nach den Berichten vieler Insassen außerdem so gut wie keine Stalinbilder, die sonst in Wohnungen und öffentlichen Räumen quer durch die UdSSR allgegenwärtig waren.

Damit will ich jedoch auf keinen Fall behaupten, dass die Lager in der Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland identisch gewesen wären. Wie jeder Leser, der auch nur ein wenig über den Holocaust informiert ist, in diesem Buch feststellen wird, unterschied sich das Leben in den sowjetischen Lagern in vieler Hinsicht, im Großen wie im Kleinen, von den Zuständen in den NS-Lagern. Es gab Unterschiede in Tagesablauf und Arbeit, in Bewachung und Bestrafung, in der Propaganda. Der Gulag währte länger und kannte sowohl relativ grausame als auch relativ humane Phasen. 

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Die Geschichte der nationalsozialistischen KZs ist kürzer und einheitlicher: Sie wurden schlicht immer grausamer, bis die zurückweichenden Deutschen sie liquidierten oder die vorrückenden Alliierten sie befreiten. Der Gulag bestand aus sehr verschiedenen Einrichtungen — von den tödlichen Goldminen an der Kolyma im Hohen Norden bis zu den nahezu luxuriös erscheinenden geheimen Instituten bei Moskau, wo gefangene Wissenschaftler Waffen für die Rote Armee entwickelten. Zwar gab es auch bei den Nationalsozialisten verschiedene Arten von Lagern, aber das Spektrum war weitaus enger.

Vor allem zwei Unterschiede aber halte ich für fundamental. 

Erstens war die Definition des »Feindes« in der Sowjetunion stets viel verschwommener als die des Juden in NS-Deutschland. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, konnte kein Jude in Deutschland damals etwas an seinem Status ändern, konnte kein Jude, der einmal im Lager saß, hoffen, dem Tod zu entrinnen, und allen Juden war das stets gegenwärtig. Zwar mussten Millionen sowjetischer Häftlinge um ihr Leben bangen — und Millionen starben tatsächlich —, aber es gab keine Häftlingskategorie, deren Tod absolut feststand. Das Schicksal mancher Gefangener wurde zuweilen erleichtert, weil man sie als Ingenieure oder Geologen unter relativ günstigen Umständen arbeiten ließ. In jedem Lager gab es eine Gefangenenhierarchie, in der manche auf Kosten anderer oder mit Hilfe anderer aufsteigen konnten. Wenn der Gulag mit Frauen, Kindern oder Alten überfüllt war oder wenn man Soldaten an der Front brauchte, wurden Häftlinge in großer Zahl amnestiert und entlassen. Der Status des »Feindes« konnte außerdem unerwartet wechseln. So ließ Stalin zu Beginn des Zweiten Weltkrieges 193p Hunderttausende Polen festsetzen. 1941 gab er sie ebenso plötzlich wieder frei, weil Polen und die UdSSR inzwischen zeitweilige Verbündete geworden waren. Das Gegenteil gab es auch: In der Sowjetunion konnten Täter unvermittelt zu Opfern werden. Aufseher oder Lagerverwalter, ja sogar hohe Offiziere der Geheimpolizei wurden verhaftet und ins Lager geschickt. Nicht jedes »Giftkraut« blieb für immer giftig. Keine Kategorie sowjetischer Häftlinge lebte also in ständiger Erwartung des Todes.55

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Zum Zweiten — und auch das wird in diesem Buch deutlich — war der ursprüngliche Anlass für die Errichtung des Gulags sowohl nach Aussagen von Häftlingen als auch der offiziellen Propaganda seiner Begründer zufolge ökonomischer Natur. Das bedeutet nicht, dass die sowjetischen Lager deshalb humaner waren. In diesem System wurden die Häftlinge wie Arbeitstiere oder wie leblose Gegenstände behandelt. Die Wachmannschaften sprangen mit ihnen um, wie es ihnen gefiel, trieben sie in Viehwagen hinein und wieder heraus, wogen und maßen sie, gaben ihnen zu essen, wenn es ihnen erforderlich schien, oder ließen sie hungern, wenn nicht. Sie wurden, um die marxistische Terminologie zu benutzen, ausgebeutet, vergegenständlicht und zur Ware degradiert. Wenn sie nicht produzierten, hatte ihr Leben keinen Wert.

Trotzdem unterschieden sich ihre Erlebnisse von denen der jüdischen und anderen Häftlinge, die die Nationalsozialisten in eine besondere Kategorie von Lagern sperrten: die so genannten Vernichtungslager. Dem Sinn und Zweck nach waren das Todesfabriken, auch wenn in einigen Zwangsarbeit geleistet wurde. Vier Vernichtungslager gab es: Belzec, Chelmno, Sobibor und Treblinka. Majdanek und Auschwitz waren Arbeits- und Todeslager zugleich. Kamen die Gefangenen dort an, wurden sie »selektiert«. Nur wenige wurden ausgesucht, um noch einige Wochen Zwangsarbeit zu leisten. Der größte Teil wurde sofort in die Gaskammern geschickt, dort getötet und unmittelbar danach verbrannt.

Soweit ich feststellen konnte, gab es in der Sowjetunion nichts, was mit der besonderen Form der Tötung vergleichbar war, wie sie auf dem Höhepunkt des Holocaust praktiziert wurde. Dort fand man andere Möglichkeiten, um Hunderttausende Bürger zu vernichten. In der Regel brachte man sie nachts in einen Wald, ließ sie Aufstellung nehmen, schoss sie in den Hinterkopf und verscharrte sie in Massengräbern, ohne sie erst in einem Konzentrationslager festzuhalten — eine Form der Tötung, die nicht weniger »industrialisiert« und anonym war wie die der Nationalsozialisten. Im Übrigen wurde auch berichtet, dass die sowjetische Geheimpolizei Auspuffgase benutzte, um Gefangene umzubringen, ähnlich wie es die Nationalsozialisten in den Anfangsjahren taten.56

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Im Gulag starben sowjetische Häftlinge aber in der Regel nicht an der Effizienz ihrer Peiniger, sondern eher an Ineffizienz und Vernachlässigung.57 In manchen sowjetischen Lagern erwartete zu bestimmten Zeiten diejenigen der sichere Tod, die im Winter zum Holzfällen in den Wald geschickt wurden oder in den schlimmsten Goldbergwerken an der Kolyma arbeiten mussten. Man schloss Häftlinge auch in den Karzer ein, bis sie an Kälte und Hunger starben, ließ sie unbehandelt auf kalten Krankenstationen liegen oder erschoss sie wegen »Fluchtversuchs«. Trotz alledem war das sowjetische Lagersystem insgesamt nicht mit der Absicht eingerichtet, Leichenberge zu produzieren, auch wenn das zuweilen geschah.

Das sind feine Unterschiede, aber sie fallen ins Gewicht. Wenn der Gulag und Auschwitz auch in die gleiche geistige und historische Tradition gehören, sind sie doch zu unterscheiden und zu trennen — sowohl voneinander als auch von Lagersystemen, die andere Regime errichteten. Das Prinzip des Konzentrations­lagers mag so allgemein sein, dass man es in vielen verschiedenen Kulturen und Situationen antreffen kann. Aber auch eine oberflächliche Betrachtung der Geschichte zeigt, dass die jeweilige Ausprägung — wie das Lagerleben organisiert war, wie sich die Lager über die Jahre entwickelten, wie streng oder milde es dort zuging, ob sie grausam blieben oder liberalisiert wurden — vom konkreten Land, seiner Kultur und seinem politischen Regime abhingen.58 Für jene, die hinter dem Stacheldraht schmachteten, waren diese Unterschiede entscheidend für ihr Leben, ihre Gesundheit und das Überleben.

Wenn man die Berichte von Menschen liest, die beide Typen von Lagern überlebt haben, dann springen eher die unterschiedlichen Erlebnisse der Opfer als die Unterschiede zwischen beiden Lagersystemen ins Auge. Jeder Bericht ist unwiederholbar, jedes Lager hielt Schrecken verschiedener Art für Menschen unterschiedlichen Charakters bereit. In Deutschland konnte man an der Grausamkeit, in Russland an der eigenen Verzweiflung sterben. In Auschwitz konnte man in der Gaskammer zu Tode kommen, an der Kolyma im Schnee erfrieren. Der Mensch konnte in einem deutschen Wald oder in der sibirischen Tundra, bei einem Unfall im Bergwerk oder in einem Viehwagen sein Leben lassen. 

Am Ende aber erzählt jedes Menschenleben seine eigene Geschichte.

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