Die Gefangene, die unserer Baracke vorstand, empfing mich mit dem Ruf: »Lauf und schau unter dein Kissen!« Mir blieb fast das Herz stehen: Hatte ich endlich meine Brotration erhalten? Ich stürzte zu meinem Bett und riss das Kissen fort. Darunter lagen drei Briefe von zu Hause, drei dicke Briefe! Es war sechs Monate her, seit ich zum letzten Mal etwas erhalten hatte. Spontan empfand ich maßlose Enttäuschung. Dann packte mich der Schrecken. Was war aus mir geworden, wenn mir ein Stück Brot wichtiger war als Briefe von meiner Mutter, meinem Vater, meinen Kindern ... Das Brot war vergessen. Ich brach in Tränen aus.
Olga Adamowa-Sljosberg (1)
2.9 Frauen und Kinder
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Viele weibliche Überlebende sind der Meinung, dass man als Frau im Lager große Vorteile hatte. Frauen achten mehr auf sich, halten ihre Kleidung und ihr Haar in Ordnung. Sie schienen auch besser mit dem kärglichen Essen auszukommen, fielen nicht so leicht der Pellagra und anderen Mangelkrankheiten zum Opfer.2 Sie freundeten sich enger an und halfen einander auf eine Weise, wie es bei Männern in der Regel nicht vorkam.
Männliche Ex-Gefangene sehen das ganz anders. Sie sind der Meinung, dass Frauen moralisch schneller herunterkamen als Männer. Ihr Geschlecht gab ihnen eigene Möglichkeiten, eine bessere Arbeitseinstufung, einen leichteren Job und damit auch einen höheren Status im Lager zu erreichen. So verloren sie in dieser harten Welt leichter die Orientierung. Gustaw Herling-Grudzinski erzählt die Geschichte einer jungen Polin, die von einer informellen Jury der Urkas hohe Noten bekam. Zunächst
»... ging sie mit hoch erhobenem Kopf zur Arbeit, und jeden Mann, der sich ihr zu nähern versuchte, wehrte sie mit zornesfunkelnden Blicken ab. Abends kam sie zwar weniger stolz zurück, aber sie blieb auch dann unnahbar, ging unmittelbar vom Tor zur Küche, um sich ihr Essen zu holen, und verschwand darauf für die ganze Nacht in der Frauenbaracke. Man konnte darum annehmen, sie werde nicht so bald die Beute einer der nächtlichen Jagden im Lager werden.«
Aber das hielt nicht lange an. Nachdem ihr der Aufseher im Gemüselager, wo sie arbeitete, mehrere Wochen lang scharf auf die Finger geschaut hatte, so dass sie auch nicht eine einzige verfaulte Mohrrübe oder gesalzene Tomate stehlen konnte, gab sie auf.
»Von da an ging mit dem Mädchen eine völlige Veränderung vor sich. Sie sputete sich nicht mehr wie früher, ihre Suppe aus der Küche zu holen, sondern streunte nach der Arbeit wie eine läufige Hündin bis spät in die Nacht im Lager umher. Jeder Beliebige konnte sie haben. Es war ihr gleich, wo sie sich hingab, auf der Pritsche, unter der Pritsche, in den Zimmern der technischen Spezialisten oder in der Kleiderkammer. Sobald sie mir begegnete, wandte sie den Kopf ab und presste die Lippen heftig aufeinander. Als ich eines Tages zufällig in das Kartoffellager in der Zentrale kam, sah ich sie mit dem buckligen Krüppel Lewkowitsch, dem Vorarbeiter der 56. Brigade, auf einem Kartoffelhaufen liegen. Sie brach in ein fassungsloses Schluchzen aus, und als sie am Abend ins Lager zurückkehrte, hielt sie sich beschämt die Hände vors Gesicht.«3
Das ist Herling-Grudzinskis Version einer oft gehörten Geschichte, die immer etwas anders klingt, wenn eine Frau sie erzählt. Zum Beispiel die Version von Tamara Ruschnewitz, deren »Romanze« im Lager mit einem Brief begann, einem »Liebesbrief, wie er nur im Lager möglich ist«.
Er kam von Sascha, einem jungen Mann, dessen angenehmer Job des Schuhmachers ihn als Teil der Lageraristokratie auswies. Es war eine kurze, schlichte Botschaft: »Lass' uns zusammenleben, und ich werde dir helfen.« Zwei Tage später nahm Sascha Tamara beiseite und wollte von ihr eine Antwort haben. »Willst du mit mir leben oder nicht?«, fragte er. Sie sagte nein. Da schlug er sie mit einer Eisenstange zusammen. Anschließend brachte er sie ins Hospital (wo er wegen seiner Sonderstellung Einfluss hatte) und wies die Pfleger an, sie gut zu behandeln. Mehrere Tage blieb sie dort, bis ihre Verletzungen geheilt waren. Zeit zum Nachdenken hatte sie genug. Als man sie entließ, willigte sie ein. Sonst hätte er sie wieder geschlagen.
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»So begann mein Familienleben«, schreibt Tamara Ruschnewitz. Sofort ging es ihr besser: »Ich war gesünder, trug richtige Schuhe und musste nicht mehr in den alten Lumpen herumlaufen. Ich bekam eine neue Jacke, eine neue Hose... und sogar einen neuen Hut.« Jahrzehnte später beschrieb Tamara Sascha als »meine erste wahre Liebe«. Leider wurde er bald in ein anderes Lager verlegt. Sie sah ihn nie wieder.4
Ihre Erlebnisse wie auch Herling-Grudzinskis Bericht können als Geschichten des moralischen Abstiegs gesehen werden. Aber auch als Geschichten des Überlebens.
Aus Sicht der Lagerleitung hätte das alles gar nicht passieren dürfen. Vom Grundsatz her herrschte im Gulag strikte Geschlechtertrennung, und tatsächlich gibt es Häftlinge, die viele Jahre lang keinen Vertreter des anderen Geschlechts zu Gesicht bekommen haben. Die Lagerkommandanten rissen sich in der Regel auch nicht um weibliche Gefangene. Da sie körperlich schwächer waren, drückten sie das Produktionsergebnis, weshalb man sie in manchem Lager abzuweisen suchte. Im Februar 1941 sah sich die Gulag-Zentrale sogar genötigt, die gesamte NKWD-Führung und alle Lagerkommandanten schriftlich und unmissverständlich aufzufordern, Transportzüge mit Frauen aufzunehmen. Der Brief enthielt eine Aufstellung aller Arbeiten, die Frauen verrichten konnten, darunter Tätigkeiten in der Leicht- und Textilindustrie, in der Holz- und Metallverarbeitung, bestimmte Arbeiten im Wald oder das Ein- und Ausladen von Fracht.5)
Vielleicht liegt es an dieser Abneigung der Kommandanten gegen weibliche Häftlinge, dass durchgängig verhältnismäßig wenig Frauen in die Lager geschickt wurden. (Ihr Anteil an den Hinrichtungen während der Säuberungskampagne von 1937/38 war übrigens ebenfalls relativ gering.) Nach der offiziellen Statistik waren zum Beispiel im Jahr 1942 nur 13 Prozent der Gulag-Häftlinge Frauen.
1945 stieg diese Zahl auf 30 Prozent, zum Teil, weil die männlichen Gefangenen in erheblicher Zahl an die Front geschickt wurden, zum Teil, weil es nunmehr gesetzlich verboten wurde, den Arbeitsplatz zu verlassen. Viele junge Frauen, die damals in den Fabriken arbeiteten, wurden wegen Zuwiderhandlung verhaftet.6) 1948 ging der Anteil der weiblichen Gefangenen wieder auf 22 Prozent zurück, 1951 und 1952 auf 17 Prozent.7
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Aber auch diese Zahlen geben die wirkliche Lage nicht exakt wieder, da Frauen ihre Freiheitsstrafen eher in den »Kolonien« mit leichtem Regime absaßen. In den großen Industrielagern des Hohen Nordens waren sie seltener anzutreffen.
An Frauen bestand daher — wie an Essen oder Kleidung — fast überall ein Mangel. Für die Produktionsstatistiker der Lager mögen sie von geringem Wert gewesen sein. Die männlichen Häftlinge, das Wachpersonal und die freien Angestellten sahen das ganz anders. Dort, wo es mehr oder weniger offene Kontakte zwischen männlichen und weiblichen Häftlingen gab oder wo bestimmte Männer Zugang zu Frauenlagern hatten, wurden Frauen ständig in unmissverständlicher Weise angesprochen. Meist bot man ihnen Essen oder leichtere Arbeit im Gegenzug für Sex an.
Das Schicksal einer Frau hing von Anfang an davon ab, welchen Status und welche Position sie in einem bestimmten Clan hatte. In der Verbrecherwelt galt für Frauen ein System komplizierter Regeln und Rituale. Insgesamt sprang man mit ihnen aber sehr respektlos um. Nach Schalamow »wird einem Berufsverbrecher der dritten oder vierten Generation die Verachtung für Frauen schon im Kindesalter beigebracht... Sie gelten als niedere Wesen, nur geschaffen, um die animalischen Triebe des Mannes zu befriedigen, Zielscheibe seiner rohen Späße und öffentlicher Demütigung zu sein, wenn er mal richtig auf den Putz hauen will.« Weibliche Prostituierte »gehörten« effektiv bestimmten männlichen Kriminellen, konnten verkauft oder getauscht werden. Ein Bruder oder Freund konnte sie sogar erben, wenn der »Besitzer« in ein anderes Lager verlegt oder getötet wurde.8
Frauen waren jedoch nicht das einzige Objekt der Begierde. Unter Berufsverbrechern galten für gleichgeschlechtlichen Sex ähnlich brutale Regeln. Einige der Bosse hielten sich junge Homosexuelle neben oder anstelle von »Lager-Gattinnen«. Thomas Sgovio berichtet von einem Brigadier, der einen männlichen Partner hatte, einen jungen Mann, der für sexuelle Gefälligkeiten Sonderrationen erhielt.9
Wie es in diesem Bereich zuging, ist kaum bekannt, da das Thema in Memoiren nur sehr selten auftaucht. Das kann daran liegen, dass Homosexualität in der russischen Kultur nahezu tabu ist und man nicht gern darüber schreibt.
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Offenbar blieb männliche Homosexualität in den Lagern außerdem weitgehend auf die Kriminellen beschränkt, die kaum Erinnerungen geschrieben haben.
Wir wissen allerdings, dass sowjetische Kriminelle in den siebziger und achtziger Jahren komplizierte Verhaltensregeln für Homosexuelle entwickelten. »Passive« Männer wurden von den anderen getrennt, mussten an eigenen Tischen essen und durften nicht mit anderen Männern sprechen.10
Obwohl nur selten beschrieben, scheinen ähnliche Regeln schon Ende der dreißiger Jahre gegolten zu haben, als Pjotr Jakir, Sohn des 1937 erschossenen Armeegenerals Iona Jakir, damals fünfzehn Jahre alt, in einer Zelle für jugendliche Straftäter ein ähnliches Phänomen beobachtete. Als er die anderen Jungen über ihre sexuellen Erlebnisse reden hörte, wollte er zunächst seinen Ohren nicht trauen:
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<Dann zieh die Hose aus.> Es geschah vor unser aller Augen in einer Ecke, die vom Spion in der Tür aus schwer einzusehen war. Niemand fand etwas dabei, und ich tat so, als sei das auch für mich nichts Befremdliches. Solche Szenen gab es sehr häufig. Es waren immer dieselben, die die passive Rolle übernehmen mussten, und ihnen als Parias war es nicht erlaubt, aus dem gemeinsamen Becher zu trinken; darüber hinaus gab es noch eine Reihe anderer Schikanen, um sie zu diskriminieren.«11»Aber ich irrte mich: Einer hatte sein Brot bis zum Abend aufgehoben, dann fragte er den hungrigen Maschka: <Willst du was zu fressen haben?> Der bejahte.
Lesbische Liebe scheint in den Lagern offener gepflegt worden zu sein, zumindest wird häufiger darüber geschrieben. Unter den weiblichen Kriminellen gab es dafür ebenfalls strenge Regeln. Lesben wurden im Russischen stets nur mit dem sächlichen Pronomen »es« angesprochen. Sie teilten sich in die feminineren »Weiber« und die maskulineren »Gebieter«. Erstere wurden zuweilen wie Sklavinnen behandelt, die, einem Bericht zufolge, ihre »Gebieter« zu bedienen hatten. Letztere trugen häufig Männernamen und waren fast immer Raucherinnen.12 Über Lesben wurden sogar Lieder gesungen:
»Ich danke dir, Stalin,
Du hast eine Baroness aus mir gemacht.
Ich bin Kuh und Stier,
Frau und Mann zugleich.«13
Waleri Frid berichtet von weiblichen Kriminellen, die Männerkleider trugen und sich als Zwitter ausgaben. Eine war »hübsch mit kurzem Haar und trug nur Offiziershosen«, eine andere schien wirklich eine genitale Deformation zu haben.14) Eine andere Gefangene beschreibt eine lesbische »Vergewaltigung«: Sie sah, wie ein lesbisches Paar ein »bescheidenes, ruhiges Mädchen« unter die Pritschen trieb, wo die beiden es entjungferten.15) Von den Intellektuellen wurde lesbische Liebe sehr ungnädig beurteilt. Eine ehemalige politische Gefangene beschreibt sie als »äußerst abstoßende Praktiken«.16) Zwar wurde sie unter den Politischen eher geheim gehalten, aber es gab sie auch dort.
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Oft fanden sich Frauen zusammen, die in der Freiheit Mann und Kinder hatten. Susanna Petschora erzählte mir, dass in Minlag, einem Lager, wo vor allem politische Gefangene einsaßen, ein lesbisches Verhältnis »manch einer beim Überleben geholfen hat«.17)
Ob nun freiwillig oder erzwungen, ob homo- oder heterosexuell — die meisten dieser Beziehungen waren von der im Lager herrschenden brutalen Atmosphäre geprägt. Notgedrungen wurden sie mit einer Offenheit vollzogen, die viele Häftlinge abstoßend fanden. »Die mit Lumpen abgeschirmte Liege ist ein klassisches Attribut aller Lager«, schreibt Solschenizyn.18) Und Chawa Wolowitsch: »Dinge, die sich ein Mensch in Freiheit hundert Mal überlegt hätte, spielten sich hier so unverhüllt ab wie unter streunenden Katzen.«19)
Sex war so öffentlich, dass die Häftlinge völlig abstumpften. Vergewaltigung und Prostitution waren für manche tägliche Routine. Edward Buca arbeitete einmal zusammen mit einer Frauenbrigade in einem Sägewerk. Da traf eine Gruppe Krimineller ein. »Die griffen sich die Frauen, die sie wollten, und warfen sie in den Schnee oder drückten sie gegen einen Stapel Baumstämme. Die Frauen schienen das gewohnt zu sein und wehrten sich nicht. Es war auch eine Brigadierin dabei, aber die schritt nicht ein, als ob das die normalste Sache der Welt sei.«20)
In manchen Lagern galten bestimmte Frauenbaracken geradezu als Bordelle. Solschenizyn schildert einen solchen Ort:
»Sie [die Frauenbaracke] ist unbeschreiblich verdreckt, vernachlässigt und verstunken. Keine Bettwäsche auf den Liegen. Den Männern war der Eintritt von Amts wegen verboten, aber niemand hielt sich daran, und keiner prüfte nach. Nicht nur Männer kamen in Scharen, sondern auch Minderjährige, zwölf- und dreizehnjährige Jungen, die etwas lernen wollten ... Es vollzog sich alles mit naturhafter Selbstverständlichkeit, vor aller Augen und an mehreren Stellen zugleich. Nur offensichtliches Alter oder offensichtliche Hässlichkeit boten einer Frau Schutz — nichts anderes.«21)
In krassem Gegensatz zu den Berichten von brutalem, vulgärem Sex trifft man in vielen Erinnerungen auf ebenso unglaubliche Liebesgeschichten. Sie begannen häufig damit, dass eine Frau bei einem Mann Schutz suchte.
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Nach den verwirrenden Regeln des Lagerlebens wurden nämlich Frauen, die sich einen »Lager-Gatten« zulegten, in der Regel von anderen Männern in Ruhe gelassen. Dabei gesellte sich nicht unbedingt Gleich zu Gleich: Ehrenhafte Frauen lebten zuweilen mit Kriminellen zusammen.22 Wie Ruschnewitz beschreibt, waren die Partner auch nicht immer frei gewählt. Trotzdem wäre es nicht korrekt, die Verhältnisse als Prostitution zu beschreiben. Eher ist Waleri Frid zuzustimmen, der von »Vernunftehen« sprach, »die aber durchaus auch aus Liebe geschlossen werden konnten«. Selbst wenn am Anfang rein praktische Gründe dahinter standen, nahmen die Gefangenen derartige Beziehungen in der Regel ernst. »Seine mehr oder weniger ständige Geliebte nannte ein Sek <meine Frau>. Und sie nannte ihn ihren <Mann>. Das war nicht im Spaß gesagt. Solche Beziehungen machten unser Leben im Lager menschlicher.«23)
So abwegig das klingen mag: Häftlinge, die vom Lagerleben nicht zu geschwächt waren, suchten durchaus nach Liebe. In Anatoli Schigulins Erinnerungen findet sich eine Liebesromanze, die er mit einer politischen Gefangenen aus Deutschland hatte, der »fröhlichen, guten, grauäugigen Marta mit dem goldenen Haar«. Später erfuhr er, dass sie ein Kind geboren hatte, das sie Anatoli nannte. Das Ganze ereignete sich im Herbst 1951. Da nach Stalins Tod bald eine Generalamnestie für ausländische Gefangene erlassen wurde, nahm er an, dass »Marta und das Kind, falls ihnen nichts zugestoßen war, nach Hause zurückgekehrt« seien.24 Die Memoiren des Lagerarztes Isaac Vogelfanger lesen sich streckenweise wie ein Liebesroman, dessen Held zwischen den Gefahren eines Verhältnisses mit der Frau des Lagerchefs und den Freuden wahrer Liebe hin und her gerissen wird.25
Menschen, denen man alles genommen hatte, suchten so verzweifelt nach emotionalen Kontakten, dass einige platonische Liebesaffären per Brief aufnahmen. Das war besonders Ende der vierziger Jahre in den Sonderlagern für politische Gefangene der Fall, wo Männer und Frauen strikt getrennt lebten. In einem dieser Lager, Minlag, sandten sich männliche und weibliche Gefangene kurze Botschaften über das Lagerhospital, wo Kranke beiderlei Geschlechts behandelt wurden.
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Solche Briefe, erinnert sich Leonid Sitko, wurden mit winzigen Buchstaben auf kleine Papierfetzen geschrieben. Man benutzte natürlich falsche Namen. So schrieb »Hamlet« an seine »Marsfrau«. Sie war ihm von anderen Frauen »vorgestellt« worden, die ihm erzählten, sie sei tief deprimiert, weil man ihr nach der Verhaftung ihr Baby weggenommen hatte. Er begann ihr zu schreiben, und es gelang ihnen sogar, sich einmal in einem verlassenen Bergwerk zu treffen.26
Andere hatten in ihrem Drang nach ein wenig Intimität noch ausgefallenere Ideen. Im Sonderlager Kengir saßen fast ausschließlich ausländische politische Gefangene, die von jedem Kontakt mit ihren Familien, ihren Freunden, Frauen oder Männern in der Heimat abgeschnitten waren. Sie entwickelten ganz eigene Beziehungen zu Menschen, denen sie vorher nie begegnet waren.27 Es gab Seks, die sich über die Mauer, die das Männer- vom Frauenlager trennte, sogar miteinander verheirateten, ohne sich je gesehen zu haben. Die Frau stand auf der einen Seite und der Mann auf der anderen. Man schwor sich gegenseitig Treue, und ein gefangener Priester hielt alles auf einem Stück Papier fest.
Diese Art von Liebe konnte nicht ausgerottet werden, selbst als die Lagerführung die Mauer erhöhen und mit Stacheldraht versehen ließ und es den Gefangenen verbot, sich auch nur in ihre Nähe zu wagen. Bei der Beschreibung dieser anonymen Vermählungen kommt selbst Solschenizyn der Zynismus abhanden, mit dem er sonst nahezu alle Aspekte des Lagerlebens bedenkt: »In solch einer Eheschließung mit einem jenseits der Mauer stehenden unbekannten Häftling ... glaube ich den Chor der Engel zu hören; an die selbstlose Betrachtung von Himmelskörpern will sie mich erinnern. Zu hoch ist dies für unser Jahrhundert der Berechnung und des jaulenden Showbusiness.«28)
Auf Liebe, Sex, Vergewaltigung und Prostitution folgten unweigerlich Schwangerschaft und Geburt. Neben Bergwerken und Baustellen, Forstbrigaden und Strafzellen, Baracken und Viehwagen gab es daher im Gulag auch Entbindungsstationen und Mütterlager sowie Krippen für Babys und Kleinkinder.
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Nicht alle Kinder in diesen Einrichtungen waren in den Lagern geboren. Einige wurden zusammen mit ihren Müttern »verhaftet«. Wovon man sich dabei leiten ließ, ist unklar. In der Praxis nahm man bei Verhaftungen auf Schwangere und stillende Mütter keine Rücksicht. Natalja Saporoschez wurde auf Transport geschickt, als sie im achten Monat schwanger war. Nachdem man sie in Zügen herumgestoßen und auf Lastwagen durchgerüttelt hatte, brachte sie ein totes Kind zur Welt.29 Die Schauspielerin Jefrossinja Kersnowskaja* half dabei, in einem Häftlingszug ein Kind zu entbinden.30)
Hunderttausende Kinder waren gemeinsam mit ihren Eltern von den zwei großen Deportationswellen betroffen, die sich Anfang der dreißiger Jahren gegen die Kulaken und während des Zweiten Weltkrieges gegen »feindliche« ethnische und nationale Gruppen richteten. Diese Kinder haben den Schock über den jähen Wechsel ihrer Umwelt ihr Leben lang nicht vergessen. Eine polnische Gefangene erinnert sich, dass eine Frau in ihrer Zelle ihren drei Jahre alten Sohn bei sich hatte: »Der Junge war folgsam, sehr zart und sprach kaum. Wir versuchten ihn mit Märchen und Geschichten aufzuheitern, aber von Zeit zu Zeit unterbrach er uns mit dem Satz: <Wir sind doch im Gefängnis, oder?>«31)
Not und Elend zum Trotz gab es auch Frauen, die sich absichtlich, manche sogar in zynischer Weise schwängern ließen. In der Regel waren das Kriminelle oder für kleinere Vergehen Verurteilte, die die Schwangerschaft nutzen wollten, um harter Arbeit zu entgehen, etwas besser ernährt zu werden und vielleicht unter eine Amnestie zu fallen, die für Mütter mit Kleinkindern von Zeit zu Zeit gewährt wurde. Diese Gnadenerlasse — etwa 1945 und 1948 — galten in der Regel nicht für Frauen, die wegen konterrevolutionärer Verbrechen einsaßen.32 »Man konnte sich durch eine Schwangerschaft das Leben erleichtern«, meinte Ljudmila Chatschaturjan, um mir zu erklären, warum Frauen bereitwillig mit ihren Aufsehern schliefen.33
Nadeschda Joffe, eine Gefangene, die nach einer Begegnung mit ihrem Mann schwanger wurde, schreibt, dass ihre Mitgefangenen in der »Ammenbaracke« von Magadan »mütterliche Gefühle ... überhaupt nicht« gehabt hätten und ihre Babys verließen, sobald sie konnten.34
* olf 2011: kersnowskaja bei u1
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Es kann nicht überraschen, dass nicht alle Frauen eine Schwangerschaft im Lager austragen wollten. Im Gulag schien es keine eindeutigen Vorschriften dafür zu geben, ob Abtreibung gestattet war oder nicht. Einigen Gefangenen wurde sie erlaubt, andere, die es versuchten, erhielten eine zusätzliche Haftstrafe.35 Es ist auch nicht klar, wie häufig sie vorkamen, denn zu diesem Thema äußern sich nur wenige. In Dutzenden Gesprächen und schriftlichen Erinnerungen bin ich lediglich auf zwei Fälle gestoßen. So berichtete Anna Andrejewa von einer Frau, die »Nägel in sich hineinstopfte und sich dann zur Arbeit an die Nähmaschine setzte. Bald darauf hatte sie schwere Blutungen.«36 Eine andere Frau schildert, wie ein Lagerarzt ihre Schwangerschaft abbrechen wollte:
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»Stellen Sie sich das Bild vor: Es ist Nacht. Es ist dunkel ... Andrej Andrej witsch versucht mit bloßen Händen, die er mit Jod desinfiziert hat, ohne alle Instrumente eine Abtreibung bei mir auszulösen. Aber er ist so nervös, dass es nicht gelingt. Der Schmerz verschlägt mir den Atem, aber ich gebe keinen Laut von mir, damit uns niemand hört. >Stopp!(, rufe ich schließlich, als ich den Schmerz nicht mehr ertragen kann. Die Prozedur wird für zwei Tage unterbrochen. Schließlich kam alles heraus — der Fötus und viel Blut. Ich habe nie wieder ein Kind bekommen können.«37
Aber es gab auch Frauen, die ihr Kind wollten. Ihr Schicksal verlief oft tragisch. Gegen alles, was über den Egoismus und die Käuflichkeit von Frauen geschrieben wurde, die im Lager Kinder zur Welt brachten, steht die Geschichte von Chawa Wolowitsch. Als Politische 1937 festgenommen, fühlte sie sich in den Lagern sehr einsam und wollte ein Kind. Obwohl sie für den Vater nichts übrig hatte, brachte sie 1942 Eleonora zur Welt. Das geschah in einem Lager, wo es keine besonderen Einrichtungen für Frauen mit Kindern gab:
»Wir waren drei Mütter und teilten uns einen winzigen Raum in der Baracke. Von Decke und Wänden fielen Wanzen auf uns herab wie Sand. Wir hatten die ganze Nacht zu tun, um sie von den Kindern abzuschütteln. Am Tage, wenn wir arbeiten mussten, schaute irgendeine alte Frau, die nicht mehr zur Arbeit gehen konnte, nach den Kindern. Diese Frauen ernährten sich stillschweigend von dem mit, was wir eigentlich für die Kinder dagelassen hatten. Ein ganzes Jahr lang stand ich Nacht für Nacht am Bett meines Babys, entfernte die Wanzen und betete. Ich flehte Gott an, mich nicht von meiner Tochter zu trennen, und wenn dies bedeutete, meine Qualen um hundert Jahre zu verlängern. Ich betete, zusammen mit ihr entlassen zu werden, und sei es als Bettlerin oder als Krüppel. Ich betete, er möge mir erlauben, sie großzuziehen, und wenn ich dafür anderen zu Füßen fallen und um Almosen betteln müsste. Aber Gott erhörte meine Gebete nicht. Mein Kind hatte gerade zu laufen begonnen, ich hatte es zum ersten Mal das hetzerwärmende Wort )Manu< aussprechen hören, als wir bei klirrendem Frost, in Lumpen gehüllt, auf einen Lastwagen gesetzt und in ein >Mütter-lagert gebracht wurden. Hier wurde aus meinem kleinen pausbäckigen Engel mit den goldenen Löckchen bald eine bleiche Elfe mit blauen Schatten unter den Augen und Bläschen auf den Lippen.«
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Chawa Wolowitsch wurde zunächst einer Forstbrigade und dann einem Sägewerk zugeteilt. Abends nahm sie stets ein kleines Bündel Feuerholz für die Schwestern im Kinderheim mit. Dafür durfte sie ihre Tochter manchmal außerhalb der Besuchszeit sehen.
»Ich war dabei, wie die Schwestern die Kinder am Morgen weckten. Mit Händen und Füßen trieben sie sie aus dem kalten Bett, stießen sie umher, beschimpften sie roh, rissen ihnen die Nachthemden vom Leib und wuschen sie mit eiskaltem Wasser. Die Babys wagten nicht einmal zu schreien. Sie schnauften nur durch die Nase und stöhnten leise wie alte Männer.
Diese schrecklichen Laute ertönten von Zeit zu Zeit von ihren Pritschen. Kinder, die eigentlich groß genug waren, um zu sitzen oder zu krabbeln, lagen nur still auf dem Rücken, zogen die Knie an den Bauch und gaben diese merkwürdigen Töne von sich wie gurrende Tauben.«Eleonora schwand langsam dahin.
»Als ich sie eines Tages besuchte, hatte sie blaue Flecken an ihrem kleinen Körper. Ich werde nie vergessen, wie sie sich mit ihren knochigen Händchen an meinen Hals klammerte und klagte: >Mama, will nach Hausek Sie dachte offenbar immer noch an das verwanzte Loch, wo sie das Licht der Welt erblickt hatte und immer bei ihrer Mutter gewesen war...
Mit fünfzehn Monaten begriff die kleine Eleonora, dass ihr Flehen, >nach Hausec zu kommen, vergeblich war. Sie streckte nicht mehr ihre Ärmchen nach mir aus, wenn ich sie besuchte, sondern drehte sich still von mir weg. Am letzten Tag ihres Lebens nahm ich sie aus dem Bett und wollte sie stillen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ins Leere. Dann begann sie mit ihren kleinen schwachen Fäustchen auf mein Gesicht zu trommeln, meine Brust zu kratzen und zu beißen. Mit der Hand zeigte sie auf ihr Bett. Als ich abends mit meinem Bündel Feuerholz von der Arbeit kam, war das Bett leer. Ich fand sie nackt im Leichenraum unter den verstorbenen Erwachsenen. Sie hatte ein Jahr und vier Monate auf dieser Welt verbracht. Am 3. März 1944 ist sie gestorben ... Das ist die Geschichte, wie ich mit der Geburt meines einzigen Kindes das größte Verbrechen beging, das es nur geben kann.«38
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Im Archiv des Gulags gibt es Fotos von Kindereinrichtungen, wie Chawa Wolowitsch sie beschrieben hat. In einem dieser Alben ist folgendes Vorwort zu lesen:
»Über ihrem Stalinschen Vaterland scheint die Sonne. Unser Volk ist von Liebe zu seinem Führer erfüllt, und unsere wunderbaren Kinder sind so glücklich wie unser ganzes junges Land. In geräumigen, warmen Betten liegen hier seine neuen Bürger. Sie haben gerade gegessen, schlafen süß und haben sicher glückliche Träume...«39)
Bis zu einem gewissen Grad muss die Gulag-Zentrale in Moskau gewusst haben, wie schrecklich das Leben in den Lagern für Kinder war. Inspektoren haben darüber informiert. In einem Bericht aus dem Jahr 1949 ist kritisch vermerkt, dass von den 503.000 Frauen im gesamten Gulag 9300 schwanger waren und weitere 23.790 kleine Kinder bei sich hatten. Mit dem Hinweis darauf, »wie negativ sich dies auf Erziehung und Gesundheit von Kindern auswirkt«, sprach sich der Berichterstatter für die vorzeitige Entlassung dieser Mütter aus. Ebenso sollte man seiner Meinung nach mit Frauen verfahren, die zu Hause Kinder zurückgelassen hatten. Wenn man Rückfalltäterinnen und politische Gefangene mit konterrevolutionären Vergehen davon ausnahm, betraf das etwa 70.000 Personen.40
Von Zeit zu Zeit gab es solche Amnestien in der Tat. Für Kinder, die damals im Gulag zurückblieben, wurde allerdings wenig unternommen. Im Gegenteil: Da sie zum Produktionsergebnis des Lagers nichts beitrugen, kümmerten ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen die Kommandanten kaum. Sie mussten stets mit den primitivsten, ältesten und kältesten Behausungen vorliebnehmen. Ein Inspektor berichtete, die Temperatur in der Kinderstation eines Lagers überschreite nie elf Grad Celsius.41)
In einem Bericht aus Siblag heißt es 1933, in diesem Lagerkomplex fehlten 800 Paar Kinderschuhe, 700 Kindermäntel und 900 Bestecke.42 Die dort eingesetzten Frauen waren für die Arbeit mit Kindern nicht unbedingt qualifiziert. Schlimmer noch: Diese galt als »Vertrauensstellung«, die gewöhnlich an Kriminelle ging. Joffe schreibt, dass die Frauen »stundenlang ... mit ihren >Männern< unter der Treppe [standen] oder ... ganz weg[gingen], und die Kinder, hungrig, unbeaufsichtigt, wurden krank, starben, bei der kleinsten Epidemie starben sie wie die Fliegen.«43
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Auch die Mütter, deren Schwangerschaft das Lager schon eine Menge gekostet hatte, durften diese Vernachlässigung in der Regel nicht ausgleichen, wenn sie es überhaupt wollten. Man zwang sie, so rasch wie möglich zur Arbeit zurückzukehren, und gab ihnen nur widerwillig Zeit, um ihre Babys zu stillen. Wenn das vorüber war, unterband man oft jeden weiteren Kontakt der Mutter zu ihrem Kind.
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Die ehemalige Leiterin einer Kinderstation erklärte dazu, in ihrem Lager habe sie den Müttern Spaziergänge mit ihren Kindern untersagt, damit sie ihnen keinen Schaden zufügten. Sie habe gesehen, wie eine Frau ihrem Kind mit Tabak vermischte Süßigkeiten gegeben habe, um es zu vergiften. Eine andere habe ihm die Schuhe ausgezogen und es barfuß im Schnee laufen lassen. »Für die Todesrate unter den Kindern im Lager machte man schließlich mich verantwortlich«, erklärte sie mir, um zu begründen, warum sie sich gegenüber den Müttern so verhalten hatte. »Diese Kinder waren ihren Müttern nur eine Last, die sie loswerden wollten.«44 Dass Lagerkommandanten Mütter von ihren Kindern fern hielten, kann durchaus auf dieser Logik beruhen. Es ist aber auch möglich, dass gedankenlose Grausamkeit die Ursache war. Schließlich brachten Begegnungen von Müttern mit ihren Kindern nur Scherereien, also ließ man sie erst gar nicht zu.
Die Folgen so früher Trennung der Kinder von ihren Eltern waren absehbar. Seuchen gingen unter ihnen um. Die Sterberaten waren so hoch, dass man sie - nach Aussage der Inspektionsberichte - häufig zu vertuschen suchte.45 Aber selbst die Kinder, die die ersten Lebensjahre überstanden, erwartete in den Kinderheimen der Lager kein normales Leben. Einige hatten vielleicht das Glück, an aufmerksamere Betreuerinnen als die beschriebenen zu geraten. Andere hatten es nicht. Jewgenia Ginsburg arbeitete selbst in einer solchen Einrichtung. Schon zu Beginn stellte sie fest, dass auch die größeren Kinder noch nicht sprechen konnten:
»Nur ein paar Vierjährige brachten einzelne zusammenhanglose Worte heraus. Meist jedoch verständigten sie sich durch unartikuliertes Geschrei, durch Gebärden und Püffe. >Woher sollen sie denn sprechen können? Wer hat es ihnen beigebracht? Wen haben sie denn reden hören?«, erklärte mir Anja in leidenschaftslosem Ton. <In der Säuglingsgruppe liegen sie doch die ganze Zeit nur in ihren Bettchen. Niemand nimmt sie hoch, selbst wenn sie sich die Lunge aus dem Hals brüllen. Es ist verboten, sie auf den Arm zu nehmen. Die nassen Windeln werden gewechselt. Aber natürlich nur, wenn genug da sind.>«
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Als Jewgenia Ginsburg versuchte, ihren neuen Schutzbefohlenen etwas beizubringen, waren nur ein, zwei, die noch ein wenig Kontakt zu ihren Müttern hatten, in der Lage, überhaupt etwas zu lernen. Und auch deren Erfahrungen waren sehr begrenzt:
»<Schau mal>, sagte ich zu Stasik und zeigte ihm das von mir gezeichnete Häuschen. >Was ist das?< - >Eine Baracke«, antwortete der Junge ganz deutlich. Mit einigen Bleistiftstrichen setzte ich eine Katze neben das Häuschen. Aber niemand erkannte sie, auch Stasik nicht. Die Kinder hatten noch nie ein so außergewöhnliches Tier gesehen. Dann zeichnete ich um das Häuschen einen idyllischen Gartenzaun. <Und was ist das?> - <Die Zone! Die Zone!>, schrie Werotschka fröhlich.«46)
In der Regel wurden Kinder im Alter von zwei Jahren aus dem Lager entfernt und in ein normales Waisenhaus gegeben. Einige Mütter begrüßten das als Chance für ihr Kind, dem Lagerleben zu entkommen. Andere wehrten sich aus Angst, ihre Kinder würden absichtlich oder zufällig in andere Lager verlegt, wo ihre Namen verändert werden oder in Vergessenheit geraten könnten. Damit wäre der Kontakt zu ihnen endgültig verloren.47 Kein Wunder, dass manche Mütter »heulten und schrien, einige wurden sogar wahnsinnig, manche kamen in eine Zelle, bis sie sich beruhigt hatten...«48
Draußen erging es Kindern, die in Lagern geboren waren, nicht unbedingt besser. Sie erwartete das Schicksal derer, die nach der Verhaftung ihrer Eltern direkt in Kinderheime gegeben wurden - eine andere Gruppe kindlicher Opfer. Die staatlichen Kinderheime waren m der Regel überfüllt, schmutzig, mit Personal unterbesetzt und daher für viele ebenfalls tödlich. Eine ehemalige Gefangene beschreibt, mit welcher Freude und Hoffnung sie eine Gruppe von Häftlingskindern an ein städtisches Waisenhaus übergaben und wie groß der Schrecken war, als sie erfuhren, dass eine Seuche alle elf dahingerafft hatte.49 Schon 1931, als die Kollektivierung ihren Höhepunkt erreichte, baten Leiter von Kinderheimen im Ural die Gebietsbehörden verzweifelt um Hilfe, um die Kulakenkinder zu betreuen, die zu Tausenden bei ihnen eintrafen:
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»In einem Raum von zwölf Quadratmetern sind dreißig Jungen untergebracht. Für 38 Kinder haben wir sieben Betten, die die <Rückfalltäter> okkupiert haben. Zwei Achtzehnjährige haben die Elektroanlage demoliert, den Laden ausgeraubt und trinken mit dem Direktor ... Kinder schlafen auf dem schmutzigen Fußboden, spielen Karten, die sie sich aus Buchillustrationen selber herstellen, rauchen, brechen die Gitter vor den Fenstern auf und klettern über die Mauer, um zu entkommen.«50)
Zwei Jahre später sandte ein Kinderheim bei Smolensk das folgende Telegramm an die Kinderkommission in Moskau: »Die Lebensmittelversorgung unseres Heimes ist zusammengebrochen. Hundert Kinder hungern. Der Versorger liefert nichts mehr. Es kommt keine Hilfe. Ergreifen Sie umgehend Maßnahmen.«51
Die Zeit verging, aber es änderte sich wenig. In einer Weisung des NKWD aus dem Jahr 1938 ist von einem Kinderheim die Rede, wo zwei achtjährige Mädchen von älteren Jungen vergewaltigt wurden. In einem anderen mussten sich 212 Kinder zwölf Löffel und zwanzig Teller teilen. Sie schliefen in Kleidern und Schuhen, weil sie keine Nachtwäsche hatten.52 Sawelia Leonidowa, Kind verhafteter Eltern, wurde 1940 aus dem Heim entführt und von einer Familie adoptiert, die ein Hausmädchen brauchte. So verlor sie ihre Schwester aus den Augen und fand sie nicht mehr wieder.53)
Besonders schwer hatten es in solchen Heimen die Kinder von verhafteten Politikern. Oftmals wurden sie noch schlechter behandelt als Waisen. So erklärte man zum Beispiel der zehnjährigen Swetlana Kogtewa, sie solle »ihre Eltern vergessen, weil sie Volksfeinde sind«.54) Die für diese Heime verantwortlichen NKWD-Beamten wurden zu besonderer Wachsamkeit angehalten. Sie hatten dafür zu sorgen, dass Kinder von Konterrevolutionären nicht privilegiert behandelt wurden.55 Auf Grund dieser Vorschrift kam der vierzehnjährige Pjotr Jakir nach der Festnahme seiner Eltern in ein Waisenhaus. Am dritten Tag erwarb er sich bereits »Ruhm als Anführer der Vaterlandsverräter-Kinder« und wurde selber verhaftet. Zuerst steckte man ihn ins Gefängnis, dann in ein Lager.56
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Kinder von Politikern wurden oft gehänselt und aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Ein Betroffener erinnert sich, dass bei Kindern von »Feinden« im Waisenhaus wie von Verbrechern Fingerabdrücke genommen wurden. Lehrer und Betreuer waren bemüht, nicht zu viel Zuneigung zu zeigen, damit man sie nicht der Sympathie mit »Feinden« bezichtigte.57)
In dieser Umgebung nahmen selbst die Kinder gebildeter Eltern bald kriminelle Gewohnheiten an. Wladimir Glebow, der Sohn des bekannten Bolschewiken Lew Kamenew, war ein solches Kind. Sein Vater wurde verhaftet, als er vier Jahre alt war. Er wurde in ein Sonderwaisenhaus in Westsibirien »verbannt«, wo vierzig Prozent der Insassen Kinder von »Feinden«, weitere vierzig Prozent jugendliche Straftäter und die restlichen zwanzig Prozent Kinder von Sinti und Roma waren, die man wegen ihres Wanderlebens verurteilt hatte. Wie Glebow dem Schriftsteller Adam Hochschild erklärte, hatte dieser frühe Kontakt mit jungen Kriminellen für die Kinder politischer Gefangener durchaus Vorteile:
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»Mein Kumpel hat mir Sachen beigebracht, die mir später im Leben geholfen haben, mich zu schützen. Sehen Sie diese Narbe oder die... Wenn man mit einem Messer angegriffen wird, muss man wissen, wie man sich dagegen verteidigen kann. Das Wichtigste ist, vor dem anderen zuzuschlagen, nicht zu warten, bis er angreift. Das war unsere glückliche sowjetische Kindheit!«58
Manche Kinder trugen dauerhafte Schäden davon. Eine Mutter fand nach der Verbannung ihre kleine Tochter wieder. Mit acht Jahren konnte diese kaum sprechen, riss alles Essbare an sich und verhielt sich wie ein wildes Tier, was im Waisenhaus wohl notwendig gewesen war.59 Eine andere Mutter, die nach acht Jahren Haftstrafe zurückkehrte, musste erleben, dass ihre Kinder nicht mit ihr gehen wollten. Sie hatten tief verinnerlicht, dass ihre Eltern »Volksfeinde« seien, die keine Liebe und Zuneigung verdienten. Man hatte ihnen beigebracht, sich zu verweigern, »wenn eure Mutter euch holen will«. Sie wollten nicht mehr mit ihren Eltern leben.60
Kein Wunder, dass Kinder in großer Zahl aus solchen Heimen wegliefen. Einmal auf der Straße, versanken sie bald in der Unterwelt. Wurden sie erst einmal kriminell, dann schloss sich der Kreis. Früher oder später kamen auch sie hinter Schloss und Riegel.
Auf den ersten Blick scheint der Jahresbericht des NKWD von 1944/45 über eine Gruppe von acht Lagern in der Ukraine nichts Besonderes zu sein. Dort ist festgehalten, welche Lager den Fünfjahres-plan erfüllten und welche nicht. Stoßarbeiter werden gelobt. Ganz offen ist davon die Rede, dass die Verpflegung in den meisten Lagern dürftig und monoton sei. Eher positiv wird vermerkt, dass im Berichtszeitraum nur in einem Lager eine Seuche ausbrach, nachdem man fünf Insassen aus einem überfüllten Charkower Gefängnis dorthin verlegt hatte.
Einige Einzelheiten zeigen jedoch, um welche Art Lager es sich hier handelt. Ein Inspektor führt zum Beispiel Klage darüber, dass es in einem Lager an »Schulbüchern, Federhaltern, Notizblöcken und Bleistiften« fehlte.61
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Die acht Lager waren die Kinderkolonien der Ukraine. Denn nicht alle Kinder, die unter die Jurisdiktion des Gulags fielen, hatten verhaftete Eltern. Einige wurden selbst ins Lager eingeliefert. Sie hatten Verbrechen begangen, waren verhaftet und in Sonderlager für Jugendliche gesteckt worden. Diese unterstanden denselben Bürokraten, die auch die Lager für Erwachsene führten. Daher ähnelten sie diesen in vielerlei Hinsicht.
Diese »Kinderlager« hatte man ursprünglich für die »Verwahrlosten«, die Waisen, die verstoßenen und schmutzigen Straßenkinder eingerichtet, die in den Jahren von Bürgerkrieg, Hungersnot, Kollektivierung und Massenverhaftungen verloren gegangen oder ihren Eltern weggelaufen waren. Anfang der dreißiger Jahre machten sie in großer Zahl Bahnhöfe und Parks der sowjetischen Städte unsicher. Der Schriftsteller Victor Serge beschreibt sie so:
»Ich habe sie in Leningrad und Moskau gesehen. Sie lebten in der Kanalisation, in Kiosken, in den Leichenhallen von Friedhöfen, wo sie uneingeschränkt herrschten. Sie trafen sich nachts in öffentlichen Toiletten, reisten bei der Eisenbahn nur auf Waggondächern oder -kupplungen. Schwarz vor Schmutz und Schweiß, bettelten sie bei Reisenden um ein paar Kopeken, lagen ständig auf der Lauer und ergriffen jede Gelegenheit, einen Koffer zu stehlen...«62
Diese Kinder waren so zahlreich und ein solches Problem, dass der Gulag 1934 die ersten Kinderabteilungen in Lagern für Erwachsene einrichtete, um die Kinder verhafteter Eltern von der Straße zu holen.63 Ein Jahr später wurde beschlossen, außerdem besondere Kolonien für sie aufzubauen. Massenrazzien wurden veranstaltet, um diese Kinder aufgreifen und in diese Einrichtungen bringen zu können, wo man sie zu brauchbaren Werktätigen erziehen wollte.
Im selben Jahr beschlossen die sowjetischen Behörden das berüchtigte Gesetz, wonach Kinder ab zwölf Jahre bestraft werden konnten wie Erwachsene. Auf diese Weise gelangten Bauernmädchen, die man festnahm, weil sie ein paar Getreideähren eingesteckt hatten, oder Kinder von »Feinden«, die man der »Zusammenarbeit« mit ihren Eltern verdächtigte, in Jugendhaftanstalten. Dort trafen sie auf minderjährige Prostituierte, junge Taschendiebe, Straßenkinder und andere.64
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Die Kinderkriminalität in der Sowjetunion war zu jener Zeit so hoch, dass das NKWD 1937 Kinderheime mit »Sonderregime« für jene Delinquenten einrichten musste, die in normalen Einrichtungen gegen alle Regeln verstießen. Von 1939 an wurden Waisen nicht mehr in Kinderlager geschickt. Diese waren nun ausschließlich kindlichen Straftätern vorbehalten, die von Gerichten oder »Sonderkommissionen« verurteilt worden waren.65
Trotz verschärfter Urteile wuchs die Zahl der jugendlichen Straftäter weiter an. Der Krieg erzeugte nicht nur Waisen, sondern auch Ausreißer, deren Väter an der Front waren, während die Mütter zwölf Stunden täglich in den Fabriken arbeiteten. Dazu kamen ganz neue Kategorien von Tätern: minderjährige Arbeiter und Arbeiterinnen, die vor der Schufterei in der Fabrik flohen. Das geschah häufig, wenn ihre Arbeitsstelle an einen Ort fern von der Familie evakuiert wurde. Mit ihrer Flucht verletzten sie das Gesetz der Kriegszeit »Über die eigenmächtige Entfernung von der Arbeit in einem Rüstungsbetrieb«.66
Laut NKWD-Statistik sammelten die so genannten Aufnahmezentren für Kinder zwischen 1943 und 1945 die ungeheure Zahl von 842.144 obdachlosen Kindern ein. Die meisten wurden zu ihren Eltern zurückgeschickt, kamen in Kinderheime oder Berufsschulen. Aber die beträchtliche Zahl von 52.830 wurde den Akten zufolge in »Besserungsarbeitskolonien« gesteckt. Das hieß im Klartext Kinderlager.67)
Hier wurden die Kinder in vielerlei Hinsicht kaum anders behandelt als ihre Eltern. Verhaftung und Transport erfolgten nach den gleichen Regeln mit zwei Ausnahmen: Man suchte sie von Erwachsenen fern zu halten, und bei Fluchtversuch wurde nicht auf sie geschossen.68 Aber man steckte sie in dieselben Gefängnisse wie Erwachsene - in eigene, aber genauso primitive Zellen.69
Manche der jungen Gefangenen wurden auch verhört wie Erwachsene. Der vierzehnjährige Pjotr Jakir wurde nach dem Waisenhaus zunächst in ein Gefängnis für Erwachsene gesteckt und dort dem vollen Verhörzyklus unterzogen. Der Vernehmungsoffizier erklärte ihm, er sei »angeklagt, eine Kavallerie-Bande organisiert zu haben. Ziel der Organisation war, in einem künftigen Krieg der Roten Armee in den Rücken zu fallen.« Als Beweis diente ihm allein die Tatsache, dass Jakir ein passionierter Reiter war. Schließlich wurde der Junge als »sozial gefährliches Element« verurteilt.70
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Als die sowjetische Presse im Jahr 1939 über einige NKWD-Offiziere berichtete, die man verhaftet hatte, weil sie falsche Geständnisse erpresst hatten, druckte eine sibirische Zeitung einen Fall ab, in den 160 Kinder zwischen zwölf und vierzehn Jahren, dazu einige Zehnjährige, verwickelt waren. Vier Offiziere des NKWD und der Staatsanwaltschaft erhielten für die Verhöre, die sie mit diesen Kindern angestellt hatten, fünf bis zehn Jahre Haft.71
Kinder entgingen auch der unersättlichen Gier des Systems der Zwangsarbeit nicht. Zwar legte man Kinderkolonien in der Regel nicht bei den harten Holzfäller- oder Bergwerkslagern im Hohen Norden an, aber 1940 gab es in Norilsk einen Lagpunkt für Kinder. Einige der tausend Insassen mussten in der Ziegelfabrik von Norilsk arbeiten, die anderen wurden zum Schneeräumen eingesetzt. Einige der Kinder waren erst zwischen zwölf und vierzehn Jahre alt, die Mehrheit allerdings fünfzehn oder sechzehn. Ältere Jugendliche kamen direkt in Erwachsenenlager. Zahlreiche Inspektoren beklagten die Bedingungen im Kinderlager von Norilsk. Aber erst nachdem viele der jungen Häftlinge - wie die Erwachsenen - Kälte und Unterernährung zum Opfer gefallen waren, verlegte man diese Einrichtung in eine südlichere Gegend der UdSSR.72
Typischer war da schon ein Bericht aus der Ukraine, in dem es hieß, dass die Insassen von Kinderkolonien in Holz- und Metallverarbeitungsfabriken sowie in Nähereien eingesetzt wurden.73 Viele Praktiken dort ähnelten denen in Erwachsenenlagern. Produktionsziele mussten erreicht, Normen erfüllt und Regeln eingehalten werden. Nach einer Weisung des NKWD von 1940 waren für Kinder zwischen zwölf und sechzehn Jahren vier Stunden Arbeit und vier Stunden Schulunterricht vorgeschrieben. Für Jugendliche zwischen sechzehn und achtzehn Jahren sah dieses Dokument acht Stunden Arbeit und zwei Stunden Unterricht vor.74 Im Lager von Norilsk konnte diese Weisung nicht eingehalten werden, denn dort gab es gar keine Schule.75
Das Lernen galt ja auch nicht als die Hauptaufgabe der Kinder. x944 berichtete Beria stolz an Stalin, dass die Jugendlager des Gulags einen eindrucksvollen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen leisteten, indem sie Minen, Granaten und andere Rüstungsgüter im werte von 150 Millionen Rubel herstellten.76
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Kinder waren im Lager der gleichen Propaganda ausgesetzt wie die Erwachsenen. Mitte der dreißiger Jahre berichteten Lagerzeitungen von Stachanow-Arbeitern unter Kindern und waren voller Lob für die »35er«, die Straßenkinder, die auf Grund des in jenem Jahr erlassenen Gesetzes in die Lager gekommen waren. Gerühmt wurden jene, die die körperliche Arbeit verändert hatte. Zugleich fiel man über solche her, die noch nicht begriffen hatten, »dass sie ihre Vergangenheit abschütteln und ein neues Leben beginnen müssen ... Kartenspiel, Alkoholgenuss, Rowdytum, Arbeitsverweigerung, Diebstahl et cetera sind unter ihnen nach wie vor weit verbreitet.«77
Schließlich wurde auf Kinder der gleiche psychologische Druck ausgeübt wie auf Erwachsene. 1941 gab das NKWD die Weisung aus, in den Kinderkolonien und Aufnahmezentren des NKWD ein Netzwerk von Informanten zu schaffen. Damit reagierte die Zentrale auf Gerüchte über konterrevolutionäre Anwandlungen unter Angestellten und Kindern, vor allem Kindern von Konterrevolutionären. In einer Einrichtung hatte sogar eine Minirevolte stattgefunden. Die Kinder hatten den Speiseraum besetzt, das Mobiliar demoliert und die Wachen angegriffen. Sechs Wachmänner erlitten Verletzungen.78
Nur in einer Hinsicht konnten sich die Kinder in den Jugendlagern glücklich schätzen: Sie mussten nicht wie manche ihrer Altersgenossen in Lagern für Erwachsene unter älteren Häftlingen leben. Wie die schwangeren Frauen stellten Jugendliche für die Lagerkommandanten ein ewiges Problem dar. Im Oktober 1935 schrieb Jagoda ärgerlich an alle Lagerkommandanten, dass »entgegen meinen Weisungen minderjährige Häftlinge nicht in Arbeitskolonien für Jugendliche eingewiesen, sondern in den Gefängnissen mit Erwachsenen vermischt werden«. Nach seiner Übersicht befanden sich zu jener Zeit 4305 Jugendliche in regulären Gefängnissen.79 Noch dreizehn Jahre später beschwerten sich Inspektoren der Staatsanwaltschaft darüber, dass es in den Erwachsenenlagern zu viele Minderjährige gebe, die von den Älteren ausgenutzt würden.80
Die Jugendlichen konnten bei den anderen Häftlingen kaum auf Mitgefühl zählen. »Wenn sie Verhaftung, Leibesvisitation, Gefängnis, Verhöre, Gericht und Transport hinter sich hatten, waren sie bei ihrer Ankunft vom Hunger und vom Durchlebten so zermürbt, daß sie jeden Widerstand aufgegeben hatten«, schreibt Lew Rasgon.
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Er beobachtete, dass es die jungen Leute fast automatisch zu denen zog, die die Stärksten zu sein schienen. Das waren die Gangsterbosse, die »die Jungen zu Dienern, stummen Sklaven, Lakaien oder Narren« machten und Jungen und Mädchen gleichermaßen zur Prostitution zwangen.81
Aber auch solche schrecklichen Erlebnisse riefen kaum Mitleid hervor. Im Gegenteil: Die härtesten Anschuldigungen in der Memoirenliteratur aus den Lagern richten sich gegen sie. Woher diese halben Kinder auch kamen, schreibt Rasgon, »es dauerte nicht lange, und sie alle waren einander gleich. Gleich in ihrer rachedürstenden Grausamkeit, Zügellosigkeit und Verantwortungslosigkeit.« Schlimmer noch,
»sie fürchteten niemanden und nichts. Sie wohnten in besonderen Baracken, in die sich die Aufseher und Natschalniks fürchteten hineinzugehen. In diesen Baracken spielten sich die abscheulichsten, grausamsten Dinge ab, die in einem Lager vorkommen können. Wenn die Gangsterbosse, die auch um Menschen spielten, jemanden verspielt hatten und der Betreffende umgebracht werden musste, dann taten das für eine Brotration oder aus <reinem Interesse> minderjährige Jungen! Minderjährige Mädchen brüsteten sich damit, dass sie eine ganze Brigade Holzfäller über sich ergehen lassen könnten... In diesen Kindern war nichts Menschliches mehr, und es war unmöglich, sich vorzustellen, dass sie jemals ins normale Leben zurückfinden und zu normalen Menschen werden könnten.«82
Johann Wigmans, ein holländischer Häftling, erinnert sich an junge Menschen, »denen es wahrscheinlich nicht viel ausmachte, in diesen Lagern zu leben. Offiziell sollten sie arbeiten, aber in der Praxis taten sie alles, nur nicht das. Sie hatten immer Geld in der Tasche und ausreichend Gelegenheit, von ihren Kumpanen zu lernen.«83
Es gab aber auch Ausnahmen.
Alexander Klein erzählt die Geschichte von zwei dreizehnjährigen Jungen, die als Partisanen verhaftet wurden. Beide erhielten zwanzig Jahre Lagerhaft. Sie blieben zehn Jahre im Lager und ließen sich nicht trennen. Wenn man es versuchte, traten sie sofort in den Hungerstreik. Wegen ihrer Jugend hatte man Mitleid mit ihnen, gab ihnen leichtere Arbeit und zusätzliches Essen. Beide erhielten im Lager eine technische Ausbildung und wurden bei einer der Amnestien nach Stalins Tod als praxiserprobte Ingenieure entlassen. Wäre das Lager nicht gewesen, so schrieb Klein, »wer hätte aus diesen Dorfjungen, die kaum lesen und schreiben konnten, solche Fachleute gemacht«?84
Als ich Ende der neunziger Jahre nach Erinnerungen von Menschen suchte, die als Minderjährige im Lager gesessen hatten, waren diese kaum zu finden. Mit Ausnahme dessen, was Jakir, Kmiecik und eine Hand voll anderer aufgeschrieben, was Memorial und andere Organisationen gesammelt haben, lässt sich kaum etwas auftreiben.85) Aber es gab Zehntausende solcher Kinder, und viele müssen noch am Leben sein. Ich hatte sogar die Idee, per Zeitungsannonce Gesprächspartner aus dieser Gruppe zu suchen.
»Tun Sie das nicht«, riet mit eine russische Freundin. »Jeder weiß doch, was aus ihnen geworden ist.« Jahrzehnte der Propaganda, unzählige Plakate an Waisenhauswänden, die Stalin »für unsere glückliche Kindheit« dankten, haben das sowjetische Volk nicht davon überzeugen können, dass aus den Kindern der Lager und Waisenhäuser, aus den Straßenkindern je etwas anderes geworden wäre als vollwertige Angehörige der größten, allumfassendsten Klasse der Sowjetunion: Kriminelle.
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2.9 Frauen und Kinder (2003) Applebaum Anne, Geschichte des Gulags