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Ich
bin arm, allein und nackt,
Ich
spreche meine Gedichte, |
Nur
von den fernen Bergen
WARLAM
SCHALAMOW |
T2 |
2.11 Überlebensstrategien
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Am Ende gab es Gefangene, die überlebten. Sie überstanden selbst die schlimmsten Lager, die härtesten Bedingungen, die Kriegsjahre, den Hunger und die Massenexekutionen. Und nicht nur das. Einige blieben psychisch intakt genug, um nach Hause zurückzukehren, sich zu erholen und danach relativ normal weiterzuleben.
Janusz Bardach wurde plastischer Chirurg in Iowa City. Isaak Filschtinski lehrte wieder arabische Literatur. Lew Rasgon schrieb wie zuvor Kinderbücher. Anatoli Schigulin verfasste wieder Gedichte. Jewgenia Ginsburg zog nach Moskau und war jahrelang der Mittelpunkt eines Kreises von Überlebenden, die sich regelmäßig an ihrem Küchentisch trafen, um miteinander zu essen, zu trinken und zu streiten.
Ada Purischinskaja, die als Jugendliche ins Lager kam, heiratete schließlich und hatte vier Kinder, von denen mehrere hervorragende Musiker wurden. Zwei lernte ich bei einem fröhlichen, üppigen Familienessen kennen. Purischinskaja trug Teller für Teller ihre leckeren Gerichte auf und schien enttäuscht zu sein, als ich irgendwann nichts mehr essen konnte.
Einige leisteten später Außergewöhnliches. Alexander Solschenizyn ist einer der bekanntesten und meist gelesenen russischen Schriftsteller in der Welt geworden. General Gorbatow war an führender Stelle am Sturm der Roten Armee auf Berlin beteiligt.
Nach seiner Haft an der Kolyma und der Arbeit in einer Scharaschka während des Krieges wurde Sergej Koroljow zum Vater der sowjetischen Raumfahrt.
Aber nicht alle Geschichten von Überlebenden nahmen ein so gutes Ende. In Memoiren ist darüber wenig zu finden. Menschen, die nicht überlebten, hatten ohnehin keine Chance, Erinnerungen zu schreiben. Wer geistig oder körperlich geschädigt aus dem Lager kam, griff wohl kaum zur Feder.
Dasselbe gilt für diejenigen, die überlebt hatten, weil sie Dinge taten, für die sie sich später schämten. Und wenn sie schrieben, dann bestimmt nicht die ganze Geschichte. Es gibt nur einige ganz wenige Erinnerungen von Informanten oder von Menschen, die bekennen, Informanten gewesen zu sein. Noch weniger Überlebende geben zu, anderen Häftlingen geschadet oder sie gar getötet zu haben, um selbst zu überleben.
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Das Thema, wer überlebte und warum, muss daher sehr vorsichtig behandelt werden. Man kann sich dabei nicht auf Archivdokumente stützen, und es gibt keinerlei wirkliche »Beweise«. Wir müssen denen glauben, die bereit sind, ihre Erlebnisse niederzuschreiben oder einem Gesprächspartner anzuvertrauen. Jeder kann dabei Gründe haben, bestimmte Aspekte seiner Biografie für sich zu behalten.
Und dennoch ist es möglich, aus mehreren hundert schriftlichen Erinnerungen, die veröffentlicht oder Archiven übergeben wurden, bestimmte Verhaltensmuster herauszuschälen.
Denn es gab Überlebensstrategien, die alle kannten, wenn sie auch je nach den Umständen stark variierten. In einer Arbeitskolonie in Westrussland Mitte der dreißiger oder selbst Ende der vierziger Jahre zu überleben, wo man in der Regel in einer Fabrik arbeitete und, zwar nicht üppig, aber doch regelmäßig verpflegt wurde, erforderte wahrscheinlich keine besondere Anpassungsfähigkeit.
Um eines der Lager im Hohen Norden — an der Kolyma, in Workuta oder Norilsk — in den Hungerjahren zu überstehen, war dagegen ein enormes Maß an Talent und Willenskraft oder auch die ausgeprägte Fähigkeit, Böses zu tun, vonnöten, Eigenschaften, die der jeweilige Gefangene in Freiheit vielleicht nie an sich entdeckt hätte.
Zweifellos überlebten viele, weil sie es verstanden, sich über die anderen zu erheben, sich von der Masse der hungernden Seks abzuheben. Dutzende Redensarten und Sprichwörter, die in den Lagern entstanden, zeigen die moralische Wirkung dieses Wettkampfes auf Leben und Tod: »Du kannst heute sterben, ich dafür erst morgen«, lautete eines.
Viele frühere Seks schildern den Überlebenskampf als grausam, manche sprechen von einer Darwinschen Auswahl. »Das Lager war eine große Probe der moralischen Kräfte des Menschen, der gewöhnlichen Moral, und 99 Prozent der Menschen bestanden diese schwierige Prüfung nicht«, notierte Schalamow.3) »Nach kaum drei Wochen waren die meisten Gefangenen gebrochene Menschen, die nur noch ans Essen dachten. Sie verhielten sich wie Tiere, misstrauten jedem und sahen in dem Freund von gestern einen Konkurrenten im Kampf ums Überleben«, schrieb Edward Buca.4)
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Galina Uschakowa schildert, wie sie im Lager Veränderungen an ihrer eigenen Persönlichkeit feststellte: »Ich war ein gut erzogenes Kind aus einer Intellektuellenfamilie, das sich stets ordentlich benahm. Aber mit solchen Eigenschaften konnte man nicht überleben. Man musste hart werden, lügen lernen und auf jede erdenkliche Art heucheln können.«5)
Gustaw Herling-Grudzinski entwickelt diesen Gedanken weiter und beschreibt, wie der neue Gefangene es allmählich lernte, »ohne Mitleid« zu leben:
»Anfangs wird er sein Brot mit den halbverhungerten Kameraden teilen, einen Nachtblinden auf dem abendlichen Heimweg führen, um Hilfe rufen, wenn sein Nachbar bei der Waldarbeit sich zwei Finger abgehackt hat, heimlich Suppe und Heringsköpfe in die »Leichenhalle« schleppen. Aber schon nach einigen Wochen wird ihm klar, dass seine Motive weder rein noch ohne Berechnung sind, dass er den egoistischen Befehlen seines Verstandes folgt und nur darauf bedacht ist, sich selbst zu retten, und erst in zweiter Linie die anderen. Das Lager mit seinen eigenen Gesetzen und dem System, die Gefangenen knapp unter der unteren Grenze des Menschseins vegetieren zu lassen, macht es ihm leicht, zu diesem Schluss zu kommen. Wie hätte er damals im Gefängnis glauben können, dass es möglich sei, einen Menschen so zu erniedrigen, dass er in seinen Gefährten nicht Mitleid, sondern Widerwillen und Ekel erweckt? Wie kann er den Nachtblinden helfen, wenn er sieht, dass man sie jeden Tag mit Gewehrkolben schlägt, weil sie die Rückkehr ins Lager verzögern, und die zur Küche eilenden Gefangenen sie unwirsch zur Seite stoßen, weil sie ihnen im Wege stehen? Wie kann er die <Leichenhalle> besuchen und die Dunkelheit und den Gestank der Exkremente dort ertragen, wie sein Brot mit einem hungrigen Irren teilen, der ihn am nächsten Tag mit einem gierig fordernden Blick anstarrt? ... Recht hatte also sein Untersuchungsrichter, als er sagte, dass der eiserne Besen der Sowjetjustiz nur den Abfall in die Lager kehrt...«6
In den sowjetischen Lagern übernahmen die Kriminellen bereitwillig die unmenschliche Rhetorik des NKWD, beschimpften politische Gefangene und »Feinde« und ließen die Sterbenden ihre Verachtung spüren.
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In der ungewöhnlichen Lage, der einzige Politische in einem Lagpunkt mit lauter Kriminellen zu sein, musste Karol Colonna-Czosnowski erfahren, wie die Verbrecherwelt seinesgleichen sah: »Von denen gibt es einfach zu viele. Sie sind schwach, sie sind schmutzig und wollen immer nur essen. Sie produzieren nichts. Warum die Behörden mit ihnen so viel Federlesen machen, weiß Gott allein...« Einer der Kriminellen, schreibt Colonna-Czosnowski, erzählte ihm, wie er in einem Transitlager auf einen Wissenschaftler, einen Universitätsprofessor aus dem Westen, stieß.
»Er war gerade dabei, stell' dir das vor, die halb vergammelte Schwanzflosse von einem Dorsch zu verschlingen. Dem hab ich's vielleicht gegeben, kann ich dir sagen. Ich hab ihn gefragt, ob er überhaupt weiß, was er da macht. Er hat nur gesagt, er ist hungrig ... Da hab ich ihm eins ins Genick gegeben, dass er sofort alles wieder ausgekotzt hat. Mir wird jetzt noch schlecht, wenn ich daran denke. Außerdem hab ich ihn den Posten gemeldet, aber der dreckige Alte war am nächsten Morgen schon tot. Geschieht ihm recht!«7
Andere Gefangene, die bei solchen Szenen zusahen, lernten schnell und taten es den Kriminellen bald nach, wie Warlam Schalamow schreibt:
»Der junge Bauer, der zum Gefangenen wird, sieht bald, dass in dieser Hölle nur die Kriminellen einigermaßen gut leben, dass sie respektiert werden, dass die allmächtige Lagerleitung Angst vor ihnen hat. Die Verbrecher haben immer anzuziehen und zu essen; sie unterstützen sich gegenseitig... Allmählich dämmert ihm, dass sie wissen, wie es im Lager zuzugehen hat, dass er nur dann am Leben bleiben kann, wenn er es macht wie sie ... Der intellektuelle Häftling wird vom Lager vernichtet. Alles, woran er geglaubt hat, wird hier in den Schmutz getreten. Zivilisation und Kultur fallen binnen Wochen von ihm ab. Das einzige Argument ist die Faust oder der Knüppel. Wenn ein Gefangener etwas tun soll, bekommt er einen Stoß mit dem Gewehrkolben oder eins in die Zähne.«8
Und doch wäre es falsch zu behaupten, in den Lagern hätte es überhaupt keine Moral gegeben, Freundlichkeit oder Großzügigkeit wären unmöglich gewesen.
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Die meisten Erinnerungen zeugen davon, dass der Gulag keine Welt in Schwarz und Weiß war, wo die Trennlinie klar zwischen Herren und Sklaven verlief und man nur durch Grausamkeit überleben konnte. Gefangene, freie Angestellte und Wachpersonal gehörten zu einem komplizierten sozialen Netz, das sich zudem ständig in Bewegung befand. Häftlinge konnten in der Hierarchie auf- und wieder absteigen, was häufig geschah. Sie konnten ihr Schicksal durch Kollaboration oder Widerstand ändern, ebenso durch geschickte Manöver, Kontakte und Beziehungen.
Glück und Pech spielten in einer Lagerkarriere eine wichtige Rolle. Wenn sie von langer Dauer war, bestand sie ganz sicher aus »glücklicheren« Zeiten, da der Gefangene einen erträglichen Job hatte, gut zu essen bekam und wenig arbeiten musste, und schlimmen Perioden, da er in die Unterwelt des Hospitals, des Leichenhauses oder in die Gesellschaft der Sterbenden absank, die im Müll nach Essbarem suchten.
Die Überlebensstrategien waren Bestandteil des Systems. Eine Lagerführung legte es in der Regel nicht darauf an, die Gefangenen zu töten. Sie versuchte nur unerreichbar hohe Normen zu erfüllen, die die zentralen Planer in Moskau ihr stellten. Daher war sie durchaus gewillt, Häftlinge zu belohnen, die dazu etwas beitragen konnten. Jene nutzten das natürlich aus. Dabei verfolgten beide Gruppen ganz unterschiedliche Ziele: Den einen ging es darum, dass mehr Gold geschürft und mehr Bäume gefällt wurden, die anderen dagegen wollten einfach nur überleben. Zuweilen fanden sie aber gemeinsam Mittel, um beiden Zwecken zu dienen. Einige Überlebensstrategien, die Häftlingen und Aufsehern Vorteile brachten, sollen hier dargestellt werden.
Tufla: Arbeit zum Schein
Wenn man die Tufta — sinngemäße Übersetzung: »seinen Chef über's Ohr hauen« — exakt beschreiben will, dann ist das gar nicht so einfach. Zum einen, weil diese Praxis im sowjetischen System so weit verbreitet war, dass sie nicht nur als typisch für den Gulag gelten kann.9 Zum anderen war sie nicht auf die UdSSR beschränkt. Das Sprichwort: »Sie tun so, als ob sie uns bezahlen, und wir tun so, als ob wir arbeiten«, war in vielen Warschauer-Pakt-Staaten geläufig.
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Die Tufta durchdrang im Grunde jeden Aspekt der Arbeit im Lager — von der Zuteilung über die Organisation bis zur Abrechnung — und erfasste alle Glieder des Lagersystems, von den Bossen in Moskau über die Wachmannschaften bis zum letzten Häftling.
Seit über dieses Thema geredet wird, wird auch darüber gestritten, wie schwer die Gefangenen arbeiteten und wie viel Energie sie dafür aufwandten, Arbeit zu vermeiden. Angestoßen durch Solschenizyns Buch Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch 1962 flammt die Debatte über die Arbeitsmoral in den Lagern zwischen Überlebenden, Polemikern und Historikern immer wieder auf, und sie können sich nicht einigen. Denn Solschenizyns bahnbrechender Roman ist zu einem großen Teil den Bemühungen seines Helden gewidmet, der Arbeit aus dem Weg zu gehen.
Im Laufe des geschilderten Tages sucht Iwan Denissowitsch den Arzt auf, weil er hofft, krankgeschrieben zu werden. Er träumt davon, wie es wäre, einige Wochen lang krank zu sein, schaut auf das Lagerthermometer, ob es nicht zu kalt ist, um zur Arbeit zu gehen. Er bewundert Brigadiere, die nach dem Grundsatz handeln: »Wenn eine Arbeit nicht fertig geworden ist, dreh's hin, dass es so aussieht als ob.« Er ist erleichtert, als sein Brigadier »eine gute Arbeitsleistung herausholt«. Er stiehlt am Arbeitsplatz Späne, um in der Baracke Feuer anzuzünden, und lässt beim Essen eine Extraportion Brei mitgehen. Der Mensch ist kein Gaul, denkt Iwan Denissowitsch. Er sollte sich nicht selbst zu Tode arbeiten.10)
Diejenigen, die an das Sowjetsystem glaubten, für die also »Arbeit« in den Lagern etwas Wertvolles und Notwendiges war, empfanden Iwan Denissowitschs »Faulheit« als Beleidigung. In vielen »alternativen«, das heißt eher prosowjetischen Berichten über das Lagerleben, die in der offiziellen sowjetischen Presse nach Iwan Denissowitsch erschienen sind, stellte man besonders den Arbeitseifer derer heraus, die trotz der ungerechten Haftstrafe treue Anhänger des Systems blieben.
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Der sowjetische Schriftsteller (und lebenslange Informant) Boris Djakow erzählt die Geschichte eines Ingenieurs, der auf einer Gulag-Baustelle bei Perm arbeitete. Die Aufgabe schlug ihn so in ihren Bann, dass er manchmal darüber glatt vergaß, dass er im Lager saß: »Eine Zeitlang genoss ich die Arbeit so sehr, dass ich nicht mehr daran dachte, was aus mir geworden war.« Er schickte sogar heimlich einen Brief an eine Lokalzeitung, in der er die schlechte Organisation von Transport und Versorgung im Lager kritisierte. Zwar wurde er von seinem Kommandanten dafür verwarnt, denn es war unerhört, dass der Name eines Gefangenen in der Zeitung erschien, aber in Djakows Geschichte war der Ingenieur froh, dass sich »nach dem Artikel einiges änderte«.11)
Angehörige von Lagerführungen erregten sich noch mehr. So sagte mir eine ehemalige Lagerangestellte, die anonym bleiben wollte, sehr ärgerlich, alle Geschichten, dass es den Insassen der Lager so schlecht gegangen sei, wären einfach nicht wahr: Wer gut arbeitete, lebte sehr gut, viel besser als der Durchschnitt. Er konnte sogar Kondensmilch (Hervorhebung von mir, A. A.) kaufen, was unter normalen Umständen nicht möglich gewesen sei. »Nur wer die Arbeit verweigerte, lebte schlecht«, erklärte sie mir.12) Solche Ansichten waren öffentlich kaum zu hören. Aber es gab auch Ausnahmen. Anna Sacharowa, die Ehefrau eines NKWD-Offiziers, deren Brief an die Zeitung »Iswestija« in den sechziger Jahren in der russischen Untergrundpresse zirkulierte, griff Solschenizyn scharf an.
Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch habe sie »tief ins Herz getroffen«, schrieb Sacharowa:
»Wir können sehen, warum der Held dieser Geschichte, der so eine Haltung zum Sowjetvolk hat, nur auf die Krankenstation hofft, um sich irgendwie davor zu drücken, die Schuld, die er vor seinem Vaterland auf sich geladen hat, durch Arbeit zu tilgen ... Warum eigentlich sollte jemand körperliche Arbeit scheuen und verachten? Für uns ist Arbeit die Grundlage des Sowjetsystems. Nur in der Arbeit erkennt der Mensch, wozu er wirklich fähig ist.«13)
Weniger ideologisch gefärbte Einwände kamen auch von gewöhnlichen Seks. W. K. Jasny, der zu Beginn der Vierziger fünf Jahre lang im Lager saß, schreibt in seinen Memoiren: »Wir haben versucht, ehrlich zu arbeiten. Und das nicht, weil wir Angst hatten, unsere Ration zu verlieren oder in die Strafzelle zu kommen... Die schwere Ar
beit die wir in unserer Brigade verrichten mussten, half uns, zu vergessen, die trüben Gedanken zu vertreiben.«14)
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Gefangene, die ihr Leben lang voller Elan für das Sowjetregime gearbeitet hatten, konnten davon auch im Lager nicht so ohne weiteres lassen. Alexander Borin, ein politischer Häftling und Flugzeugingenieur, wurde im Gulag einer Maschinenfabrik zugeteilt. In seinen Memoiren beschreibt er stolz die technischen Neuerungen, die er dort — meist in seiner Freizeit — entwickelte.15 Alla Schister, die Ende der dreißiger Jahre aus politischen Gründen verhaftet wurde, sagte mir in einem Gespräch: »Ich habe immer gearbeitet, als sei ich ein freier Mensch. So bin ich nun mal, ich kann nicht schlecht arbeiten. Wenn ein Loch gegraben werden muss, dann grabe ich so lange, bis es fertig ist.« Nach zwei Jahren schwerer körperlicher Arbeit wurde sie Brigadierin. Das hatte seinen Grund: »Sie haben gesehen, dass ich nicht arbeite wie eine Gefangene, sondern mit vollem Einsatz.«16)
Natürlich gab es auch solche, die gut arbeiteten, weil sie der materielle Vorteil reizte. Einige Gefangene taten einfach, was man von ihnen erwartete: die Norm übererfüllen, Stoßarbeiter werden, besseres Essen bekommen. Als Wladimir Petrow in einem Lagpunkt an der Kolyma eintraf, stellte er sofort fest, dass die Bewohner des »Stachanow-Zelts«, die besser arbeiteten als die anderen, alles hatten, woran es den Todgeweihten fehlte:
»Sie waren unvergleichlich sauberer. Selbst unter den schlimmen Bedingungen des Lagerlebens wuschen sie sich jeden Tag das Gesicht. Wenn sie kein Wasser hatten, nahmen sie Schnee. Sie waren auch besser gekleidet ... und viel beherrschter. Sie drängten sich nicht um den Ofen, sondern waren auf ihrem Bett mit etwas beschäftigt oder mit anderen in ein Gespräch vertieft. Selbst von außen sah ihr Zelt anders aus.«
Petrow bat, in ihre Brigade aufgenommen zu werden. Immerhin erhielten sie ein Kilogramm Brot pro Tag. Sie nahmen ihn, aber er konnte bei ihrem Arbeitstempo nicht mithalten. Die Brigade schloss ihn wieder aus. Schwächlinge duldete sie nicht.17) So etwas kam häufig vor, wie Herling-Grudzinski schreibt:
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»Für die Norm begeisterten sich nicht allein die Herren, die sie auferlegten, sondern auch aus einem schlichten Lebensinstinkt heraus die Sklaven, die sie zu erfüllen trachteten. In jenen Brigaden, die in Gruppen von drei bis vier Leuten arbeiteten, waren die Gefangenen selber die eifrigsten und erklärtesten Antreiber, denn dort wurde die Norm kollektiv errechnet, indem man die Gesamtarbeitsleistung durch die Zahl der Arbeiter teilte. Jedes Gefühl gegenseitiger Hilfsbereitschaft und Solidarität unter den Gefangenen musste der Jagd nach dem Prozentsatz weichen. Ein unqualifizierter Gefangener, der einer Gruppe guter Arbeiter zugeteilt wurde, konnte nicht erwarten, dass man die geringste Rücksicht auf ihn nahm. Meist zwang man ihn schon nach kurzer Zeit, den Kampf aufzugeben und sich in eine andere Gruppe versetzen zu lassen, in der er dann häufig die schwächeren Kameraden überwachen musste. Dadurch wurde das einzige, scheinbar natürliche Band zwischen Gefangenen — ihre Solidarität den Folterern gegenüber — auf eine unmenschliche, gnadenlose Art zerschnitten.«18)
In der großen Mehrheit der Erinnerungen ist allerdings davon die Rede, wie man Arbeit umgehen konnte. Das bestätigen in gewisser Weise auch die Archive. Dabei war das Hauptmotiv nicht Faulheit oder der Wunsch, »Abscheu« gegenüber dem Sowjetsystem zum Ausdruck zu bringen. Das Hauptmotiv war das eigene Überleben. Bei schlechter Kleidung, nicht ausreichendem Essen, bei schwerer Arbeit unter extremen Witterungsbedingungen mit defektem Werkzeug wurde vielen klar, dass sie ihr Leben nur retten konnten, wenn sie sich so wenig anstrengten wie möglich.
Die unveröffentlichten Memoiren von Sinaida Ussowa, die als Ehefrau eines »Volksfeindes« 1938 verhaftet wurde, zeigen anschaulich, wie eine Gefangene zu dieser Erkenntnis kam. Zunächst brachte man sie nach Temlag. Dort saßen hauptsächlich Frauen wie sie — verheiratet mit führenden Männern aus Partei und Armee, die man erschossen hatte. Da der Lagerchef ein umgänglicher Mensch und das Arbeitsregime erträglich war, wurde in Temlag kräftig angepackt. Die meisten waren »loyale Sowjetbürger«, die noch daran glaubten, dass ihre Verhaftung nur ein gigantischer Irrtum sei. Außerdem meinten sie durch gute Arbeit eine frühere Entlassung erreichen zu können. Ussowa »dachte beim Wachen und Schlafen nur an ihre Entwürfe, von denen einer sogar in Produktion ging«.
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Später verlegte man sie jedoch mit weiteren Leidensgenossinnen in ein anderes Lager, das auch Kriminelle beherbergte. Nun musste sie in einer Möbelfabrik arbeiten. Hier galten viel höhere und strengere Normen, die »unvernünftigen« Aufgaben, die so viele Häftlinge beschrieben haben. Dieses System, so schreibt Ussowa, »machte aus Menschen Sklaven mit einer Sklavenseele«. Nur wer die Norm erfüllte, erhielt die volle Brotration von 700 Gramm. Wer das nicht schaffte oder ganz und gar arbeitsunfähig war, erhielt nur 300 Gramm — zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.
In diesem Lager unternahmen die Häftlinge alles, um »die Chefs auszutricksen und so wenig wie möglich zu tun«. Die Neuankömmlinge von Temlag mit ihrer Arbeitsmoral wurden behandelt wie Aussätzige. »Aus der Sicht der älteren Insassen waren wir entweder Idioten oder Streikbrecher. Sie hassten uns vom ersten Tag an.«19) Bald stellten sich die Frauen von Temlag auf die übliche Technik der Arbeits Vermeidung ein. So war das System selbst der Ursprung der Tufta, nicht die Gefangenen.
Manche Häftlinge waren dabei besonders erfindungsreich. Eine Polin arbeitete in einer Fischfabrik an der Kolyma, wo man die unmöglichen Normen nur durch Betrug erfüllen konnte. Die Stachanow-Arbeiter waren die »besten Betrüger«: Statt die Gläser randvoll mit Hering zu füllen, taten sie das nur halb, aber »so geschickt, dass der Brigadier nichts merkte«.20 Beim Bau des Badehauses eines Lagers lernte Waleri Frid einen ähnlichen Trick. Man kaschierte die Risse im Mauerwerk mit Moos, statt mit Beton. Nur ein Gedanke ließ ihn dabei nicht los: »Was, wenn ich selber einmal in dieses Badehaus gehe? Denn das Moos trocknete bald, und dann pfiff der Wind durch alle Ritzen.«21
Jewgenia Ginsburg hat beschrieben, wie sie und Galja, ihre erste Partnerin beim Holzfällen, schließlich doch ihre unmögliche Norm schafften. Als sie beobachteten, dass eine ihrer Mitgefangenen wie durch ein Wunder ihre Norm stets erfüllte, obwohl sie »allein mit einem Fuchsschwanz arbeitete«, wollten sie wissen, wie ihr das gelang:
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<Hier liegt doch überall das aufgestapelte Holz, die alten Stapel, die von unseren Vorgängern aufgeschichtet wurden. Kein Mensch hat sie gezählt, niemand weiß, wie viele es sind.> - <Na und? Man sieht doch auf den ersten Blick, dass das kein frisch gefälltes Holz ist.> - <Was ist denn eigentlich der Unterschied? Doch nur, dass die Schnittflächen nachgedunkelt sind. Man braucht nur von jedem Stamm eine dünne Scheibe abzusägen und hat den allerfrischesten Schnitt. Dann braucht man den Stapel nur noch umzuschichten, und das Soll ist erfüllt.> - Dieses Verfahren nannten wir später <garnieren>. Wir atmeten auf... Der Wahrheit zuliebe muss ich hinzufügen, dass wir keine Gewissensbisse hatten.«22)»Als wir Polina mit Fragen in die Enge trieben, erklärte sie uns, wobei sie sich ängstlich umsah, ihre Technik:
Häufig wurde die Tufta auf Brigadeebene organisiert, denn die Brigadiere waren in der Lage zu verschleiern, wie viel der Einzelne gearbeitet hatte. Ein ehemaliger Sek beschreibt, wie sein Brigadier es so arrangierte, dass er sechzig Prozent Normerfüllung angeben konnte, während er in Wirklichkeit kaum in der Lage war, auch nur eine Hand zu rühren.23 Andere Brigadiere waren durch Bestechung zu solchen Angaben zu bewegen. Juri Sorin, der selbst Brigadier war, gibt das offen, wenn auch vornehm formuliert, zu: »Im Lager herrschten Gesetze, die einer, der nicht innerhalb der Zone gelebt hat, kaum verstehen kann«.24 Leonid Trus erinnert sich, dass seine Brigadiere in Norilsk eigenmächtig »entschieden, welche ihrer Arbeiter besseres Essen und bessere Bezahlung als andere verdienten«, ganz gleich, welche Leistung sie tatsächlich brachten. Bestechung und Clanzugehörigkeit bestimmten das »Ergebnis« des einzelnen Gefangenen.
Aus Sicht der Seks war derjenige Brigadier der beste, der es verstand, Tufta in großem Stil zu organisieren. Lew Finkelstein, der Ende der vierziger Jahre in einem Steinbruch im Nordural arbeitete, geriet in eine Brigade, deren Chef ein ausgeklügeltes Mogelsystem anwandte. Die Wachposten hielten sich den ganzen Tag oben am Rande des Steinbruchs auf und saßen am Lagerfeuer, um sich zu wärmen. Brigadier Iwans System funktionierte so:
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»Wir wussten genau, welcher Teil unten im Steinbruch von oben einsehbar war. Darauf beruhte der Schwindel... In dem sichtbaren Teil arbeiteten wir aus Leibeskräften am Stein. Dabei veranstalteten wir einen Heidenlärm, so dass die Posten sehen und hören konnten, wie wir schufteten. Nach einer Weile ging Iwan die Reihe entlang ... und kommandierte: <Einen Schritt nach links!> Die ganze Reihe rückte einen Mann nach links. Die Posten merkten nichts. Links war der nicht einsehbare Bereich, den wir mit einem Kreidestrich auf dem Boden markiert hatten. Wer dort angekommen war, setzte sich entspannt nieder, nahm seine Hacke und klopfte locker auf den Stein am Boden, damit das Geräusch nicht nachließ. Der Nächste kam zum Ausruhen und immer so weiter. Schließlich befahl Iwan dem Ersten: <Du — nach rechts!> Und der Mann rückte nach rechts und schloss sich der Reihe der Arbeitenden wieder an. Keiner von uns leistete je mehr als eine halbe Schicht.«25)
Später musste Leonid Trus Güterwagen ausladen: »Wir schrieben einfach eine größere Entfernung an, über die wir die Lasten angeblich transportiert hatten — zum Beispiel 300 Meter statt 10.« Dafür erhielten sie eine höhere Verpflegungsration. »Die Tufta gab es überall«, erklärte er im Hinblick auf Norilsk. »Ohne sie wäre gar nichts gegangen.«
Selbst auf der höheren Verwaltungsebene — etwa zwischen Brigadieren und Normern — gab es vorsichtige Verhandlungen im Sinne der Tufta. Denn Letztere waren wie die Brigadiere für Bestechung nicht unempfänglich. Ende der dreißiger Jahre wurde Olga Adamowa-Sljosberg an der Kolyma zur Brigadierin einer Frauenbrigade ernannt, die Gräben auszuheben hatte. Ihre Gruppe bestand zum großen Teil aus politischen Häftlingen, die von langer Gefängnishaft geschwächt waren. Als sie drei Tage lang nur drei Prozent der Norm schafften, ging sie zum Normer und bat um eine leichtere Aufgabe. Dessen Gesicht lief allerdings dunkelrot an, als er hörte, dass ihre schwache Brigade fast ausschließlich aus ehemaligen Parteimitgliedern bestand:
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»So, Parteimitglieder seid ihr also? Wenn ihr Prostituierte wärt, würde ich euch mit Vergnügen Fenster putzen lassen, wo man die dreifache Norm schafft. Als Parteimitglieder 1929 beschlossen mich als Kulaken zu bestrafen, und mich samt meinen sechs Kindern aus unserem Haus jagten, da habe ich zu ihnen gesagt: <Was haben euch denn die Kinder getan?> Und was haben die mir geantwortet? <So sind die sowjetischen Gesetze.> Nun haltet ihr euch auch an eure sowjetischen Gesetze, und bewegt gefälligst neun Kubikmeter Schlamm am Tag!« 26)
Die Normer wussten natürlich, dass sie die Arbeitskräfte zu gewissen Zeiten schonen mussten — wenn das Lager beispielsweise wegen seiner hohen Sterberate in die Kritik geriet oder wenn es im Hohen Norden lag, wo man nur einmal in der Saison mit Verstärkung rechnen konnte. Unter solchen Umständen senkten sie zuweilen die Norm etwas ab oder übersahen, dass die Aufgaben nur unzureichend erfüllt wurden. Diese Praxis war in den Lagern als »Normdehnung« bekannt und allgegenwärtig.27
Bestechung funktionierte auch in den obersten Rängen der Hierarchie, manchmal unter Zuhilfenahme ganzer Ketten von Mittelsleuten. Alexander Klein war Ende der vierziger Jahre im Lager, als man die Seks mit einem kleinen Lohn zu höherer Leistung anstacheln wollte:
»Wenn der Arbeiter sein Geld erhalten hatte, was nicht viel war, bekam der Brigadier seinen Teil ab. Das galt für alle, denn dieser musste damit den Vorarbeiter und den Normer bestechen, die entschieden, wie die Brigade ihre Norm erfüllt hatte.«
Im Durchschnitt, schreibt Klein, musste er die Hälfte seines »Lohnes« hergeben. Wer das nicht tat, hatte mit schweren Folgen zu rechnen. Ihm wurde umgehend eine niedrigere Normerfüllung angeschrieben, was hieß, er bekam weniger zu essen. Noch schlechter erging es Brigadieren, die nicht zahlen wollten. Einer, so schreibt Klein, wurde in seinem Bett ermordet. Sie schlugen ihm mit einem Stein den Schädel ein, ohne dass die, die neben ihm schliefen, etwas merkten.28
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Die Tufta beeinflusste die Lagerstatistik auf allen Ebenen. In der Inspektionsabteilung des Gulags liegen Dutzende Berichte, aus denen hervorgeht, dass Lagerkommandanten und Buchhalter häufig die Zahlen frisierten, wenn es für sie von Vorteil war. 1941 richteten der Kommandant und der Hauptbuchhalter eines Lagpunktes »unter Ausnutzung ihrer Stellung« sogar ein falsches Bankkonto ein, wohin sie Gelder von den Konten des Lagers abzweigten. Der Kommandant unterschlug 25.000 Rubel, der Buchhalter 18.000 — nach damaligen sowjetischen Vorstellungen ein Vermögen.
Wer Geld unterschlug, hatte auch keine moralischen Skrupel, die Statistik zu fälschen. Wenn die Tufta bereits auf der Brigadeebene einsetzte und sich auf der Ebene des Lagpunktes summierte, dann waren die Zahlen der Produktionsstatistik, die der Buchhalter eines großen Lagers zusammenrechnete, schon weit von der Realität entfernt. Sie vermittelten einen sehr irreführenden Eindruck von der wirklichen Produktivität, die in der Regel sehr niedrig war.
Da überall in großem Stil gelogen und betrogen wurde, kann man mit Produktionszahlen des Gulags wenig anfangen. Daher betrachte ich die sorgfältig und in allen Einzelheiten ausgearbeiteten Jahresberichte des Gulags mit großer Skepsis. Nehmen wir zum Beispiel den vom März 1940. Auf 124 Seiten sind in diesem erstaunlichen Dokument Produktionszahlen für Dutzende Lager aufgelistet. Sie sind sorgfältig in Kategorien eingeteilt: Lager in der Forstwirtschaft, bei Fabriken, Bergwerken und Kolchosen. Dem Bericht sind Grafiken und Zahlenkolonnen verschiedenster Art beigefügt. Als Endergebnis verkündet sein Verfasser selbstbewusst, der Gesamtwert der Gulag-Produktion im Jahr 1940 habe 2659,5 Millionen Rubel betragen — angesichts der geschilderten Umstände eine völlig bedeutungslose Zahl.29)
Die »Vertrauenspersonen«: Kooperation und Kollaboration
Die Tufta war nicht die einzige Methode, mit der die Gefangenen die Lücke zwischen den unmöglichen Normen, die man von ihnen erwartete, und den unmöglichen Rationen, die sie dafür bekamen, zu schließen suchten. Es war auch nicht das einzige Instrument, mit dem die Behörden eine Erfüllung ihrer eigenen fantastischen Produktionsziele vortäuschten. Gefangene konnte man auch auf anderen Wegen zur Kooperation bewegen. Isaak Filschtinski hat sie in seinen Memoiren brillant und einprägsam beschrieben.
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Seine Geschichte beginnt in den ersten Tagen nach seiner Ankunft in Kargopollag, dem Holzfäller- und Baulager nördlich von Archangelsk. Dort begegnete er einer jungen Frau, ein Neuankömmling wie er. Zusammen mit anderen hatte man sie seiner Brigade zeitweilig zugeordnet. Ihre »scheue, furchtsame Art« und ihre zerlumpte Kleidung fielen ihm auf, und er schob sich in der Kolonne näher an sie heran. Ja, antwortete sie auf seine Frage, »ich bin gestern mit einem Transport aus dem Gefängnis hier angekommen«.
Am Einsatzort wurden Frauen und Männer getrennt, aber auf dem Rückmarsch schloss sich die junge Frau, sie war Schauspielerin, Filschtinski wieder an. In den nächsten eineinhalb Wochen machten sie den Marsch stets zusammen. Sie erzählte ihm, dass ihr Mann sie verlassen habe und sie ihr Kind wohl nie wiedersehen werde. Schreckliches Heimweh plagte sie. Dann wurden Männer- und Frauenbrigade endgültig getrennt, und Filschtinski verlor sie aus den Augen.
Drei Jahre vergingen. An einem heißen Tag stieß Filschtinski unerwartet wieder auf die Frau. Diesmal trug sie »eine neue Jacke, die perfekt saß«. Statt der zerbeulten Mütze, die Häftlinge gewöhnlich trugen, hatte sie eine schicke Kappe. Ihre Füße steckten nicht in der lagerüblichen Fußbekleidung, sondern in richtigen Schuhen. Sie hatte zugenommen und wirkte etwas vulgär. Als sie den Mund aufmachte, entströmte ihm ein grässlicher Slang, »der davon zeugte, dass sie seit langem stabile Verbindungen zur Verbrecherwelt des Lagers unterhielt«. Filschtinski starrte sie ungläubig an. Sie erschrak tief, wandte sich ab und suchte das Weite, »sie rannte beinahe«.
Er traf sie noch ein drittes und letztes Mal. Nun war sie »nach der letzten Stadtmode« gekleidet, saß an einem Chefschreibtisch und war keine Gefangene mehr. Sie hatte inzwischen Major L. geheiratet, einen Lageraufseher, der für seine Grausamkeit bekannt war. Filschtinskis Auftauchen war ihr nicht mehr peinlich, sie fahr ihn nur grob an.
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Die Verwandlung war vollkommen: Von der Gefangenen war sie zu einer Kollaborateurin geworden und von dieser zu den Lagerchefs aufgestiegen. Zuerst hatte sie die Sprache, dann Kleidung und Sitten der Verbrecherwelt angenommen. Von dort war sie schließlich in die privilegierte Schicht der Lagerbehörden gelangt. Filschtinski hatte ihr »eigentlich nichts mehr zu sagen«. Als er den Raum verließ, wandte er sich noch einmal um. Ihre Blicke trafen sich einen Moment. Er meinte in ihren Augen eine Spur von »grenzenloser Trauer« und eine verräterisch glitzernde Träne bemerkt zu haben.30
Das beschriebene Schicksal wird Lesern bekannt vorkommen, die sich mit anderen Lagersystemen beschäftigt haben. Der deutsche Soziologe Wolfgang Sofsky schrieb über die nationalsozialistischen KZs, dass »absolute Macht... kein Besitz [ist], sondern eine Struktur«. Damit meinte er, Macht in den deutschen Lagern habe nicht einfach bedeutet, dass eine Person das Leben anderer kontrollieren konnte. Stattdessen »verwischte das Regime die Trennlinie zwischen Personal und Insassen«, so Sofsky, »indem es einige Opfer zu Komplizen machte«.31
Zwar herrschte, was Organisation und Wirkung betraf, im Gulag eine andere Art Brutalität, aber in einem Aspekt ähneln sich die beiden Lagersysteme: Auch das Sowjetregime nutzte Gefangene, die sich zur Kollaboration mit dem Unterdrückungssystem bereit fanden, ließ sie aufsteigen und gewährte ihnen Privilegien, wofür diese den Behörden halfen, ihre Macht auszuüben. Nicht zufällig konzentriert sich Filschtinski in seiner Geschichte darauf, dass die Kleidung seiner Bekannten immer besser wurde: In den Lagern, wo es ständig an allem fehlte, konnten schon geringe Verbesserungen bei Kleidung, Essen oder Lebensbedingungen einen Gefangenen dazu bewegen, sich kooperativ zu zeigen und nach Aufstieg zu streben. Das waren die so genannten Vertrauenspersonen. Ihr Leben im Lager verbesserte sich schlagartig auf mannigfache Weise.
Solschenizyn hat die Hierarchie der Vertrauenspersonen ausführlich beschrieben.
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»Ein Arbeiter des lagerinternen Wirtschaftshofes hat es an sich schon um vieles leichter als jeder Arbeiter von den Allgemeinen: Er braucht nicht zum Morgenappell zu erscheinen, kann darum länger schlafen und später frühstücken; er erspart sich den Marsch zum Arbeitsplatz und zurück, erspart sich also die Wachhunde und Wachsoldaten, die Schikanen, die Kälte, den Kräfteverlust noch vor Arbeitsbeginn; sein Arbeitstag endet auch früher, überdies ist er meistens in geheizten Räumen tätig, und wenn nicht, kann er ab und zu mal in die Wärmestube schlüpfen ... Ein <Schneider>, das bedeutet im Lager etwa dasselbe wie draußen in der Freiheit ein <Dozent>.«32)
Die untersten Ränge in der Hierarchie der Vertrauensleute auf dem Lagergelände mussten körperlich arbeiten — im Badehaus, in der Wäscherei, in der Küche, als Heizer oder Ordonnanzen. Andere waren in den Werkstätten des Lagers tätig, besserten Kleidung und Schuhe aus oder reparierten Maschinen. Über ihnen standen die eigentlichen »Vertrauensleute«, denen man keine körperliche Arbeit zumutete. Das waren Küchenchefs, Essenausgeber, Verwaltungsangestellte, Ärzte, Kinderbetreuerinnen, Arzthelfer, Friseure, höhere Bedienstete, Arbeitsverteiler und Buchhalter, diejenigen also, die die Befugnis hatten zu entscheiden, wem welche Arbeit zugeteilt wurde, wer wie viel Essen erhielt, wer medizinisch behandelt werden durfte.
Im Prinzip konnte jeder Gefangene zur Vertrauensperson aufsteigen und auch wieder zum Gefangenen degradiert werden. Aber in der Praxis vollzog sich dies nach komplizierten Regeln, die von Lager zu Lager, von Region zu Region variierten. Gewisse Grundsätze haben aber offenbar überall gegolten, vor allem der, dass man leichter Vertrauensperson werden konnte, wenn man ein »sozial nahe stehender« krimineller und kein »sozial gefährlicher« politischer Häftling war. Kriminelle, die auch vor dem Einsatz brutaler Gewalt nicht zurückschreckten, waren geradezu ideale Vertrauenspersonen. Das traf insbesondere Ende der dreißiger Jahre und während der Kriegszeit zu, als die kriminellen Banden in den sowjetischen Lagern herrschten. Doch auch danach — Filschtinski schreibt über die Zeit Ende der vierziger Jahre — war die »Kultur« der Vertrauensleute von der der Berufsverbrecher kaum zu unterscheiden.
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Kriminelle in dieser Funktion stellten für die Lagerführungen dennoch ein Problem dar. Sie waren zwar keine »Feinde«, hatten aber auch keinerlei Bildung. Viele konnten kaum lesen und schreiben. In der Regel waren sie nicht bereit, es zu lernen. Als in den Lagern Alphabetisierungskurse eingerichtet wurden, hielten sich die Kriminellen meist von ihnen fern.33 So hatten die Lagerchefs, wie Lew Rasgon schreibt, oft keine andere Wahl, als auf Politische zurückzugreifen: »Vom Plan ging ein solcher Druck aus, dass es kein Ausweichen gab. Daher blieb auch den schärfsten Lagerkommandanten, die die <Konterrevolutionäre> unter den Häftlingen am meisten hassten, gar nichts anderes übrig, als sie einzusetzen.«34
Nach 1939, als Beria an Jeschows Stelle trat und erneut den Versuch unternahm, den Gulag rentabel zu machen, wurden die Vorschriften immer weiter aufgeweicht. Zwar erließ Beria im August 1939 eine Weisung, die es den Lagerkommandanten ausdrücklich verbot, politische Gefangene auf Vertrauensposten zu setzen, doch ließ sie zugleich Schlupflöcher offen. So durften qualifizierte Ärzte unter besonderen Umständen in ihrem Beruf arbeiten, ebenso Gefangene, die nach einem der »leichteren« Absätze von Artikel 58 verurteilt waren — also nach Absatz 7, 10, 12 oder 14, das heißt wegen »antisowjetischer Agitation« (beispielsweise dem Erzählen regimefeindlicher Witze) oder »antisowjetischer Propaganda«.
Wer allerdings wegen »Terrorismus« oder »Vaterlandsverrat« verurteilt worden war, konnte theoretisch der schweren körperlichen Arbeit nicht entkommen.35 Aber als der Krieg ausbrach, war es auch damit vorbei. Stalin und Molotow gaben ein besonderes Rundschreiben heraus, das es Dalstroi gestattete, »in dieser Ausnahmesituation für eine bestimmte Zeit Einzelverträge mit Ingenieuren, Technikern und Verwaltungsangestellten abzuschließen, die zur Arbeit an die Kolyma geschickt worden sind«.36
Lagerleitungen, die zu viele Politische auf hochrangigen Posten hatten, riskierten einen Verweis, weshalb ein gewisser Grad an Unsicherheit immer blieb. Daher stimmen Solschenizyn und Rasgon darin überein, dass politische Häftlinge »gute« Bürojobs wie Rechnungsführung und Buchhaltung erhalten konnten, aber meist nur für eine bestimmte Zeit. Einmal im Jahr, wenn die Inspektoren aus Moskau erwartet wurden, entließ man sie regelmäßig wieder.
In der Praxis erwiesen sich die Bestimmungen oft als unsinnig.
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Als politischer Häftling in Kargopollag war es Filschtinski streng verboten, an einem Lehrgang in Forsttechnologie teilzunehmen Aber er durfte die Lehrbücher lesen. Und als er nach dem Selbststudium die Prüfung bestand, ließ man ihn auch als Forstfachmann arbeiten.37 Als in der Nachkriegszeit die starken nationalen Gruppen im Lager an Einfluss gewannen, wurde das Regime der Kriminellen häufig von dem der besser organisierten Ukrainer und Balten abgelöst. Ihre Vorarbeiter und Aufseher wiederum verteilten wichtige Posten auch an politische Gefangene aus dem Kreis ihrer Landsleute.
Allerdings oblag es nie allein den Häftlingen, die Posten von Vertrauensleuten zu verteilen. Das letzte Wort hatte stets die Lagerleitung. Die meisten Kommandanten neigten dazu, die besseren Posten denen zu geben, die bereit waren, offen zu kollaborieren, das heißt, als Informanten zu fungieren. Schwer zu sagen, wie viele das System im Einsatz hatte. Denn obwohl das russische Staatsarchiv die Bestände der Gulag-Zentrale freigegeben hat, sind die Dokumente der »Dritten Abteilung«, die für die Informanten zuständig war, nach wie vor unter Verschluss. Der russische Historiker Viktor Berdinskich gibt in seinem Buch über Wjatlag einige Zahlen an, ohne die Quelle zu nennen: »In den zwanziger Jahren setzte sich die OGPU-Führung das Ziel, unter den Lagerhäftlingen nicht weniger als 25 Prozent Informanten zu haben. In den dreißiger und vierziger Jahren wurde diese Planzahl auf zehn Prozent gesenkt.« Aber auch Berdinskich räumt ein, dass ohne Zugang zu den Archiven eine reale Einschätzung der Zahlen »kompliziert« ist.38
Nicht viele von denen, die schriftliche Erinnerungen hinterlassen haben, geben offen zu, Informanten gewesen zu sein. Häftlinge, die bereits im Gefängnis (oder sogar vor ihrer Verhaftung) Informanten waren, kamen im Lager mit einem entsprechenden Vermerk in ihrer Akte an. Andere wurden sofort nach ihrer Ankunft angesprochen, wenn sie noch vollkommen desorientiert und voller Furcht waren. Leonid Trus wurde bereits am zweiten Tag im Lager zu einem Stellvertreter des Kommandanten gerufen, der unter den Häftlingen nur der Gevatter, der Informantenwerber, hieß, und zur Kooperation aufgefordert. Ohne recht zu begreifen, was man da von ihm verlangte, lehnte er ab. Seiner Ansicht nach war das der Grund dafür, dass man ihn zunächst für schwere körperliche Arbeiten einsetzte.
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Die berühmteste Ausnahme unter den vielen, die ihre Informantentätigkeit vehement bestreiten, ist wiederum Alexander Sol-schenizyn, der seinen Flirt mit den Lagerbehörden ausführlich beschreibt. Den ersten Augenblick der Schwäche hatte er nach der Ankunft im Lager, da er seinen tiefen sozialen Absturz noch verwinden musste. Als er zum stellvertretenden Kommandanten gerufen wurde, führte man ihn in »ein kleines, behaglich eingerichtetes Zimmer«, wo im Radio klassische Musik spielte. Der Kommandant erkundigte sich zunächst höflich, wie er sich eingerichtet habe und ob er mit dem Lagerleben zurechtkomme. Dann folgte die Frage: »Sind Sie nun ein Sowjetmensch geblieben - oder nicht?« Solschenizyn druckste ein wenig herum, antwortete aber schließlich mit ja.
Obwohl das allgemein als Zustimmung zur Kollaboration galt, weigerte er sich zunächst, Informationen über andere zu liefern. Da wechselte der Kommandant die Taktik. Er schaltete die Musik ab und fing ein Gespräch über die Kriminellen im Lager an. Wie er, Solschenizyn, sich wohl fühlen würde, wenn seine Frau in Moskau von einem, der ausgebrochen sei, angefallen werde? Schließlich willigte Solschenizyn ein zu melden, wenn ihm etwas von einem Fluchtversuch zu Ohren kommen sollte. Er unterschrieb eine entsprechende Verpflichtung und wählte selbst den Decknamen Wetrow. »Die sechs Buchstaben«, so schreibt er, brannten »schmachvolle Wunden in mein Gedächtnis ein«.39
Er selbst ist der Meinung, dass er im Grunde nie etwas berichtet hat. Als man ihn 1956 erneut verpflichten wollte, hat er seiner Aussage nach nichts mehr unterschrieben. Seine ursprüngliche Zusage ermöglichte ihm jedoch eine Vertrauensstellung, solange er in den Lagern war, und das bedeutete eine bessere Unterbringung, bessere Kleidung und bessere Ernährung, als die übrigen Häftlinge bekamen. Dafür habe er sich geschämt, schrieb er später, und dies erklärt wohl auch seine Verachtung für alle, die es ihm gleichtaten.
Als Solschenizyn seine Schilderung der Vertrauensleute veröffentlichte, war sie umstritten und ist es bis heute geblieben. Wie seine Darstellung der Arbeitsgewohnheiten im Lager löste sie unter
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Überlebenden und Historikern eine Debatte aus, die bis in unsere Tage anhält. Fast alle bekannten und viel gelesenen Memoirenschreiber waren zu dieser oder jener Zeit Informanten: Jewgenia Ginsburg, Lew Rasgon, Warlam Schalamow und auch Solschenizyn. Vielleicht trifft zu, was manche behaupten, dass die Mehrheit aller Gefangenen, die eine lange Lagerhaft überstanden, irgendwann zu Informanten wurde. Ein Überlebender berichtete mir von einem Treffen mit ehemaligen Lagerkameraden. Bald war man bei gemeinsamen Erinnerungen und lachte über die alten Geschichten. Einer schaute in die Runde, und plötzlich ging ihm auf, was sie zusammenhielt, was es möglich machte, dass sie alle über die Vergangenheit lachen konnten, statt darüber zu weinen: »Wir sind alle Vertrauensleute gewesen.«
Kein Zweifel: Viele Menschen haben überlebt, weil sie als Vertrauenswürdige einen Job auf dem Lagergelände erhielten und dadurch dem Schrecken der »allgemeinen Arbeit« entgingen. War das schon aktive Kollaboration mit der Lagerleitung? Solschenizyn sieht das so. Selbst jene Vertrauensleute, die nicht über ihre Mithäftlinge berichteten, müssen seiner Meinung nach als Kollaborateure betrachtet werden. Denn: »Wo fand man einen Vorzugsposten, der nicht mit Katzbuckeln vor dem Nächsthöheren, nicht mit der Teilnahme an dem allgemeinen Zwangssystem verbunden war?«
Auch wer nur indirekt kollaborierte, konnte Schaden anrichten, meint Solschenizyn. Arbeitsnormer, Buchhalter oder Ingenieure haben zwar niemanden gefoltert, aber zu einem System beigetragen, das die Häftlinge zwang, sich zu Tode zu schuften. Sekretärinnen erfüllten Aufträge der Lagerleitung. Jeder Essenausgeber, der ein Brot für sich abzweigte, schreibt Solschenizyn, sorgte dafür, dass ein im Wald schwer arbeitender Sek nicht seine volle Ration bekam: »Wer betrügt den Iwan Denissowitsch beim Abwägen um etliche Gramm Brot? Wer stiehlt ihm den Zucker, indem er Wasser darüber träufelt? Wer grapscht das Fett, das Fleisch, die guten Einlagen auf halbem Weg zum Suppenkessel?«40
Solschenizyn erntete von vielen heftigen Widerspruch, in besonderer Schärfe von Lew Rasgon, der in den neunziger Jahren in Russland zu einer fast gleichrangigen Autorität in Fragen des Gulags aufstieg.
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Er hatte im Lager als Normer gearbeitet, also nahezu die höchste Stufe des »Vertrauens« erklommen. Rasgon argumentiert, dass für ihn und für viele andere der Entschluss, Vertrauensperson zu werden, über Leben und Tod entschieden habe. Besonders in den Kriegsjahren »war es unmöglich zu überleben, wenn man Bäume fällen musste«. Das gelang höchstens Bauern, »die wussten, wie man Werkzeuge schärft und gebraucht, die ihre gewohnte Feldarbeit erhielten, wodurch sie an ein paar verfaulte Kartoffeln, Rettiche oder anderes Gemüse zusätzlich herankamen«.41)
Rasgon glaubt nicht, dass es unmoralisch war, sich für das Leben zu entscheiden, oder dass solche Menschen »nicht besser waren als die, die sie ins Lager gebracht hatten«. Er bestreitet auch Solschenizyns Ansicht, die Vertrauenspersonen seien käuflich gewesen. Hatten sie sich eine bessere Stellung erkämpft, suchten sie in der Regel anderen Gefangenen zu helfen:
»Die Iwan Denissowitschs, die in den Wald zum Holzfällen mussten, waren ihnen nicht gleichgültig oder fremd. Sie konnten einfach nicht helfen, wenn einer zu nichts anderem taugte als zu körperlicher Arbeit. Aber selbst darunter fanden sie Leute mit ganz überraschenden Fähigkeiten: Wer Pfeil und Bogen schnitzen oder ein Fass bauen konnte, wurde zu einem Außenposten geschickt, wo Skier hergestellt wurden. Wer etwas vom Körbeflechten verstand, fertigte Korbmöbel - Stühle, Sessel und Sofas - für die Bosse.«42)
So wie es gute und schlechte Wachposten gab, meint Rasgon, habe es auch gute und schlechte Vertrauensleute gegeben, Menschen, die ihre Position zum Nutzen, und andere, die sie zum Schaden ihrer Mithäftlinge gebrauchten.
Santschast: Krankenhäuser und Ärzte
Einer der vielen absurden Aspekte des Lagerlebens, vielleicht der merkwürdigste, war zugleich der irdischste: der Lagerarzt. Jeder Lagpunkt hatte einen. Wenn es nicht genügend ausgebildete Ärzte gab, dann war im Lagpunkt zumindest ein Feldscher mit oder ohne medizinische Ausbildung tätig.
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Wie Schutzengel hatten die Mediziner die Macht, Häftlinge aus der Kälte zu holen und in ein sauberes Lagerhospital einzuweisen, wo sie ins Leben zurückgebracht und wieder aufgepäppelt wurden. Alle übrigen - die Wachposten, der Lagerkommandant oder die Brigadiere - trieben die Seks ständig an. Allein der Arzt brauchte das nicht zu tun.
Mancher Häftling wurde buchstäblich durch ein Wort des Medizinmannes gerettet. Als Lew Kopelew hohes Fieber hatte, zum Skelett abgemagert war und der Hunger ihn quälte, diagnostizierte eine Ärztin bei ihm Pellagra, Darminfektion und eine schwere Erkältung. »Ich schicke Sie ins Krankenhaus«, erklärte sie. Vom Lagpunkt zum Santschast, dem Zentralhospital des Lagers, war es ein schwerer Weg. Kopelew verabschiedete sich von all seinen Habseligkeiten, denn die musste er im Lager zurücklassen, stapfte durch »tiefen, zähen Dreck«, drängte sich mit anderen Kranken und Todgeweihten in einen Viehtransporter. Es war die reine Höllenfahrt. Aber als er in der neuen Umgebung erwachte, fand er sein Leben völlig verändert:
»In seligem Halbtraum saß ich in einem warmen, weißen Behandlungszimmer auf einer mit sauberen Laken bezogenen Liege ... Der Arzt war ein kleiner rundgesichtiger Mann, dessen grauer Schnurrbart und dicke Brillengläser die Atmosphäre von Freundlichkeit und Fürsorge noch verstärkten. <Haben Sie in Moskau>, so fragte er mich, <eine Literaturkritikerin namens Motyljowa gekannt?> - <Tamara Lasarewna Motyljowa? Natürlich!> - <Das ist meine Nichte.>
Onkel Borja, wie er hier nur hieß, schaute auf das Thermometer. <Hoho, fast 40. Johann, bringen Sie ihn sofort ins Bett. Geben Sie alle Sachen zur Entlausung, und waschen Sie ihn hier, nicht im Bad, damit er sich nicht noch zusätzlich erkältet.>«Als Kopelew wieder erwachte, hatte man ihm sechs große Stücke Brot hingestellt: »drei schwarze und drei lange nicht mehr gesehene weiße!« Er verschlang sie gierig und unter Tränen. Noch besser war, dass er eine besondere Diät gegen Pellagra erhielt: Rüben und Möhren, dazu Hefe und Senf als Brotaufstrich.
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Zum ersten Mal durfte er Päckchen und Geld von zu Hause empfangen. Dafür konnte er sich Kartoffeln, Milch und Machorka, den billigsten Tabak, leisten. Nachdem er sich schon unter den wandelnden Toten gesehen hatte, schien sein Schicksal sich gewendet zu haben.43
Solche Erlebnisse hatten viele. »Das Paradies« nannte Jewgenia Ginsburg das Krankenhaus, in dem sie an der Kolyma arbeitete.44 Auch andere schreiben, mit welcher Ehrfurcht sie saubere Laken, freundliche Schwestern und die Bemühungen der Ärzte erlebten, sie vor dem Tod zu bewahren. Ein Häftling erzählt die Geschichte eines Doktors, der sich selbst auf das Risiko, seine Stelle zu verlieren, ohne Genehmigung aus dem Lager entfernte, um notwendige Medikamente zu besorgen.45 Der Lagerarzt Wadim Alexandrowitsch erinnert sich, dass »der Doktor und seine Helfer in den Lagern Götter, zumindest aber Halbgötter waren. Sie hatten es in der Hand, einen Häftling für einige Tage von mörderischer Arbeit zu befreien, ja ihn gar ins Sanatorium zu schicken.«46
Janos Rozsas, ein Ungar, der nach dem Krieg als Achtzehnjähriger im selben Lager saß wie Alexander Solschenizyn, hat ein Buch mit dem Titel Schwester Dussja geschrieben. Der Titel bezieht sich auf eine Lagerschwester, die ihm, so glaubt er, das Leben gerettet hat. Sie saß nicht nur an seinem Bett und überzeugte ihn, dass er bei ihrer Pflege gar nicht sterben könne, sondern tauschte sogar ihre eigene Brotration gegen etwas Milch für ihren Patienten ein, der kaum noch Nahrung zu sich nehmen konnte. Dafür ist er ihr sein ganzes Leben lang dankbar geblieben: »In meinem Kopf verschwammen die Gesichter der beiden liebsten Menschen immer mehr zu einem - das ferne Gesicht meiner Mutter und das von Schwester Dussja. Sie waren einander so ähnlich.«47
Aus Rozsas' Dankbarkeit für Schwester Dussja wurde schließlich Liebe zur russischen Sprache und Kultur.
Als ich Rozsas in Budapest traf, sprach er ein elegantes, fließendes Russisch, hatte Kontakt zu russischen Freunden und erzählte mir stolz, wo im Archipel Gulag und in den Memoiren von Solschenizyns Frau die Bezüge auf seine Geschichte zu finden sind.48
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Viele haben auf ein weiteres Paradox hingewiesen: Wenn ein Häftling in einer Arbeitsbrigade an den ersten Erscheinungen von Skorbut litt, interessierten seine lockeren Zähne oder die Geschwüre an seinen Beinen niemanden. Beklagte er sich, zog er damit nur den Zorn der Wachposten oder Schlimmeres auf sich. War er dann ein Todgeweihter, der sich kaum noch von seiner Pritsche erheben konnte, machten sich seine Mitgefangenen über ihn lustig. Wenn aber das Fieber immer höher stieg und die Krankheit das kritische Stadium erreichte, er also offensichtlich »krank« war, erhielt der gleiche Todgeweihte plötzlich »Skorbut-« oder »Pellagra-Rationen« und alle medizinische Behandlung, die der Gulag bieten konnte.
Dieses Paradox steckte im System. Von Anfang an wurden kranke Häftlinge höchst unterschiedlich behandelt. Bereits seit Januar 1931 gab es Invalidenbrigaden für Häftlinge, die zu keiner schweren körperlichen Arbeit mehr in der Lage waren.49 Später wurden sogar Baracken und ganze Lagpunkte für Invaliden eingerichtet, wo geschwächte Häftlinge wieder Kräfte sammeln konnten. 1933 organisierte Dmitlag »Lagpunkte der Erholung«, ausgelegt für 3600 Gefangene.50
Gustaw Herling-Grudzinski empfand diesen Kontrast zwischen den mörderischen Bedingungen des Lagerlebens und den Bemühungen der Lagerärzte um Häftlinge, deren Gesundheit zuvor gründlich ruiniert worden war, als so frappierend, dass er zu dem Schluss kam, in der Sowjetunion müsse es einen »Krankenhaus-Kult« geben:
»Keiner, der nach seiner Genesung wieder aus dem Lazarett entlassen wurde, konnte begreifen, dass er nun wieder ein Gefangener war, nachdem man ihm, solange er still in dem sauberen Bett gelegen, alle menschlichen Rechte, mit Ausnahme der Freiheit, zugebilligt hatte. Menschen, die nicht an die krassen Gegensätze des sowjetischen Lebens gewöhnt sind, empfinden die Lagerlazarette wie Kirchen, in denen man Schutz vor der allgewaltigen Inquisition findet.«51
Die Gulag-Chefs in Moskau waren angesichts der Tatsache, dass so viele Gefangene invalid und damit arbeitsunfähig wurden, durchaus besorgt. Zwar war das Problem nicht neu, aber seine Brisanz verschärfte sich, als Stalin und Beria 1939 die Praxis der bedingten vorzeitigen Entlassung aus gesundheitlichen Gründen stoppten.
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Plötzlich wurde man die Kranken nicht mehr so einfach los. Spätestens jetzt waren die Lagerkommandanten gezwungen, ihren Hospitälern mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Ein Inspektor hat die Zeit- und Geldverluste durch Krankheit einmal sehr exakt bilanziert: »Von Oktober 1940 bis zur ersten Hälfte des Monats März 1941 kamen 3472 Fälle von Erfrierungen vor, wodurch 42 334 Arbeitstage verloren gingen. 2400 Häftlinge waren zu geschwächt, um zu arbeiten.«52
Aber wie so oft im Gulag hieß das nicht unbedingt, etwas zu unternehmen, um die Kranken zu heilen. In manchen Lagern scheint man Lagpunkte für Invaliden nur eingerichtet zu haben, damit die Kranken die Produktionsstatistik des Lagers nicht verdarben. In Siblag etwa, wo in den Jahren 1940/41 ein Drittel der 63.000 Gefangenen invalid (9000) oder »halbinvalid« (15000) war, schossen die Produktionszahlen des Lagers wie durch ein Wunder in die Höhe, als diese schwachen Arbeitskräfte entfernt und durch »frische« Brigaden ersetzt wurden.53
Der Druck, den Plan zu erfüllen, brachte viele Lagerkommandanten in ein Dilemma. Einerseits wollten sie die Kranken wirklich behandeln, damit sie wieder arbeiten konnten. Andererseits durfte niemand zur Drückebergerei ermutigt werden. In der Praxis bedeutete das häufig, dass der Lagerchef ein Limit setzte - oft als ganz konkrete Zahl -, wie viele Häftlinge krank sein und wie viele zur Erholung in den entsprechenden Lagpunkt geschickt werden durften.54 Unabhängig vom tatsächlichen Krankenstand durften die Ärzte nur einem kleinen Prozentsatz etwas Ruhe gönnen.
Wenn mehr krank waren, dann mussten sie eben warten. Typisch dafür ist die Geschichte eines Häftlings in Ustwymlag, der mehrfach erklärte, er sei krank und könne nicht arbeiten. Einem offiziellen Bericht zufolge, der in die Akten einging, »beachtete das medizinische Personal dies nicht und schickte ihn zur Arbeit. Da er nicht mehr konnte, weigerte er sich, wofür er in die Strafzelle gesperrt wurde. Dort hielt man ihn vier Tage lang fest und brachte ihn erst dann in kritischem Zustand ins Krankenhaus, wo er verstarb.«55
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Die vorgegebenen Obergrenzen für Kranke bedeuteten, dass die Ärzte unter schweren Druck gerieten. Sie konnten einerseits verwarnt oder sogar bestraft werden, wenn zu viele kranke Häftlinge starben, denen man die Einlieferung ins Krankenhaus verweigert hatte.56 Auf der anderen Seite sahen sie sich mit ernsthaften Drohungen konfrontiert, wenn ein Mitglied der kriminellen Lagerelite sich vor der Arbeit drücken wollte. Ein Arzt, der die wirklich kranken Häftlinge behandeln wollte, musste die Forderungen der Kriminellen zurückweisen.
Als Karol Colonna-Czosnowski als Feldscher in einen Lagpunkt mit lauter Kriminellen kam, warnte man ihn, sein Vorgänger sei von den Patienten »erschlagen und in Stücke gehackt« worden. Schon in der ersten Nacht im Lager suchte ihn ein Mann mit einer Axt auf und forderte, am nächsten Tag von der Arbeit befreit zu werden. Er konnte ihn übertölpeln und aus seiner Hütte werfen. Am nächsten Tag bekam er es mit Grischa, dem Verbrecherboss des Lagers, zu tun und traf mit ihm eine Vereinbarung. Zusätzlich zu den wirklich Kranken würde dieser ihm täglich zwei Leute nennen, die er von der Arbeit freizustellen hatte.57
Wenn ein Häftling schließlich im Krankenhaus angekommen war, musste er feststellen, dass die Qualität der Behandlung sehr unterschiedlich sein konnte. Die größeren Lager hatten Krankenhäuser mit Medikamenten und Personal. Das Zentralkrankenhaus von Dalstroi in der Stadt Magadan war mit den neuesten medizinischen Geräten ausgestattet und verfügte über die besten Gefängnisärzte, häufig Spezialisten aus Moskau.
Zwar waren die meisten Patienten NKWD-Offiziere oder Lagerangestellte, aber auch einzelne Häftlinge kamen in den Genuss, von den hervorragenden Ärzten dort und in anderen Einrichtungen behandelt zu werden. So durfte Lew Finkelstein während seiner Lagerhaft sogar einen Zahnarzt aufsuchen.58 Einige Lagpunkte für Invaliden waren ebenfalls gut ausgerüstet und offenbar dafür da, die Häftlinge tatsächlich wieder gesund zu machen. Tatjana Okunewskaja, die in einen solchen Lagpunkt eingewiesen wurde, war begeistert von der großzügigen Anlage, den Unterkünften, den Bäumen: »Ich hatte so viele Jahre keine gesehen. Und es war Frühling!«59
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In einem kleinen Hospital dagegen, das zu einem Lagpunkt von
Sewurallag gehörte, waren laut Isaac Vogelfanger, dem ehemaligen Chefchirurgen des Lagerkomplexes, »Behandlung und Dokumentation dürftig«. Schlimmer noch,"... die Verpflegungsrationen reichten eindeutig nicht aus, und es gab nur sehr wenig Medikamente. Fälle für den Chirurgen wie Brüche und schwere Gewebeverletzungen wurden schlecht behandelt und gepflegt. Wie ich später herausfand, konnte kaum ein Patient, der dorthin kam, wieder zur Arbeit zurückkehren. Da sie schon mit Symptomen von schwerer Unterernährung eingeliefert wurden, starb die Mehrzahl von ihnen im Krankenhaus.«60
Noch elender waren die Baracken - oder eher: Leichenhallen - für todkranke Patienten. In solchen Unterkünften, in die man beispielsweise Häftlinge mit Ruhr einlieferte, »lagen die Kranken wochenlang im Bett. Wenn sie Glück hatten, kamen sie durch. Die meisten aber starben. Für sie gab es weder Behandlung noch Medikamente ... In der Regel versuchten die Patienten den Tod eines Insassen drei oder vier Tage zu vertuschen, um seine Ration mit essen zu können.«61
Zwar haben viele Lagerärzte das Leben zahlreicher Menschen gerettet, aber nicht alle waren geneigt zu helfen. Einige, denen ihre Privilegien viel bedeuteten, sympathisierten stärker mit den Lagerchefs als mit den »Feinden«, die sie zu behandeln hatten. So wurde die Frau eines Lagerkommandanten, die als Ärztin im Lagerkrankenhaus arbeitete, nach einer Inspektion verwarnt, weil sie »Schwerkranke viel zu spät ins Krankenhaus aufnahm, Leidende nicht von der Arbeit befreite, grob mit ihnen umging und sie aus dem Behandlungszimmer warf«.62
Zuweilen behandelten Ärzte die Gefangenen auch bewusst falsch. Als Leonid Trus Anfang der fünfziger Jahre im Bergwerk eingesetzt war, wurde ihm ein Bein gequetscht. Der Lagerarzt verband die Wunde, aber es musste mehr getan werden. Trus hatte schon viel Blut verloren, und ihm wurde immer kälter. Da im Lager keine Bluttransfusion vorgenommen werden konnte, wurde er auf einem Lastwagen ins nächste Krankenhaus gebracht.
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Halb bewusstlos hörte er, wie der Arzt eine Schwester anwies, mit der Bluttransfusion zu beginnen. Ein Freund, der ihn begleitete, gab seine Personalien an - Name, Alter, Geschlecht, Arbeitsstelle -, woraufhin der Arzt die Bluttransfusion stoppte. Derartige Hilfe stand Häftlingen nicht zu. Trus erinnert sich, dass man ihm etwas aufgelösten Traubenzucker zu trinken gab - dank seinem Freund, der das Personal bestach - und ihm Morphium spritzte. Am nächsten Tag wurde sein Bein amputiert:
»Der Chirurg war überzeugt, dass ich die Operation nicht überleben würde. Deshalb nahm er sie nicht selbst vor, sondern beauftragte seine Frau damit, eine Krankengymnastin, die sich zur Chirurgin qualifizieren wollte. Später sagte man mir, dass sie alles richtig gemacht hatte und wusste, was sie tat. Auf einige Einzelheiten hatte sie allerdings verzichtet, nicht weil sie sie vergessen hatte, sondern weil sie auch nicht glaubte, dass ich die Operation überstehen würde. Es kam also darauf nicht an. Aber, wie Sie sehen, bin ich am Leben geblieben!«63
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Ob ein Lagerarzt nun hingebungsvoll oder gleichgültig arbeitete -nicht jeder war ausreichend qualifiziert. Hinter dem Titel konnte eiti prominenter Moskauer Spezialist stecken, der eine Haftstrafe verbüßte, aber auch ein Scharlatan, der von Medizin keine Ahnung hatte und nur den begehrten Job bekommen wollte. Bereits 1932 klagte die OGPU über den Mangel an qualifiziertem medizinischem Personal.64 Das bedeutete, dass für Häftlinge mit medizinischer Ausbildung die Regeln für vertrauenswürdige Jobs nicht galten: Welchen konterrevolutionären Terrorakt man ihnen auch immer vorwarf, in der Regel durften sie ihren Beruf ausüben.65
Der Mangel brachte es auch mit sich, dass Häftlinge - in oft sehr dürftigen Lehrgängen - zu Schwestern und Sanitätern ausgebildet werden mussten. So wurde Jewgenia Ginsburg als Schwester angestellt, nachdem sie »einige Tage lang« im Häftlingshospital verbracht und dort gelernt hatte, »Schröpfköpfe zu setzen und Spritzen zu geben«.66 Alexander Dolgun, dem man einige Grundlagen für den Job als Feldscher beigebracht hatte, musste nach der Verlegung in ein anderes Lager sogleich seine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Ein Aufseher, der an seiner Qualifikation zweifelte, verlangte von ihm, er solle eine Autopsie vornehmen. »Ich legte die beste Show hin, zu der ich imstande war, und tat so, als machte ich das jeden Tag.«67 Auch Janusz Bardach musste lügen, um eine Anstellung als Feldscher zu bekommen: Er behauptete, Medizinstudent im dritten Jahr zu sein, obwohl er noch nie eine Universität besucht hatte.68
Die Folgen waren absehbar. Als Isaac Vogelfanger, ein erfahrener Chirurg, seinen ersten Posten als Häftlingsarzt in Sewurallag antrat, musste er zu seinem Entsetzen feststellen, dass der dortige Feldscher Skorbutgeschwüre, die auf Unterernährung, nicht auf Infektion zurückzuführen sind, mit Jod behandelte. Später sah er Patienten sterben, weil ein unwissender Arzt darauf bestanden hatte, ihnen Lösungen zu spritzen, die mit gewöhnlichem Haushaltszucker angesetzt waren.69
Die Lagerchefs waren über die Zustände natürlich im Bilde. Einer beklagte sich in einem Brief nach Moskau über den Ärztemangel: »In einigen Lagpunkten wird die medizinische Behandlung von Autodidakten vorgenommen, Häftlingen ohne jede medizinische Ausbildung.«70 Die Lagerchefs wussten, was da ablief, die Häftlinge nicht minder, aber es änderte sich nichts.
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Trotz all dieser Nachteile - korrupten Ärzten, schlecht eingerichteten Krankenstationen und kärglichen Medikamenten - übte ein Aufenthalt im Krankenhaus oder in der Sanitätsstation auf die Häftlinge eine solche Anziehungskraft aus, dass sie bereit waren dafür nicht nur dem Arzt zu drohen und ihn anzugreifen, sondern auch sich selbst zu verletzen. Wie Soldaten auf dem Schlachtfeld neigten auch die Seks zu Selbstverstümmelung oder zumindest Simulation, um ihr Leben zu retten. Manche hofften auch, als Invalide unter eine künftige Amnestie zu fallen. Dieser Glaube schien so verbreitet zu sein, dass die Gulag-Zentrale zumindest einmal offiziell erklärte, Invalide würden nicht amnestiert (obwohl es gelegentlich vorkam).71 Die meisten Gefangenen aber waren einfach froh, ein paar Tage nicht arbeiten zu müssen.
Auf Selbstverstümmelung standen harte Strafen. Stets wurde die Haftzeit verlängert. »Selbstverstümmelung wurde wie Sabotage geahndet«, schreibt Schigulin.72 Ein Gefangener erzählt die Geschichte von einem Dieb, der sich vier Finger der linken Hand abschnitt. Statt ihn in ein Invalidenlager zu verlegen, ließ man ihn im Schnee sitzen und den anderen bei der Arbeit zuschauen. Da er sich nicht von der Stelle bewegen durfte, weil man ihn sonst wegen Fluchtversuchs erschossen hätte, »verlangte er bald selbst wieder nach dem Spaten. Er packte ihn mit der gesunden Hand wie eine Krücke und stocherte damit weinend und fluchend in dem gefrorenen Boden herum.«73
Viele Gefangene glaubten dennoch, dass der zu erwartende Vorteil das Risiko wert sei. Manche gingen dabei sehr brutal zu Werke. Besonders die Kriminellen waren dafür bekannt, dass sie sich einfach ihre drei mittleren Finger mit der Axt abhackten, so dass sie nicht mehr Bäume fällen oder im Bergwerk eine Schubkarre fuhren konnten. Andere hieben sich eine Hand oder einen Fuß ab oder rieben sich Säure in die Augen. Mancher steckte sich am Morgen vor dem Abmarsch zur Arbeit einen nassen Fußlappen in den Schuh. Am Abend kam er mit Erfrierungen dritten Grades zurück.
Subtilere Methoden gab es auch. Ganz mutige Kriminelle stahlen eine Spritze und injizierten sich damit Seifenlauge in den Penis.
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Mit dem Ausfluss täuschten sie eine Geschlechtskrankheit vor. Ein Gefangener kam auf die Idee, eine Staublunge zu simulieren. Zunächst feilte er ein wenig Silberstaub von einem Silberring ab, den er unter seinen Habseligkeiten hatte verstecken können. Diesen mischte er seinem Tabak bei, den er dann rauchte. Zwar spürte er keine Folgen, hustete aber so stark, wie er es bei Silikosekranken gesehen hatte, und kam tatsächlich ins Krankenhaus.74
Häftlinge versuchten, sich bewusst zu infizieren oder sich eine länger anhaltende Krankheit zu holen. Gustaw Herling-Grudzinski beobachtete, wie ein Gefangener seinen Arm ins Feuer hielt, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Er tat das einmal täglich, bis er schließlich eine rätselhafte offene Wunde hatte, die er untersuchen lassen konnte.73 Anatoli Schigulin brachte sich eine Erkältung bei, indem er Eiswasser trank und danach die kalte Frostluft tief einatmete. Seine Temperatur stieg so hoch, dass er von der Arbeit freigestellt wurde: »O glückliche zehn Tage im Hospital!«76
Wahnsinn wurde ebenfalls simuliert. Während seiner Tätigkeit als Feldscher arbeitete Bardach eine Zeit lang auf der psychiatrischen Station des Zentralkrankenhauses von Magadan. Dort entlarvte man Delinquenten, die Schizophrenie simulierten, indem man sie mit echten Schizophrenen zusammensperrte: »Nur Stunden später schlugen die meisten, auch ganz Hartnäckige, an die Tür und baten, wieder herausgelassen zu werden.« Wenn das nicht half, verabreichte man dem Häftling eine Kampferspritze, die einen Anfall auslöste. Wer den überlebte, wollte so etwas nicht noch einmal durchmachen.77
Nach Elinor Lipper hatten die Ärzte eine Standardmethode, um Gefangene zu überführen, die Lähmung vortäuschten. Der Patient wurde auf den Operationstisch gelegt und erhielt einen leichten Ätherrausch. Sobald er erwachte, stellten die Ärzte ihn auf die Füße und riefen seinen Namen. Unweigerlich machte er ein paar Schritte, bevor er daran dachte, auf dem Boden zusammenzusacken.78
Es gab aber auch Ärzte, die den Patienten bei ihren Bemühungen halfen. Alexander Dolgun litt einmal an einem schrecklichen Durchfall und fühlte sich sehr schwach, aber seine Temperatur war nicht hoch genug, damit man ihn von der Arbeit freistellen konnte.
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Als er dem Lagerarzt, einem gebildeten Letten, jedoch eröffnete, er sei Amerikaner, war der hocherfreut. »Ich suche schon lange jemanden mit dem ich Englisch sprechen kann«, erklärte er. Dann zeigte er Dolgun, wie er sich einen Schnitt beibringen und diesen infizieren konnte. Das gab eine riesige Eiterbeule an seinem Arm, die ausreichte, um die Kontrolleure von der Schwere seiner Erkrankung zu überzeugen.79)
Wieder einmal stand die Moral auf dem Kopf. In Freiheit hätte sich ein Arzt, der seine Patienten bewusst krank machte, schwer gegen sein Berufsethos versündigt. In den Lagern wurde er dagegen wie ein Heiliger verehrt.
»Alltägliche Tugenden«
Nicht alle Überlebensstrategien in den Lagern leiteten sich notwendigerweise aus dem System selbst ab. Nicht alle erforderten Kollaboration, Grausamkeit oder Selbstverstümmelung. Zwar blieben einige Gefangene - wahrscheinlich sogar die große Mehrheit - am Leben, weil sie die Lagerregeln zu ihren Gunsten manipulierten, aber es gab auch Häftlinge, die auf etwas bauten, was Zwetan Todorow in seinem Buch über Moral im Lager die »alltäglichen Tugenden« nennt: Fürsorge und Freundschaft, Würde und Charakter.80
Fürsorge gab es in vielen Formen. Wie wir bereits gesehen haben, schufen sich Häftlinge ihre eigenen Netzwerke, um zu überleben. Mitglieder der ethnischen Gruppen, die Ende der vierziger Jahre in einigen Lagern dominierten - Ukrainer, Balten und Polen -, entwickelten ganze Systeme gegenseitiger Hilfeleistung. Andere bauten sich in den langen Jahren der Lagerhaft einen eigenen Bekanntenkreis auf. Wieder andere hatten einen oder zwei sehr gute Freunde. Eine der bekanntesten Freundschaften im Gulag war die zwischen Ariadna Efron, der Tochter der Dichterin Marina Zwetajewa, und Ada Federolf Sie unternahmen enorme Anstrengungen, um in Lager und Verbannung zusammen zu bleiben. Später veröffentlichten sie auch ihre Memoiren in einem Band. In ihrem Teil der Geschichte berichtet Federolf, wie sie auf verschiedene Transporte verteilt wurden, lange getrennt waren und sich dann doch wiederfanden:
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»Wir hatten schon Sommer. Die ersten Tage nach der Ankunft waren schrecklich. Jeden Tag mussten wir zum Exerzieren antreten, obwohl man die Hitze kaum noch ertragen konnte. Dann plötzlich ein neuer Transport aus Rjasan und darin: Alja. Ich wusste mich vor Freude kaum zu fassen. Ich zog sie auf ein oberes Bett, näher zur frischen Luft... Das war das Glück der Gefangenen: einen Menschen wiederzutreffen.«81
Dieser Gedanke findet sich bei vielen. »Es ist sehr wichtig, eine Freundin zu haben, ein vertrautes Gesicht, das sich nicht abwendet, wenn man Schweres erlebt«, schreibt Soja Martschenko.82 Dafür gab es natürlich auch Grenzen. Janusz Bardach berichtet von seinem besten Freund im Lager, dass »keiner den anderen je um Essen bat oder ihm zu essen anbot. Wir wussten beide, dass wir dieses Gebot auf keinen Fall verletzen durften, wenn wir Freunde bleiben wollten.«83
Wenn Achtung vor anderen manchem half, seine Menschlichkeit zu bewahren, so konnte ein Häftling mit Selbstachtung auch anderen einen Halt bieten. Viele, besonders Frauen, betonen, dass es enorm wichtig war, sich selbst so sauber wie möglich zu halten, um die eigene Würde zu bewahren. Olga Adamowa-Sljosberg beschreibt, wie eine Mitgefangene jeden Morgen »ihren weißen Kragen wusch, trocknete und wieder an ihre Bluse nähte«.84 Andere trieben Gymnastik oder achteten sehr auf die Hygiene. Dazu noch einmal Janusz Bardach:
»Trotz Erschöpfung und Kälte behielt ich die tägliche Routine bei, die ich mir zu Hause und bei der Roten Armee angewöhnt hatte. Regelmäßig wusch ich mir unter der Pumpe Gesicht und Hände. Ich wollte mir so viel Selbstachtung wie möglich bewahren - anders als viele Mitgefangene, die sich Tag für Tag mehr gehen ließen. Zuerst kümmerten sie sich nicht mehr um ihre Sauberkeit und ihr Aussehen, dann wurde ihnen ihr Nebenmann gleichgültig und schließlich das eigene Leben. Wenn ich schon nichts anderes kontrollieren konnte, dann wenigstens dieses tägliche Ritual, das glaubte ich, mich vor Verwahrlosung und sicherem Tod bewahi konnte.«85
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Wieder andere beschäftigten sich intensiv mit geistigen Dingen. Viele Gefangene schrieben selbst Gedichte oder lernten die von anderen auswendig. Sie rezitierten sie Tag für Tag, erst für sich, dann für Freunde.
Laut Schalamow bewahrte die Poesie ihn inmitten von »Heuchelei, Bosheit und Verfall« davor, völlig abzustumpfen. Seine hier zitierten Verse tragen den Titel »An einen Dichter«:
»Ich fraß wie ein Tier und knurrte dabei.
Ein Blatt Papier
Schien ein Wunder zu sein,
Gefallen vom Himmel in den dunklen Wald.Ich soff wie ein Tier, leckte Wasser vom Boden
Und von meinen eigenen Haaren.
Maß mein Leben nach Stunden,
Nicht nach Monaten oder Jahren.Aber jeden Abend,
Überrascht, noch zu leben,
Sprach ich ein Gedicht, und es war,
Als hörte ich deine Stimme.Ich flüsterte es wie ein Gebet.
Es war wie das Wasser des Lebens,
Wie eine Ikone, im Kampf bewahrt,
Wie ein Stern, der den Weg mir wies.Es war mein Band zum früheren Leben
Aus dieser Welt, die mich würgte
Mit ihrem alltäglichen Schmutz
Und dem allgegenwärtigen Tod.« 86)
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Solschenizyn »schrieb« im Lager Gedichte, indem er sie im Kopf erdachte und dann ständig mit Hilfe von zerbrochenen Streichhölzern memorierte, um sie nicht zu vergessen. Dazu sein Biograf Michael Scammell:
»Er legte zwei Reihen von zehn Hölzern aus, die er in einer Zigarettenschachtel aufbewahrte. Die eine Reihe waren die Zehner und die andere die Einer. Dann sagte er seine Verse still für sich auf, wobei er bei jeder Zeile einen <Einer> und bei jeder neuen Strophe einen <Zehner> bewegte. Jede 50. und jede 100. Zeile wurden besonders vermerkt. Einmal monatlich rezitierte er das ganze Poem vollständig. Wenn eine Zeile verrutschte oder vergessen wurde, begann er von vorn, bis alles wieder an seinem Platz war.«87)
Manchem half aus ähnlichen Gründen auch das Gebet. Die Erinnerungen eines gläubigen Baptisten, der in den siebziger Jahren in einem poststalinschen Lager einsaß, bestehen fast ausschließlich aus Berichten davon, wann und wo er betete, wann und wo er seine Bibel versteckte.88 Viele haben die Bedeutung der religiösen Feste hervorgehoben. Ostern konnte man heimlich - in einer Lagerbäckerei - feiern, wie es in einem Transitgefängnis auf den Solowezki-Inseln geschah, oder offen im Transportzug: »Der Waggon ratterte, unser Gesang klang dissonant und schrill, die Posten hämmerten bei jedem Halt gegen die Wagentür. Wir sangen trotzdem weiter.«89
Weihnachten konnte in einer Baracke stattfinden. Juri Sorin, ein russischer Gefangener, erinnert sich mit Staunen, wie gut die Litauer in seinem Lager das Weihnachtsfest vorbereiteten. Das nahm ein ganzes Jahr in Anspruch: »Versuchen Sie sich das vorzustellen: in einer Baracke ein Tisch, gedeckt mit allem, was dazugehört - Wodka, Schinken, einfach allem.«90
Kazimierz Zarod feierte 1940 mit polnischen Landsleuten Heiligabend in einem Arbeitslager mit einem Priester, der heimlich durch das Lager wanderte und in jeder Baracke die Messe zelebrierte:
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»Ohne Bibel oder Gebetbuch begann er die Worte der Messe zu sprechen, das vertraute Latein, geflüstert und kaum hörbar. Und die Antwort der Gläubigen kam leise wie ein Seufzer...
<Kyrie eleison, Christe eleison - Herr, erbarme dich unser. Christus erbarme dich unser. Gloria in excelsis Deo...>
Als die Worte sich auf uns herabsenkten, veränderte sich die sonst so brutale und rohe Atmosphäre im Raum unmerklich, die dem Priester zugewandten Gesichter wurden weich und gelöst, als die Männer dem kaum vernehmbaren Wispern lauschten.
<Alles in Ordnung>, sagte der Mann, der am Fenster Wache hielt.«91Viele gebildete Häftlinge hielten sich geistig und körperlich dadurch aufrecht, dass sie sich größere intellektuelle oder künstlerische Ziele setzten. Wer Begabung oder Talent hatte, fand durchaus praktische Anwendung dafür. In einer Welt, in der es an allem fehlte, wo elementarster Besitz enorme Bedeutung erlangen konnte, waren Menschen, die anderen etwas geben konnten, überall willkommen.
Dabei musste nicht alles, was Häftlinge für andere herstellten, praktischen Gebrauchswert haben. Die Künstlerin Anna Andrejewa war ständig gefragt, und das nicht nur von Mitgefangenen. Auch die Lagerleitung bat sie, einen Grabstein für eine Beerdigung zu schmücken, zerbrochenes Geschirr zu kitten, Spielzeug zu reparieren oder selbst herzustellen: »Für die Chefs taten wir alles, was immer sie wollten.«92 Ein anderer schnitzte kleine »Andenken« für seine Kameraden aus dem Stoßzahn eines Mammuts: Armbänder, Figuren zu »nordischen« Themen, Ringe, Medaillons oder Knöpfe.93
Im Museum der Gesellschaft Memorial in Moskau, das ehemalige Häftlinge aufgebaut haben, um die Geschichte der Stalinschen Unterdrückung zu erzählen, finden sich solche Dinge in Hülle und Fülle: Spitzenbortenstückchen, selbst gefertigter Schmuck, handgezeichnete Spielkarten und selbst kleine Kunstwerke - Malereien, Zeichnungen und Plastiken -, die Häftlinge bei sich aufbewahrten, in die Freiheit mitnahmen und später dem Museum schenkten.
Was Häftlinge leisten konnten, war nicht immer materiell zu greifen. So merkwürdig das klingt: Im Gulag konnte man auch um sein Leben singen, tanzen oder spielen. Das galt besonders für begabte Häftlinge in den größeren Lagern mit extravaganten Chefs, die sich mit Orchestern und Theatertruppen großtun wollten.
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Wenn der Kommandant von Uchtischemlag unbedingt ein richtiges Opernensemble haben wollte, dann bedeutete dies, dass Dutzende Sänger und Tänzer ihres Lebens sicher waren. Und zumindest während der Proben mussten sie nicht im Wald schuften. Wichtiger noch: Sie konnten sich zeitweise wieder als Menschen fühlen. »Wenn Schauspieler auf der Bühne agierten, dann vergaßen sie für eine Weile den ständigen Hunger, die Rechtlosigkeit und die Posten mit den Hunden, die draußen vor dem Tor warteten«, schreibt Alexander Klein.94
Manchmal fiel die Belohnung noch großzügiger aus. In einem Dokument aus Dmitlag wird die »Berufskleidung« beschrieben, die an die Mitglieder des Lagerorchesters ausgegeben wurde, darunter die heiß begehrten hohen Offiziersstiefel, und außerdem der Kommandant eines Lagpunktes angewiesen, die Musiker in einer eigenen Baracke unterzubringen.95
Selbst in kleineren Lagern konnten Künstler mit Vorzugsbehandlung rechnen. Nachdem Georgi Feldgun in einem Transitlager für eine Gruppe Krimineller auf seiner Geige gespielt hatte, wurde sein Essen besser. Das war für ihn ein merkwürdiges Erlebnis: »Wir sind hier am Ende der Welt im Hafen Wanino ... Und ich spiele zeitlose Musik, die vor über zweihundert Jahren geschrieben wurde. Vivaldi für fünfzig Ganoven.«96
Dmitri Panin erzählt von einem Artisten, einem Clown aus Odessa, der um sein Leben spielte. Er wusste, wenn er die Chefs zum Lachen brachte, konnte ihn das vor dem Straflager bewahren: »Das Einzige, was nicht zu seinem fröhlichen Tanz passte, waten seine großen dunklen Augen, die um Gnade zu flehen schienen. Niemals wieder habe ich eine so anrührende Vorstellung gesehen.«97
Von all den vielen Möglichkeiten, durch Kollaboration mit den Behörden zu überleben, erschien den Häftlingen das Auftreten in einem Lagertheater oder die Teilnahme an anderen kulturellen Tätigkeiten moralisch noch am unbedenklichsten. Das mag damit zusammenhängen, dass auch andere Gefangene etwas davon hatten. Selbst wer keine Sonderbedingungen herausschlagen konnte, empfand eine Theateraufführung als enorme moralische Stütze, die ihm eirn Überleben half »Für die Gefangenen war das Theater eine Quelle des Glücks, es wurde geliebt und bewundert«, schrieb einer.98
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Bei einem Konzert, erinnert sich Gustaw Herling-Grudzinski, »... setzten die Gefangenen an der Tür ihre Mützen ab, klopften sich draußen den Schnee von den Schuhen und nahmen in feierlicher Erwartung mit fast religiöser Andacht auf den Bänken Platz«.99
Vielleicht deshalb ernteten Gefangene, denen künstlerisches Talent ein besseres Leben ermöglichte, Bewunderung, nicht Neid oder Hass. Tatjana Okunewskaja, der Filmstar, der ins Lager geschickt wurde, weil sie sich weigerte, mit dem Chef der sowjetischen Abwehr, Abakumow, zu schlafen, erfuhr überall Anerkennung und Unterstützung. Bei einem Auftritt glaubte sie, man werfe ihr Steine vor die Füße. Als sie den Blick senkte, sah sie, dass es Konservenbüchsen mit mexikanischer Ananas waren - damals eine unerhörte Delikatesse, die einige Kriminelle speziell für sie beschafft hatten.100
Der Fußballspieler Nikolai Starostin stand bei den Urkas in hohem Ansehen. Wie er schreibt, lief über ihr Netzwerk die Botschaft von einem Lager zum anderen: Starostin darf kein Haar gekrümmt werden. Wenn er abends Fußballgeschichten erzählte, versammelten sich die Gefangenen um ihn, und selbst die Karten ruhten. Traf er in einem neuen Lager ein, wurde ihm ganz sicher ein sauberes Bett im Lagerhospital angeboten. »Das war immer das Erste, wenn ich einen Fan in der Lagerleitung oder unter den Ärzten hatte.«101
Eine erstaunlich große Zahl politischer Gefangener, die Memoiren geschrieben haben, führen ihr Überleben darauf zurück, dass sie »Geschichten erzählen«, das heißt, die Kriminellen unterhalten konnten, indem sie ihnen die Handlung von Romanen oder Filmen schilderten. Das mag unter anderem erklären, weshalb sie ihre Erinnerungen schriftlich festgehalten haben. In dieser Welt, wo Bücher und Filme eine seltene Ausnahme waren, stand einer, der spannend und farbig erzählen konnte, hoch im Kurs.
Finkelstein berichtet, er sei
»einem Verbrecherboss ewig dankbar, der diese Fähigkeit am ersten Tag im Gefängnis an mir erkannte und mir sagte: <Du hast bestimmt viele Bücher gelesen. Erzähl' sie den Leuten, und du wirst es gut haben.> In der Tat ging es mir besser als den anderen. Mich kannten alle ... Es kam vor, dass mich jemand ansprach und sagte: <Du bist doch Leontschik, der Geschichtenerzähler. Ich habe in Taischet von dir gehört.>«
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Wegen dieser Gabe lud ihn sein Brigadier zwei Mal täglich zu einem Becher mit heißem Wasser in seinen Unterstand ein. In dem Steinbruch, wo er damals arbeitete, »rettete er mir damit das Leben«. Finkelstein stellte fest, dass russische und ausländische Klassiker am liebsten gehört wurden. Viel weniger Erfolg hatte er mit neueren sowjetischen Romanen.102
Anderen erging es ähnlich. In dem heißen, stickigen Zug nach Wladiwostok erlebte Jewgenia Ginsburg, dass »das Vortragen von Gedichten ein einträgliches Geschäft« sein konnte. »Zum Beispiel <Verstand schafft Leiden> von Gribojedow: Nach jedem Akt wird mir aus einem Becher ein Schluck Wasser angeboten - für meine <gesellschaftliche Arbeit>.«103
Alexander Wat erzählte im Gefängnis einer Gruppe von Banditen Stendhals Rot und Schwarz.104) Alexander Dolgun schilderte die Handlung von Hugos Les Miserables.105 Janusz Bardach nahm sich Die drei Musketiere vor: »Ich spürte, wie mein Ansehen mit jeder Wendung der Geschichte stieg.«106 Als Antwort auf die Bemerkung eines Mafiabosses, die hungernden Politischen seien nichts als »Parasiten«, begann Colonna-Czosnowski
»meine eigene Version eines Filmes zu erzählen, den ich einige Jahre zuvor in Polen gesehen hatte. Es war eine Räuber-und-Gendarm-Geschichte, die in Chicago spielte. Auch Al Capone kam darin vor. Um die Sache spannender zu machen, mischte ich etwas von Bugsy Malone und sogar etwas von Bonnie und Clyde hinein. Ich kratzte alles zusammen, was mein Gedächtnis hergab, und erfand beim Erzählen eine Menge hinzu.«
Die Zuhörer waren offenbar beeindruckt und baten den Polen mehrmals, diese Story zu erzählen:
»Sie lauschten wie die Kinder. Es machte ihnen gar nichts aus, die gleiche Geschichte immer wieder zu hören. Wie Kinder wollten sie auch, dass ich stets die gleichen Worte gebrauchte. Bei der geringsten Abweichung oder Auslassung wurde heftig protestiert ... Drei Wochen später war ich ein anderer Mensch.«107
Künstlerische Begabung konnte einem Häftling auch das Leben retten, ohne dass er damit Geld oder Brot verdiente. Alexej Smirnow, der im heutigen Russland als Anwalt an führender Stelle für die Pressefreiheit streitet, erzählte mir die Geschichte von zwei Literaturwissenschaftlern, die im Lager einen fiktiven französischen Dichter des achtzehnten Jahrhunderts erfanden und im Stil jener Zeit Gedichte schrieben.108)
Irina Arginskaja half das ästhetische Empfinden. Selbst Jahre nach ihrer Entlassung aus dem Lager konnte sie noch von der »unglaublichen Schönheit« des Hohen Nordens schwärmen, wo ihr die Sonnenuntergänge, die riesigen Wälder und die unendliche Weite manchmal den Atem raubten.109
Aber diese Schönheit half nicht jedem, und sie wurde sehr subjektiv wahrgenommen. Dieselbe Taiga und die weite Landschaft erfüllten Nadeschda Uljanowskaja mit Abscheu: »Ohne es zu wollen, sehe ich immer wieder grandiose Sonnenauf- und -untergänge, Kiefernwälder und bunte Blumen, die aus irgendeinem Grunde nicht duften.«110
Diese Worte beeindruckten mich so sehr, dass ich bei einem sommerlichen Besuch im Hohen Norden die breiten Flüsse, die endlosen Wälder Sibiriens und die Mondlandschaft der arktischen Tundra mit anderen Augen sah. In der Nähe eines Lagpunktes bei Workuta pflückte ich wilde Blumen, um an ihnen zu riechen. Sie strömten eine starken Duft aus. Vielleicht hatte Uljanowskaja ihn einfach nicht bemerken wollen.
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