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1.  Harvard

  Ardila-1979

 

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Während das Flugzeug über den Kanal flog, dachte ich an meine vier Jahre in Harvard, an diese so wichtige Lebensphase, die vorbeigegangen war und nie mehr wiederkehren würde. Ich dachte an die Welt, die mich in Panama erwartete und an die Welt, die ich in Harvard zurückgelassen hatte. Vier Jahre...

Unglaublich: Eines schönen Tages hatte mein Doktorvater zu mir gesagt, daß meine Doktorarbeit angenommen worden sei und wir einen Termin für die mündliche Prüfung ausmachen müßten, die einige Wochen später stattfinden sollte. Das nächste Bild, an das ich mich erinnerte, war eine lange Parade, viele mit Toga und Barett bekleidete junge Männer, alles sehr förmlich, alles sehr künstlich, alles sehr falsch, alles ganz im Stil von Harvard.

Was ich am meisten bedauerte, in Harvard zurücklassen zu müssen, war mein kleines Studentenzimmer, mit dem Rasen davor, auf dem ich Tage und Nächte verbracht hatte, Tage und Nächte, in denen ich viele Bücher gelesen hatte, vor allem über experimentelle Psychologie, alles Bücher, von denen ich annahm, daß ich ihren Inhalt auswendig wissen müßte, um die Doktor­würde zu erlangen. 

Doktor der Psychologie in Harvard. Eine etwas bürokratische, etwas merkwürdige und etwas phantastische Angelegenheit. Nur, was sollte ich jetzt mit meinem Doktor in Südamerika anfangen? Eine Möglichkeit war, in den Vereinigten Staaten zu bleiben, natürlich nicht in Harvard, sondern vielleicht in Alabama oder in Süd-Dakota oder an irgendeiner anderen Universität, wo sie mich brauchen würden.

Es bestand immer die Möglichkeit, ein "Professor" zu werden und heraus­zufinden, warum die Ratten im Labor den Prinzipien Skinners und nicht denen Hulls folgten. Das hätte dann bedeutet, für die Zeitschriften der APA, der nordamerikanischen Psychologen-Vereinigung, Beiträge zu schreiben und auf den jährlichen Zusammenkünften dieser erlauchten Gesellschaft meine Arbeiten vorzutragen.

Nein, eigentlich wollte ich mein Zimmer in Harvard nicht aufgeben. Die Vereinigten Staaten konnten von mir aus zum Teufel gehen, wie sie es vermutlich früher oder später auch tun würden, mir war das egal. Aber Harvard war etwas anderes, das war ein Mythos, eine Stätte des Wunders, eine Halluzination. Und wenn auch die USA irgendwann zusammenstürzten, würde doch immer noch mein Zimmer da sein, mein Zimmer, in dem ich vier Jahre lang studiert hatte, mit meinen Freunden Bier getrunken hatte, in dem ich auch damals versucht hatte, Karen in mein Bett zu kriegen. Karen, dieses junge Mädchen mit blauen Augen und einem ausgesprochen einfältigen Lächeln, die, als ich sie küßte und meine Hand auf ihre Brust legte, eine entsetzte Miene machte, sich losriß, zur Treppe rannte und für immer verschwand.

Mein Zimmer war der Angelpunkt meines Lebens gewesen. Dort waren meine Bücher, meine Musik, meine Bilder, auch ein Foto meiner Eltern, das vor vielen Jahren in Südamerika aufgenommen worden war, bevor ich nach Harvard ging. In diesem Zimmer also befand ich mich eines Tages und schaute ins Leere, als Pierre, ein Franzose, der im Zimmer nebenan wohnte und auch an einer Doktorarbeit in Psychologie arbeitete, eintrat und mir ein Heft einer psychologischen Zeitschrift in die Hand drückte.

"David, schau mal, in Panama suchen sie einen Psychologieprofessor für ihre Zentraluniversität. Du bist doch aus Panama, nicht? Oh, entschuldige, natürlich bist du es nicht. Aber warum bewirbst du dich nicht mal um diese Stelle? Sie ist für dich wie maßgeschneidert. Mensch, ich würde sofort gehen, wenn ich nur Spanisch könnte. Nur du weißt ja, daß es für mich ein Martyrium war, Englisch zu lernen, und Spanisch, das wäre einfach zu viel für mich. Aber du, alter Freund, du bist genau der richtige Mann für diesen Job."

"Panama?"

"Ja, Panama, dort wo der Kanal ist, das Tor nach Südamerika; ich glaube, alter Freund, daß du dich dort wie zu Hause fühlen würdest. Es ist ein Zweijahresvertrag, und sie übernehmen für dich und deine Familie die Hin- und Rückfahrtkosten; außerdem gibt es einen Tropenzuschlag ... Ich finde das merkwürdig. Eigentlich müßte man uns einen Zuschlag zahlen, damit wir in diese kalte Gegend kommen, aber dafür, daß wir nach Panama gehen ... Mein Gott, die Welt ist schon verrückt ..."

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"Panama, Panama..."

"Ja, das Land, in dem die Amerikaner aufgebaut und zerstört haben, dort, wo sie eine Zone für sich geschaffen haben, mit Grünanlagen, Schulen, Fernsehen und Nachrichten in englischer Sprache, und vor allen Dingen: mit elektrischen Zäunen, damit die Panamaer nicht einfach hinein und ihre schmutzigen Füße auf diese ungeheure Schönheit setzen können. Panama, wo die einheimische Währung immer gleich dem Dollar ist, wo es mehr Analphabeten gibt als im übrigen Lateinamerika, wo du aber die neuesten amerikanischen Automodelle findest, während die Hälfte der Bevölkerung kein Geld hat, um sich Schuhe zu kaufen. Genau das Land für jemand wie dich, wo du dich so für Soziologie interessierst. 

Habe ich dir nicht schon einmal gesagt, daß du lieber Soziologe hättest werden sollen anstatt Experimentalpsychologe? Dich interessieren eben mehr die sozialen Probleme, wenn du auch ein recht wortkarger Typ bist, der eher gleichgültig erscheint; aber im Innersten brennst du, wenn du siehst, daß irgendwelche schlimmen Sachen passieren... Ich weiß noch genau, was dich bewegte, an dem Tag, als Martin Luther King ermordet wurde und du Zeuge wurdest, wie die Schwarzen die Hauptstadt der Vereinigten Staaten niederbrannten. Ganz und gar brannte die schöne Stadt — Gebäude, Bäume, Leute, sogar die Seen und Monumente —, alles verging, und am Horizont war ein roter Fleck, wie von Blut. 

Ich erinnere mich, wie du sagtest, das sei nur der Staub, der die Farbe der Brände reflektiere, aber ich weiß, daß du eigentlich glaubtest, es sei das Blut, das Blut von Doktor King, das Blut der von den Weißen gemordeten Schwarzen und der von den Schwarzen gemordeten Weißen. Washington brannte und du branntest genauso, und ich sagte mir damals, zum Teufel, dieser Dave interessiert sich für diesen ganzen Scheißladen, für die Schwarzen, die ein besseres Leben fordern, und die Weißen, die alles mögliche tun, um es ihnen ja nicht geben zu müssen... Du bist..., ich meine, Mensch, du mußt halt endlich deinen Gefühlen und deinen sozialen Interessen folgen, du mußt dich eben um diesen riesigen Saustall kümmern, der diese Welt des zwanzigsten Jahrhunderts ist! Deshalb rate ich dir, geh nach Panama! Dort gibt es keine Schwarzen, die nach sozialer Gerechtigkeit schreien, und auch keine Weißen, die die Schwarzen killen. 

Aber dort sind die Gringos, die den Panamaern das Blut aussaugen, und der Tag wird kommen, an dem das alles explodiert... Sag bloß, du findest das nicht lustig...?"

"Lustig...! Und du, warum gehst du nicht dahin?"

"Ich hab' dir doch schon gesagt, Junge, diese verdammte Sprache! Als mir mein Professor die Ergebnisse des ,Differentiellen Eignungstests' mitteilte, sagte er mir, daß ich in vielen Bereichen gut sei, in Mathematik, Psychologie,

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Physik, allen Naturwissenschaften, aber auch, daß die Sprachen wirklich nicht meine Stärke sind, nun ja, so ist das Leben, c'est la vie!... Ich würde gerne in die Dritte Welt gehen. Das ist ein Pulverfaß, ein richtiges Laboratorium, viel besser ausgestattet als diese teuren Laboratorien, die wir hier im Williams-James-Gebäude der Harvard-Universität haben."

"Ich werd's mal überschlafen, Pierre. Ich weiß nicht recht, was ich überhaupt machen soll. Ich habe mich vier Jahre lang in meinen Büchern total vergraben und weiß eigentlich gar nicht, was draußen in der Welt vor sich geht."

"Ja, alter Junge, du dachtest wahrscheinlich, wenn man nach Harvard geht, dann ist man in einem richtigen Elfenbeinturm ohne Fenster eingeschlossen und muß immer nur studieren, morgens, mittags und abends, die ganze Woche, auch samstags und sonntags. Ich fand die Vorstellung ganz wundervoll, nach Amerika zu kommen. Oh, Verzeihung, nach Nordamerika, ich weiß doch, daß ihr Südamerikaner auch Amerikaner seid und daß ihr gleich sauer seid, wenn die Gringos (der Teufel möge sie holen) den Namen ,Amerikaner' für sich reservieren... Jedenfalls, als ich damals in Frankreich endlich die Zulassung für Harvard erhielt, fühlte ich mich wie im siebenten Himmel! 

Das ist lange her, sehr lange! Ich weiß gar nicht mehr, wie lange, ich glaube, fünf Jahre oder länger. Hier lernte ich dann ein paar ganz gute Professoren kennen, aber auch viele mittelmäßige Leute, snobistische Typen, einfache, pedantische, nette, von allem etwas. Ich lernte eine Menge Ausländer wie dich kennen, den Sohn des Schahs von Persien zum Beispiel, und den Neffen des Königs von Griechenland, und andere Vögel dieser Art. Harvard war überhaupt eine einzige Erfahrung. So daß ich mich jetzt noch nicht von dem Schrecken erholt habe."

"Für mich war Harvard liebenswert und nicht übermäßig schwierig."

"Klar. Das Schwierige ist eben der Anfang. Wenn erstmal die Kugel rollt, machst du dann deine Prüfungen, schreibst das, was die Professoren von dir lesen oder hören wollen, lügst ein bißchen, widersprichst dir auch ein bißchen, machst ein paar belanglose Untersuchungen, die zwar überhaupt nichts zum Fortschritt der Wissenschaft beitragen, aber methodisch perfekt sind, mit signifikanten Ergebnissen auf dem Ein-Prozent-Niveau, und schließlich erhältst du eines schönen Tages deinen <Master-Titel>, und noch ein paar Jahre später hast du unversehens deinen Doktor. Ph. D. der Psychologie! Mein Gott, ist das nicht toll, wirklich <great>? Und was werde ich tun? Ich gehe natürlich nicht zurück nach Frankreich, ich bleibe in Amerika, ändere meinen Namen in <Peter>, heirate eine Amerikanerin und bekomme ein paar richtige weiße amerikanische Kinder. Frankreich hat mich enttäuscht, mein lieber Freund..."

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"Aber ich weiß nicht, was ich machen soll; eigentlich möchte ich gern nach Lateinamerika zurückkehren, in die Dritte Welt."

"Ja, dort hast du eine ganze Welt, die du mit aufbauen kannst. Europa dagegen ist doch tot und begraben, das ist ein Museum, und man kann nicht in einem Museum leben. Die Zukunft liegt auf dieser Seite des Atlantiks, in Kuba, Kolumbien, im riesigen und grünen Brasilien, in Kanada..., eingeschlossen diese Vereinigten Staaten, die der Teufel holen möge. Nein, ich gehe nicht zurück nach Frankreich. Wenn ich nur an meine Mutter denke oder an meine Brüder, die jeden Mittag Wein trinken und den halben Tag betrunken sind, oder an meinen Vater, der tagaus, tagein in sein Cafe geht, über Politik räsoniert und sich lächerlich macht. 

Wir sind Bauern, weißt du. Ich bin mit einem Stipendium nach Amerika gekommen, wie du, wir sind beide die gleichen armen Teufel, und das inmitten des reichsten Landes der Welt. Mein Vater wird weiter der arme Teufel bleiben, der er immer war, und meine Brüder werden weiter die armen Bauern in Frankreich sein, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang schuften. Weißt du, ich würde gerne zurückgehen, um sie wiederzusehen. Und ich denke oft an die traurigen Augen meiner Mutter, die mir auf dem Flughafen Adieu sagten, als das Flugzeug startete, das mich von Paris nach Boston brachte. Das ist nun schon eine Ewigkeit her. Jetzt gehöre ich zu diesem Teil der Welt. Vielleicht gehe ich nach Kanada, in den französischsprechenden Teil, oder ich bleibe in Amerika."

"In Nordamerika, meinst du wohl..."

"Klar."

"Panama. Wenn ich früher an dieses Land gedacht habe, dann nie als Arbeitsplatz für mich. Aber vielleicht sollte ich mich tatsächlich mit diesem Gedanken anfreunden. Allmählich glaube ich, daß das gar keine so schlechte Idee ist, Pierre..."

Ein paar Wochen später verabschiedete ich mich von meinen Studienfreunden und verließ die Vereinigten Staaten mit dem Ziel Panama. Es war ein herzlicher, einfacher Abschied, weil die angelsächsische Kultur den sichtbaren Ausdruck von Gefühlen nun einmal nicht gestattet. Es war klar, daß ich gehen mußte, weil es nicht gut war, in Harvard zu bleiben, nachdem ich meinen Doktor geschafft hatte und mich einzig damit befassen konnte, mich an die vergangene Zeit zu erinnern, durch die Laboratorien des William-James-Gebäudes zu gehen und den glücklichen Erfahrungen und Erinnerungen nachzuhängen, die ich mit Harvard verband.

Das Flugzeug drehte eine Kurve über Panama-City, und ich verrenkte meinen Hals, um möglichst viel zu sehen. Dort also lag mein neues Zuhause für die nächsten paar Jahre. Eine typische Stadt der Tropen, ziemlich groß, und dank ihres berühmten Kanals Hauptstadt eines wichtigen zentral-amerikanischen Staates.

Panama — was würde mich hier erwarten? Ich war froh und traurig zugleich. Ich mußte an mein Zimmer in Harvard denken, an meine Freunde, an die traurigen Gesichter dort, die fröhlichen Gesichter, die lachenden Gesichter, die besorgten Gesichter, an all die vielen Gesichter, die ich in meiner Vergangenheit zurückgelassen hatte und an die vielen Gesichter, die ich in meiner neuen Welt treffen würde. In der Dritten Welt.

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