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2.  Martin Luther Rey 

  Ardila-1979

 

15-20

Der Raum war voller Rauch, und man sah fast nichts. Viele Stimmen waren zu hören, Englisch oder Spanisch mit starkem englischen Akzent, Lieder, Lachen. Ich war erst spät gekommen, weil mir nicht viel daran gelegen war, an diesem Ereignis teilzu­nehmen, und ich mich erst in letzter Minute dazu entschlossen hatte. Die (nord)amerikanischen Professoren der Universidad Central gaben eine Party, und ihnen war meine Anwesenheit sehr wichtig, weil ich kurz zuvor aus den Staaten herübergekommen war. 

Außerdem wollten sie mir wohl einen Gefallen tun, weil ich noch niemanden in der Stadt kannte. In dem Raum waren eine ganze Menge Leute, und nicht nur Universitätsprofessoren. Es war schon sehr spät, nach Mitternacht, und die ganze Gesellschaft war ziemlich angesäuselt, wie mir bald klar wurde. Viele sangen irgend etwas, umarmten einander oder lachten schallend...

"David González! Welcome! Wie schön, Sie hier zu haben. Kommen Sie, mein Lieber, ich möchte Ihnen ein paar Leute vorstellen — Mr. Duffy, Dr. Swanson, Mrs. Campbell ... Machen Sie sich's bequem, Dave. Sie kommen zwar spät, aber wir freuen uns sehr, daß Sie überhaupt gekommen sind."
"Entschuldigen Sie das Durcheinander hier, David. Ich darf Sie doch bei Ihrem Vornamen anreden?"
"Aber sicher, Senora."

"Ja, ja, so sind die Amerikaner! Ein Fest wie dieses kommt ihnen sehr gelegen, da können sie sich vergnügen und betrinken bis zum Umfallen. Freitag nacht — oder genauer: Samstag morgen, schließlich ist es ja schon sehr spät, by the way —, das ist der Tag des ,Es', die ganze Gesellschaft läßt ihren bösen Instinkten freien Lauf... So sind wir Amerikaner. Ich bin nach Panama gekommen, zusammen mit meinem Mann — ich weiß gar nicht, wo er jetzt ist, vermutlich in einem anderen Saal —, vor vielen Jahren. Wir wollten eigentlich nur ein Jahr, höchstens zwei Jahre bleiben, ich hab's schon vergessen ..."

"Gefällt es Ihnen hier nicht?"

"Nein. Dies hier ist doch ein Land der Schwarzen. Alles läuft so völlig ohne Organisation; ich hasse die verdammte Hitze hier, die Leute, das politische Durcheinander, ich will nach Wisconsin zurück, es gibt nichts Schöneres als Wisconsin. Waren Sie schon einmal in Milwaukee?"

"Nein, noch nie."

"Ich habe gehört. Sie sind neu hier und kommen gerade aus den Staaten. Und Sie wollen versuchen, die Esel zu erziehen, die diese Universität besuchen. Sie hätten lieber in den Staaten bleiben sollen. Dort ist alles sauber, funktional, so schön geordnet. Ich geh' bestimmt eines Tages wieder dorthin zurück..."

Aus dem anderen Saal hörte man, wie eine Gruppe von Leuten Lieder aus dem Spanischen Bürgerkrieg sang, einige in Englisch, einige in Spanisch mit einem fürchterlichen Akzent. Ich sah mir die übrigen Anwesenden an, es schien kein einziger Panamaer darunter zu sein. Fast alle waren offensichtlich Nordamerikaner, und es herrschte auch die englische Sprache vor. Ich fühlte mich unbehaglich, weil ich nur zwei oder drei Personen kannte und niemand aus meinem Kulturkreis da war. Dann hörte ich eine Bande betrunkener Männer singen...:

"jCuándo serä Dios del cielo, que la tortilla se vuelva!
jCuándo serä Dios del cielo, que la tortilla se vuelva!
Que los pobres coman, pan, que los pobres coman pan
y los ricos imierda, mierda!
Que los pobres coman, pan, que los pobres coman pan
y los ricos imierda, mierda!"

(Was soviel bedeutete wie: Wenn Gott erstmal im Himmel ist, dann wird sich das Blatt schon wenden, dann werden die Armen Brot und die Reichen Scheiße fressen...!)

Es war ein einziges Chaos, aber ein ganz lustiges Chaos. Also nahm ich mir einen doppelten Whisky mit Soda an der Hausbar und ging von einer Gruppe zur anderen. Einer der Herren Professoren erzählte gerade auf Englisch eine Geschichte von einem besonders dummen Studenten, und ich ging ein bißchen näher heran, um mir das anzuhören.

"... Ich glaubte also, das Beste für den armen Perez sei es, ein Buch von Gamow zu lesen, nachdem er sich so total unfähig gezeigt hatte, die Grundprinzipien der modernen Physik zu kapieren. Wahrscheinlich sind sie überhaupt zu schwierig für die Gehirne der Lateinamerikaner... Hahaha! Dann gab ich ihm also das Buch von Gamow, ich weiß nicht mehr, welches, natürlich in spanischer Übersetzung.

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Und in diesem Buch gab es eine historische Beschreibung der Schwierigkeiten und Probleme, die die Wissenschaftler durchzustehen hatten, bis sie die Prinzipien der Entropie entdeckt hatten. Und es enthielt auch ein kleines Gedicht, das nicht ganz ernst gemeint war und lautete: ,Abnehmen, zunehmen, zunehmen, abnehmen, was interessiert mich schon, was die Entropie macht!' — Nun gut, der Esel von Perez las also dieses Buch, und es gefiel ihm sehr gut, und als ich ihn ein paar Tage später traf, sagte er zu mir, am meisten Spaß habe ihm ein kleiner Vers gemacht, der lautete: ,Zunehmen, abnehmen, abnehmen, zunehmen, was interessiert mich schon, was die Elektrotherapie macht!'"

Die ganze Gesellschaft brüllte vor Lachen, und ich lachte mit, obwohl ich mir eigentlich nicht vorstellen konnte, daß irgend jemand Entropie mit Elektrotherapie verwechselte, aber was soll's...!

,,... Jedes Volk bekommt, was es verdient", sagte eine Stimme aus einer Ecke, im besten Midwest-Englisch. "Wir haben Nixon, Johnson, Carter und die anderen Idioten verdient, und diese Lateinamerikaner verdienen ihre Diktatoren, ihre Militärs, ihre Perons..."

"Ich habe die Lösung für Panama: Panama muß einfach zum 51. Staat der USA werden, oder zum 52., nach Puerto Rico... Dann sind sie hier alle Amerikaner und können stolz darauf sein, daß wir hier sind, mit dem Kanal und allem anderen."

"Da gibt es aber ein Problem, Mensch. Das Niveau dieser Rasse sinkt immer mehr ab. Hier gibt es allzu viele Farbige, fast alle sind Farbige. Dabei haben wir selbst schon genug Durcheinander in Alabama oder Chicago mit den Schwarzen, die laufend Rassenunruhen anzetteln und ganz Amerika anzünden wollen, von der kanadischen bis zur mexikanischen Grenze... Armes Amerika. In Brand gesteckt von seinen bösen Adoptivsöhnen, die aus Afrika kamen, um auf den Baumwollplantagen im Süden zu arbeiten..."

"Diese brutalen Kerle!"

"Auf daß sich das Blatt endlich wende... daß wir dann Scheiße fressen und sie in der Kanalzone leben dürfen, mit den sauberen Schulen und den gepflegten Straßen, den Palmen und Supermärkten, dem Überfluß, den Dollars und Cadillacs... Und wir wären dann auf den dreckigen Straßen von Panama-City oder Colón, ohne Schuhe, von der Sonne verbrannt, arbeitslos, mit einer schwangeren Frau zu Hause, einem kranken Kind, ohne Geld, um die Miete zu bezahlen."

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"In einer amerikanischen Zeitung habe ich mal ein Dankgebet, <Thanksgiving>, gelesen, das sich über die Unterentwicklung lustig machte. Die Lateinamerikaner, hieß es, müßten beim Dankgottesdienst so beten: <Herr im Himmel, ich danke dir für meine kranke Frau, für meinen Säufer-Vater, für meinen Bruder, der starb, obwohl man seine Krankheit hätte heilen können, für meinen rachitischen Sohn, für meine Mutter, die den ganzen Tag betet, anstatt zu arbeiten, für die Kinder, die auf den Straßen schlafen müssen, für die Ratten, die in mein Haus kommen und für die Küchenschaben, die mit mir meine Ration Reis teilen... Ich danke dir, o Herr...>"

"Und jetzt gibt es sogar einige hier in Panama, die Kommunisten sind. Die ganze Welt weiß es. Ihre erste Aktion war, die amerikanische Flagge zu verbrennen und Steine auf die Häuser der feinen Leute zu werfen. Weil nämlich die feinen Leute auf unserer Seite sind, weißt du. Diese Hurensöhne sind Studenten und außerdem Kommunisten und werden sich als nächstes organisieren und dann Guerilleros werden. Sie wollen nach China gehen, um dort zu lernen, wie sie uns, die Amerikaner, ein für allemal aus Panama hinauswerfen können. Aber sie sind so dumm, daß sie nur reden und nichts tun. Die Panamaer reden und reden und reden. Zu guter Letzt werden sie älter und bekommen eine Stelle in einer amerikanischen Firma, und dann hört es auf mit dem revolutionären Geist. Es sind ewige Pubertierende, diese Armen."

"Mir tun sie eigentlich leid, Swanson. Ich glaube, sie sind gar nicht so schlecht."

"Leidtun! Das Leben ist ein Kampf, nur die Fähigsten und Stärksten überleben. Ich bin besoffen, ich weiß. Und ich bin wütend und hasse diese Panamaer und hasse meine Arbeit und hasse dieses Land der Farbigen. Ich will zurück in die Zivilisation, nach Amerika. Wenn ich auch betrunken bin, so will ich doch ehrlich anerkennen, daß sie stark sind und daß man vor ihnen Angst haben muß. Ihr Führer, der Führer der Linken, ist ein Kerl von 21 Jahren, der sich Martin Luther Rey nennt. Was für ein Zufall, was? Er ist ein Schwarzer. Schwärzer als der Hintern vom Teufel. Ich glaube, er ist Student und gleichzeitig beim Militär. Und er ist schwarz. Schwarz wie das Gewissen der Kommunisten. Und sehr gefährlich."

"Martin Luther Rey ... Martin Luther King ..."

"Es wird halt ein Pseudonym sein, niemand kann so heißen. Aber egal, ob er wirklich so heißt oder nicht, ich hoffe nur, daß jemand eines Tages eine gute Idee hat, wie man ihn um die Ecke bringen kann."

Eine ganze Menge Leute hörte diesem Mann von unbestimmtem Alter, mit seinen blutunterlaufenen Augen, zu. Viele tranken und sangen weiter.

Bald darauf befand ich mich, ohne zu wissen wie ich dahin gekommen war, in einer Gruppe junger Leute, in einem anderen Raum. Es war kurz vor Tagesanbruch, und alle hatten überreichlich getrunken. Ich verstand sowieso nicht, wie es in diesem riesigen Haus, zu dieser Zeit, bei soviel Eingeladenen überhaupt noch genug Whisky für alle geben konnte.

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Ich war hungrig, schwitzte, war ohne Krawatte und außer Atem. Mein Gesprächspartner war ein junger Mann, der aussah, als wäre er um die 25 Jahre alt — wie auch ich aussah —, und der einem Negerathleten glich, einer Art Boxchampion. Aber er hatte feine Züge, intelligente Augen und ein anziehendes männliches Lächeln.

"... Psychologe aus Harvard also?" sagte er zu mir. "Wer weiß, vielleicht bist du der Mann, den ich brauche, um die Welt zu verändern. Kennst du wirklich Skinner? Ich habe viel von ihm und über ihn gelesen, seine Bücher, seine Ideen, diese eigenartigen Ideen, die er über Freiheit und Würde hat. Ich glaube, daß Skinner wirklich Macht hat, sie aber nie ausspielte. Er ist ein Wissenschaftler, der einzige Mensch, der weiß, wie man mit Menschen und ihren Problemen fertig wird. Ich habe großen Respekt vor der wissenschaftlichen Psychologie. Als ich Student der Politikwissenschaft in den Vereinigten Staaten war, habe ich Kurse in Psychologie besucht, und dann immer für ihn Partei ergriffen. Ich glaube bloß, daß ihn in Wirklichkeit nie jemand richtig verstanden hat —, und daß seine Ideen die Welt ändern könnten."

Ich schaute ihn an, ohne etwas zu sagen. Er sprach mit großer Begeisterung, fast mit religiösem Eifer. Ich hatte mich eigentlich seinerzeit wenig zu Skinner hingezogen gefühlt; tatsächlich war der Halb-Gott des Behaviorismus in dieser Zeit auch mehr ein Philosoph als ein Laboratoriumsforscher, und in Harvard nahm ihn niemand mehr allzu ernst. Natürlich respektierte man ihn; aber man dachte, daß seine Zeit eigentlich vorüber war.

"Die Psychologie ist die wichtigste aller Wissenschaften, sie ist die Wissenschaft der Zukunft", fuhr mein Gegenüber fort, "ich hätte gerne Psychologie studiert, wenn ich den Mumm gehabt hätte. Aber andererseits glaube ich, daß die Probleme der Politologie und der Politik dringender und wichtiger sind, entscheidender und dramatischer als die Probleme der Psychologie. — Wir wollen Freunde sein, Professor. Ich werde eine politische Karriere machen, die diesen Planeten erzittern lassen wird. Ich werde die Welt umkrempeln, den Lauf der Geschichte verändern. Von mir wird man überall auf der Erde reden, wie man von Castro oder Lenin oder Chomeini oder gar Jesus redet. Ich will, weißt du..."

"Und welche Rolle soll dabei die Psychologie spielen, wie stellst du dir das vor?"

"Die Psychologie? Also du, besser gesagt? Welche Rolle...? Entschuldige, das ist dieser verdammte Whisky. Ich glaube, daß die Verhaltens- und Lernpsychologie die Prinzipien und Gesetze hat, um die Welt ändern zu können, aber sie hat nicht die Macht dazu. Ich jedoch habe die Macht, sehr bald; das glaube ich jedenfalls. Ich will, daß du mit mir zusammen bist. Ich will, daß du mir hilfst, die Welt zu verändern, mit Hilfe deiner Wissenschaft, daß wir eine perfekte Gesellschaft bauen, eine Utopie, besser als die Träume von Skinner, Platon, Thomas Morus. Ich habe alle Fehler, die es gibt auf dieser Welt, ich bin ein total frustrierter Typ, ich bin ein Mörder in Potenz, ich bin... nein, ich sag' dir lieber nicht mehr. Aber, Professor, ich habe auch meine Qualitäten. Ich habe das, was euch fehlt: Mut, und ihr habt, was mir fehlt: Wissenschaft, Wissen ..."

"Wo haben Sie studiert?"

"In der Schule des Lebens, hermanito. Ich kam aus dem Dreck und boxte mich hoch, reiste, studierte, bekam ein paar Titel, erkletterte ein paar gute Positionen. Ich habe jetzt eine hohe Stellung beim Militär. Obwohl ich schwarz bin, habe ich viel erreicht. Ich bin jung wie du, hermanito. Wie alt bist du denn?"

"Ich werde 27."

"Du wirkst jünger, in der Tat. Egal, jedenfalls möchte ich, daß du mein Freund bist, du heißt David, nicht wahr? Doktor David González, Doktor der Verhaltens- und Lernpsychologie, aus Harvard, erworben bei Skinner. Zusammen können wir das größte wissenschaftliche und soziale Experiment der Geschichte machen. Ich bin schwarz, aber stark und intelligent, ich will hoch hinaus, ich will ... Gib mir noch einen Schluck, David, ich fühle mich plötzlich elend ... du weißt, es ist schon spät ..."

"Wie heißen Sie eigentlich?"
"Ich bin Martin Luther Rey ..."

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