3. Die Revolution
Ardila-1979
21-26
Die Zeit verging, während ich zu meinen alten Tätigkeiten an der Universität zurückkehrte. Ich las und studierte weiter. Ich wollte ein experimental-psychologisches Laboratorium aufbauen, mit den üblichen Tauben, Ratten und Aufzeichnungsgeräten für Verhalten, aber es gelang mir nicht. Der Dekan meinte, die Studenten wären aus Prinzip dagegen, weil diese Psychologie "imperialistisch" und "faschistisch" wäre.
Die Studenten dagegen interessierten sich nicht die Bohne für das Labor; aber immerhin glaube ich, daß ich mir bei ihnen bald den Ruf eines guten Professors erwarb. Ich kümmerte mich auch eine Menge um meine Studenten. — Aber ich mußte ständig kämpfen. Ich mußte lernen und lehren, elementare Dinge lehren, von denen ich annahm, daß die Leute sie schon längst wußten.
Die Bücher, die ich mir bestellte, kamen nicht. Niemand erhielt irgendwelche Fachzeitschriften. Im Land gab es weder Kongresse noch wissenschaftlich ausgebildete Psychologen. Die Leute reisten zwar viel, aber nicht aus akademischen Interessen. Und zweifellos glaubte niemand, daß man hier überhaupt Wissenschaft betreiben könne. Ich gab die Hoffnungen nicht auf, aber die Zeit verging — sie verging nutzlos.
Langsam verlor ich immer mehr den Glauben an eine experimentelle, eine "Labor"-Psychologie. Ich verlor auch den Bezug zu meiner akademischen Disziplin, zu meiner Universität, und zu allem, was vorher für mich einmal wichtig gewesen war. Es war ungefähr, wie wenn man sich einen Fluß hinuntertreiben läßt, ohne zu wissen, wo man schließlich ankommt — auf alle Fälle aber nicht an der richtigen Flußmündung. Ich fühlte mich verloren, im Raum schwebend, ich fühlte mich in einer fremden Welt. Wo lebte ich eigentlich? In Uganda, in Paraguay, auf den Philippinen? Keine Ahnung, keine Erinnerung. Auf alle Fälle war es die Dritte Welt. Und ich hatte sie mir ausgewählt, war mir dabei ihrer Grenzen wie ihrer Möglichkeiten bewußt gewesen.
Jahre vergingen. Ich weiß nicht, wie viele, auf jeden Fall eine Menge. Meine Eltern kamen mich ein paarmal besuchen. Eines Tages starb meine Mutter, und mein Vater zog zu meiner Schwester und deren Mann. Jedes Mal sah ich weniger von meinen Verwandten, obwohl ich eigentlich in Kontakt mit ihnen bleiben wollte. Jedes Mal, jedes Jahr reiste ich weniger, ging weniger auf Kongresse, las weniger wissenschaftliche Zeitschriften. Die Vergangenheit verflüchtigte sich immer mehr, und ich wurde der gleiche durchschnittliche, mittelmäßige Typ wie es meine Kollegen an der Universität waren, für die das einzig Wichtige das Gehalt und das geschickte Ausweichen vor den Problemen der Studenten war.
Das Land hatte eine demokratische Regierung, aber die Dinge liefen sehr schlecht. Es gab viele soziale und wirtschaftliche Probleme, es gab eine hohe Arbeitslosigkeit. Die Militärs drohten mit der Machtübernahme und der Errichtung einer rechten Diktatur. Die Studenten haßten die Regierung und haßten das Militär und erklärten, daß die einzige Lösung ein System kubanischer Art sei. Die Professoren schließlich hatten Angst vor der Regierung, und sie hatten Angst vor dem Militär, aber am meisten hatten sie vor den Studenten Angst.
Ich war sehr einsam. Ich fühlte mich fremd. Ich hatte weder Kontakt zu meinem greisen Vater noch zu den Studienkameraden aus der Harvard-Zeit. Ich reiste kaum noch. Ich glaubte, daß mein Leben leer war und ohne Sinn verging. Schuld daran waren sicher zum Teil meine Schüchternheit, meine Introvertiertheit und meine Unfähigkeit, neue Freunde zu gewinnen. Manchmal dachte ich daran zu heiraten, weil dies vielleicht meine existentiellen, meine Lebensprobleme lösen würde. Es gab da einige ebenso vollschlanke wie dumme und in mich verliebte Mädchen, die man ohne Schwierigkeiten dahin hätte bringen können, in eine Heirat einzuwilligen. Es gab auch eine, die weder dick noch dumm war, die mir zwar sehr gefiel, weil sie meine trüben Gedanken verscheuchte, bei der aber mein Fehler offensichtlich darin bestand, daß ich die ihren nicht verscheuchen konnte.
Kurzum, es war ein leeres und steriles Leben, simpel und sinnentleert. Wie das des größten Teils der Herren Universitätsprofessoren des Landes. Manchmal fragte ich mich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, in den Staaten zu bleiben, wie mein Freund Pierre, und Lernpsychologie irgendwo in Alabama oder Süddakota zu lehren und ständig Artikel in den Zeitschriften der APA zu publizieren.
Dann kam der Morgen, an dem die Zeitungen sensationelle Nachrichten brachten. Die Regierung war gestürzt und durch eine Militärjunta ersetzt worden. Eigentlich war das keine besonders alarmierende Nachricht, weil dies jeden Tag in vielen Ländern der Dritten Welt passierte.
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Ich las die Nachricht mit einer gewissen Lässigkeit, während ich im Begriff war, mich anzuziehen und zur Universität zu gehen. Aber diesmal war der Putsch weder in Bolivien noch in Sambia, sondern in Panama geschehen. Und gar nicht weit von meinem Haus entfernt. Man konnte fast sagen, direkt vor meiner Nase.
Diese neuen Diktatoren interessierten mich wenig. Sie konnten machen, was sie wollten, wenn sie mich nur in meiner Mittelmäßigkeit und Einfalt belassen würden. Alle Tage stürzte in irgendeinem Land der Dritten Welt eine Regierung und wurde durch Militärs ersetzt. Zum Skandal der Welt, zur Schande aller. Das Gesetz des Stärksten, der Sozialdarwinismus, die Waffen herrschten überall. Im Grunde interessierte mich das alles überhaupt nicht. Von mir aus sollten die Diktatoren krepieren. Schließlich wollten sie das so — sie mit ihren messianischen Phantasien und ihrer Sucht, auf den Titelseiten der Zeitungen zu protzen und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten den Schlaf zu rauben ...
"David, du wirst am Telefon verlangt", sagte einer der Professoren, der in mein Büro kam. Ich las gerade die letzte Nummer des American Psychologist und überlegte, warum die Gringozeitschriften die letzten drei Artikel, die ich ihnen zur Prüfung geschickt hatte, abgelehnt hatten. Zugegeben, es waren recht bescheidene und einfache Untersuchungen aus der Dritten Welt, aber ich dachte, daß sie wichtig seien, und daß ... schließlich ...
"Ja, hier ist Professor González von der Universidad Central, Sie wünschen ...?"
Als mich die Stimme am anderen Ende des Telefons bat, sofort in den Nationalpalast zu kommen, verstand ich überhaupt nichts mehr. Was sollte das bedeuten? Ich? In den Palast des Präsidenten kommen? Was hatte ich denn getan, was hatte ich verbrochen?
"Es ist ein Befehl, Doktor. Wir erwarten Sie am Tor, um Sie zum General zu bringen."
Glücklicherweise hatte es Gott — oder die Natur — so eingerichtet, daß Introvertierte weder Aufregung noch Angst zeigen, und ich war ein Introvertierter. Bei der Ankunft im Palast empfing mich ein Adjudant, der mich durch eine lange Reihe von Gängen und Räumen führte. Man sagte mir, daß ich schon erwartet würde, daß der General mich gleich empfangen würde. Aber es vergingen Stunden, und der General kam nicht. Mir fiel ein, daß nach dem wenigen, was ich in der Morgenzeitung gelesen hatte, als ich heute früh in meinem Haus war und gerade zur Arbeit gehen wollte, die Regierung durch eine Militär-Junta gestürzt worden war, nicht durch einen General.
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Es war heiß. Ich las die Magazine, die im Raum lagen und einige ausländische Zeitungen. Ich überlegte weiter, warum die Zeitschriften der APA, der <American Psychological Association> Artikel von Psychologen der Dritten Welt nicht annahmen. Das einzige, was man machen konnte, war, eine bessere, eigene Zeitschrift zu gründen, die dann ihrerseits keine Artikel von Psychologen der Ersten Welt annehmen würde.
"Doktor González, kommen Sie."
Die Tür ging auf, und ich sah einen großen Saal mit einer riesigen Inschrift auf dem Boden. Ein Mann unbestimmbaren Alters saß auf einem großen, mit einer Landesfahne bedeckten Stuhl. Alles war feierlich und lächerlich zugleich. Ein Teppich führte von der Tür zu dem Stuhl, auf dem dieser Mann saß, nahe der riesigen Inschrift. Der Adjudant hatte mich die ganze Zeit begleitet.
"Danke, lassen Sie uns allein", sagte der Mann neben der Inschrift zum Adjudanten, als wir vor ihm standen.
"Wie Sie befehlen, General."
Ich schaute ihn an. Er war ein junger Mann mit sehr dunkler Haut und feinen Gesichtszügen. Er hatte glänzende, intelligente Augen — eine Sache, die bei Generälen, die putschen und verfassungsmäßige Regierungen in den Ländern der Dritten Welt stürzen, sehr selten ist... Er war tadellos gekleidet, er hatte die Hände eines Intellektuellen und einen ernsten, aber freundlichen Blick.
"Setzen Sie sich, Doktor."
Selbstverständlich folgte ich seinem Befehl und bewahrte Ruhe.
"Sie erkennen mich nicht, oder?"Das stimmte. Ich erkannte ihn nicht. Ich wußte überhaupt nichts zu sagen. Das war kein Wunder, denn mein Testwert in sozialer Intelligenz ist ziemlich niedrig, und ich schaue wie ein totaler Dummkopf aus. Ich hätte natürlich sagen müssen, daß ich ihn selbstverständlich wiedererkannte.
"Wir lernten uns vor einigen Jahren auf einer Party kennen. Und sprachen damals über die Psychologie und den Behaviorismus. Ich bin Martin Luther Rey."
Ich konnte mit dieser Information nicht recht viel anfangen und machte — glaube ich — ein dummes Gesicht. Ich glaube, ich mache eigentlich immer ein dummes Gesicht, aber in diesem Moment machte ich bestimmt ein ganz besonders dummes Gesicht.
"Ich habe Sie holen lassen, damit Sie mein persönlicher Berater werden. Damit wir beide zusammen einen Traum verwirklichen, den nur Sie und ich verwirklichen können, den Traum, die Geschichte der Menschheit zu ändern, die Welt einen anderen Weg gehen zu lassen.
Wie wär's mit einem Schluck? Adjudant, bitte kommen ... Bringen Sie für Doktor González und mich zwei doppelte Whisky. Ich glaube, Sie stehen auf Johnny Walker schwarz, versiegelt?
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Sie können sich nicht vorstellen, in welch schlechtem Zustand dieses Land war. Deshalb mußten die Ordnungskräfte handeln und vernünftige Zustände wiederherstellen. Dem Land ging es sehr schlecht, es gab Elend, Inflation, Arbeitslosigkeit, Terrorismus. Jetzt ist Schluß damit, weil wir fünf Mitglieder der Militärjunta beschlossen haben, dort Ordnung zu schaffen, wo vorher Unordnung herrschte, und das Land wieder aufzurichten."
Die Unterhaltung dauerte einige Stunden. Ich trank Whisky nach Whisky und hörte dem General zu. Es war seltsam und faszinierend. Manchmal glaubte ich, ich sei auf einem anderen Planeten. Der Mann sprach mit Energie und Überzeugung, mit einer Kraft, die mich in seinen Bann zog. Ich selbst bin in der Tat nie ein Mann mit viel Stärke gewesen; ich war nie fähig gewesen, jemanden von irgend etwas zu überzeugen. Deshalb faszinierten und befremdeten mich starke Leute.
"Wir ändern die Welt, wir schaffen ein neues Vaterland, wir werfen die Gringos raus, machen ein neues Panama. — González, ich will, daß du mein persönlicher Berater wirst. Ich will, daß wir die Verhaltenspsychologie benutzen, um eine perfekte Gesellschaft zu gestalten, um den Menschen zu ändern, um die Geschichte auf den Kopf zu stellen. Ich möchte, daß du an meiner Seite bist und mir hilfst, das zu realisieren, was Skinner mit Walden Zwei nicht erreichen konnte. Hast du Walden Zwei gelesen, Dave? — Es ist eine Ferienkolonie, ein Gutshof, inmitten der Vereinigten Staaten, wo die Leute wenig arbeiten und viel freie Zeit zum Nichtstun haben. Wir machen ein Walden Drei, in einer neuen Welt, hier in den Tropen, inmitten der Hitze und der Palmen und von Meeren umgeben. Ja, ich werde weltweit Anklang finden, und man wird uns helfen, die Geschichte zu verändern. Wir werden die größten Träume der Menschheit realisieren, mit deiner Hilfe, wir zwei, du und ich, David und Martin."
Ich trank meinen vierten Whisky und schaute ihn an. Je mehr ich trank, desto weniger konnte ich sagen. Mein Gott, wie schrecklich! Ich wollte sagen, daß es wunderbar, aber furchtbar unrealistisch sei, weil die Militär-JUNTA aus fünf Menschen zusammengesetzt war und er nur einer davon war, und weil in Wirklichkeit niemand wußte, was die anderen über die Möglichkeiten der Skinnerschen Psychologie, die Welt zu verändern, dachten. Ich wollte ihm sagen, daß derselbe Skinner klug und vernünftig war, daß er die gesellschaftlichen Fakten und Faktoren sehr ernst nahm, während die schwarzen Diktatoren in den Tropen... Aber Gott hatte mir leider keine Rednergabe verliehen, und so sagte ich gar nichts. (Alle Leute behaupten, daß ihnen die Art gefällt, wie ich immer ruhig bleibe und zuhöre.
Bloß ist das keine Tugend, sondern ein Fehler, ein Mangel. Mir tut es leid, daß ich nichts sage, weil ich nicht dazu in der Lage bin, etwas zu sagen. Aber manchmal betrachten die Menschen eben Fehler als Tugenden und Tugenden als Fehler ...)
"Laß uns eine perfekte Gesellschaft errichten, Dave. Wir werden das soziale Verhalten der Menschen ändern, ihre Einstellungen und Haltungen planen, die Normen der Kindererziehung kontrollieren, die Verbrecher bessern und die Erziehung umändern. Niemals bisher ist die Wissenschaft ernst genommen worden, niemals vorher hat es eine Chance für die Psychologie gegeben. Der Tag ist gekommen. Heute: am ersten August. Wir sind zusammen. Und die Welt ändert sich."
Ich trank meinen fünften Whisky und fühlte merkwürdige Schmerzen im Kopf und im Rücken. Es war etwa elf Uhr vormittags, und ich hatte mich wirklich noch nie in meinem Leben so früh schon betrunken. Mein neuer Freund dagegen fühlte sich sehr gut.
"David, du mußt mich ernstnehmen. Wir werden große Dinge tun. Ich will, daß du ehrlich bist. Stehst du auf meiner Seite?"
"Ja, Senor, ich stehe zu Ihrer Verfügung", sagte ich — und wußte doch eigentlich nicht, was ich sagte, und wußte auch nicht, was da auf mich zukam.
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