4. Die neue Regierung
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Im allgemeinen verlaufen Revolutionen so, daß es immer wieder neue, immer wieder veränderte Pläne, Reformen und Gegenreformen gibt. In typischer Versuch-und-Irrtum-Haltung werden viele Dinge angegangen und wieder verworfen, kaum daß man damit begonnen hat.
Die Militärjunta, die die rechtmäßig gewählte Regierung gestürzt hatte, wurde ihrerseits ihrer Funktionen "enthoben" und durch eine Person, eines ihrer Mitglieder, ersetzt: Martin L. Rey.
Ich dachte, daß das so eine Art interner Staatsstreich war. Mein Freund stürzte also seine Diktatursgenossen und schickte sie einfach ins Exil. Wie das passierte, was wirklich geschah, ist eine Sache, die man nie genau erfuhr und vermutlich auch kaum irgendwann erfahren wird. Fest stand jedenfalls, daß die anderen vier Mitglieder der Militärjunta in Mexiko um politisches Asyl baten. Rey war "starker Mann", einziger Regierender im Land.*
Die Zeitungen behandelten diesen Machtwechsel ohne viele Kommentare, vor allem, da sie ja wirklich nicht genau wußten, was eigentlich geschehen war. Der neue Tropendiktator erschien immer häufiger auf den ersten Seiten der Zeitungen, mal ernst, mal lächelnd, mal allein, mal mit seiner Familie zusammen, von seinen fünf Kindern umgeben oder in Begleitung seiner Frau. Immer hatte er sein jugendliches Gesicht, seinen sehr dunklen Haarschopf — obwohl die Jahre auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen waren und einige Silberfäden im Haar hinterlassen hatten; immer war er der sportliche schlanke Mann, der auf seine gute Figur bedacht ist und beim Essen ebenso aufpaßt, wie er regelmäßig körperliche Übungen treibt.
Nach unserer ersten Zusammenkunft, noch während der Zeit der Junta, hatten wir später noch viele Treffen, und Rey erklärte mir genau, was ich tun sollte. Auf welche Weise wir seiner Ansicht nach durch die Anwendung der verhaltenspsychologischen Prinzipien und Gesetze die sozialen Probleme des Landes lösen konnten — was meine Rolle in dieser ungeheuren Umgestaltung sein sollte und was er von mir erwartete.
Ich war eigentlich ziemlich lange unschlüssig, bevor ich seinen Vorschlag annahm, weil mich seine Selbstzufriedenheit, seine Impulsivität, seine Paranoia, sein Alkoholismus abschreckten. Er trank viel und redete viel. Er hatte zu viele Pläne, zu viele Ideen, und es war mehr als fraglich, ob er all das erreichen würde, was er sich vorgenommen hatte.
Zunächst war es wichtig, die absolute Regierungsgewalt zu erlangen; das hieß vor allem, die unbedingte Loyalität der Streitkräfte ebenso wie die des Volkes zu erreichen. Danach: die Wirtschaft, die sich in einem schauderhaften Zustand befand, wieder auf die Beine zu bringen. Schließlich: die Erziehung zu planen, Reformen in bezug auf die Kriminalität durchzuführen und auch in anderen Bereichen, die er sich vorgenommen hatte. Oder genauer, er wollte, daß ich das mit Hilfe von Skinner und seinen Ratten tat. Zweifellos etwas sehr Bedeutendes und Kompliziertes.
An erster Stelle stand das Problem des nordamerikanischen Einflusses in diesem Land. Die USA haben Interessen in vielen Ländern der Dritten Welt, und unser Land war eines der wichtigsten in ihrer Politik. Und den USA gefielen nun einmal Diktatoren mit messianischen Plänen nicht besonders. Wie sollte sich die neue Regierung in dieser Sache verhalten? Sollte sie weiter freundschaftliche Beziehungen zu Washington unterhalten und weiter die Präsenz der Amerikaner am Kanal tolerieren? Oder sollte sie, ganz im Gegenteil, ihnen den Krieg erklären und auf ihrem Abzug bestehen; darauf, daß sie ihr Glück anderswo probierten?
Ich wußte es wirklich nicht; und ich glaube, daß niemand sonst genau wußte, was zu tun war, nicht einmal mein "Freund", der Diktator, der Präsident, der starke Mann, oder wie man ihn sonst nennen mochte. Jedenfalls waren die problematischen Beziehungen zum Koloß im Norden eine der ersten Aufgaben, die gelöst werden mußten.
"Du hast all die Macht, die du dir wünschst, du kannst und sollst alle Dinge nach deinen Vorstellungen gestalten, das Verhalten der Menschen und der gesamten Gesellschaft ändern, reorganisieren, modifizieren: das Land in ein <Walden 3> verwandeln, wie wir es besprochen haben. Es wird keine Ferienkolonie sein, wie <Walden 2> von Skinner, sondern ein wirkliches, reales Land, dieses Land in diesem Augenblick seiner Geschichte. Du hast die Möglichkeit dazu, du kannst die Träume der Behavioristen zu Wirklichkeit werden lassen, diese Träume, die Umweltbedingungen und dadurch das Verhalten der Menschen vollständig zu kontrollieren! Das ist eine Chance, die kein intelligenter Mensch sich entgehen lassen würde."
"Aber ich werde nicht alleine arbeiten können. Ich brauche Einheimische, die mir dabei helfen, und darüber hinaus Experten aus dem Ausland. Ich glaube, wir werden so einige Spezialisten aus den Staaten holen müssen."
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"Natürlich, alle die du willst! Du kannst alle Leute holen, die du brauchst, damit sie dich beraten und dir helfen. Aber eins muß klar sein: sie müssen deine Helfer sein! Sie sind Experten, Techniker bei der Arbeit, die du machst. Die großen Entscheidungen, die Politik, die Verantwortlichkeit für alles, all das liegt in deinen Händen. Du bist es, der befiehlt. Klar? Einverstanden? — Und an welche Leute hast du gedacht?"
"Nun, Sie werden sehen, es gibt eine ganze Reihe von Schülern und Nachfolgern von Skinner, die über wichtige, für die Gesellschaft bedeutsame Probleme gearbeitet haben. Keller zum Beispiel hat viel über die individualisierte Erziehung gearbeitet, und ich glaube, daß wir ihn holen könnten. Dann gibt es Leute in Rochester, in Kansas, in Harvard, die über Erziehungsreformen gearbeitet haben. Das gleiche gilt für andere Gebiete, zum Beispiel in der Wirtschaft, im Gesundheitswesen, im Planungswesen, im kulturellen Bereich ..."
"Hol sie alle! Wir werden ihnen ausgezeichnete Arbeitsbedingungen bieten, sehr gute Gehälter, und vor allem die faszinierende Möglichkeit, <Walden 2> in die Realität umzusetzen. Dank der Tatsache, daß wir die politische und wirtschaftliche Macht dazu im Lande haben."
"Zum Beispiel Holland, Ulrich, Staats, Azrin, Kazdin, Ayllon, Wolf ... Ich weiß nicht, welche noch. Keller war sogar schon einmal in Lateinamerika, Bijou übrigens auch. Wir können sie einladen, mit uns zusammenzuarbeiten. Es werden etwa zehn Experten sein, die mit uns daran arbeitend werden, unsere neue Gesellschaft zu entwerfen."
"Wie gesagt, alle werden mit dir zusammenarbeiten, aber die Entscheidungen werden nur von dir getroffen. — Zehn Personen, nun gut. Alle aus den Vereinigten Staaten... Gibt es denn niemanden in England oder Rußland oder, noch besser, in Kuba? Ich habe eine Menge übrig für die Sozialisten, du weißt ja, und ich glaube, daß wir von Kuba viel lernen können. Unser Walden Drei, unser Futurum Drei wird einer Philosophie der Linken folgen. Es wird ein sozialistisches Land sein, das die Ideen von Marx und Lenin als ideologischen Orientierungsrahmen und die experimentelle Verhaltenspsychologie, die Verhaltensanalyse, als Technologie hat."
"Nun glauben aber die Studenten unserer Zentral-Universität, daß der Behaviorismus Hand in Hand mit dem Faschismus geht und sich nicht mit dem Sozialismus verträgt..."
"Die sind wirklich in ihrer Ignoranz nicht mehr zu übertreffen!" erwiderte Martin. "Es gibt nichts in oder an der Verhaltensanalyse, was einen dazu berechtigt, sie für die Linke oder die Rechte zu reklamieren.
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Sie ist eine Wissenschaft, eine Technologie, sie ist ein Haufen wertvoller Instrumente. Aber sie ist weder eine Philosophie noch eine Heilslehre. Die Ideologie, das ist meine Sache, die werde ich bestimmen. Wir werden zur Leitschnur unseres Handelns den Humanismus nehmen. Wir wollen den Menschen hier helfen, wir wollen das Analphabetentum ausrotten, das Elend, den Aberglauben, die Kinderkrankheiten! Schaffen wir ein neues Land! Du stellst die Instrumente und ich entwerfe die Richtlinien der Politik und die großen Ziele."
Es erstaunte mich sehr, daß die Psychologen, denen ich schrieb — insgesamt zehn —, sich für meinen Vorschlag interessierten, in die Dritte Welt zu kommen, um mit dem schwarzen Diktator eines tropischen Landes zusammenzuarbeiten, um mit Hilfe der Wissenschaft Psychologie eine neue Gesellschaft aufzubauen. Keiner lehnte ab. Sie baten zwar alle um mehr Information, aber akzeptierten letztendlich meinen Vorschlag und kamen zu uns. Nach wenigen Monaten hatte ich die Creme de la Creme der Verhaltens- und Lernpsychologie in unserer Stadt versammelt.
Das Dinner, das Martin (oder, wie man ihn jetzt respektvoll nannte, "Der Herr Präsident") ihnen zu Ehren gab, sah fast wie die Versammlung der führenden Gruppe der Division 25 (Experimentelle Verhaltensanalyse) der APA, der American Psychological Association, aus. Alle hatten also eingewilligt, nach Panama zu kommen und mit mir zusammenzuarbeiten. Alle waren von der Idee begeistert. Und es war gar nicht so wichtig, ihnen exorbitante Gehälter oder sonstige außergewöhnliche Bedingungen zu bieten. Entscheidend war für sie die Möglichkeit, ein Futurum Drei, ein Walden Drei in einem Entwicklungsland realisieren und dabei ihre wissenschaftlichen Prinzipien anwenden zu können; das genügte ihnen.
Wir gingen sofort an die Arbeit. Ich hatte den Titel "Berater des Präsidenten" und war eine Art Minister ohne Portefeuille, aber mit sehr viel Macht. Der Präsident schaltete von Anbeginn an das Parlament aus, und zwar beide Kammern. Er stellte Kommissionen für Gesundheitsprobleme, Erziehung, öffentliche Arbeiten, Wissenschaft, auswärtige Beziehungen und so fort zusammen, die anstelle von Ministerien oder Ministern agierten. Er sagte mir immer wieder, daß die Koordinatoren dieser Kommissionen mir in allem, was ich anordnen würde, zu gehorchen hätten, und daß sie auch den Vorschlägen der "Zehnergruppe" — meinen Ratgebern in erzieherischen, juristischen, ökonomischen und anderen Fragen also — Folge leisten müßten.
Unsere Arbeit war mitreißend und schwierig. Wir mußten viel mehr Leute ins Land holen, als wir anfangs gedacht hatten; und jeder der wichtigsten Psychologen brachte eine Schar von Mitarbeitern mit sich, bat um viele großzügig angelegte Büros, Assistenten, Bibliotheken, Hilfeleistungen von Statistikern und Computern.
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Das Geld wurde nur so mit vollen Händen ausgegeben. Die Experten kamen und gingen, wollten Daten, Materialien, Mitarbeiter haben, die dann ins Landesinnere gingen, um Statistiken zu erstellen, und so fort. All das kostete viel. Zu viel. Ich war solche immensen Ausgaben nicht gewöhnt und hegte die Sorge, daß Martin — der Herr Präsident — über die vielen Ausgaben, die wir machten, sehr ärgerlich werden würde.
Um zum Beispiel das Erziehungswesen zu reformieren — oder den Strafvollzug —, mußte man Hunderte von Personen in den neuen Prinzipien der Lernpsychologie, der experimentellen Verhaltensanalyse, schulen. Man mußte Tonnen von Plastikmünzen für die sogenannte "Münzökonomie", ein typisches Belohnungssystem für angepaßtes, erwünschtes Verhalten speziell von Gefängnisinsassen, kaufen, und ebenso unglaublich viele Bons und Aufzeichnungskarten anschaffen. Man mußte Fernsehgeräte und Videosysteme besorgen, Räume mit Einwegscheiben bauen lassen, Computer für die Aufzeichnung verhaltensrelevanter Informationen kaufen.
Unsere Zehnergruppe setzte sich schließlich aus den besten, bedeutendsten Verhaltens- und Lernpsychologen der Welt zusammen, und das bedeutete, daß die Forschung für sie eine sehr wichtige Sache war. Es mußten also viele Experimente geplant und durchgeführt, Nachfolge- und Kontrollexperimente, zur Prüfung der Wirksamkeit einer bestimmten Methode etwa, ausgeführt werden; man mußte bestimmte methodische Strategien austüfteln und organisieren und schließlich die jeweils beste Methode oder Strategie, ein Problem zu lösen, auswählen. Das Land glühte richtiggehend, nicht nur wegen der bei uns üblichen Hitze, sondern infolge der vielen Pläne, die überall <m Kochen> waren, und des überschwappenden Optimismus' aller, die daran beteiligt waren. Die enormen Kosten interessierten außer mir niemanden.
Der Präsident war unterdessen mit einigen gravierenden Problemen internationaler Politik beschäftigt: alles lief auf eine gefährliche Herausforderung der Vereinigten Staaten hinaus. Sie konnten es sich aussuchen: entweder verließen sie unser Land, oder wir würden den Kanal zerstören! Die Spannung wuchs von Tag zu Tag. Der Präsident flog zu den Vereinten Nationen, kehrte bald wieder zurück und verbrachte viele Tage in Versammlungen, es gab überall Polemiken und Intrigen; und ich wußte nicht, wie das einmal enden würde. Merkwürdigerweise entschlossen sich die Vereinigten Staaten dann tatsächlich dazu, aus Panama abzuziehen. Es war ein friedlicher Abzug, ohne daß ein einziger Schuß abgefeuert wurde.
Sie gingen, um anderswo einen neuen Kanal zu bauen, einen moderneren und funktionelleren als den in Panama, einen, der für die moderne Zeit besser geeignet sein würde. Sie planten, ihn in Kolumbien oder Nicaragua zu bauen, obwohl sich als beste Alternative natürlich wieder Panama angeboten hätte. Aber sie hatten wohl die Schwierigkeiten mit den Tropen-Diktatoren satt und zogen es vor, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, der Welt ihren guten Willen zu zeigen und friedlich abzuziehen. Außerdem taugte der Kanal zu fast gar nichts mehr, war schon veraltet, und es war sowieso an der Zeit, einen neuen, moderneren und breiteren zu bauen. Das Beste und Klügste, was die USA in dieser Situation tun konnten, war, sich elegant des Problems zu entledigen und aus Panama zu verschwinden, und sich dabei vor den Augen der Welt als Großmacht darzustellen, die Besonnenheit, Gelassenheit und Respekt vor ihren Nachbarstaaten im Süden demonstrierte. In Wirklichkeit befreiten sie sich indes von einem Problem, das ihnen starke Kopfschmerzen bereitet hatte, und versuchten, erhobenen Hauptes davonzukommen.
Ein Land ohne Fremdherrschaft, mit einer internationalen Experten- und Beratergruppe allerersten Ranges, mit reichlich bemessenem Budget, und der überall zu spürenden Last, viel zu arbeiten und viel zu ändern: das war Panama, als wir unsere große gesellschaftliche Reform begannen. Als wir anfingen, die Idee von Walden Drei Wirklichkeit werden zu lassen.
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