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5.  Die Kinder zuerst

 

 

 

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Die Expertenkommission, die sogenannte Gruppe der Zehn, weilte zwei Jahre bei uns. Dann kehrte sie in ihr Land zurück und wurde vollständig durch Wissenschaftler und Techniker unseres eigenen Landes ersetzt. Während dieser zwei Jahre wurden viele Dinge in Angriff genommen, wurden Kommissionen gebildet, große Pläne entwickelt und politische Leitlinien entworfen.

Jede Arbeitsgruppe — zum Beispiel die für Erholung, für Ökonomie oder für Kindererziehung — schrieb einen Bericht, der im allgemeinen einige hundert Seiten umfaßte. Darin analysierte man das jeweilige Problem, zeigte die Lösungsmöglichkeiten auf, diskutierte die Art der Durchführung verschiedener Alternativen, die Kosten, den zeitlichen Ablauf dieser Aktivitäten und so fort. 

Dann übergab die Kommission mir den Bericht. Ich las ihn, überarbeitete ihn noch einmal und leitete ihn an den Präsidenten weiter. Er brachte manchmal einige kleinere Korrekturen an, um die Ideen der betreffenden Kommission an die Realität in den Tropen, in der Dritten Welt anzupassen. Einige Male schrieb auch ich Teile neu. Martin las gewissenhaft jedes Dokument und kommentierte es immer sehr detailliert; ich weiß nicht, wie es ihm gelang, Zeit dafür zu finden! Er las alles, fragte viel zurück, traf oft mit mir und auch mit der Expertenkommission zusammen. Seine Arbeitskapazität war in der Tat außergewöhnlich, beneidens­wert. Ich hatte noch nie einen Tropen-Diktator gekannt, der soviel arbeitete und der seine Aufgabe, das Leben seiner Landsleute zu verbessern, so ernst nahm.

"Wir können es tun, weil wir die politische, militärische und wirtschaftliche Macht dazu haben", sagte der Präsident.

"Alles ist in unserer Hand:  die Industrie, die Streitkräfte, der Handel, die Presse. Unser Staat ist totalitär und autokratisch. Ich weiß, daß man mich deshalb überall in der Welt kritisiert, aber nur so können wir das Land reformieren. — Überleg dir mal, Dave, ob wir unsere Reformen weiterführen könnten, wenn es im Land einen Kongreß — ein Parlament — gäbe; Organe der Legislative, die ihre Meinungen und Vorstellungen zu all unseren Ideen sagen würden. Es vergingen Jahre, viele Jahre, bevor man nur eine einzige Reform durchgesetzt hätte. Das ist der große Nachteil der Demokratie. War es nicht Churchill, der sagte, daß die Demokratie ein schlechtes politisches System ist, aber die anderen Systeme noch schlechter sind? Genauso ist es — genauso."

"Die Kommission für Erziehungsfragen meint, daß ..."

"Entschuldige, Dave, daß ich dich unterbreche. Eines Tages werde ich gehen, und wir werden die Macht dem Volk zurückgeben. Wir werden Wahlen veranstalten. Wenn einmal die Reformen durchgeführt sind, haben wir einen Neuen Menschen in einem Neuen Land, in einer Neuen Ära. Dann kann ich getrost gehen. Zwanzig Jahre werden wohl dafür genug sein. Dann wird es eine neue Generation geben; unter meiner Regierung geboren — zu Selbstbestimmung, gegenseitiger Achtung und Kooperation erzogene Männer und Frauen. Wir müssen radikal sein, wenn wir unsere Welt neu planen wollen, und wir dürfen dabei nicht rückwärts gehen."

Zwanzig Jahre! — dachte ich bei mir. Diese Diktatoren in den Tropen schmieden immer großartige Pläne und scheitern dann nach zwei oder drei Jahren. Meist werden sie von den verschiedensten Interessengruppen beseitigt. Manchmal gehen sie auch, weil sie mittlerweile genug Geld gescheffelt haben, nach Europa und heben das Geld dann von einem Schweizer Nummernkonto ab, das sie sich heimlich eingerichtet haben.

Aber Martin war keiner von dieser Sorte. Er war mehr ein Prophet; jemand mit messianischen Phantasien. Ein anderer Typ von Mensch, der nicht nur große Ideen hatte, sondern auch intelligent und überlegt ihre Durchführung betrieb. Von Veränderungen ist immer geredet worden, aber niemals hatten diejenigen, die davon sprachen, auch die politische Macht gehabt, diese Veränderungen Realität werden zu lassen. Martin hatte die Macht, er war eine Art Herrscher-Philosoph, wie ihn die alten Griechen oder Römer wollten; ich glaube, es war Marc Aurel, den man so genannt hatte.

"Wir bilden ein hervorragendes Team: Du planst, entwirfst und organisierst die gesellschaftlichen Veränderungen. Ich führe sie durch. Wir sind so etwas Ähnliches wie der Herrscher-Philosoph der Antike, aber in zwei Personen: du der Philosoph — ich der Herrscher."

Es erstaunte mich sehr, daß wir im gleichen Moment dasselbe gedacht hatten.

"Es ist unmöglich, daß beide in ein und derselben Haut stecken, und deshalb ist der <Herrscher-Philosoph> in einer einzigen Person unmöglich zu realisieren, ein Mythos also. Aber in zwei Personen, die beide an das Wohlergehen unseres Volkes und die Veränderung der Welt denken, die feste Rollen und klare Positionen haben ..."

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"Sicher. Auch ich denke, daß die Veränderungen erfolgreich sein werden. Ich habe hier übrigens ein wichtiges Projekt zur vorschulischen Erziehung. Und dann sind da noch ein paar andere, schon überarbeitete Programme über Erholung und über Ökonomie."

"Beginnen wir mit der vorschulischen Erziehung — die Kinder zuerst!" "Es ist ein ziemlich umfangreiches Programm, das die Erziehung der Mütter und Väter, die gezielte Verbreitung erzieherischer Innovationen, Verhaltensauffälligkeiten, weiterführende Schulsysteme, pränatale Vorsorge und viele andere Dinge mehr einschließt. Es reicht vom Zeitpunkt, zu dem man sich entschließt, ein Kind zu bekommen, bis zu der Zeit, da dieses heranwächst und sich schließlich als nützlicher Bürger in die Gesellschaft eingliedert; mit einer festen Arbeit; fähig zu allen nützlichen und wichtigen Verhaltensweisen, die man in dieser Gesellschaft braucht."

"Das wäre dann der Sozialisationsprozeß."

"Ja, natürlich, aber in einem weiten Sinne. Dieses Projekt hängt mit den anderen zusammen; an erster Stelle mit der Familienplanung, die ein Grundpfeiler der Wirtschaft und der sozialen Erneuerung überhaupt ist. Es ist notwendig, daß die Menschen ihre Kinder planen, daß sie erst dann Kinder bekommen, wenn alles — wirtschaftlich und psychologisch — dafür vorbereitet ist."

"Psychologisch — weil sich schließlich die Wirtschaft sehr verändern wird; denk daran, daß ich das Geld ein für allemal abschaffen will."

"Na gut, aber schauen Sie, so einfach ist das nicht. Keine Gesellschaft hat bisher so etwas gemacht. Es gibt nur eine einzige experimentelle Gesellschaft, die aufs Geld verzichtet, die Kibbuzim in Israel. Was aber unbedingt getan werden muß, ist, die Gehälter anzugleichen, kostenlose Gesundheits- und Erziehungsangebote zu schaffen und so fort. — Aber kehren wir zu den Kindern zurück. Wenn ein Paar beschließt, ein Kind zu bekommen, geht es zunächst in das nächste Gesundheitszentrum, wo entsprechende medizinische und psychologische Tests gemacht werden. Es gibt viele Krankheiten, die eine erbliche Grundlage haben. Anscheinend gibt es sogar beim Alkoholismus eine gewisse genetische Prädisposition."

Martin schaute mich etwas irritiert an, sagte aber nichts.

"Personen mit genetischen Belastungen", fuhr ich fort, "können selbstverständlich heiraten, sie dürfen aber keine Kinder bekommen. Sex, Heirat, Miteinanderleben, Fortpflanzung, Arterhaltung sind ganz verschiedene Dinge. Die Leute verwechseln sie unzulässigerweise miteinander. Heiraten ist eine Sache — Kinderkriegen eine andere. Alle Leute werden das Recht haben zu heiraten, wenn sie es wollen, aber nicht alle werden Kinder haben dürfen."

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(Obwohl ich dieses Reformprogramm sorgfältig gelesen hatte, fiel es mir furchtbar schwer, es auszusprechen. So etwas Spartanisches!)

"Sollten sie aber trotzdem Kinder wollen, können sie welche adoptieren. Wir organisieren also ein gutfunktionierendes Adoptionssystem; jedes Kind braucht ein Heim, und einige Eltern können für ein fremdes Kind mit dergleichen Zärtlichkeit und Zuneigung wie für ein eigenes sorgen. Selbstverständlich wird man sehen müssen, daß sie an einem entsprechenden Unterricht teilnehmen, bevor man ihnen das Kind gibt. Wir alle müssen erst lernen, Väter und Mütter zu sein; das ist etwas, was man nicht einfach von selbst kann, quasi als Geschenk Gottes."

Ich dachte, daß ich gut daran täte, meine Sprache zu kontrollieren und gewisse umgangssprachliche, gedankenlos benutzte Ausdrücke zu vermeiden, — schließlich war für die Idee von "Gott" kaum Platz im neuen Walden Drei.

Moral und Ordnung würden in unserem neuen Staat nicht auf Gott basieren, sondern auf einer humanen und sozialen Ethik. Aber das war wiederum ein anderes Programm, das zu organisieren uns viele Kämpfe gekostet hatte; allerdings ohne viel Erfolg. Es war eben nicht so leicht, die Ethik und Moral einer neuen Gesellschaft zu planen. Aber es war eine dringliche Sache, weil die ethischen und moralischen Probleme — ideologisch gesehen — die Wurzeln aller anderen Reformprogramme waren.

Die folgende Analyse des Projektes über Früherziehung und Sozialisation dauerte lange. Der Senor Presidente machte verschiedene Einwände und nahm Änderungen vor. Und schließlich wurde der Plan an die entsprechende Kommission zur Überarbeitung und Verbesserung zurückgegeben. Endlich kam eine neue Version, die allen damit beschäftigten Personen akzeptabler erschien.

Diese Version schloß auch die Familienplanung mit ein. Außerdem kostenlose medizinische und psychologische Dienste, Informations- und Unterrichtszentren für die Mütter. Kindertagesstätten für die Kleinsten. Natürlich alles kostenlos. Weiter die Schaffung von Halbtagesstellen, damit Mütter arbeiten konnten, ohne ihre Kinder zu vernachlässigen; und zwar bevorzugt im eigenen Haus oder in der Nähe. Auch pränatale Vorsorge. Geistige Anregung für die Neugeborenen. Einbeziehung des Vaters und der anderen Familienmitglieder in die Erziehung der Kinder. Schulung von Frauen, die darauf spezialisiert sind, "Ersatzmütter" zu sein, die die Kinder in den Tageszentren und Adoptionsstellen beaufsichtigen.

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Die formale Erziehung begann sehr früh im Leben des Kindes. Wir gingen davon aus, daß das Kleine mit vier Jahren — ganz sicher aber mit fünf — Lesen und Schreiben lernen könnte, wenn wir nur die geeigneten Methoden anwendeten. Es mußten grundlegende Gewohnheiten, erste Verhaltensrepertoires durch Stimulierungen aus der Umwelt entwickelt werden. Die Verhaltensänderungen wurden bewirkt durch Veränderungen in der Umwelt. Die anderen Kinder konnte man als Modelle und als Basis für die Sozialisation gebrauchen. — In der westlichen Gesellschaft überläßt man die Kindererziehung im allgemeinen ausschließlich der Familie, man schließt die Nachbarn und andere Personen von vornherein aus. Hier in der Neuen Gesellschaft, die aufzubauen wir im Begriff waren, waren es die anderen, die gleichaltrigen Kinder, die viel tun mußten, und die Erziehung der Kinder sollte kollektiv erfolgen.

Die Ersatzmütter spielten in diesem ganzen Prozeß eine ungemein wichtige Rolle. Es war richtig bemerkenswert mitzubekommen, wie dies für viele Frauen die ideale Arbeit war, die sie mit Liebe und Hingebung, mit wirklichem Interesse und vor allem mit ausgezeichnetem Erfolg verrichteten. Sie hatten aus irgendwelchen Gründen keine Kinder bekommen, oder ihre Kinder hatten das Elternhaus schon verlassen. Sie waren voller Liebe, die sie niemandem schenken konnten. Ersatzmutter zu sein, war für sie die ideale Aufgabe.

Den Müttern wurde nahegebracht, wie wichtig es ist, mit den Kindern viel zu sprechen, die Kinder zu liebkosen, sie überallhin mitzunehmen, sie zu küssen, ihnen immer wieder viel Zuneigung und Sicherheit zu vermitteln. Wie wichtig es ist zuzuhören, was die Kleinen sagten, und sie ernst zu nehmen; die Versprechen, die man ihnen machte, einzuhalten. Und körperliche Strafen wurden total abgeschafft; der Präsident erließ sogar ein Gesetz, das besagte, daß die körperliche Züchtigung eines Kindes ein Verbrechen sei; ein Vater, der dies täte, hätte damit zu rechnen, für ein bis drei Jahre ins Gefängnis zu kommen.

Die Alternative zu körperlichen Strafen bildeten die verschiedenen Arten der Verhaltensformung (oder -modifikation) und der Sozialisierung des Kindes, die wir genauestens erklärten. Auf der aversiven Seite gab es da den Entzug von Zärtlichkeit und Privilegien, also Bestrafungstechniken; und es gab die Münzsysteme: für jede inadäquate Handlung wurde dem Kind eine Münze vorenthalten, und wenn es am Ende eines Tages oder einer Woche nicht die ausreichende Menge an Münzen beisammen hatte, durfte es nicht fernsehen oder nicht ins Kino gehen oder keinen Spaziergang machen. Unsere Sozialisation betonte die positiven Methoden. Man gab konstante, aller kontingente Verstärkungen und Belohnungen.

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Die Anwendung dieser Verstärkungsprogramme für das tägliche Leben wurde immer wieder im Fernsehen und im Radio, auf öffentlichen Versammlungen und in Flugblättern, die gratis im ganzen Lande verteilt wurden, erklärt. Da der Analphabetismus sehr verbreitet war, war es nötig, in die entlegensten Regionen im Landesinneren zu gehen, dort mit den Müttern zu sprechen, ihnen immer wieder zu erklären, daß sie nicht das Recht hatten, ihre Kinder zu quälen, und ihnen alternative Erziehungsformen zu zeigen. 

Die anfänglichen Reaktionen waren sehr negativ, voller Skepsis und Aggression, was sich daraus erklärte, daß hier die Regierung sich in das Privatleben der Menschen einmischte; und auch daraus, daß das, was da verkündet wurde, dem traditionellen, überlieferten Wissen zuwiderlief, nach dem die Frauen vom Land ihre Kinder seit vielen Generationen erzogen. 

Aber dann stellten sie fest, daß die Münzökonomien tatsächlich funktionieren und daß die Verstärkungsprinzipien einfach anzuwenden und sehr wirkungsvoll waren; sie begriffen, daß das einzige, was man mit körperlicher Züchtigung erreichte, nur kurzfristige Effekte und eine Reihe unerwünschter Nebenwirkungen waren (wie zum Beispiel, daß das Kleinkind den strafenden Vater fürchtet und ihn haßt), und sie begannen allmählich die Reformen zu akzeptieren. Schließlich hatten wir erreicht, daß die Mütter mit großem Enthusiasmus die Verhaltensänderungen besprachen, die sie bei ihren Kindern erreicht hatten.

Alle meinten, daß diese neuen Systeme und Prinzipien ihr Leben leichter machten, daß sie dadurch Zeit sparen könnten, und daß die neuen Möglichkeiten wirkungsvoller als die traditionellen wären, daß sie die Kinder Verantwortungsgefühl und Ordnung lehrten. In diesem Bereich der Kindererziehung hatte das Programm einen Riesenerfolg: es wurde mit Enthusiasmus und im Geist der Kooperation befolgt und breitete sich wie ein Lauffeuer aus.

Ich schrieb ein Büchlein, in dem alle Prinzipien und Grundlagen der auf Erziehung und Sozialisation der Kinder angewandten Verhaltensanalyse erklärt wurden. Es war ein verständliches, einfach abgefaßtes Manual, das der Mentalität der Mütter in den Tropen angepaßt war. Es hieß <Die Bildung des Neuen Menschen>. Ein — zugegeben — sehr bombastischer und ein wenig lächerlicher Titel, aber der Präsident hatte mich gedrängt, ihn zu wählen. Ich hätte vorgezogen, das Buch <Zwischen Eltern und Kindern> zu nennen; aber das wurde dann nur der Untertitel. 

Die Regierung druckte hunderttausend Exemplare, die sie Eltern, Lehrern, Ersatzmüttern, Schulverwaltungen, den Vorständen der Gesundheitszentren, Ärzten, Krankenschwestern, Psychologen und Sozialarbeitern in die Hände gab. Es genierte mich ein bißchen, daß mein allererstes Buch (ich hatte mich vorher nie getraut, ein Buch zu veröffentlichen) eine Arbeit wie diese war, populärwissenschaftlich geschrieben und keine (langweilige) wissenschaftliche Monographie.

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Als ich graduierter Student in Harvard gewesen war, hatte ich gelernt, daß das Publizieren für unsereins enorm wichtig ist, aber ich hatte mich nie entschließen können, ein Buch zu verfassen. Und da auch meine wissenschaftlichen Artikel den Herausgebern der Zeitschriften der APA nicht gefielen, war meine Publikationstätigkeit sehr, mager geblieben. Jetzt — mit meinem Buch von hunderttausend Exemplaren Auflage, die in einem Monat vergriffen waren — konnte ich mit Recht behaupten, daß ich ein Autor war, der mehr gelesen wurde als der größte Teil der zeitgenössischen Psychologen ...

Im Buch wurde detailliert beschrieben, wie die Reform der Sozialisationsprozesse geplant war. Es begann damit, daß man die Rolle der Familie und anderer Sozialisationsagenturen herausstrich. Das Buch machte klar, daß wir gerade dabei waren, ein soziales Experiment von einer Größenordnung durchzuführen, wie es niemals zuvor auf nationaler Ebene in Angriff genommen worden war. Das Experiment würde seine Früchte vielfältig und langfristig tragen, weshalb es mit Sorgfalt und Gründlichkeit entworfen werden mußte, ohne etwas dabei dem Zufall zu überlassen, — soweit das möglich war, denn schließlich sind die sozialen Phänomene sehr komplex und enthalten unzählige nur schwer zu kontrollierende Variablen. Auch wurde darauf hingewiesen, daß dieses Experiment evaluiert — überprüft — werden müßte, und erst auf der Basis der Evaluation bestimmte Veränderungen eingeleitet werden könnten.

Die Erziehung — war weiter im Buch zu lesen — beginne im Augenblick, in dem sich zwei Leute entschließen, ein Kind zu bekommen, und umfasse die Empfängnis, die pränatale Entwicklung, die Geburt, das — so wichtige und oft unterbeachtete — Kleinkindalter, die vorschulische Erziehung, die Primär- und Sekundärschule und die Berufsausbildung. — In der Erziehung gab es viele ideologische und philosophische Bestimmungsgrößen, die wir zu erklären versuchten und die wir dem Volk bewußt machen wollten. Unsere wichtigste Leitlinie war der Humanismus; eine Art Verhaltens-Humanismus, in dem "gut" das war, was für den Menschen gut ist und "schlecht" das, was für den Menschen schlecht ist. Es war keine absolutistische Wertlehre, sondern ein neuer Humanismus, der der kulturellen und historischen Relativität von Ereignissen Rechnung trug.

Vermutlich war dieser ideologische Teil des Buches der schwächste, was wiederum kein Wunder war, da die Philosophie nie meine Stärke gewesen ist. Die psychologischen Teile waren viel besser. Die Erklärung der Verstärkungspläne, sowohl der einfachen — kontinuierliche Verstärkung, gelegentliche, intermittierende Verstärkung, fixierte und variable Intervallverstärkung — wie ebenso der multiplen, zusammengesetzten, war, glaube ich, sehr gelungen. 

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Immer wurden zur Veranschaulichung praktische Beispiele gegeben. Das Buch enthielt Beobachtungsprotokolle, zeigte, wie man Grundraten (also Daten über den Ausgangszustand des zu verändernden Verhaltens) bestimmt, und überhaupt, wie man sinnvoll Verhaltensweisen systematisch beobachtet und registriert. Was die Verstärker bzw. Belohnungen anbelangt, so wurde die Wichtigkeit einer kontingenten Anwendung betont. Und man erläuterte auch unterschiedliche Arten der Bekräftigung; — physische, symbolische, soziale, internalisierte Verstärkung und so fort. 

Unser Ziel war ein erwachsener, seelisch reifer Mensch, der nur um der eigenen Befriedigung willen arbeitete und dies in der Gewißheit tat, in Einklang mit den Zielen der Neuen Gesellschaft zu handeln. Disziplin sollte erreicht werden, indem man dem Kind viel erklärte, und natürlich auf der Grundlage des Verstärkungsprinzips. Es wurde immer wieder hervorgehoben, wie wichtig es sei, mit dem Kind vernünftig zu diskutieren, ihm die Ursachen und Konsequenzen von Dingen zu erklären. Der Gehorsam mußte verinnerlicht sein; das Kind mußte das tun wollen, was es tun sollte. Diese Art von Konditionierung zu formulieren, kostete mich ein paar Wochen intensiven Nachdenkens, aber ich meine, daß es mir schließlich gut gelang. Der Gehorsam mußte sozusagen im Inneren des Kindes verankert sein und durfte nicht aus äußeren Pressionen erwachsen; wenn das Kind nicht gehorchte, durften keine aversiven Konsequenzen (negative Verstärker, Bestrafung) folgen. Da Kinder und Eltern sich in der gleichen sozialen Umgebung befinden, würden sie zu denselben Schlußfolgerungen gelangen: die Disziplin sollte eigentlich kein Problem mehr sein.

Ein Kind mußte viel freie Zeit haben, sollte spielen können, sich mitteilen, reden können, sollte das tun können, was es wollte, im Haus herumrennen, alles im Haus in Unordnung bringen, sein Spielzeug an die Decke werfen können. (Natürlich mußte es ein andermal alles wieder in Ordnung bringen...) Ich hob gerade diesen Ausdruck von Gefühlen sehr hervor, ich bestand auf dieser "Freiheit" (wieder so ein schlechtes Wort!) des Kindes. Meistens meinen die Leute, daß mit "Konditionierung" regelrechte Fesseln gemeint sind, die man den Menschen anlegt, und daß es um den Entzug von Freiheit und Selbstbestimmung geht. Ganz im Gegenteil, ich wollte freiere und spontanere Kinder — Kinder, die redeten, schrien, ihren Gefühlen freien Lauf ließen und eine glückliche, an Erfahrungen reiche Kindheit hatten.

Diese "neuen Kinder", die also das gerne tun würden, was sie tun sollten, würden fröhliche und kreative Kinder sein, Kinder, die ihre Fähigkeiten in einer neuen Gesellschaft entwickeln konnten. Da unsere neue Gesellschaft eine egalitäre war, gab es keine sozialen Klassen (genauer gesagt, wir waren dabei, sie abzuschaffen), und alle sollten ihre Chance bekommen — in den Wissenschaften, den Schönen Künsten, kurz: in ihrer Verwirklichung als menschliche Wesen vorwärts zu kommen.

Eine praktische Regel der Erziehung war, die Eltern dazu aufzufordern, mindestens eine Stunde täglich mit ihrem Kind zu verbringen. Ich bezeichnete dies als "Peterchens Stunde" (ein Name, der von einem bekannten panamaischen Psychologen vorgeschlagen wurde). "Peterchens Stunde" wurde in den Tagesablauf eingeplant, genauso wie man die Essensstunde, die Schlaf stunde organisierte und die Stunde, die für den Weg zur Arbeitsstätte benötigt wurde. In dieser Stunde also unterhielt man sich mit seinem Kind, hörte ihm zu und machte mit ihm gemeinsam Pläne. Ziel war, das Kind zu "sozialisieren", es durch den Kontakt mit anderen Menschen zu einem menschlichen Wesen zu formen (der sogenannte Prozeß der ,,Humanisierung"); in dieser Stunde sollte man gar nicht versuchen, dem Kind etwas beizubringen, sondern es ging nur darum, bei ihm zu sein. Ich glaube, daß "Peterchens Stunde" eine wirklich großartige Idee war, und ich hoffe, daß man ihr die Bedeutung beimißt, die sie verdient.

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