6. Die Reform des Kalenders
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Eines der Projekte, die sich der Senor Presidente allein ausgedacht hatte, war die Reform des Kalenders. Der Präsident machte einen Entwurf und übergab ihn mir, damit ich ihn mit der Gruppe der Zehn diskutierte.
"Panama ist ein schönes Land", sagte Martin,
"eines der wichtigsten Länder der Welt. Die Tatsache, daß wir an zwei Meeren Küsten besitzen, den größten transozeanischen Kanal der Welt haben, daß wir eine Verschmelzung von Rassen sind — die ,kosmische Rasse', nach Vasconcelos —, macht uns zum Herzen dieses Planeten. Es ist ein wundervolles, mir sehr lieb gewordenes Land. Und es ist an der Zeit, daß dieses Panama der Welt etwas zeigt, etwas Neues und Bedeutendes wie unser soziales Reformexperiment, das auf der sozialistischen Ideologie wie auf dem Instrumentarium der wissenschaftlichen Psychologie basiert. Innerhalb unserer Reform gibt es nun einen Aspekt, der mich ganz besonders interessiert hat: die Reform der Monate, der Tage und Stunden, der Arbeits- und Urlaubszeit. Ich möchte, daß wir einen neuen Kalender in Panama einführen und ihn den Vereinten Nationen vorlegen, damit sie ihn prüfen und möglicherweise in der ganzen Welt verbreiten."
In Martins Programm wurden zunächst die Monate verändert. Es gab nicht mehr zwölf, sondern zehn, und jeder hatte 36 Tage. Jeder Monat trug den Namen einer Persönlichkeit aus der Geschichte, nicht mehr den einer obskuren griechischen oder römischen Gottheit. Martin dachte sich eine lange Liste von berühmten Männern und Frauen aus und legte sie mir vor, damit wir die zehn für die Benennung der Monate daraus auswählten. Jede Woche übrigens hatte sechs Tage anstatt bisher sieben und jeder Tag sollte auch den Namen eines großen Mannes (oder einer großen Frau) tragen.
Auch bei den Tagesstunden gab es Änderungen. Anstatt die Stunde, zu der täglich die Sonne aufging, "fünf Uhr morgens" zu nennen, bezeichneten wir sie mit "eins", und zählten dann die folgenden Stunden in fortlaufender Reihenfolge. Nach der neuen Uhrzeit würde also jemand um "drei" zu arbeiten anfangen und nicht um "acht Uhr morgens" wie bisher.
In Wirklichkeit waren diese ,,astronomischen" Reformen keine eigentlichen Reformen, weshalb es nicht viel Sinn hatte, Martins Projekt eine Kalender-Reform zu nennen. Aber ihm hatten immer schon solche großen Ideen gefallen, und deshalb zogen wir es in den Versammlungen der Zehnergruppe, in denen dieses Projekt wieder und wieder analysiert wurde, vor, weiterhin von "Reform des Kalenders" zu sprechen.
Es gab da einen interessanten, recht bemerkenswerten Punkt; er betraf den freien Tag, oder, nach der traditionellen Gepflogenheit, den "Sonntag". Jeder Monat hatte 36 Tage und war aus sechs Wochen zusammengesetzt, mit je sechs Tagen (sechs mal sechs, das macht sechsunddreißig). Man ging davon aus, daß die Leute fünf Tage in der Woche arbeiten und einen Tag ausruhen würden. Das Interessante nun war, daß dieses Ausruhen wechselnd geschehen sollte: nicht alle Leute hatten am "Sonntag" frei, sondern einige Gruppen den "Montag", andere den "Dienstag", und so fort.
Auf diese Art wurde das Leben der Gemeinschaft nicht so gelähmt, wie dies in anderen Ländern während der Sonn- und Feiertage geschah. Man konnte die Idee des alternierenden freien Tages nun auf zweierlei Weise realisieren: einmal nach Berufen (die Ärzte hatten montags frei, die Maurer dienstags, und so weiter). Oder, die andere Alternative, nach Stadtgebieten oder Zonen: Zone I hatte dann montags frei, Zone II dienstags, und so fort. Der Bericht führte noch weitere Alternativen auf, aber der Präsident machte klar, daß er die zweite vorziehe (also die mit dem nach Stadtgebieten variierenden Feier-Tag), und das natürlich aus praktischen Gründen.
"Zur Zeit der Revolution hatten die Franzosen auch eine Kalenderreform, eine Reform der Monatsnamen, durchgeführt", sagte meine Freundin Mercedes, eine der Beraterinnen des Präsidenten. Mercedes war Kindergärtnerin, zwischen 30 und 40 Jahre alt und beneidenswert gebildet. "Nun, ich glaube, diese Reform scheiterte schließlich", bemerkte ich.
"Ja, sicher, weil ... auch wenn die Namen der Monate ebenso konventionell wie dumm sind, und auch die Bezeichnungen für die Tage, so hat man sich doch an sie gewöhnt, und es gibt auch eine geschriebene Geschichte, die man einfach nicht ändern kann. Amerika zum Beispiel wurde am 12. Oktober 1492 entdeckt, da können wir jetzt nicht sagen, daß es am 21. des Goethemonats 1492 war. Und wer weiß, vielleicht kommt es dem Herrn Präsidenten sogar noch in den Sinn, die Jahre zu ändern! Das wäre ganz schön schlimm, David! Du mußt den Präsidenten davon überzeugen, daß das eine ganz absurde Idee ist, David, schließlich bist du sein Liebling!
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Ich stell' mir schon solch eine radikale Kalenderreform vor, eine, in der die Geschichte an dem Tag beginnt, an dem Martin L. Rey in dieser kleinen Republik am Äquator die Macht übernahm und beschloß, die Welt zu verändern. Alles übrige wird dann ,vor' der Neuen Ära gewesen sein. Kannst du dir den Wirrwarr in den Geschichtsbüchern vorstellen?"
"Mercedes, du hast ja recht, aber ich glaube, der Präsident hat niemals daran gedacht, auch die Jahre zu verändern. Die Idee mit den Monaten und den Wochen allerdings finde ich gar nicht so absurd. Ich muß gestehen, daß ich die Idee eines freien Tages in der Woche, der nach Berufszugehörigkeit oder nach der Stadtzone, in der jemand wohnt, variiert, wirklich gut finde."
"Ein Jahr mit zehn Monaten, ein Monat zu 36 Tagen und eine Woche von sechs Tagen, von denen fünf Arbeitstage sind und einer ein Feiertag ist ... Na ja. Aber die ganz große Schwierigkeit ist doch, daß Panama nicht im luftleeren Raum existiert und eine Reform wie diese sinnlos ist, wenn sie nicht in der ganzen Welt übernommen wird — eine Sache, die ganz bestimmt nicht eintreten wird. Es gibt noch einen weiteren Punkt: die zehn Monate geben 360 Tage im Jahr, und dann bleiben deinem Freund, dem Herrn Präsidenten, noch fünf Tage pro Jahr übrig, und in den Schaltjahren sogar sechs. Was gedenkt er denn mit diesen Extratagen zu tun?"
"Ich glaube, er denkt an so etwas wie gemeinsame Feiertage, obwohl das andererseits seiner Politik, das Land auch an den Sonntagen voll funktionsfähig zu halten, widersprechen würde. Für irgendeinen besonderen Zweck i werden diese Extratage schon da sein. Halt, jetzt erinnere ich mich! Es steht : sogar im Bericht, hast du ihn denn nicht ganz gelesen? Diese freien Tage sind für die Meditation. Mich hat das damals, als ich es las, sehr verwundert. Offenbar ist eine Art intellektueller Zurückgezogenheit gemeint, so ähnlich wie die Exerzitien der Mönche. Die Tage sind dann dazu gedacht, das nächste Jahr zu planen und eine Bilanz der Aktivitäten, der Erfolge und Fehlschläge des vergangenen Jahres zu erstellen. Es soll eine Zeit der Bestandsaufnahme und ,Evaluation' auf nationaler Ebene sein. Martin betont immer, daß die Leute nicht denken, nicht planen, sich nicht die Zeit zum Nachdenken nehmen. Nun gut, es wird halt im neuen Kalender fünf Tage geben, die an die zehn Monate anschließen; fünf Tage, an denen wir von allem 'losgelöst' sind, um das Jahr mit Nachdenken zu beschließen. Allerdings vermute ich, daß die Leute diese .transzendentale Meditation' dazu benutzen werden, Ferien am Strand zu machen, und nicht, um über das vergangene und das kommende Jahr nachzudenken ..."
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"Ja", bemerkte Mercedes, "in jedem wissenschaftlichen Projekt ist es nötig, seine Resultate hinterher einzuschätzen, eine permanente Evaluation durchzuführen, und zwar kritisch, und ein ,feedback' über das, was gemacht worden ist, zu bekommen. Wenn dies hier eine auf Wissenschaft gegründete Gesellschaft ist, und wenn sie darüber hinaus auf der experimentellen Analyse des Verhaltens basiert, dann ist solch eine Evaluation lebenswichtig und unumgänglich."
"... so daß es nicht nur eine bloße Meditation sein wird. Ich finde Leute sympathisch, die jeden Tag ihr Gewissen prüfen, die in der Einsamkeit ihres, Heimes meditieren und die gewissenhaft den nächsten Tag planen. In Panama wird das die ganze Nation machen! Ich finde, es ist am besten, an diesen fünf Extratagen eines jeden Jahres überall Diskussionsrunden zu organisieren, in den Stadtvierteln, auf dem Land, in den Fabriken, um die Berichte der Regierung zu studieren, um die erreichten Ergebnisse kritisch zu analysieren und um die folgende Etappe zu planen. Auf diese Weise werden alle unsere Leute aktiv am Prozeß der Veränderung teilnehmen. Es ist sehr wichtig, daß alle Menschen diese enorme soziale Reform als ihr ureigenstes Anliegen ansehen, daß sie in die Verbesserungen einbezogen werden, die sie durchführen sollen, daß sie nicht glauben, diese Reformen seien etwas, das ihnen vom Herrn Präsidenten und seinen Beratern aufgezwungen worden ist."
"Mein Lieber, wenn du so redest, könnte einen dein Enthusiasmus ganz schön anstecken! Wenn man dich so hört, ist man überzeugt, daß du ein Teil dieser psychologischen und sozialen Umgestaltung des Landes geworden bist."
"Sicher, ich bin es ganz offensichtlich. Eigentlich rede ich sonst nicht viel, aber es wird wohl so sein, daß du auf mich sehr stimulierend wirkst, Mercedes ..."
Wir alberten ein bißchen herum und besprachen dann die Liste der großen Männer, deren Namen Martin für die neuen Monate und Wochentage vorgeschlagen hatte. Sie enthielt Philosophen wie Sokrates, Platon, Aristoteles — von "dieser Seite", also aus der abendländischen Kultur; Konfuzius und LaoTse von der "anderen Seite"; Staatsmänner wie Churchill und De Gaulle; Kriegshelden wie Attila; Wissenschaftler wie Einstein und Newton; Schriftsteller wie Thoreau und Oscar Wilde; Religionsstifter wie Jesus und Buddha — Leute aus der Vergangenheit und aus der Gegenwart, Männer und Frauen, allerdings mit einem deutlichen männlichen Übergewicht.
"Die Geschichte wurde von einigen hundert Männern und vielleicht einem Dutzend Frauen gemacht", antwortete mir Martin, als ich ihn auf die feminine Unterrepräsentation in seiner Liste ansprach. "Auf alle Fälle habe ich die größten Frauen der Geschichte, wie Katharina von Rußland, Königin Victoria von England, Marie Curie und die Schwestern Bronte, mit aufgenommen. Auf der endgültigen Liste müßten wir mindestens eine Frau haben. Im übrigen müssen jetzt die Namen auf 16 reduziert werden, zehn für die Monate und sechs für die Wochentage."
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"Comte hatte so etwas Ähnliches vor, und auch in der Französischen Revolution sollte dasselbe gemacht werden."
"Aber die Namensliste von Comte ist einfach idiotisch! Genauso idiotisch wie die lächerlichen Namen, die die Revolutionäre in Frankreich den Monaten gaben. Aber so etwas werden wir nicht tun. Wir wählen ganz bewußt die hervorragendsten Persönlichkeiten der Geschichte aus, wenn wir die Monate und die Wochentage umtaufen. Was ist denn das Wichtigste, was dieser Planet hervorgebracht hat? — Doch seine großen Männer! Sie haben die Geschichte gemacht und den Lauf der Welt verändert."
Ich hatte keine Lust, darüber zu diskutieren, daß die heutigen Historiker es vorziehen, vom "Zeitgeist" als der Ursache für sozialen Wandel zu sprechen, und nicht von den "Großen Männern"; daß die Geschichte offensichtlich viel weniger das ist, was die Möchtegernphilosophen von ihr halten; daß es Entdeckungen und Erfindungen gibt, die unvermeidlich sind. Die Rolle des Menschen als Gestalter der Geschichte ist augenscheinlich viel bescheidener als es diese Laien vermuten.
"Streichen wir Mars, Venus, Juno und all die anderen Gottheiten aus dem Kalender und setzen wir an ihre Stelle Menschen aus Fleisch und Blut, die dafür gekämpft haben, das Leben ihrer Mitmenschen zu verbessern, oder darum, die Geheimnisse des Universums zu entschlüsseln."
Die leidigen Monatsnamen waren Anlaß unzähliger Diskussionen in der Zehnergruppe und den verschiedenen Kommissionen. Die Diskussion verlief nicht immer sehr ernsthaft, da im Grunde niemand so recht daran glaubte, daß der Herr Präsident es wagen würde, den Kalender zu ändern. Aber er wagte es. Er änderte ihn trotz des gewichtigen Einwandes meiner Freundin Mercedes, daß eine Neuerung wie diese eigentlich unmöglich sei, wenn sie nicht weltweit realisiert werde, da ein Land ja nicht im luftleeren Raum existiere, und überhaupt ...
"Denk nur mal ans Reisen", sagte Mercedes zu mir, "an die Flugpläne, die für die ganze Welt gelten, in denen die Stunden und Tage angegeben sind. Und was sollen sie mit uns machen? Bei uns werden die Flugzeuge nicht freitags um 11 Uhr ankommen, sondern am <Platon-Tag> um <sechs>! Unmöglich ist das, einfach unmöglich!"
Der Herr Präsident gab schließlich den Monaten neue Namen, aber er hatte soviel Vernunft, den Wochentagen keine zu geben. Ich weiß nicht, wer ihn dazu brachte. Die Wochentage wurden mit Buchstaben bezeichnet, fortlaufend von A bis F. Also wurde der Montag "Tag A", der Dienstag zum "Tag B" und so fort. Außerdem gab es eine Übergangsperiode, in der man die alte und die neue Terminologie gebrauchte, wobei aber ständig betont wurde, daß und wie wichtig es sei, die neuen Namen zu erlernen ...
Die endgültige Liste für die Namen der Monate legte der Präsident selbst fest, weil wir als seine Berater uns nicht einig werden konnten. Seine Aufstellung stellte natürlich niemanden zufrieden, aber sie riß uns aus endlosen Diskussionen heraus, von denen die meisten auch nicht gerade sehr fundiert gewesen waren. Die zehn Jahresmonate bekamen folgende Namen: LaoTse, Moses, Jesus, Sokrates, Leonardo, Darwin, Marx, Marie Curie, Freud und Einstein.
"Zu viele religiöse Führer", meinte Mercedes, "zu viele Wissenschaftler. Außerdem ist niemand aus dem Mittelalter dabei, auch kein Araber, und wer erklärt mir, bitte schön, was Freud auf dieser Liste zu suchen hat. Du glaubst doch auch nicht, daß er das verdient hat, oder ...?"
"Der Präsident wollte sogar Skinner dabei haben, aber das wäre dann doch zuviel gewesen! Wir bauen eine ,skinnerianische' Gesellschaft auf und erheben ihn darüber hinaus zu kosmischer Größe, indem wir eine griechische Gottheit durch seinen Namen ersetzen... Nein, Mercedes, wir würden zum Gespött der ganzen Welt. — Aber es ist dagegen völlig in Ordnung, Freud einzubeziehen. Er ist eine historische Figur, mit der man einer Meinung sein kann oder auch nicht, aber letzten Endes ist er ein Teil unserer Zivilisation. Ich glaube, die Liste ist gar nicht so schlecht. Sie enthält verschiedene Gebiete, Leute verschiedener Epochen und Länder, Denker ganz verschiedener Richtungen, wie Marx und Jesus. Nein, ich glaube, Martin hat sehr viel nachgedacht, bevor er diese endgültige Liste aufgestellt hat."
"Du verteidigst ihn aber auch immer. Sei's drum, ich bin überzeugt, daß wir zum Gespött der ganzen Welt werden, weil wir so dreist und töricht waren, den Kalender zu ändern!"
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* (d-2014:) B.Skinner bei detopia