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10  Die Erziehung 

 

 

 

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Das Erziehungssystem der Neuen Ära war eine Kombination von personeller Unterrichtung, Erziehungs-Technologie, langfristiger Planung — unter Heraus­hebung der Bedeutung kontinuierlicher Erziehung und der erzieherischen Umwelt. 

Die Erziehung eines neuen Menschen begann eigentlich schon mit dem Entschluß eines Paares, ein Kind zu wollen, ging mit der Empfängnis weiter, der Geburt des Babys, der Kleinkindzeit, der Kindergartenzeit, der Regelschule und der beruflichen Ausbildung und der Aneignung bestimmter Fertigkeiten. Sie ging auch weiter, wenn jemand mit Beendigung der 12. Klasse, das heißt mit dem Abschluß der Höheren Schule, das Schulgebäude verließ. Sie ging mit der Universitätszeit weiter, jedenfalls für diejenigen, die ein Studium absolvieren wollten, und war weder mit dem erfolgreichen Beenden dieser Erziehungsinstitution noch einer anderen zu Ende.

Die Erziehung war besonders auf Lernziele ausgerichtet, auf die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Man orientierte sich stark an der Taxonomie von Lehr- oder Erziehungszielen, die ursprünglich auf Bloom zurückging, aber mittlerweile vielfach ergänzt und modifiziert worden war. Es sollte eine Erziehung für das Leben sein, eine Erziehung des Sich-selbst-Erziehens (das Individuum sollte sich selbst erziehen). 

Eine Erziehung, die die intellektuellen Faktoren, aber auch die affektiven, emotionalen Faktoren der Persönlichkeitsentwicklung unterstrich. Das Kind sollte lernen, seine Gefühle zu entwickeln und sie angemessen auszudrücken, die Liebe ebenso wie den Haß, den Zorn ebenso wie die Angst. Die "negativen" Emotionen mußten auf konstruktive Weise ausgedrückt werden, anstatt daß sie ignoriert und "verdrängt" wurden.

Das System der vorschulischen Erziehung war besonders wichtig. Man nahm den Slogan <Die Kinder zuerst> sehr ernst. Dabei war diese neue Erziehung nicht trocken oder theoretisch. Es war eine Erziehung der kognitiven Möglichkeiten wie der emotionalen Fähigkeiten, eine der Muskeln wie der sozialen Fertigkeiten.

Man lernte zu lieben und Liebe zu empfangen. Um so auf positive Weise mit anderen menschlichen Wesen in Verbindung treten zu können. Um andere Menschen akzeptieren zu können und von ihnen akzeptiert zu werden.

Man überließ nichts dem Zufall. Wir nahmen nicht an, daß der Mensch wie eine Frucht ist, die heranwächst, bis sie plötzlich reif ist, sondern daß für die Entwicklung das Lernen sehr wichtig ist, — im Sinne einer Veränderung der Verhaltensnormen, im Sinne einer ständigen Adaption und Differenzierung. Das Lernen — im weitesten Sinne — war ein Grundpfeiler der neuen Gesellschaft, aber nicht das Lernen von Wissenselementen oder einzelnen Kenntnissen war damit gemeint, sondern ein lang andauernder Prozeß der Veränderung des Verhaltens, um damit konkrete, vorher festgelegte Ziele zu erreichen.

Wir gingen auch nicht davon aus, daß die Menschen von vornherein wußten, wie man die Dinge anpackt. Folgerichtig gab es für alles und jedes eine besondere Schulung. Wir hatten informelle Kurse für die Gemeinschaft, die Erkundungscharakter hatten, dennoch aber sorgfältig geplant waren. Sie verfolgten konkrete, eher kurzfristige Ziele, die sich in die langfristigen Zielvorstellungen einfügten.

"Mit der Erziehung geht die Schaffung des Neuen Menschen, in dieser Neuen Ära, einher. Das, was man tut, um eine vollständige, in sich geschlossene Erziehung zu erreichen, wird bedeutende gesellschaftliche Auswirkungen haben", stellte die Erziehungskommission in einem Bericht fest.

Diese "Erziehung für das Leben" umfaßte Kinder, Jugendliche, Erwachsene, alte Menschen. Stets berücksichtigte man in jeder dieser Gruppen die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Leistungen und stellte integrierte Programme vor. Das Konzept der permanenten Erziehung umfaßte die Reform der Massenmedien, darin eingeschlossen die öffentlichen Stadtteilbibliotheken, Kinos, Theaterstücke und auch die jährlichen Meditationszusammenkünfte. Die Erziehungsexperten betonten immer wieder, daß wirklich niemand absolut unfähig sei, anderen etwas zu zeigen, sie etwas zu lehren, und sie betonten auch, wie wichtig es sei, daß jeder für sich selbst lernen sollte. Das Ziel der Erziehung war die Selbsterziehung.

Neben der informellen und der permanenten Erziehung gab es auch noch die traditionellen Systeme der primären, sekundären und tertiären Erziehung (einschließlich der Universität). Erwähnt werden muß auch, daß man Untersuchungen über den (zukünftigen) Bedarf an Ausgebildeten durchführte, den das Land in den Bereichen Wissenschaft, Technik, Handel, Dienstleistungsgewerbe und den dazugehörenden Berufen hatte. 

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Als wir das Lebensniveau der Bevölkerung zu heben begannen, kam es zu einem Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt, da eine große Bevölkerungsgruppe auf den Plan trat, die vorher zur untersten Schicht gehört und praktisch eine Randgruppe gebildet hatte. Auch diese Leute bekamen Unterricht, Arbeit und eine angemessene Wohnung; man ermöglichte auch ihnen den Zugang zu den Vorzügen der Neuen Ära, wie zum Beispiel in Hinblick auf Information, Erholung, Gesundheitsfürsorge und Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten.

Alle diese Veränderungen geschahen gleichzeitig und jede der eingesetzten Kommissionen trug ihren Teil dazu bei, neue Reformen durchzuführen und durchzusetzen. Das soziale Gleichgewicht schwankte erheblich bei jeder dieser Veränderungen, kehrte aber schließlich doch auf ein homöostatisches Niveau zurück.

Wir gaben auch sehr auf die Ökologie acht. In meinen Augen ist sie sowieso die wichtigste Wissenschaft unserer Tage. Man lehrte schon das Kind, die Natur zu achten und zu lieben, eine Art Gleichgewicht einzuhalten zwischen dem, was man verbraucht und dem, was man produziert; man lehrte es, die Umwelt nicht zu zerstören und auch nicht zu verschmutzen. Man machte ihm klar, daß das ökologische Gleichgewicht von lebenswichtiger Bedeutung für uns alle ist, weil wir schließlich alle Mitglieder einer einzigen großen biologischen Familie sind. Da allerdings in der Vergangenheit unverzeihliche Sünden begangen wurden, ist das Gleichgewicht empfindlich gestört worden. Bevor der Mensch in irgendein Gebiet dieses Planeten kommt, existiert dort ein Wald. Wenn der Mensch schließlich geht, hinterläßt er eine Wüste. Dies wollten wir um jeden Preis vermeiden.

Erziehung zum Frieden, zur Liebe, zu harmonischen sozialen Beziehungen. Erziehung, damit sich jeder selber erziehe. Erziehung, damit die Persönlichkeit wachse. Erziehung des Intellekts und der Emotionen, Erziehung des Körpers, der Sexualität und der Sprache. Erziehung dazu, Aggressionen auszudrücken, und ebenso Angst und Zorn. Erziehung dahin, daß wir weder neidisch noch nachtragend sind. Erziehung, damit wir nie mehr wieder einen Krieg anfangen ...

"Zu schön, um wahr zu sein!" war die Reaktion einer distinguierten spanischen Erzieherin, die zusammen mit einer Gruppe von Erziehungsexperten aus verschiedenen Nationen unser Land besuchte.

"Man hat schon immer die Erziehung verbessern wollen, aber es hat auch immer unüberwindliche Hindernisse gegeben. Zum Beispiel den Analphabetismus. Wie habt ihr das Analphabetentum beseitigt?"

"Durch massive, groß angelegte Kampagnen. Es war eigentlich gar nicht so schwierig", antwortete ich. 

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"Anfangs befürchteten wir alle, daß dies tatsächlich ein unüberwindliches Hindernis sei, aber jetzt sind wir sicher, daß wir den Analphabetismus beseitigt haben, in den zwei Jahren seit Beginn der großen gesellschaft­lichen Reformen."

"Ich verstehe. Weshalb glaubt ihr denn, daß es gerade euch gelungen ist, auf diesem Gebiet erfolgreich zu sein, auf dem alle anderen Länder versagt haben?" fragte dieselbe Frau (ziemlich böswillig).

"Wieso haben alle anderen Länder versagt? Wie steht es denn mit Kuba? Dort hat man es geschafft, mit dem Analphabetismus in noch kürzerer Zeit als bei uns aufzuräumen, gute Frau!"

"Ich hätte da eine andere Frage", unterbrach mich ein Priester, "welcher Stellenwert wird hier der Religion beigemessen? Wir haben Schulen für Ersatzmütter besucht, Erziehungszentren für geistig Behinderte, Kindergärten, Schulen für hochbegabte Kinder, Universitäten, Berufsschulen, aber wir haben kein einziges Kreuz gesehen, wir haben auch keinen einzigen Priester oder Ordensangehörigen in diesen Erziehungszentren arbeiten gesehen. Welche Rolle spielt denn nun die Religion in dieser sozialen Revolution?"

,,Schauen Sie, wir sind keine religiösen Menschen. Wir tolerieren die Religion, wenn sie jemand beibehalten will, aber wir fördern sie nicht. Wir meinen, daß jeder das Recht haben sollte, seine Religion weiter auszuüben, wenn er will, und es gibt Gottesdienste und Messen verschiedener Religionen bei uns. Andererseits stimmt es nicht, daß Priester und Ordensleute nichts mit Erziehung zu tun haben. Es gibt viele Priester, Nonnen und andere, die in Stätten für vorschulische Erziehung, in Universitäten oder Berufsschulen arbeiten. Nur tragen sie keine Priestergewänder oder Ordenskleidung und deshalb weiß man nicht, daß sie Priester sind. Aber in Wirklichkeit sind sie es, und sie leisten ausgezeichnete Arbeit. Und sie legen eine Arbeitsfreude an den Tag und zeigen eine Arbeitskapazität, um die man sie wirklich beneiden kann."

"William James sagte einmal, daß man versuchen müßte, das <Äquivalent zur Moral des Krieges> aufzufinden", warf ein Mitglied der Erziehungs-Kommission ein, die uns begleitete. "Das sei etwas, das Menschen dazu bewege, für andere Opfer zu bringen, Kälte, Hitze und Hunger zu ertragen, um ein Ziel zu erreichen. Kein Kriegsziel oder einen militärischen Triumph, sondern ein menschlicheres, positives Ziel, für das Menschen sich so stark einsetzen, wie sie es normalerweise nur tun, um einen Krieg zu gewinnen oder um im Krieg zu überleben. Nun, wir sind eben dabei, das <Äquivalent zur Moral der Religion> zu suchen."

"... Das Gegenstück zur Religionsmoral ... wie das Gegenstück zur Kriegsmoral eines William James ..."

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"Vielleicht hat der Aufbau der Neuen Gesellschaft diese wichtige, psychologische Funktion erfüllt. Auf alle Fälle hat er Millionen von Menschen Enthusiasmus und Kraft verliehen. Dies ist ein gemeinschaftliches, soziales Unternehmen gewesen und viele Leute haben diesem großen Kampf viel Energie und Zeit geopfert, ihm ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zur Verfügung gestellt, um eine wirklich neue Gesellschaft aufzubauen, um eine Neue Ära zu schaffen."

"Und was ist mit den Rebellen, Aufrührern, Opponenten, den Leuten, die gegen das alles sind? Also, ich weiß nicht, ich weiß nicht. Irgend etwas Negatives muß doch daran sein. Es gibt hier Sachen, die ich nicht verstehe und die ich nicht billige. Es gibt eine Menge problematischer Dinge "bei euch, in eurer Neuen Ära, und ich bin überzeugt, daß sie eines Tages wie ein Kartenhaus zusammenstürzen wird!"

"Zum Beispiel habt ihr die sexuelle Promiskuität und die Homosexualität legalisiert. Und obwohl ihr hartnäckig gegen den Konsum von Alkohol seid, ermutigt ihr die Leute zum Genuß von Marihuana!"

"Wir ermutigen gar nicht dazu!" erklärte ich, "Marihuana ist in geringen und kontrollierten Dosen erlaubt. Sein Genuß ist legalisiert, aber Produktion und Verkauf sind Regierungsmonopol, genau wie es die alkoholischen Getränke in anderen Staaten sind. — Was die sexuellen Reformen anbetrifft, so verhält es sich ganz anders. Sie sind Teil der Reform der Familie, die wir im übrigen achten und fördern. Die Familie ist die Grundzelle der Gesellschaft und ..."

"Auch die homosexuelle Familie?!" (Dieses Thema war mit Fremden nicht leicht zu behandeln, angesichts der Vorurteile und Abneigung, die sie gegenüber unseren gesellschaftlichen Reformen hatten.)

"Wir haben die Homosexualität unter Erwachsenen, die ihr zuneigen, erlaubt, ebenso wie wir das bei anderen sexuellen Minoritäten getan haben. Dieses Gesetz ist denen in Holland oder in Dänemark ähnlich, jedenfalls weder besser noch schlechter. Wir haben juristische Regelungen hinzugefügt, um etwa ein Äquivalent zur Heirat zu schaffen, auch um die Möglichkeit zu geben, Kinder zu adoptieren oder ein Erbe zu hinterlassen. Das ist ja auch etwas, wovon man seit der Zeit der alten Griechen immer wieder spricht, — homosexuelle Ehen. Daran ist nichts Skandalöses. Alles, was wir wirklich getan haben, ist, eine vorhandene Situation zu legalisieren und ein vorhandenes Problem vernünftig zu lösen!"

"Ekelhaft, einfach ekelhaft!" rief die spanische Dame und packte ihren Mann beim Arm.
"Kann sein. Jedenfalls war die Reaktion in der ganzen Welt sehr günstig.


Wir haben sogar positive Statements aus katholischen Kreisen erhalten, zum Beispiel von einer Gruppe aus den Vereinigten Staaten, die sich ,Dignity' nennt, und die für das Tolerieren der menschlichen Sexualität in all ihren Erscheinungsformen kämpft. In vielen Staaten sind den gesetzgeberischen Instanzen Gesetzesentwürfe vorgelegt worden, die auf homosexuelle Ehen nach dem bei uns erprobten Modell abzielen."

"Merkwürdig, sehr merkwürdig. Ausgerechnet die Lateinamerikaner mit ihrem typischen <Machismo>, ihrem Männlichkeitswahn, sind jetzt die Avantgarde bei der Verteidigung der homosexuellen Minorität... Und das in einem so tropischen Land wie diesem, voller schöner Frauen..."

"Noch einmal: Wir ermutigen die Homosexualität nicht, genausowenig wie wir zum Genuß von Marihuana raten. Wir geben eine sehr ernsthafte und verantwortungs­bewußte Sexualerziehung, die dem jeweiligen intellektuellen Entwicklungsstand des Kindes oder Schulers angemessen ist. Wir informieren die Gemeinschaft auch über die sexuellen Minoritäten. Wir wollen nicht, daß dieser Verhaltenstypus weiter zunimmt, sondern das einzige, was wir wollen, ist, daß Homosexualität nicht länger ein Stigma ist und Anlaß für Depression und Unsicherheit für viele Menschen. Jeder soll auf seine Art lieben dürfen, ohne andere zu belästigen. Wir bestrafen aber sexuelle Handlungen, seien sie hetero- oder homo-sexuell, mit Minderjährigen und erst recht geschlechtliche Handlungen, die mit psychischen oder physischen Mitteln erzwungen sind. Wir wenden uns dagegen, daß sexuelle Propaganda betrieben wird und daß Leute irgendwie verführt werden. Das erscheint uns schrecklich."

"Die Kirche des Landes betrachtet übrigens diese Reformen mit ziemlichem Wohlwollen", fügte einer meiner Mitarbeiter hinzu. "Und seltsamerweise werden mehr homosexuelle Ehen unter Frauen als zwischen Männern geschlossen. Oder, mit anderen Worten: weitaus mehr Lesbierinnen sind nach den neuen Gesetzen untereinander Ehen eingegangen als Männer."

"Mein Gott, wie pervers!" meinte die distinguierte Dame aus Spanien und fragte ihren Mann: "Es ist so heiß hier, können wir nicht gehen?"

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