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12  Die Alten 

 

 

 

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Eine ganz auf die Jugend zentrierte und ausgerichtete Gesellschaft wie die westliche hat für alte Leute keinen Platz. Man denkt, daß ein Mensch zu leben aufhört, wenn er in Rente geht, wenn er zu arbeiten aufhört — also mit 60 oder 65 Jahren. Für ihn schrumpft die Welt immer mehr zusammen, er verliert seine Freunde, seine Selbstwertschätzung, seine Unabhängigkeit, seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Der Ruhestand beschleunigt den Tod und macht aus den letzten Lebensjahren eines menschlichen Wesens eine schwere Last für das Individuum selbst und die anderen Menschen.

Um die Realität des Alterns und des Sterbens wissen nur wir Menschen. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das weiß, daß es einmal sterben muß, das einzige Lebewesen, das dessen vorher gewahr wird. Alle Philosophien und Religionen sehen Alter und Tod als Teil der existentiellen Realität des Menschen, betrachten aber beides mit Angst und Unsicherheit. 

Wir wollen nicht daran denken, daß wir alle altern und sterben müssen. Wir wollen vor allem jetzt nicht daran denken, daß auch uns das eines Tages zustößt.

Skinner sagte, daß für eine auf Individualismus gegründete Gesellschaft der Tod das schlimmste aller Übel sei. Seiner Ansicht nach ist das Überleben, Weiterbestehen der Kultur ein sehr wichtiger Wert, weshalb das Bewußtsein, einen Beitrag zur Kultur geleistet zu haben, für einen Menschen ein so großer Trost sein könne, daß er den Tod nicht mehr fürchtet; denn nach seinem Hinscheiden bleibe sein Werk bestehen.

"Alles Unsinn, alles Unsinn", lautete der Kommentar Martins. "Der Tod ist ein schreckliches Unglück und wir haben nichts anderes geschafft, als dumme Ausreden oder Tröstungen zu erfinden. Die schlimmste, die absurdeste und unmenschlichste Idee von allen ist die Vorstellung, daß es ein Leben nach dem Tode geben wird. Die Wissenschaft hat zweifelsfrei nachgewiesen, daß Bewußtsein und Individualität vom Gehirn abhängig sind und daß wir tot sind, wenn dies zerfällt oder zerstört ist. Es kann keine Auferstehung geben. Kein Jüngstes Gericht. Und offensichtlich auch weder Himmel noch Hölle."

"Die Hölle sind die anderen Menschen. Die Hölle, das sind die Ungerechtigkeiten in unserem Leben, sind Ängste, Schmerz, die sozialen Übel", warf Mercedes ein.

"Ja, und man erfindet dann zum Trost ein Jenseits, weil man sonst keine Alternative sieht. Man erfindet ein Leben nach dem Tode, um sich darüber zu trösten, daß dies eine ungerechte, schmerzliche Welt ist", pflichtete Eduarde bei. — "Wenn wir dies ändern, wenn wir hier und jetzt eine bessere Welt aufbauen, anstatt eine jenseitige zu erfinden ..."

"Genau das tun wir auch", unterstrich der Herr Präsident in seiner Allwissenheit und seinem (üblichen) messianischen Sendungsbewußtsein.

"Aber Skinners Lösung des Todes-Problems überzeugt mich auch nicht gerade", meinte ich. "Sie ist genauso eine Tröstung und ähnelt dem <Paradies> der Christen oder dem <Nirwana> der Hindu."

Die Diskussion ging weiter und jeder stellte seinen Standpunkt dar. Wir sprachen auch darüber, was wir zugunsten der alten Leute schon getan hatten (und das war eine Menge), und was wir noch in bezug auf den Tod tun wollten.

"Jeder sollte die Freiheit haben, seinen Todestag und die Todesart zu wählen. Ein Lebensabend, der voll von Krankheiten und Beschwerden ist, hat keinen menschlichen Sinn. Wir müssen den Alten die Chance geben, mit Würde und Anstand zu leben oder zu sterben — mit wissenschaftlichen Mitteln..."

"Aber Martin, das wäre doch Selbstmord."

"Nein, das wäre Euthanasie. — In meinem Lande gibt es noch viele Dinge zu tun. Eines dieser Dinge, und dazu ein sehr wichtiges, betrifft den Tod. Allerdings habe ich dieses Problem niemals der <Kommission für Menschliche Entwicklung> vorgelegt, dieser Kommission, die alles über Entwicklung und Alter erforscht, und zwar aus Angst vor der Kritik überall in der Welt. Man würde sagen, daß wir in der Neuen Ära die Menschen umbringen, während wir in Wirklichkeit ihnen nur erlauben wollen, den Tag selbst festzulegen, an dem sie sterben wollen, und ihre Sachen in Ordnung zu bringen, anstatt zu warten, bis ihre Pumpe schlappmacht und der Tod sie überrascht."

Ich schweifte etwas ab und versuchte, mir meinen Todestag vorzustellen. Sicher müßten ihm mehrere Monate der Vorbereitung vorausgehen, in psychologischer und rein praktischer Hinsicht. Alle Dinge müßten in Ordnung hinterlassen sein, das Eigentum an die Kinder weitergegeben, die beruflichen Angelegenheiten in die Hände meiner Nachfolger gelegt sein.

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Nach einer Therapie (— der traditionellen Art, mit ein bißchen "Rogers", und ansonsten stark existentialistisch ausgerichtet) würde ich mich von meinen engsten Mitarbeitern verabschieden und dann einen Abschiedsbrief an alle Bekannten formulieren. Alles ohne Ängste, ohne irrationale Befürchtungen. Die Welt würde sich auch nach meinem Tode weiterdrehen. Ich würde dann in einen besonderen Saal eintreten, in ein Zimmer gehen, mit einem Stuhl oder einem Bett, vor einer Leinwand, auf die schöne, angenehme Bilder, Bilder des Friedens projiziert würden. Gas würde langsam das Zimmer füllen, und ohne viel zu überlegen, wäre ich schon tot...

Brrr...! Mir lief es kalt den Rücken hinunter, als ich daran dachte, wie ungeheuer rational das alles war. Ich verspürte eine wahnsinnige Lust, im Zimmer herumzuhüpfen und herumzuschreien, daß ich immer noch lebendig und jung war und mir noch 30 Jahre bis zum Tod bleiben würden, jedenfalls nach den verbreiteten Statistiken über Lebenserwartung.

"... Bevor jemand den Tod wählen könnte, müßte er allerdings erst eine Reihe von Bedingungen erfüllen", fuhr Martin fort. "Eine davon wäre, älter als 60 Jahre zu sein; eine andere, daß niemand den Sterbewilligen mehr brauchte, weder seine Kinder, noch sein Ehepartner, noch seine Arbeitskollegen. Ich meine nämlich, niemand hat das Recht zu sterben, wenn ihn irgend jemand noch braucht. Niemand hat das Recht, kleine Kinder zu verlassen, oder kranke Eltern, Leute, denen man mit seinem Tod nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügt."

"Ich persönlich bin sehr gegen Selbstmord", sagte ich. "Als optimistischer Mensch glaube ich, daß sich alle Probleme lösen lassen und daß niemand sein Leben selber beenden muß."

"Außer unter bestimmten Bedingungen, also wenn jemand sehr alt oder sehr krank ist, wenn es also barmherziger ist, jemandem zum Sterben zu verhelfen, als ihn gegen seinen Willen unbedingt zum Weiterleben zu zwingen."

Kurioserweise — und ganz im Gegensatz zu dem, was wir da an Überlegungen und Plänen anstellten — hatten wir in Panama ein großes "Forschungsinstitut zur Verlängerung des Lebens" eingerichtet. Es verfügte über ein angemessenes Budget und wir hatten die bedeutendsten Spezialisten der Welt eingeladen, darin mitzuarbeiten. Noch wußten wir nicht, was für Forschungsergebnisse aus diesem Institut herauskommen würden. Ich dachte, daß wir es vor allem aus Angst vor dem Tod gegründet hatten. Wahrscheinlich hatten wir die infantile Phantasie, daß dank der Wissenschaftler des Institutes das Leben eines Tages so verlängert hätte werden können, daß wir die Vorstellung vom Tod immer weiter wegschieben, aufschieben könnten. Bis wir sie dann schließlich gar nicht mehr aufschieben brauchten ...

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Unsere Programme für die alten Leute kamen sehr gut an und wurden auch in der ganzen Welt mit viel Sympathie bedacht. Sie schlössen wirtschaftliche, medizinische, psychologische Aspekte mit ein und befaßten sich auch mit Arbeit und Erholung. Den Leitern der Programme stellte man mehr Geld zur Verfügung, als den alten Leuten eigentlich ihren Pensions- und Rentenansprüchen nach zugestanden hätte, da man mittlerweile herausgefunden hatte, daß die Alten — für uns alle erstaunlich — große finanzielle Probleme hatten. Die medizinischen Programme waren einfach durchzuführen, und ebenso die psychologischen. Man mußte natürlich einige Fortbildungskurse in Geriatrie und gerontologischer Psychologie für interessierte Mediziner und Psychologen abhalten; aber letztendlich war die Weiterbildung des Personals ein Erfolg.

Im Gegensatz dazu gab es mit der Durchführung des Arbeitsprogrammes so einige Schwierigkeiten. Entsprechend unserer Politik, daß die Menschen ein Grundbedürfnis haben, nützlich zu sein und eine sinnvolle Arbeit zu leisten, war es notwendig, Arbeitsplätze für die Alten zu finden oder zu schaffen. Dabei war die Situation der Frauen viel einfacher als die der Männer, weil man bald fand, daß Frauen fortgeschrittenen Alters viele Aufgaben in der Kleinkinder-Erziehung besser bewältigen können als die ganz jungen Frauen. Ebenso unzählige andere Tätigkeiten in den verschiedensten Berufen, im Dienstleistungssektor und auch sonstwo. Wir führten Arbeitsund Arbeitsplatzanalysen durch, um herauszufinden, welche Neigungen, Fähigkeiten, Interessen für eine bestimmte Arbeit nötig waren und ob ein alter Mensch diese Arbeit tun konnte — und zwar so, daß er sich nützlich und zufrieden fühlte und die Arbeit gut bewältigte.

Die Erholungsprogramme schließlich beschränkten sich keineswegs auf 'häusliche' oder künstlerische Betätigungen. Die alten Leutchen spielten nicht nur Gitarre, malten oder rezitierten Gedichte, sondern unternahmen auch Spaziergänge ins Grüne, machten sportliche Übungen, und man sah sogar einige, die (allerdings nicht allzu hohe) Berge bestiegen. Alles geschah natürlich unter Anleitung und nichts verlief ungeplant. Wie schon erwähnt, überließen wir in der Neuen Ära nichts dem Zufall. — Das einzige, was noch dem Zufall überlassen blieb, war der Zeitpunkt des Sterbens. Das allerdings auch nur noch so lange, bis der Herr Präsident es "wagen" würde, sein Euthanasieprogramm zu verkünden, und dem sicher sofort losbrechenden Entrüstungssturm in aller Welt die Stirn zu bieten bereit sein würde.

Die alten Leute gliederten sich in das Arbeitsleben ein und wurden kooperative Mitglieder der Neuen Ära. Genau wie die Kinder, sah man die Alten glücklich lächelnd auf den Straßen spazieren, zusammen mit anderen alten Leuten oder auch in Begleitung junger Menschen. Man sah sie in leuchtende Farben gekleidet, man bemerkte, daß sie "moderne" Ansichten hatten und stellte fest, daß sie aktiv an gemeinschaftlichen Aktionen teilnahmen. An den Meditationstagen am Jahresende waren die Alten so etwas wie ein Gedächtnis der Gesellschaft; sie konnten den Menschen in Erinnerung rufen, wie die Welt vor dem Beginn der Neuen Ära gewesen war. Die alten Leute wurden respektiert und geliebt. Wir behandelten sie mit Zuneigung und betrachteten sie niemals als Störenfriede oder ähnliches, und sie wußten, daß sie in unserer Gesellschaft einen sehr wichtigen Platz einnahmen.

Wir Planer waren eigentlich alle recht junge Leute. Ich denke, daß es niemanden gab, der älter als 35 Jahre gewesen wäre, aber so manche, die noch unter 30 waren. Wir waren jung und revolutionär, wir steckten voller Energie, verachteten Routine und Althergebrachtes und waren eifrige und enthusiastische Künstler des sozialen Wandels

Der Älteste unter uns war der Präsident, und er verhielt sich auch dezidiert wie ein ältester Bruder. Diese Regierung der jungen Leute liebte die Kinder und liebte die Alten. Sie schätzte die Wissenschaft sehr hoch, achtete darauf, sich nicht in die philosophischen oder religiösen Überzeugungen anderer einzumischen und wollte vor allem, daß jeder glücklich und produktiv sei. Der einzige Unterschied war, daß wir alles sorgfältigst planten und wollten, daß die Menschen "konditioniert" wären (Verzeihung: daß sie "lernten"!), das zu tun, was sie tun sollten.

"Alle sind jetzt glücklich. Aber wenn es Gruppen bei uns gibt, die glücklicher sind als die anderen, dann sind dies die Kinder und die Alten."

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