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13. Maribel 

 

 

 

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Die Neue Ära dauerte nun schon vier Jahre an. Die nordamerikanischen Berater, die wir schlicht "Zehnergruppe" nannten, waren zwei Jahre bei uns gewesen und dann wieder gegangen. In dieser Zeit hatte ich furchtbar viel gearbeitet, ohne richtigen Urlaub zu haben, etwa zehn bis zwölf Stunden am Tag, und das an allen Tagen, einschließlich des Tages "F".

In den <Ferien> war ich immer in andere Gebiete des Landes gereist und hatte dort weitergearbeitet. Meine Tätigkeit als Psychologe war fast völlig zum Stillstand gekommen; ich las fast nichts mehr, nichts Wissenschaftliches, und verlor auch allmählich das Interesse, mir als großer Forscher einen Namen zu machen. Vier Jahre intensivster Mitarbeit in der Regierung waren einfach zuviel. Der Präsident verlangte, daß ich Tag und Nacht schuftete, daß ich unterrichtete, daß ich ein Programm nach dem anderen schrieb und mich immer wieder mit den verschiedenen Kommissionen traf. Eigentlich fühlte ich mich blendend dabei, es war eine richtige Ekstase, aber es war auch Schmerz, Agonie. Manchmal verließen mich die Kräfte, dann fühlte ich mich ausgebrannt, wie eine alte Sicherung, — auf Englisch "worn out", abgetragen, wie ein alter Handschuh.

Ich stand kurz vor meinem 35. Geburtstag. Mein Gott, das war genau die Hälfte meines Lebens, da ich ja vermutlich nur 70 Jahre leben werde, trotz der gescheiten Untersuchungen, die im "Forschungsinstitut zur Verlängerung des Lebens" laufen. Ich hatte für mein Alter viel erreicht, aber ich hätte noch viel mehr schaffen können.

Es war an einem Tag "F", der schon bewölkt und schwül begann. Den Tag zuvor hatten Eduardo, Mercedes und ich bis spät in die Nacht hinein im Büro gearbeitet. Für diesen Tag hatte ich mir vorgenommen, mich zu erholen, was ich seit langer Zeit nicht mehr getan hatte. Sogar an den Meditationstagen am Jahresende hatte ich mich anderen Leuten zur Verfügung gestellt, um ihnen zu zeigen, wie sie über Vergangenes nachdenken sollten, wie sie ihre Zielvorstellungen überprüfen und ihre Zukunft planen konnten. Ich schulte andere darin, aber mit mir selber tat ich es nicht ...

An diesem Tag war ich müde. Es war "2" und die Sonne schien in aller Pracht. Ich drehte mich nochmals in meinem Bett herum und versuchte, wieder einzuschlafen. Da mir das nicht gelang, stand ich schließlich auf, wusch und rasierte mich und hörte mir die Nachrichten an. Ich fühlte mich eigenartig schwer, nicht besonders wohl, fast krank, obwohl mir die Ärzte gesagt hatten, daß ich eine ausgezeichnete Gesundheit besäße und dies trotz der langen Arbeitstage, des vielen Stresses, der Verantwortung und der schweren Last, die ich als Vertrauensperson des Diktators und Planer dieses riesigen Gesellschafts­experiments trug.

Wenn ich meinen spontanen Impulsen gefolgt wäre, hätte ich wahrscheinlich ausgerufen:

Endlose Müdigkeit ist hereingebrochen,   Ha venido el cansancio infinite
um sich in meine Augen zu setzen,           a posarse en mis ojos al fin;
die Müdigkeit des sterbenden Tages,        el cansancio del dia que muere,
und des Tages, der kommen muß ...         y del alba que debe venir...

 

Da es nicht gut war, sich von diesen zeitweiligen Depressionen mitreißen zu lassen, die wir ja auch bei unserem Volk zu vermeiden suchen, entschloß ich mich, mich zusammenzunehmen und etwas zu tun, was ich noch nie zuvor getan hatte. Ich wollte nämlich in ein "Zentrum für sexuelle Gesundheit" gehen. Ich ging dann in eines, das von meinem Haus ziemlich weit entfernt liegt und an meinem Tag "F" geöffnet hatte (dort war natürlich nicht "F-Tag", weil es eine andere Stadtzone war).

Eine Stunde später befand ich mich in einem kleinen Zimmerchen und unterhielt mich mit einem Mädchen, das vermutlich zwischen 20 und 25 Jahre alt war. Es war eine schlanke Blondine, sehr hübsch, unkompliziert und ruhig.

"Wie heißt du?"

"Maribel. Und du?"

"David ... Du mußt wissen, daß ich Inhaber eines wichtigen Amtes bin; deshalb möchte ich dir lieber nicht meinen ganzen Namen sagen. — Ach was, was soll's. Du bist ein nettes Mädchen. Also, ich bin David González."

Sie machte ein verdutztes Gesicht. Ich wartete darauf, daß sie ausrief, wie unglaublich das sei. Daß sie ungeheuer stolz sei, mich zu kennen. Und daß sie all ihren Freundinnen auf der Universität oder in der Arbeit erzählen würde, mich kennengelernt zu haben. Aber anstatt so etwas zu sagen, schaute sie mich nur an und lächelte dieses schwachsinnige Lächeln.

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"Und was machst du so?" fragte sie mich dann.

Ich wollte auf der Stelle tot umfallen, oder besser, daß sie tot umfiel. Hier und sofort, ohne alle Planung. Ohne die Tröstungen der Wissenschaft. (Gestorben mit 20 Jahren, in einem Zentrum für sexuelle Gesundheit ..., — auch nicht gerade eine sehr erbauliche Sache.)

"Wenn du so etwas fragst, Mädchen, dann kann das nur bedeuten, daß du nie Zeitungen liest", sagte ich mit einer gewissen Nachdrücklichkeit., "Ich bin der Erste Berater des Herrn Präsidenten in diesem Land, und jeden, den Tag steht etwas über die Sachen, die wir machen, in der Zeitung. Zumindest steht etwas darüber im Diario Official, der vom Palast herausgegeben wird."

"Nein, ich lese keine Zeitungen. Sie sind so furchtbar langweilig. Wenn du allerdings tatsächlich in der Regierung Einfluß hast, würde ich dir vorschlagen, ein paar Sachen zu ändern, zum Beispiel die blöden Bekanntmachungen auf den Straßen oder die Schlager, die im Radio gespielt werden. Die sind nämlich so ernst, so trocken und so langweilig."

"Was, ernst und langweilig?"

"Ja, mein Lieber. Ich habe eine Freundin, die Soziologie studiert und sie hat neulich mal eine Liste gemacht mit den hauptsächlichsten, wichtigsten Inhalten und Botschaften, die verkündet werden. Und sie hat gefunden, daß es nur einige wenige sind. Aber sie kommen überall und immer wieder vor: 'Liebe und Frieden' heißt es, und ,Bauen wir eine neue Welt!' und 'Keine Kriege mehr!', ,Die Kinder zuerst!' oder ,Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen!' und so weiter und so fort. Das ist alles so todlangweilig. Die Leute lesen das tausendmal am Tag, im Bus, im Zug, auf den Plakaten in den Straßen, in den Zeitungen, auf den Anschlagtafeln, sie hören das im Radio und sehen es im Fernsehen. Wir werden damit vollgestopft. Immer dasselbe, zehnmal in der Stunde. Was für ein langweiliges Zeugs, mein Lieber!"

"Möglich, Mädchen. Aber andererseits ist unsere Revolution ziemlich permissiv, tolerant und liberal, und nicht so wie die Revolutionen in anderen Ländern, zum Beispiel in China oder Cuba. Wir sind für sexuelle Toleranz und haben nichts gegen den Genuß von Alkohol oder Marihuana, jedenfalls in kleinen, kontrollierten Mengen."

"Gott bewahre mich vor den Chinesen, den Russen und den Nordamerikanern!"

"Da du Gott erwähnst — wir tolerieren ihn", sagte ich enthusiastisch.

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"Wir betreiben zum Beispiel keine antireligiöse Propaganda wie anderswo und wollen nur, daß man auch keine Propaganda für eine Religion macht. Die einzige Propaganda, die erlaubt ist, ist die, die die Regierung macht. Und die dreht sich dann um solche Schlagworte und Aufrufe, wie du sie zitiert hast: ,Keine Kriege mehr!', ,Die Kinder zuerst!' und so weiter. Was ist denn daran so schlecht? Nichts, wir wollen nur das Volk erziehen, und das tun wir auch."

"Ihr seid sehr ernste Leute, obwohl ihr noch so jung seid. Aber laß dir gesagt sein, mein Lieber, daß sich das Volk überhaupt nicht für Ideologie und Philosophie interessiert. Das einzige, was das Volk will, ist, daß man es in Ruhe leben läßt. Daß jeder eine geregelte Arbeit hat, Erziehung und Gesundheit gewährleistet sind und alle jedes Jahr am Strand Urlaub machen können!"

"Ich habe mich immer gefragt, ob unsere Zukunft nicht mehr dem finsteren Mittelalter gleichen wird, als einer Renaissance. Es darf einfach nicht so weitergehen, daß die Menschheit soviel entdeckt, soviel erfindet, die Umwelt total verschmutzt, Kriege führt ..."
    "... anstatt zu lieben."

"Genau. Die Menschen heute wollen sich um nichts mehr kümmern, sie denken, daß es nichts gibt, weshalb sie schlaflose Nächte verbringen müßten, nichts, das sie dazu bringt, sich zu fürchten und zu verzweifeln. Wir haben das Äquivalent zur Kriegsmoral noch nicht gefunden. Unsere Leute sind einfach mittelmäßig, sie sind nur darauf aus, ihre unmittelbaren Bedürfnisse zu befriedigen. Ja, wahrscheinlich steuern wir auf ein Mittelalter zu, auf eine Stabilität und Mittelmäßigkeit, in der niemand mehr sich entwickelt oder sich ängstigt. Hör mal, Mädchen, glaubst du, daß irgend jemand noch ein Einstein oder ein Beethoven werden will? Und du selbst, wärest du gerne eine Marie Curie?"

Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie das hörte, aber sie antwortete nicht. Nein, ganz sicher interessierte es diese hübsche, blonde, schlanke halbnackte Person an meiner Seite nicht, eine Marie Curie zu werden.

"Dieses neue Mittelalter wird bald kommen. Es wird keine Entdeckungen mehr geben, keine Erfindungen, es wird keine Sorgen, keine ideologischen Auseinandersetzungen mehr geben. Alles wird vorgeplant sein. Jedermann wird glücklich sein. Alles wird erklärt sein. Die Menschen werden ihr Leben genießen und viel Ruhe und Frieden haben. Die Zeit wird leer und sinnlos verlaufen. Und dieses Mittelalter wird leider die Konsequenz, die Folge unserer schönen psychologischen und sozialen Revolution sein. Wie absurd das ist, wie absurd! Wir haben dann alle Probleme der Menschen gelöst, wir haben dann Gesellschaft und Umwelt bis ins einzelne geplant, haben den Menschen mit den wirksamsten Methoden und Mitteln der heutigen Wissenschaft programmiert und konditioniert. Und das Resultat von all dem sind dann nicht <menschliche Roboter>, wie unsere Feinde in den USA und in der UdSSR behaupten, sondern glückliche und mittelmäßige Menschen, so wie du."

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"Schlimm, mein Junge. Obwohl ich gar nicht so sicher bin, ob das wirklich so schlecht wäre. Schließlich ist das doch das Ziel, das die Menschheit verfolgt: eine Gesellschaft ohne Hunger, ohne Analphabetismus, ohne körperliche und geistige Krankheiten..."

"Aber ohne Beethovens und Einsteins. Natürlich, wir können den Menschen so programmieren, daß er mehr existentielle Ängste entwickelt oder weniger; daß er rebellischer oder unterwürfiger ist; die Modifikation des Verhaltens ist genauso in die eine wie in die andere Richtung möglich. Was wir getan haben, ist, den Menschen friedlich, gut und mittelmäßig zu machen ; wir sind jetzt in der Lage, ihn umweltbewußter werden zu lassen, oder ihn mit existentiellen Ängsten anzufüllen, daß er sich je nachdem in einen Alexander den Großen oder einen Sartre verwandelt..."

"Danke vielmals. Tu das bloß nicht, David. Laß uns in Frieden. Wir wollen glücklich und friedlich leben. Das ist gut so. Daran ist nichts Schlechtes. Möglich, daß bei dem einen oder anderen Kind, wenn es programmiert und konditioniert wird, glücklich und gut zu werden, etwas nicht hinhaut, so daß aus ihm das kreative Genie wird, wie du es dir wünschst, jemand, der wie Alexander der Große eine Welt erobert. Hoffentlich läßt sein Auftauchen noch lange auf sich warten. Hoffentlich sind die Konditionierungsprogramme so perfekt, daß niemals solche ängstlichen Genies hervorgebracht werden, die uns normal Sterbliche ängstigen."

"Das Mittelalter wird einer neuen Renaissance Platz machen und einer neuen Zeit der Kreativität und Unruhe, wie es die moderne Zeit ist. Und dann wird es wieder ein Mittelalter geben wie das, das wir gerade ins Leben rufen."

"Alles verläuft im Kreis, Lieber."

"Ja, Maribel, das ist der <ewige Kreislauf> von Nietzsche."

"Leg dich nieder, Liebling. Ich glaube, daß Leute wie du nicht geboren wurden, um in der Neuen Ära zu leben, in deinem schönen Mittelalter, in dem niemand Probleme oder existentielle Ängste hat. Geboren, um die Welt zu verändern, um eine Neue Ära aufzubauen, aber nicht, um sie zu genießen. Du und deine Leute, ihr da oben, mit den Büros im Präsidentenpalast, ihr seid nicht geboren, um als gewöhnliche und normale Sterbliche in der Neuen Ära glücklich und gut zu leben. Irgend etwas muß da in deiner frühen Konditionierung falsch gelaufen sein, mein Lieber."

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