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14. Militär und Polizei  

 

 

 

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Ich bedauerte sehr, Maribel seitdem nicht mehr gesehen zu haben, aber so war das nun einmal in den <Zentren für sexuelle Gesundheit>. Die Leute verloren sich in der Menge, man wußte nicht, wo sie hingegangen waren. Ich entsinne mich, daß sie das Zimmer verließ, eine teppichbelegte Treppe hinaufging und in ein anderes Zimmer trat, in dem man fernsehen konnte. Vielleicht war sie später zum Swimmingpool gegangen oder in die Sauna oder in den Orgiensaal. Sicher war nur, daß ich sie aus den Augen verloren hatte — und aus meinem Leben —, obwohl ich sie sehr gern wiedergesehen hätte.

Am folgenden Tage "A" hatten wir ein sehr ernstes Projekt zu diskutieren, das die Landesverteidigung betraf. Es handelte sich darum, die Rolle zu überprüfen, die das Militär und die Polizei in unserem Lande spielten. 

Während der ersten paar Jahre hatten wir die Polizei als Institution gesellschaftlicher Kontrolle beibehalten; allerdings hofften wir, sie eines Tages auflösen zu können. Das Militär hatte eine ähnliche Funktion, nur nach draußen gerichtet. Militär wie Polizei waren eindeutig Relikte der Vergangenheit, Überbleibsel, und ich hätte mir lieber heute als morgen gewünscht, diese Institutionen aufzulösen, zu eliminieren. Da es aber nicht einfach war, durch die sonst üblichen und wirksamen Methoden positiver Verstärkung — also zum Beispiel Belohnungen — die Menschen zu "kontrollieren", die schon vor Beginn der Neuen Ära geboren worden waren, mußten wir zwangsläufig die Polizei vorerst beibehalten.

"Je mehr interne, innere Kontrolle es gibt, desto weniger externe, äußere braucht man", erklärte unser Experte für Fragen der aversiven Konditionierung. "Die Gesellschaft vertraut sehr auf die — allerdings nur kurzzeitigen — Wirkungen von Strafen und aversiven Konsequenzen für Verhalten, und an der kurzzeitigen Wirkung wird sich nichts ändern, es sei denn, man setzt sehr starke Stimuli ein."

"Wir müssen aber Bestrafungen auf der gesellschaftlichen Ebene abschaffen", sagte Martin. "Wir haben sie schließlich auch auf individueller Ebene abschaffen können: Niemand straft mehr seine Kinder, und man kann es sehen: es gibt nur fröhliche und glückliche, gesunde Kinder in unserem Land, — Kinder, die frei und kreativ sind."

Dabei fiel mir mein Gespräch mit Maribel tags zuvor ein. Und ich mußte im stillen etwas schlucken.

"Die Abschaffung der aversiven Kontingenzen für unangebrachtes Verhalten muß früher oder später durchgesetzt werden", fuhr unser ,Spezialist für Strafe, Flucht- und Vermeidungsverhalten' fort. "Wichtig ist vor allem herauszubekommen, ob die internen Kontrollmechanismen so gut ausgebildet sind, daß man auf aversive, strafende Konsequenzen verzichten kann. Nun sind zwar schon vier Jahre vergangen, aber wir haben immer noch Militär und Polizei. Wir haben immer noch Gefängnisse, Geldstrafen und ..."

"Aber wir haben auch Belohnungen für die, die das Gesetz respektieren", unterbrach ihn der Präsident, der, wie mir auffiel, jeden Tag ungeduldiger wurde, "wir haben doch positive Verstärker, Belohnungen und andere positive Verhaltens-Konsequenzen, die überall in der Umwelt eingebaut sind, und die für alle Arten angepaßten Verhaltens gelten."

"Ja, Herr Präsident. Aber es braucht immer noch die Polizei, um bei den verschiedensten Verhaltensweisen der Menschen Ordnung zu halten, weil wir es ja mit Leuten zu tun haben, die vor der Neuen Ära geboren wurden."

"Wie wir...", bemerkte ich.

"Ja. Wie wir alle. Die Entscheidung, letztlich Militär und Polizei abzuschaffen, kann nur davon abhängig gemacht werden, ob die Menschen in unserem Land genügend konditioniert sind, um ohne solche diskriminierenden Reize (die Polizisten) und ohne aversive Konsequenzen zu funktionieren. Ich erkläre das mal. Jemand muß Gesetz und Ordnung <introjiziert>, internalisiert haben, damit die Polizei abgeschafft werden kann. Er muß die Kontrolle <in sich drinnen> haben, sie darf nicht außerhalb von ihm liegen. Wenn die Polizei quasi in seinem Inneren, in ihm drin ist, braucht sie nicht auch noch außerhalb von ihm zu sein."

Es vergingen noch mehrere Stunden, bevor die Diskussion zu Ende war. Wir kamen schließlich zur Auffassung, daß wir noch einige Zeit zu warten hätten, daß unsere Revolution einfach noch nicht weit genug fortgeschritten war, um solch einen Schritt zu unternehmen, — die Polizei abzuschaffen.

Beim Militär war die Situation anders. Ich drängte darauf, diese Institution auf zuheben. Sollten wir eines Tages uns mit irgend jemandem im Kriegszustand befinden — mit den Vereinigten Staaten, Rußland oder China —, dann brauchten wir sicherlich kein Militär, weil wir diesen Krieg von vorneherein verloren hätten.

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Natürlich konnten wir es nie mit solchen Giganten aufnehmen. Andererseits hatten wir keine anderen großen Feinde mehr, und mit unserem Militär konnten wir nur mit einem kleinen Nachbarland Krieg führen. Das allerdings hätte nicht unserer Philosophie entsprochen, der Idee der Liebe zu allen Menschen und einer universellen Harmonie.

"Wenn wir ein Militär haben, dann bedeutet dies, daß wir uns verteidigen wollen oder daß wir angreifen wollen, in jedem Fall, daß wir an 'Strafen' glauben, an Waffen", meinte ich. "Da haben wir unseren Leuten jahrelang die Köpfe mit Phrasen wie ,Nie wieder Krieg!' vollgestopft, und trotzdem haben wir immer noch ein Militär, das nur zu einem da ist: zum Kriegführen! — Bloß, mit wem sollten wir denn einen Krieg führen? Wir haben keine Feinde. Die Großmächte, die Superstaaten der Gegenwart, also die USA, die UdSSR und China, die argwöhnisch beobachten, was sich hier tut, sind so mächtig, daß es ein Wahnsinn wäre, an einen Krieg mit ihnen auch nur zu denken. 

Wir wollen ja auch gar keinen Krieg. Daß wir ein Militär haben, von mehreren tausend Mann, die bereit und in der Lage wären, Krieg mit einem anderen Land der Dritten Welt zu führen, ist etwas, das unserer Philosophie total zuwiderläuft. Wir werden nie und nirgendwo einen Krieg anfangen! Und wenn wir kein Heer haben, dann wird uns auch niemand angreifen. Es gibt doch auch andere kleine Länder wie unseres, die auf eine Wehrmacht bewußt verzichten, und das hat ihnen viele Sympathien in der ganzen Welt eingebracht — und nicht nur das: es verhindert Angriffe seitens ihrer Nachbarn. Das sind einige wenige Staaten in Afrika und in Lateinamerika. Die anderen sind, wie wir, bis an die Zähne bewaffnet."

Meine Argumente wurden ernst genommen, was mich erstaunte und verwunderte. Wir würden das Militär auflösen, abschaffen, aber die Polizei zur Aufrecht­erhaltung der sozialen Kontrolle weiterbestehen lassen; aber nur solange, wie wir brauchten, um unsere Programme so umfassend zu gestalten, daß die Polizei überflüssig würde. Eines Tages würden wir ein Volk ohne Militär und ohne Polizei sein. Ein Volk, das den Frieden liebte und dies auch vor aller Welt demonstrierte.

Kein Militär zu haben, hatte einen großen Vorteil: Viele Staaten, die uns jetzt eine gewisse Abneigung entgegenbrachten, würden uns in Zukunft mit mehr Wohlwollen betrachten. Es war eine Probe oder Prüfung für uns, ob wir nicht nur verbal, sondern auch im Verhalten eine pazifistische Gesinnung besäßen. Wir glaubten an Belohnungen, nicht an Strafen. Wir glaubten an den Frieden, nicht an den Krieg.

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Alle unsere Versuche, eine große Brüderschaft aller Menschen zu schaffen und das Leben der Menschen entscheidend zu verbessern, konnten jetzt Wirklichkeit werden, jetzt, wo wir die Übermacht der aversiven Kontrolle abschafften. Das "moralische Bewußtsein" der Gesellschaft war nicht länger ein "äußeres", sondern wurde zu einem "inneren".

Darüber hinaus planten wir, innerhalb eines Jahres die Polizei aufzulösen. Während dieser Zeit wollten wir unsere Programme zur Moralentwicklung umstrukturieren, und dies ganz im Sinne von Kohlberg und seiner 6. Stufe der moralischen Reife. Menschen, die diese 6. Stufe erreicht haben, befinden sich in Übereinstimmung und Einklang mit dem Gesamt der gesellschaftlichen Normen und Regeln, deren Sinn darin besteht, das gesellschaftliche Chaos zu vermeiden. Es ist dies die höchste Stufe der moralischen Entwicklung. Und auf diese höchste Stufe sollten alle Menschen in unserem Land gelangen. Die vorausgehenden Stufen beinhalten das Befolgen gesellschaftlicher Normen nur, um Strafen zu vermeiden, und das Akzeptieren von Autoritäten; sie beinhalten, daß jemand an sein Wohl, nicht an das Wohl anderer denkt. Das 6. Stadium war das höchste Ziel, das sittlich Gute schlechthin, war der Bezugspunkt für die Menschheit und nicht irgendein reduzierter Ausschnitt davon.

"Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte", formulierte Mercedes. — "Von wem ist doch gleich dieser schöne Satz? Von Kant, oder? Ja, natürlich, von Kant, es ist der Kategorische Imperativ: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte! Ob wir wohl eines Tages dahin kommen werden?"

"Ich glaube schon. Man kann sehr viel tun auf dem Gebiet der moralischen Entwicklung, aber fast nie wird etwas dazu unternommen. Wir müssen die Menschen so konditionieren, daß sie das Gute tun wollen, daß sie es gern tun wollen. Wir befolgen dann ein Gesetz nicht aus Angst vor Strafe, sondern weil wir die positive Kraft verinnerlicht, ,internalisiert' haben, die sich ergibt, wenn man Gutes tut. Natürlich definieren wir ,gut' in einem humanistischen Sinne: ,Gut' ist das, was für den Menschen gut ist; es geht nicht um platonische Sitten-Regeln, die nicht von dieser Welt sind."

"Im Gegensatz zu den Tröstungen der Religionen ist unsere Gesellschaft, unser ,Reich' von dieser Welt."

Wir unterhielten uns weiter über Moral und Ethik, über die kulturelle Relativität des Guten und Bösen, die sich nur dann überwinden läßt, wenn man als Bezugspunkt die Menschheit als Ganzes nimmt, wenn man also das, was uns eint, und nicht das, was uns trennt, im Sinn hat. Die gesellschaftlichen Normen müssen dank einer gründlichen moralischen Konditionierung im Menschen verankert, von ihm internalisiert sein. Dann brauchten wir keine Polizisten. Jeder wäre sein eigener Hüter der sozialen und moralischen Ordnung.

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"Heute habe ich übrigens eine Gruppe junger Burschen empfangen, die mir vorschlugen, eine Reihe chemischer Substanzen, vor allem die nicht erlaubten Halluzinogene, zu legalisieren. Weißt du, ich habe mich dem immer widersetzt. Ich meine, der Mensch sollte seine ,kicks' (wie es auf englisch heißt), seine Ekstase durch natürliche Mittel erreichen, durch Arbeit, Liebe, Sport, aber nicht durch Drogen."

"Ja, David", sagte Mercedes, "dadurch, daß wir das Marihuana legalisiert und Anbau, Verarbeitung und Verteilung zum Staatsmonopol gemacht haben, haben wir nur noch weitergehende Erwartungen dieser Jugendlichen geschürt. Und jetzt haben wir große Kampagnen gegen die Drogen gestartet, wenden wir viel Zeit und Geld dafür auf, ihren Genuß zu bekämpfen. Darin sind wir wirklich eine puritanische Gesellschaft, viel puritanischer als die meisten anderen Staaten. Weil wir überzeugt sind, daß die Drogen das Gehirn des Menschen angreifen und seine Individualität und seine Persönlichkeit zerstören."

"Und doch haben wir zur selben Zeit das Marihuana legalisiert!"

"Sagen wir lieber: wir haben es in eine andere Kategorie eingeordnet. Wir sehen es nicht als ,Droge' oder verbotene Substanz an. Und wir erlauben seinen Gebrauch unter bestimmten, kontrollierten Bedingungen, also in kleinen Mengen, — weil wir seine Haupt- und Nebenwirkungen, die Gefahren und möglichen Komplikationen inzwischen genau kennen, die mit seinem Konsum auftreten können."

"Und außerdem erscheint uns der Alkohol eine viel größere Gefahr als das Marihuana."

"Er ist es. Aber weil die Leute immer gewöhnt waren, Marihuana als schlimme, verbotene Droge anzusehen, verlangen sie nun, nach seiner Legalisierung, dasselbe mit dem Heroin, Kokain, dem LSD und ähnlichen Schweinereien zu tun. Deshalb war es eben doch gefährlich, das Marihuana zu legalisieren."

"Aber viele Studien, die wir durchgeführt haben, haben doch auch gezeigt, daß die Konsumenten von Marihuana keineswegs ,auf harte Drogen umsteigen'. Das war doch ein Mythos, der in der ganzen Welt verbreitet war. Aber die wissenschaftlichen, kontrollierten Untersuchungen sagen etwas ganz anderes. Dadurch, daß wir das Marihuana legalisiert haben, konnten wir seine Wirkungen gut kennenlernen. Und genau aus diesem Grund verdoppeln wir nun unsere Anstrengungen im Kampf gegen Morphium, Kokain, Heroin, LSD und andere schlimme Drogen."

Wir brauchten zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Polizei unter anderem für die Bekämpfung des Drogenhandels. Aber dieser war erheblich geschrumpft, weil in der Neuen Ära die Leute wenig rauchten, wenig tranken (mit Ausnahme des Herrn Präsidenten ...) und sehr wenig Marihuana verbrauchten. Dennoch, die Polizei ganz auflösen? Wie sollten wir nur mit diesem Problem fertig werden?

Unsere Zentren für Drogenabhängige enthielten alle Angebote — Entgiftung, medizinische und psychologische Behandlungen, soziale Hilfen, Programme zu einer Erziehung für die Gemeinschaft. Die "Anonymen Drogenabhängigen" (— ähnlich den "Anonymen Alkoholikern" —) leisteten in diesem Bereich eine besonders wertvolle Arbeit. Dadurch, daß wir das Marihuana von der "Schwarzen Liste", dem "Index" für verbotene Drogen und Substanzen entfernt hatten (übrigens eine Parallele zum "Index" der verbotenen Bücher, den die Kirche früher geführt hatte), hatten wir viele Mythen zerstören und das Problem größtenteils lösen können. Heute wurden weniger Drogen als früher konsumiert, und das soziale Bewußtsein, das Gefühl für soziale Verantwortung, war wesentlich gewachsen.

"Ich, der ich nie in meinem Leben Marihuana geraucht habe", sagte ich, "fühle mich schon sehr komisch, wenn ich vor Familienvätern erläutern muß, warum wir es legalisiert haben. Die müssen doch denken, daß meine Argumente einzig auf meinem persönlichen Interesse für diese Substanz basieren. Aber sie irren sich gewaltig. — Das ist übrigens das Prinzip der 'Kognitiven Dissonanz' von Festinger, wie du weißt..."

"Etwas, woran wir Behavioristen natürlich nicht glauben, Dave...!"

"Nein? Na ja, du hast natürlich recht, Mercedes. An so etwas glauben wir nicht. Aber es scheint, daß das funktioniert, wenigstens ein bißchen. Also: Die Leute denken, daß ich für die Legalisierung des Marihuanas bin, weil ich ein begeisterter Konsument dieses Krauts bin. Sonst würde ich mich wohl nicht mit dem Problem befassen. Aber ich bin es gar nicht; ich habe das Zeugs nie probiert und habe auch nicht vor, es zu versuchen. Das erzeugt einen Zustand der 'kognitiven Dissonanz', den man zu vermeiden sucht."

"Es ist schon merkwürdig, wie der menschliche Geist funktioniert ..." 

"Wieso <Geist>, liebe Mercedes? Das ist doch nur ein weiteres Konstrukt, an das wir Behavioristen nicht glauben ..."

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