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17  Kann uns die Wissenschaft retten?  

 

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Da unsere neue Gesellschaft den Ruf hatte, eine "wissenschaftliche" zu sein, wurde das Land zum Ort eines <Internationalen Kongresses für Technologie und Angewandte Wissenschaften> ausgewählt. Die Experten unseres Landes sollten sozusagen vor den Augen der Welt die Grundlagen der Sozial-Technologie darlegen, auf denen die vieldiskutierte <Neue Ära> errichtet worden war. 

Wenn einmal etwas über uns veröffentlicht wurde, dann war das in den meisten Fällen etwas Negatives. Mich verwunderte das immer. Hatten wir vielleicht nicht Elend, Analphabetentum und Arbeitslosigkeit beseitigt? Waren wir etwa nicht dabei, die körperlichen und seelischen Krankheiten auszumerzen? Hatten wir nicht auch ein neues Familien-, ein Erziehungs- und ein Arbeitssystem, die man alle wirklich als Innovationen bezeichnen konnte? — Die Kritik an uns war immer die gleiche: diese Gesellschaft war schlecht, weil sie eine geplante war. Das Schlimme an uns war, daß wir nichts dem Zufall überließen, alles planten, die Umwelt organisierten und das menschliche Verhalten programmierten.

Diese Diskussion ging ad infinitum weiter, aber es war eine bejahrte, abgenutzte Diskussion, bei der ganz typisch das Wort im Vordergrund stand, und nicht die Sache. Sie führte zu nichts. Ich wollte damit meine Zeit nicht vergeuden, weshalb ich diese ewigen und nichtfundierten Diskussionen tunlichst mied. Aber den meisten Menschen gefielen sie, und daher erklärte es sich, daß auf dem erwähnten "Kongreß für Technologie und Angewandte Wissenschaften" Themen wie "Kontrolle und Freiheit", "Soziale Planung", "Management des menschlichen Verhaltens" stundenlang diskutiert werden konnten. Für mich Grund genug, an diesem Kongreß erst gar nicht teilzunehmen.

Bei der Eröffnung mußte Martin den Hauptvortrag halten, und deshalb hatten alle Mitarbeiter der "Nationalen Planung" dabei zu sein, ob sie wollten oder nicht. 

Da ich jetzt allmählich begann, die Prinzipien zu akzeptieren, die wir als unsere Leitlinien in alle vier Himmelsrichtungen hinausposaunten, sagte ich mir also, daß ich, wenn ich schon etwas tun mußte, dies am besten mit Genuß tun sollte: also eine gute Miene zum bösen Spiel machen; ich mußte lernen, das tun zu wollen, was wir wollen mußten ...

"... In der Neuen Ära nimmt die Wissenschaft bei der Organisation der Gesellschaft einen sehr wichtigen Platz ein", sagte der Präsident feierlich. "Unsere Gesellschaft ist eine wissenschaftliche. Wir verstehen unter 'Wissenschaft' eine Haltung, die wir einnehmen, um zu Tatsachen zu gelangen; und wir kümmern uns weniger darum, was man über diese Tatsachen gesagt hat. Wir stellen Fragen an die Natur und hoffen, daß sie uns diese Fragen beantwortet. Es ist wichtig, daß diese Fragen gut formuliert sind, daß wir die Sprache der Natur verstehen und die erhaltene Antwort in Hinsicht auf unser schon vorhandenes Wissen einen Sinn hat. Wir sind kein Volk von Politikern, sondern ein Volk von Wissenschaftlern. Wir unterziehen alle unsere Reformen einer Prüfung, evaluieren sie und verändern sie, wenn es sich als notwendig erweist. Wir vergleichen unsere Prämissen mit der Wirklichkeit, und wenn diese nicht mit unseren Annahmen übereinstimmt, ändern wir sie. Wir haben einen tiefen Respekt vor der Natur, auch und gerade vor der menschlichen Natur."

Der große Konferenzsaal war bis auf den letzten Platz besetzt, und die Ausführungen wurden simultan ins Englische und Französische übersetzt. Ich dachte, daß Martin sicher eine halbe Flasche Wodka getrunken hatte, bevor er auf das Proszenium gestiegen war; vermutlich sprach er aus diesem Grunde so selbstsicher und selbstzufrieden. Sein Alkoholismus machte mir Sorgen, aber ich hatte bisher nie mit ihm über dieses spezielle Thema geredet. Unser aller Leben, das Leben der 'Künstler', der Schöpfer der Neuen Ära, war voller Belastungen und Streß; wir trugen eine enorme Verantwortung, und jeder von uns mußte versuchen, ein "Refugium", einen Zufluchtsort zu finden, eine Möglichkeit, seine innere Unruhe zu überwinden. Der Alkohol war dazu ein schlechter Weg, davon war ich überzeugt. Aber ich kritisierte Martin nicht wegen seiner Neigung; schließlich trank er meist nur sehr mäßig und schien diese gefährliche Flüssigkeit unter Kontrolle zu haben.

"Wir glauben, daß — in Grenzen — die wissenschaftliche Haltung eine objektive Haltung ist. Wir sind davon überzeugt, daß der Wissenschaftler kein kühler, passiver Beobachter der Natur sein kann, sondern ein leidenschaftlicher Sucher nach Ordnung, Logik und Sinn im Universum. Der Wissen­schaftler ist in gewisser Weise dem tief religiösen Menschen ähnlich, der einen Sinn im Universum finden möchte. Wir meinen, daß der Wissenschaftler die Welt verändert, wenn und indem er sie beobachtet; er wählt Ereignisse aus der Wirklichkeit aus und ordnet sie in Theoriengebäude ein.

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Diese — die Theorien nämlich — sind also nicht die Folge seiner Beobachtung, sondern die Voraussetzung, die Basis für Beobachtungen. Mit anderen Worten: die Theorie sagt uns, was wir suchen müssen. Wissenschaftler sind .leidenschaftliche' Menschen, und sie stecken voller Vorurteile wie andere Menschen."

"Wir glauben nicht, daß die Wissenschaft ein Spiel ist. Ganz im Gegenteil meinen wir, daß sie eine viel zu wichtige Institution ist, als daß sie als ein Spiel betrachtet werden könnte. Deshalb nehmen wir Leute wie Popper und Kuhn sehr ernst, glauben an Paradigmen und halten es für zutreffend, daß die Geschichte der Wissenschaft noch nicht zu einem Ende gekommen ist. Mehr noch, wir meinen, daß sie gerade erst angefangen hat. Für kleine Staaten wie den unsrigen, mit seinen beschränkten Ressourcen und seinen großen Plänen des sozialen Wandels, muß die Wissenschaft vor allem eine nützliche sein. Wir sind sehr für die wissenschaftliche Grundlagenforschung und geben ihr all die Förderung, die sie verdient; wir favorisieren aber die angewandte Wissenschaft, weil unsere sozialen Probleme sehr dringlich sind und nicht warten können, bis die Laboratoriumsforscher alle Lösungen gefunden haben. Wir wenden deshalb das an, was schon vorhanden ist, wir nehmen die vorliegenden Untersuchungsergebnisse der Laboratoriumsforschung her, versuchen, zuverlässige Aussagen darüber zu treffen, wie diese Ergebnisse mit der Realität (des einzelnen Menschen und der Gesellschaft) übereinstimmen, und wenden die vorhandenen Informationen an, auch wenn sie unvollständig sind. Und wenn es nötig ist, improvisieren wir auch."

 

Ich dachte mir, daß Martin das Letzte nicht hätte sagen sollen. Natürlich improvisierten wir, und das nicht wenig. Aber es war nicht nötig, so etwas vor diesem internationalen Publikum zu sagen, das bestimmte Dinge sehr falsch verstehen konnte. (Mir wäre es lieber gewesen, wenn ich die Rede geschrieben hätte, anstatt ihn das selbst machen zu lassen.)

"Wenn ich von der Wissenschaft spreche, dann beziehe ich mich nicht allein auf die Physik, sondern auf alle Wissenschaften. Ich meine auch, daß die traditionelle Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften einerseits und Sozial- oder Human-Wissenschaften andererseits nichts weiter als ein Anachronismus ist. Heute wissen wir, daß der Mensch und seine Gesellschaft Teil der Natur sind, und deshalb sind wir von einer einzigen Wissenschaft überzeugt. Aber wir meinen auch, daß es unterschiedlich entwickelte Wissenschaften gibt, wobei die Physik wohl immer die Avantgarde gewesen ist. Es gibt entwickeltere und weniger entwickelte Wissenschaften, und diese Unterscheidung ist sinnvoll, aber es gibt keine <Natur- und Sozialwissenschaften>."

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(Das war eine Sache, die Physiker und Ingenieure sicherlich erfreuen würde, weil diese seit jeher davon überzeugt waren, daß der Weg, den die Physik einschlägt, die einzige Alternative für alle Wissenschaften ist. — Das ist wohl sehr fraglich, mein Herr Präsident — aber nun gut, wir werden über dieses Thema noch bei anderer Gelegenheit reden.)

"Diese Wissenschaft, die sich von den Atomen bis zu den Galaxien erstreckt, von den Transformationen im Stoffwechsel bis zum gesellschaftlichen Wandel, ist einer der Hauptpfeiler unserer Gesellschaft. — Der zweite Hauptpfeiler ist die Achtung vor dem Menschen und seinem Wohlergehen. Wir sind Anhänger des Humanismus in einem neuen Sinne: Anhänger eines wissenschaftlichen, nicht eines ,literarischen' Humanismus: Wir tun etwas, anstatt nur die ganze Zeit davon zu reden. Dafür muß man notwendigerweise bereit sein, etwas zu riskieren, zu improvisieren und auch mal Fehler zu korrigieren.

"Vor kurzem", fuhr der Präsident fort, "diskutierte die 'National Science Foundation' in den USA die Fortschritte der Datenverarbeitung durch Computer und Mikroprozessoren. Diese Computer mit Kapazitäten, die das menschliche Vorstellungsvermögen überschreiten und dabei relativ geringe Kosten verursachen, beginnen Wirklichkeit zu werden. Der Normalverbraucher hat bereits Zugang zu den neuen Systemen der Informationsverarbeitung. Wenn früher ein kommerzieller 'Mikrochip' vielleicht 16.000 Funktionen speichern konnte, kann er jetzt 160.000 oder mehr speichern. Dieser gewaltige technologische Fortschritt in der Datenverarbeitung impliziert — genauso wie einst Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks - die Mechanisierung der Information. Wir stehen am Beginn einer großen technologischen Revolution, großer Fortschritte in der Kombination bisher nur individuell betrachteter Hypothesen, in der Analyse von Daten, und wir werden den Zugang aller Individuen zu allen Informationen haben. Man steht kurz vor neuen revolutionierenden Fortschritten in der Neurologie, der Spektrographie der Infrarotstrahlen, der Kristallographie der Röntgenstrahlen und der Untersuchung von Mikrostrukturen.

Warum haben diese gewaltigen Veränderungen nicht die Psychologie, die Soziologie, die Anthropologie erreicht? Weil die Bezugsgrößen dieser Wissenschaften sehr komplex, sehr vielschichtig sind und weil viele Interaktionsprozesse zwischen den einzelnen beteiligten Variablen in Betracht gezogen werden müssen. Außerdem wird der Fortschritt in diesen Disziplinen, wie zum Beispiel der Psychologie, durch die begrenzte Aussagekraft der dabei herangezogenen traditionellen Mathematik und ihrer impliziten Denkmuster behindert. Vielleicht ermöglichen es die enormen Veränderungen im Bereich der Informationsverarbeitung, daß die Theorie der Verhaltenswissenschaften die ganze Komplexität der Phänomene umfassen wird, die wir verstehen lernen wollen "

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"Man hat uns gesagt, daß unsere Gesellschaft eine sei, die einzig und allem auf die Psychologie gegründet ist", sagte Martin dann, nachdem er einen Schluck Wasser getrunken hatte (obwohl ich glaube, daß er einen Schluck Wodka vorgezogen hatte), "aber tatsächlich stutzen wir uns auf alle Wissenschaften Wir haben dementsprechend auch die unterschiedlichsten Forschungsinstitute gegründet, etwa zur Verlängerung des Lebens, zur Bekämpfung des Krebses, zum Studium der Familie Wir haben große Labors und Forschungsstätten für Klassisches und Operantes Konditionieren, die übrigens zum größten Teil von einheimischen Wissenschaftlern geleitet werden Unser Institut für Kriminologie hat wahrlich grandiose Untersuchungen durchgeführt Wir haben zwar nicht viel Neues im Bereich der Astronomie oder Quantenphysik zu bieten, aber dafür um so mehr in der Ökonomie, Soziologie und Anthropologie

Da wir an eine einzige, vereinigte Wissenschaft glauben, haben wir der Verhaltens- und Lernpsychologie große Bedeutung beigemessen Schon Kantor sagte seinerzeit, daß sich schließlich alle Wissenschaften mit dem ,overten', tatsächlichen Verhalten befaßten und es deshalb egal sei, ob man von einer Verhaltens-Psychologie oder einer wissenschaftlichen Psychologie spreche — Das, was man verändern muß, um eine neue Gesellschaft aufzubauen, ist der Mensch.  

In den meisten der großen Utopien der Menschheitsgeschichte, seien sie von Platon, von Thomas Morus, Aldous Huxley, George Orwell oder auch von Skinner, wurde ganz ausdrücklich die Notwendigkeit herausgestellt, den Menschen zu ändern. Man kann keine neuen Statuen bauen, indem man alte, mangelhafte Bestandteile verwendet! Die Aufgabe der Psychologie ist die Schaffung eines Neuen Menschen, und der philosophische Rahmen, in den wir uns gestellt haben, ist der Rahmen der Wissenschaft und des Humanismus — einer Wissenschaft, die für den Menschen eintritt, die ihn schafft und die diesem Menschen zu dienen hat."

Anschließend an diese Ausführungen des Präsidenten sprachen noch andere von uns. Glücklicherweise befand ich mich nicht darunter, da es mir rechtzeitig gelungen war, eine plausible Entschuldigung zu finden. Dann kam der unvermeidliche Cocktail, und nun konnte Martin nach so langem Warten endlich seinen Wodka trinken. Der Präsident des Kongresses, ein hervorragender Spezialist für Systemwissenschaft und -technologie aus der Sowjetunion, kam auf mich zu und sagte zu mir auf englisch:

"Jetzt verstehe ich, daß Sie einen sehr langen, schwierigen Weg vor sich haben. Es ist wahrlich sehr kompliziert, den Menschen und die Gesellschaft zu ändern, wenn man dabei als Grundlage die Verhaltenswissenschaft und als Richtschnur den Humanismus hat. Jetzt verstehe ich auch einen Satz, der auf unzähligen Flugblättern und Plakaten in der ganzen Stadt zu finden ist und den man laufend auch im Radio und im Fernsehen hören kann: <Wir haben noch viel zu tun — und wir sind dabei, es zu tun.>"

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