Start   Weiter

19  Weder Marx noch Jesus

 

 

125-128

"Der Mensch schuf Gott genau nach seinem Bild und Gleichnis", sagte mein sowjetischer Freund ein paar Tage später, 

"schon die Götter der alten Griechen zeichneten sich durch die Lebensauffassung aus, die für dieses Volk und Land typisch war. Das gleiche gilt für den Gott der Juden, der von einigen Menschen ersonnen wurde, die in der Wüste lebten und hart um ihr Leben in einer feindlichen Umwelt ringen mußten. Jesus schuf ein Reich, das sich über die ganze Welt verbreitete, im Rom der Cäsaren sein Zentrum hatte und dann durch Kaiser Konstantin 'offiziell anerkannt', also zur Staatsreligion erhoben wurde.

Und dasselbe gilt auch für Marx, einen weiteren Juden, der Jesus in vielem ähnelt, weil er messianische Ideen hatte wie dieser, verfolgt wurde wie dieser und später nach seinem Tode und seiner Wiederauferstehung rehabilitiert wurde ..."

"Marx und Jesus ..."

"Zwei Juden, die beschlossen, die Welt zu erobern, und dies auch taten. Das Reich von Marx begann 1917. Es hat sich mit Riesenschritten in der Welt ausgebreitet, und wenn Sie die Wachstums- oder Verbreitungskurve des Marxismus in die Zukunft extrapolieren, werden Sie zu der Schlußfolgerung kommen müssen, daß wir binnen kurzem den ganzen Planeten erobert haben werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, und es ergibt sich ganz einfach aus der Analyse und Extrapolation der statistischen Daten in einer Graphik ..."

Die Rolle des Kommunismus in der Welt, sein beschleunigtes Wachstum und die Analogien zwischen Marx und Jesus waren Themen, die uns viele Stunden beschäftigten. Genauso das Problem der Religion und ihre Notwendigkeit für den heutigen und den zukünftigen Menschen.

"Die organisierte Religion hat sich sehr verändert. Was gestern noch als Häresie und des Scheiterhaufens würdige Handlung betrachtet wurde, ist heute allgemeine Praxis. Was heute noch nicht akzeptiert wird, wie zum Beispiel die Ehe katholischer Priester, mag morgen die Regel sein. 

Die Kirche hat sich gewandelt, alle Kirchen haben sich gewandelt. Tatsächlich müssen sie es tun, weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt. Es ist schlicht eine Frage des Überlebens, der 'Milieuanpassung', um nicht unterzugehen. Darwin hatte schon recht. Die Arten, die Species, und auch die Institutionen verändern sich, passen sich an die veränderte Umwelt an, um nicht auszusterben. Das ist das Gesetz des Lebens, das Überleben des Bestangepaßten. Angepaßt wofür? — Angepaßt zum Überleben!"

"Sicher hat sich die Religion sehr verändert. Vermutlich hat der Marxismus eine ganze Menge mit diesen Veränderungen zu tun, besonders, was Lateinamerika betrifft. Kirche und Marxismus, als zwei Alternativen zur Lösung der Probleme dieses Kontinentes, haben ihre Kräfte vereint, — eine Sache, die lange unmöglich schien. Revolutionäre Priester sind überall aufgetaucht, trotz des heiligen Zorns der Kirchenfürsten, der Kirchenspitze", meinte ich.

"Aber diese Annäherung ist gefährlich. Ich glaube, daß sie den Marxisten ebenso schadet wie den Katholiken. Wie Sie wissen, hat sich auch der Marxismus gewandelt, um sich den spezifischen Bedürfnissen jedes Landes und jeder historischen Phase anzupassen. Der Marxismus der UdSSR ist nicht der gleiche wie der in Italien oder in Chile. Es sind verschiedene Realitäten, obwohl die Grundprinzipien beibehalten werden. Sie wissen, daß uns die Chinesen beschuldigen, ,Revisionisten' zu sein und uns von den wahren marxistischen Prinzipien zu entfernen ... In der gleichen Weise, wie die orthodoxen Katholiken die progressiven beschuldigen, sich von Gott zu entfernen. Beide Religionen, die von Marx und die von Jesus, haben ihre konservativen und progressiven Fraktionen."

"Von einem psychologischen Gesichtspunkt aus meine ich dennoch, daß die Religion im Leben des Menschen einen Sinn hat. Eine Religion ohne Offenbarung, ohne Dogmen, Gebote und Kulte. Ohne abergläubisches Brimborium und ohne Pseudoerklärungen der Vorgänge auf dieser Welt. Eine Religion, die nicht darauf beharrt, die wissenschaftliche Autorität zu besitzen, um in Fragen der Astronomie, der Evolution, der Psychologie oder der Soziologie Gutachten abzugeben. — Zum Beispiel ist die Geburtenkontrolle ein Punkt, in dem die Wissenschaftler von heute und die Katholiken von heute aufeinanderprallen. Früher war es die Evolution der Arten, und noch früher die Drehung der Erde um die Sonne. Aus allen Streitgesprächen zwischen Wissenschaft und Religion ist die Wissenschaft siegreich hervorgegangen. Ohne eine einzige Ausnahme. Heute betrifft der Streit zwischen Wissenschaft und Religion nicht mehr die Astronomie oder die Biologie, sondern die Demographie: 

126


Was die Katholiken behaupten, ist genau das Gegenteil von dem, was die demographischen Experten sagen. Aber sehr wahrscheinlich wird auch aus dieser Angelegenheit, wie in allen früheren Streitpunkten, die Wissenschaft als Sieger hervorgehen. "

"Und später wird die Religion einmal behaupten, sie sei <in Wirklichkeit> nicht richtig verstanden worden, sie habe <in Wirklichkeit> nie gesagt, daß sich die Sonne um die Erde drehe oder daß die Arten unveränderbar seien oder daß sie die Geburtenkontrolle verhindern wolle", setzte der sowjetische Wissenschaftler hinzu.

"Trotzdem glaube ich, daß die Religion in der Gesellschaft ihren Platz hat. Natürlich nicht eine Religion der Magie, sondern eine Religion, welche die Vereinigung und Einheit mit der Menschheit ermöglicht, eine Religion, die uns erlaubt, unsere eigenen Grenzen zu transzendieren."

"Und welche ist das? Nein, ich glaube nicht daran. Ich meine, es ist besser, wenn wir uns ein für allemal von der Religion freimachen. Es ist einfach zu gefährlich, sie bestehen zu lassen, und für mich ist es nach wie vor unbegreiflich, wie Sie ihr in der Neuen Ära Raum geben können. Wenn ich an der Spitze dieses Staates stünde, würde ich die Religion ein für allemal beseitigen. Wahrscheinlich waren mir die nachfolgenden Generationen sehr dankbar dafür."

"Ich weiß nicht, da wäre ich nicht sicher. Es gibt viele Dinge in unserem Leben, die wir nicht erklärt haben, — Realitäten, denen man sich stellen muß. Da ist der Tod, das schwierigste, ernsteste Problem des Menschen. Obwohl die Wissenschaft das Leben verlängern kann, obwohl wir dem Leben mehr Würde geben, wird es immer den Augenblick des Sterbens geben. Wir sind zum Tode verurteilt. Männer und Frauen, die wie wir noch zwanzig oder dreißig Jahre auf diesem Planeten sein und dann sterben werden. 

Es sind die Krankheiten, die Ungerechtigkeiten, der Schmerz, das Elend. All diese negativen Facetten des Lebens, die uns seit den Anfängen unserer Geschichte begleiten — Bei Ihnen diagnostiziert man einen Krebs und sagt Ihnen, daß Sie innnerhalb der nächsten drei Monate sterben werden. Welchen Sinn geben Sie dann dem Rest Ihres Lebens? Welche rationale und weise Erklärung finden Sie auf die Frage, warum gerade Ihnen das passieren mußte? — <Warum ausgerechnet mir?> — Warum? Warum? — Es gibt keine Antwort — Ihre kleine Tochter geht auf die Straße und wird von einem Lastwagen überfahren und ist sofort tot Was können Sie tun? Wie finden Sie, woher nehmen Sie die Kraft zum Weiterleben? Es gibt viele Dinge, die man durch die Wissenschaft allein nicht erklären kann ..."

"Religion und Wissenschaft sind verschiedene Erklärungsebenen. Genau wie Literatur und Philosophie. Es ist gefährlich, diese Ebenen miteinander zu vermengen."

"Selbstverständlich. Ich möchte aber, daß mein Volk eine Möglichkeit hat, dem Schmerz und der Angst und den existentiellen Problemen, die wir ständig mit uns tragen, zu entkommen. Wenn man davon etwas vermittels der Wissenschaft lösen kann, wunderbar, dann benützen wir also die Wissenschaft zum Wohl des Menschen. Aber es gibt eben noch viele andere Probleme, die auf einer anderen Denkebene liegen. Wenn wir den Menschen ihre Religion nehmen, werden wahrscheinlich wieder Propheten kommen und es wird religiöse Erneuerungsbewegungen geben, oder, schlimmer noch, man wird zu Drogen und zum Alkohol zurückkehren."

"Also ist Gott nicht tot und Nietzsche hat sich geirrt ..."

"Heute beobachten wir eine religiöse Wiedergeburt bei der Jugend vieler Länder. Das ist etwas, was man kaum erklären kann. Es ist keine Erstarkung der traditionellen Religionen, nein. Es ist eine Rückkehr zu den östlichen Religionen, und insbesondere eine Suche nach Einheit, Vereinigung mit der Natur. Diese <Jesus-People>, Kinder Jesus', sind nicht die schlechtesten unter den Jugendlichen Europas und Nordamerikas, sondern im Gegenteil intelligente und sensible Menschen, die nach einem Sinn im Universum suchen. — Das ist alles, was ich sagen will. Lebewohl der traditionellen Religion, mit ihrem hierarchisch-abgestuften Aufbau, der ganz dem Vorbild der römischen Cäsaren entspricht. Lebewohl den Pseudoerklärungen der Welt, den Streitpunkten zwischen Kirche und Wissenschaft, bei denen immer die Wissenschaft gewinnt. Lebewohl dem Aberglauben und der Unwissenheit. Aber nicht dem psychologischen Sinn von Religion, der Vereinigung mit anderen Menschen, dem Bedürfnis und der Notwendigkeit, dem Leben und dem Universum einen Sinn zu geben."

"Schließlich und endlich hatte schon Newton bemerkt, daß ein Wissenschaftler wie ein Kind ist, das am Strand Muscheln sammelt, während sich vor ihm bis in die Unendlichkeit das Meer des Unbekannten ausbreitet ..."

127-128

#

 

 

 ^^^^ 

 

www.detopia.de