21 Die experimentelle Synthese
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Das Gebiet der experimentellen Analyse (des Verhaltens) hatte sich stark erweitert, aber ich glaube nicht, daß wir schon so weit waren, daß wir Skinner "überwunden", hinter uns gelassen hatten, wie manche Leute meinten. Ich war der Meinung, daß wir uns noch immer im Rahmen der von Skinner entworfenen Leitlinien bewegten.
Allerdings beschäftigten wir uns nun mit anderen, weitergehenden Problemen, als sie Skinner interessierten; Psychophysiologie, Wahrnehmung, überhaupt die kognitiven Prozesse haben stark von den Operanten Methoden profitiert. Es waren recht erfolgreiche Versuche unternommen worden, diese Konzepte der Skinnerschen Lernpsychologie auf die Erforschung sozialen Verhaltens zu übertragen.
Es gab beispielsweise Kommunen in der Art von <Walden 2> in Mexico und in den USA. Jedoch hatten nur wir die Kühnheit besessen, die Prinzipien experimenteller Verhaltensanalyse auf nationaler Ebene anzuwenden, in diesem Land, hier und heute.
Unser <Walden 3>, >Futurum 3>, war zweifelsohne eines der bedeutendsten Anwendungsgebiete der experimentellen Verhaltensanalyse. Sein Erfolg — oder sein Scheitern... — würde also weitreichende Folgen für die angewandte Verhaltensanalyse überhaupt haben.
"Die Skinner-Box bedeutete für die Psychologie dasselbe wie das Teleskop für die Astronomie und das Mikroskop für die Biologie", erklärte ich dem Präsidenten auf einer Sitzung der "Nationalen Planung". "Sie hat es möglich gemacht, die Umwelt oder Umgebung auf eine Art und Weise zu kontrollieren, daß die Wirkungen jeder Verhaltensreaktion (in diesem Fall des Versuchstieres, das sich in der Box befindet) exakt und mit einer minimalen Fehlerquote untersucht werden konnten.
Die Reaktion — beziehungsweise die Reaktions-Rate, also die Häufigkeit, mit der eine bestimmte Reaktion pro Zeiteinheit auftritt — war für die Psychologie dasselbe wie der Reflex für die Physiologie: die Analyseeinheit, das Basiselement, auf dem man ein ganzes Wissenschaftsgebäude gründete, im einen Fall die Psychologie, im anderen Fall die Physiologie. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen ist Skinner für die Psychologie das, was Sechenow für die Physiologie war."
"Selbstverständlich aber muß die experimentelle Analyse des Verhaltens immer die Grundlage für eine experimentelle Synthese des Verhaltens sein", sagte ich weiter. — "Die Aufteilung der Elemente in ihre Grundeinheiten, die funktionalen Verhaltenseinheiten, die Unterscheidung von Reiz — Reaktion — Verstärkung, das alles ist Analyse. Aber dies alles muß irgendwie integriert werden, um komplexere Verhaltensweisen, Handlungen von Menschen, um die Beziehungen von Menschen zu ihrer Umwelt, die soziale Interaktion, zu erklären. Die Einheiten müssen zusammengefügt werden.
Eine experimentelle Verhaltens-Synthese wird der nächste große Schritt der psychologischen Forschung sein. Das bedeutet aber nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, die ,Überwindung' der traditionellen experimentellen Verhaltensanalyse. Das ist es nicht, was ich sagen möchte. Sondern es bedeutet, daß man die Grenzen der Verhaltensanalyse verschieben, ausweiten muß, daß man komplexe mathematische Modelle formulieren, Datenextrapolation betreiben, und alles in Theorien mit umfassendem Erklärungsvermögen integrieren muß. Die experimentelle Verhaltens-Synthese muß und wird der nächste große Schritt sein."
Wir hatten gerade eine Versammlung der gesamten "Nationalen Planung", auf der wir den Jahresabschlußbericht vorbereiteten. Ich dachte mir, daß wir ein ganz schönes Stück vorangekommen waren, große Dinge geschafft hatten. Sogar die Wirtschaft des Landes schien sich zu erholen. Aber noch immer war es nötig, einige Anstrengungen auf internationaler Ebene zu unternehmen, um dem negativen Image entgegenzuwirken, das unser Walden Drei in der Welt hatte. Anders formuliert: trotz unserer Bemühungen gab es, wann immer über uns geschrieben wurde, zum Schluß eine negative Bewertung.
Weshalb? — Weil es ein "Ministerium für Nationale Planung" gab, das nun einmal die wichtigsten Entscheidungen fällte. Weil es Kommissionen für Erziehung, Gesundheit, Entwicklung der Menschen, Soziale Kommunikation, Familie und Sexualität und für viele andere Bereiche gab, die die Aufgabe hatten, unsere Gesellschaft zu planen. Weil es Leitlinien gab, die ernst genommen wurden, und Jahrespläne, die erfüllt wurden. Weil wir eben eine geplante Gesellschaft waren! Wir konnten noch so viel erreicht, noch so viele Übel beseitigt haben, die die Menschheit seit ewigen Zeiten bedrückten, man mißtraute uns in der Welt, weil wir nicht an die "Freiheit" glaubten, sondern an Kontrolle, nicht an die "freie Entscheidung", sondern an die Manipulation der Umwelt zwecks Kontrolle des individuellen Verhaltens. — Was also konnten wir tun, um unser Walden Drei auf der ganzen Welt in ein günstigeres Licht zu rücken?
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"Mich persönlich kümmert es überhaupt nicht, was man von uns denkt", sagte Martin, als ich ihm meine Besorgnis mitteilte. "Die Tatsachen werden für sich sprechen, und mir ist es egal, wenn man sich lustig über uns macht und uns überall kritisiert. Weißt du, David, daß man sagt, ich sei ein Säufer und Paranoiker, der nur an sich selbst denke und messianische Ideen verfolge?"
Was für eine ungemein zutreffende Beschreibung unseres Herrn Präsidenten ...! dachte ich mir, schwieg aber. Es ist schon ein rechter Vorteil, daß der Mensch seine Sprache "verinnerlicht" hat, daß wir also "denken" können, ohne die Sprechmuskeln bewegen zu müssen. Dieses Mit-sich-selber-sprechen ist einfach eine großartige Sache! (Wobei wir Introvertierten das ohne Zweifel mehr tun, und die Extravertierten weniger.)
"Die Leute vergessen, daß wir Elend, Analphabetismus, Überbevölkerung und viele körperliche und seelische Krankheiten beseitigt haben. In diesen vier Jahren haben wir so viel erreicht, daß die Wunschträume der Menschheit Wirklichkeit geworden sind. Eine gerechte, eine klassenlose Gesellschaft, in der jeder Mensch ein lebenswertes Leben führen kann. Wir haben das mit Hilfe der Wissenschaft geleistet, und das erfüllt die Menschen draußen mit Argwohn, Mißtrauen. Wir haben Feinde, in China, in der Sowjetunion, in den USA. Ich fürchte die Vereinigten Staaten dabei mehr als die anderen Großmächte. Weißt du, warum? Weil die Nordamerikaner nämlich die Bedeutung der Verhaltenspsychologie für die Erreichung sozialer und politischer Ziele wirklich kennen."
"Nur in den USA und in Kanada hat die Verhaltenswissenschaft einen hohen Entwicklungsstand erreicht", stimmte ich ihm zu.
"Sicher, Junge. Ah, ich habe etwas Wichtiges vergessen. Es gibt da einen jungen Nordamerikaner, der bei uns arbeiten möchte, und ich fände es gut, wenn du dir mal seinen Lebenslauf anschauen und ihn auch interviewen würdest. Er hat eine ausgezeichnete Ausbildung in den Verhaltenswissenschaften bekommen und könnte uns sehr nützlich sein. Im allgemeinen haben wir bisher in der .Nationalen Planung' niemanden akzeptiert, den wir nicht persönlich kannten, der nicht unser vollstes Vertrauen genießt und der nicht vorher seine Loyalität unter Beweis gestellt hat. In dieser Hinsicht sind wir allerdings eine geschlossene Gesellschaft. Wir sind bewußt sehr vorsichtig, weil wir viele Feinde haben und jede mögliche Fehlerquelle vermieden werden muß."
"Und wer ist dieser Nordamerikaner?"
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"Er heißt Charles Powell. Er hat in Yale studiert, ich glaube Anthropologie und Psychologie. Er hat für die Regierung der Vereinigten Staaten gearbeitet, ich glaube, für das Militär, und er hat eine glänzende Karriere gemacht. Seine Kenntnisse sind wirklich ausgezeichnet und er ist sehr kooperativ. Außerdem spricht er gut Spanisch. Ich werde ihn also bei dir vorbeischicken, damit du ihm mal auf den Zahn fühlen kannst. Er ist sehr daran interessiert, in irgendeiner Kommission der 'Nationalen Planung' mitzuarbeiten."
"Gut, ich werde ihn interviewen. Schicken Sie ihn am besten übermorgen früh zu mir ins Büro."
Wegen anderer Termine war es mir nicht möglich, ihn eher zu treffen. Wir verbrachten so viel Zeit mit diesen ständigen Versammlungen. Ich mußte Berichte über die Reformen analysieren, Gutachten schreiben, die Informationen und Berichte der Kommissionen lesen, ich mußte mich regelmäßig mit den Koordinatoren aller Kommissionen absprechen und mich mit dem Plenum der Kommissionen treffen. Und außerdem noch Beratertätigkeit für "Nationale Planung". Zudem summierten sich die Gespräche mit dem Präsidenten, die oft mehrere Stunden lang dauerten; wenn Martin nur konkreter wäre, wenn er weniger trinken würde (und nicht immer darauf dringen würde, daß ich mit ihm zu trinken hätte), und wenn er sich besser an die Tagesordnungspunkte hielte, dann hätten wir die Zeit meiner Ansicht nach viel besser nutzen können.
Manchmal machten mich diese langen, nicht enden wollenden Sitzungen richtig müde, dieses stundenlange Sitzen und ständige Zuhören, wenn irgendein Vortragender im ultramodernen Zentralsaal Daten und Kurven präsentierte, Dias projizierte, seine Ergebnisse erklärte. Wachstumskurven anzeichnete, Kosten-Nutzen-Relationen erläuterte und die ideologischen und psychologischen Folgen von irgendwelchen Projekten analysierte, bevor die Diskussion eröffnet wurde. — Wir Zuhörer hatten natürlich vorher alle Papiere gelesen, wie es "brave Kinder" tun, oder genauer, wie es Menschen tun, die die Torturen und entmenschlichenden Behandlungen der Höheren Schule hatten durchmachen müssen; kurz, wir hatten nun einmal gelernt, das zu tun, was man von uns erwartete.
Ich hätte gerne einen zuverlässigen Assistenten gehabt. Aber Martin wollte das nicht, weil ich viele Informationen "vertraulichen", "gefährlichen" Charakters bekam. Die Wissenschaft ist "gefährlich", hatte Eduarde in der "Kommission für Kommunikation in der Gesellschaft" ausgeführt. Ich war damit nicht einverstanden; ich hielt die Wissenschaft für ungefährlich und war der Auffassung, daß die Menschen informiert sein sollten. Das war ein Grundrecht und auch eine Pflicht eines jeden Menschen.
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Aber zu guter Letzt tat ich eben doch, was der Herr Präsident wollte, und es stimmte ja, ich hatte wirklich Zugang zu Informationen, die großes Unheil bringen konnten, wenn sie in die falschen Hände gerieten.
Am "D-Tag" interviewte ich Charles Powell. Obgleich er seinem Lebenslauf nach 32 Jahre alt sein mußte, machte er einen viel jüngeren Eindruck. Er war ein jugendlicher Typ, blond, mit einem leichten Lächeln und unruhigen Augen. Er gefiel mir vom ersten Moment an und ich dachte mir, daß er für die "Nationale Planung" sehr geeignet sein würde. Nach seiner Ausbildung in Anthropologie und Psychologie an der Yale-Universität hatte er beim Militär der Vereinigten Staaten gearbeitet und dort insbesondere eine transkulturelle Studie über Praktiken der Kindererziehung geschrieben. Und dies war ein Thema, für das man sich bei uns bekanntlich sehr interessierte. Charles hatte in Indonesien und Chile gearbeitet und sprach ein gutes Spanisch mit einem leichten chilenischen Akzent. Er war ein angenehmer Mensch, der wenig Worte machte; ich hatte gleich einen guten Eindruck von ihm. Seine Frau war übrigens Chilenin. All das machte ihn zu einem "internationalen" Psychologen — eine neue Erfahrung für mich, da ich früher — während meiner Studienzeit in Harvard — überzeugt gewesen war, alle nordamerikanischen Psychologen seien zutiefst provinziell.
"Warum interessiert es Sie, in Panama zu arbeiten?" fragte ich ihn, wohl wissend, daß das eine der unerläßlichen Standardfragen jedes Interviews war.
"Mir gefallen sehr die sozialen Veränderungen, die Sie hier zu verwirklichen begonnen haben. Sie setzen hier das in die Tat um, was die Verhaltenswissenschaftler an den Universitäten gedacht und vorhergesagt haben, ohne daß sie irgend jemand ernst genommen hätte. Ich möchte gerne Ihre Arbeit genauer kennenlernen und hoffe, daß ich zu diesem bedeutsamen gesellschaftlichen Experiment mein Teil beitragen kann."
Obwohl mir diese Antwort ein bißchen stereotyp vorkam, gefiel sie mir. Meine Frage war sehr konventionell gewesen, seine Antwort war es auch. (Ich glaube nicht, daß ich allmählich zum Paranoiker wurde, wie Martin.) Und überhaupt schien dieser junge Gringo ein echtes Interesse an unserem Walden Drei zu haben. Vielleicht konnte er auch mein Vertrauensmann und Assistent werden, die Person, die ich dringend brauchte, um mit der Arbeitsüberlastung fertig zu werden.
"Sie wissen ja, daß wir hier in Panama die Gesellschaft verändern, indem wir uns ganz auf die Prinzipien der experimentellen Verhaltensanalyse stützen. Wir haben uns die bedeutendsten Vertreter der Verhaltenswissenschaften, der Lernpsychologie der ganzen Welt ins Land geholt; die haben zwei Jahre lang mit uns zusammen gearbeitet, mit die wichtigsten Pläne und Projekte entworfen und die Leute geschult, die jetzt mit der Durchführung der Gesellschaftsreform beauftragt sind. Wir betrachten diesen Wandel als ein Experiment, ein Gesellschafts-Experiment, wie die französische oder die mexikanische Revolution ... oder auch die russische Revolution."
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Ich hielt inne, um seinen Gesichtsausdruck zu beobachten. Er schaute mir aufmerksam zu, lächelte, während er von Zeit zu Zeit mit dem Kopf nickte. Man sah, das war ein guter Spezialist auf dem Gebiet der sozialen Verstärkung, dieser Charles!
"Ich habe jetzt folgende Frage an Sie", fuhr ich fort: "Halten Sie es für möglich, die experimentelle Verhaltens-Analyse zu überwinden? Über Skinner hinauszugelangen? Anstelle einer Verhaltensanalyse eine experimentelle Verhaltens-Synthese zu schaffen?"
Da diese Frage "technischer" Natur war, war es seine Antwort auch. Ein bißchen war er wohl überrascht, da noch nie zuvor von einer experimentellen Verhaltens-Synthese gesprochen worden war (die ja der logische Schritt nach der erfolgten Verhaltens-Analyse wäre). Seine Antwort jedenfalls war klar und brillant. Er kompromittierte sich nicht durch allzu endgültige Ansichten, aber bewies logisches und koordiniertes Denkvermögen. Es wies darauf hin, daß es möglich sei, die Grenzen der experimentellen Analyse zu erweitern, ohne ungenau, unwissenschaftlich, — spekulativ zu werden. Die äußerste, letzte Chance sei die Kontrolle der gesamten Umwelt, auf nationaler Ebene, so wie wir es hier praktizierten.
"Gut, lassen wir es gut sein. Ich danke Ihnen vielmals, daß Sie uns besucht haben. Ich möchte nur noch soviel zum Schluß sagen, daß irgendwann der Tag kommen wird — und jedermann weiß das, in den Vereinigten Staaten genauso wie in Bolivien und in Südafrika —, der Tag, an dem wir eine sozialisierte Medizin haben werden, eine Planwirtschaft und eine rationale Familienplanung. An dem das Elend beseitigt und das Militär aufgelöst ist, an dem Erziehung belohnt und nicht mehr bestraft; an dem sich die Familie grundlegend verändert hat und alles auf der Zweier-Beziehung basiert, an dem unwichtige Rituale ebenso wie der einstmals dominierende Fortpflanzungsgedanke nicht mehr existieren. Wir alle wissen, daß dieser Tag für alle Staaten der Erde kommen wird, für die USA, Bolivien, Südafrika und alle anderen. Es wird keine sozialen Klassen oder Schichten mehr geben, und kein Elend mehr. Aber noch glauben die Menschen, daß dieser Tag in weiter Ferne liegt und sie ihn nicht mehr erleben werden. — Nun gut, mein Freund, was wir hier versuchen, ist, diese Ideale hie et nunc, hier und jetzt, Wirklichkeit werden zu lassen. Anstatt nur von diesen idealen Dingen zu reden, machen wir sie!"
"Wunderbar!"
"Deswegen mag man uns nicht. Deswegen wartet man nur darauf, daß unser <Walden Drei> zugrundegeht, morgen, oder übermorgen. Aber diesen Gefallen tun wir ihnen nicht!"
"Nein, das glaube ich auch nicht. Wenn ich irgendwie zu Ihrem großartigen Unternehmen beitragen kann, lassen Sie es mich wissen."
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