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22  Mercedes und Felipe 

 

 

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Charles wurde mein Assistent und ich konnte ihm ein Gutteil meiner Arbeit übertragen. Allmählich führte ich ihn in die Details meines Aufgabenbereichs ein und delegierte Verantwortlichkeiten an ihn. Ich informierte ihn eingehend über die starken und die schwachen Seiten der neuen Regierung, über die Gebiete, in denen wir Siege errungen hatten und die, in denen uns ein Erfolg versagt geblieben war. Es war wunderbar, einen zuverlässigen Assistenten, einen Mann seines Vertrauens zu haben. Charles wurde zur "rechten Hand" für mich, und ich konnte einen großen Teil des täglichen Lebens und vor allem der Arbeit mit ihm teilen.

Wir gaben ihm ein Büro im Präsidentenpalais und vertrauten ihm auch geheime Dokumente und Informationen an. Charles erfüllte unsere Erwartungen zur vollsten Zufriedenheit. Nie enttäuschte er uns. Er erledigte alle Arbeiten ernsthaft und verantwortungsbewußt, mit großem Pflichtgefühl und echtem Interesse an unserem Ziel, hie et nunc, hier und jetzt, mit Hilfe der Wissenschaft eine utopische Gesellschaft aufzubauen. Das Haus von Charles und seiner Frau wurde beinahe mein zweites Heim, oder genauer, mein drittes (nach dem von Mercedes und ihrem Sohn Felipe). In den wenigen freien Stunden, die ich hatte, besuchte ich entweder Charles und seine Frau oder Mercedes und ihren Sohn.

"Du hast bemerkenswert viel Vertrauen zu Charles", meinte Mercedes eines Tages, "du hast ihn in die <Geheimnisse> des Staates eingeweiht und ihm alle Arten vertraulicher Informationen über diesen Staat und sein Funktionieren zugänglich gemacht, und das alles, ohne ihn genügend geprüft zu haben. Du hast das alles zu schnell gemacht. Mein Lieber, ich glaube, du bist reichlich naiv, vertrauensselig. Man kann den Menschen nicht so vertrauen, wie du es tust. Du glaubst, daß niemand schlecht ist, daß man dich niemals ausnützen oder übervorteilen könnte, aber du wirst schon sehen, wie die Menschen sind. Dave, Dave, ich glaube, es ist an der Zeit, daß du deinen <angeborenen Scharfsinn> benützt, wie man in den Andenländern sagt."

"Aber Mädchen, du darfst nicht schlecht von Charles denken! Mir scheint alles, war er denkt oder tut, ehrlich und aufrichtig zu sein. Wenn du nur siehst, mit welchem Eifer und welcher Gründlichkeit er seine Arbeit erledigt! Er kommt immer pünktlich, hält seine Termine ein und widmet seine ganze Energie und Intelligenz den Idealen unserer Gesellschaftsreform. Ich habe vollstes Vertrauen zu Charles."

,,Hoffentlich enttäuscht er dich nicht. Man weiß nie. Ich verstehe, daß du einen zuverlässigen Vertrauensmann brauchst, der dir bei der Arbeit hilft, aber mir scheint, daß dieser junge Kerl allzu leicht dein Vertrauen gewonnen hat. Immerhin, jetzt hast du wenigstens ein bißchen mehr Freizeit, und das ist gut. Das ist auch für mich gut, mein Junge."

Gelegentlich gingen Mercedes, ihr Sohn und ich zusammen spazieren, im Grünen, um ein bißchen frische Luft zu schnappen. Leider gab es hier keine hohen Berge, die man besteigen konnte, wie in meiner Heimat. Manchmal vermißte ich auf diesen Spaziergängen meine Heimat und die Berge, die es dort gab ... Aber nein, dies war doch eigentlich meine Heimat, mein wirkliches Vaterland, dem ich meine ganze Energie und Zeit seit meinem Weggang aus Harvard geschenkt hatte. Wie ging es wohl meinem alten Vater und meiner Schwester? Ich wußte nur sehr wenig von ihnen, seit dem Beginn der Neuen Ära.

Mercedes, Felipe und ich waren eine kleine Familie geworden. Es war, als hätte ich ein neues Heim, ein ruhiges Plätzchen inmitten der Wechselfälle des Lebens. Die Familie wird nicht geboren, sondern gemacht — dies war einer der Lieblingssprüche von Mercedes. Genauso wie man seine Freundschaften pflegen muß, muß man auch die Familie pflegen; man muß sie wirklich erschaffen. Die Blutsbande sind dagegen vermutlich ein weniger wichtiges Element in einer Familie. Das Entscheidende ist wohl die gegenseitige Zuneigung und das Gemeinsam-Leben. Nein, bestimmt wird die Familie nicht geboren, sondern gemacht, geschaffen.

"Wenn ich Gott wäre, hätte ich den Menschen ganz anders gemacht", sagte ich eines Tages halb im Scherz zu Mercedes und Felipe. "Natürlich hätte ich auch die Welt weniger kompliziert gemacht, als sie es jetzt ist. Der Mensch wäre einfacher und gleichzeitig autonomer geworden, weniger von anderen Menschen abhängig. Der Tag wird kommen, an dem die alte anrüchige Theorie vom ,kollektiven Geist' wiederkehrt, genau wie sie für die Ameisen und Bienen neu zum Leben erweckt worden ist. Jedes Individuum ist nur Teil eines großen Ganzen, eines großen Schwarms, in den es eingebettet ist und den es nicht sieht. Eine Art 'kollektives Unbewußtes', nach C.G. Jung.

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 Damit es zu solch einem großen Schwärm kommt, zu diesem Netz, diesem <Gemeinschaftsgeist>, leisten wir einen Beitrag, indem wir diese unsere Gesellschaft aufbauen."

"Erinnerst du dich an Pablo Neruda? Irgendwo hat er mal geschrieben:

Mit nur einem einzigen Leben / werde ich nicht genügend lernen.
Mit dem Lichte anderer Leben / werden viele Leben in meinem Gesang leben. 
(Con una sola vida / no aprendere bastante. / Con la luz de otras vidas / vivirán otras vidas en mi canto.)

 

"Ihr Wissenschaftler habt den Ruf, ernste und kühle Menschen zu sein", unterbrach uns der junge Felipe. "Man sagt, ihr habt keine Gefühle und interessiert euch nur für Reagenzgläser und Computer. Aber dann finde ich es erstaunlich, daß zum Beispiel Einstein ein großer Geiger war und fast alle großen Wissenschaftler ein tiefes Interesse an Musik, Literatur und so weiter haben."

"Aber nein, mein Junge, wie kommst du nur darauf. Uns interessieren nur Computer und Reagenzgläser, alles andere zählt für uns nicht ..."

Wir lachten über Felipe, der uns nicht verstanden hatte und etwas erstaunt war. Vielleicht dachte er auch, daß er, wäre er Gott gewesen, uns alle ein bißchen weniger kompliziert angelegt hätte.

"In einem Ausspruch von Machado wird beides zusammengefügt: das wissenschaftliche Vorgehen und die Umwandlung der Welt, um dadurch dem Menschen ein besseres Leben zu verschaffen. Was die Menschen heute wirklich wollen, ist, die Welt zu verändern, nicht, sie zu verstehen. Man weiß allerdings nicht, wie sie die Welt ändern wollen, ohne sie vorher verstanden zu haben, mein Junge. Aber genau das ist es, was viele tun, auch wir, und ganz besonders unser Herr Präsident. - Der Satz von Machado, den ich meine, lautet: 

Du sagst, daß nichts von selbst wird?
Mach dir nichts draus, mit dem Lehm
der Erde mach' einen Becher,
damit dein Bruder daraus trinke.

(Dices que nada se crea? / No te Importe, con el barro / de la tierra, haz una copa / para que beba tu hermano.)

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Es war schön, mit Mercedes und Felipe zusammen zu sein. Das Leben aber ging weiter, stürmisch wie immer. Wenn ich mal eine freie Stunde hatte, wußte ich damit nichts anzufangen und war frustriert und hatte Angst, und um der Angst zu entfliehen, flüchtete ich mich von neuem in die Arbeit und hatte dann wieder keine freie Zeit mehr ... Ich kontrollierte die Aktivitäten unserer Forschungsinstitute, unter ihnen die Institute für Kriminologie, für die Verlängerung des Lebens, für Familie und Sexualität und andere mehr. Ich organisierte Visiten bei allen Instituten mit dem Zweck, für Martin und die übrigen Mitglieder der "Nationalen Planung" Gutachten zu erstellen.

 

Ich wollte auch etwas über Staats- und Gesellschafts-Utopien lesen, ein Thema, das mich schon immer fasziniert hatte, auch schon als Schüler in der Sekundarstufe. Ich las also die utopischen Werke von Platon, Bacon, Thomas Morus, ich las <Looking Backward>, <Brave New World> von Aldous Huxley, <1984> von George Orwell, <Walden Two> von Skinner, und dieses Buch bestimmt zum vierten oder fünften Male. 

Unsere Gesellschaft unterschied sich von diesen anderen Gesellschaftsentwürfen sehr stark. Sie glich eigentlich auch nicht so sehr <Walden Zwei>, wie zu glauben wir immer vorgegeben hatten, was auf die Tatsache zurückzuführen ist, daß wir mit umfassenderen und komplexeren Parametern arbeiteten und mit sozialen Problemen zu tun hatten, die in Skinners "Walden" keine Relevanz besaßen (— wie zum Beispiel Probleme mit der Kriminalität, mit der Wirtschaft, dem Militär und der Polizei). Wir waren weder eine bessere noch eine schlechtere Gesellschaft als die übrigen, die ausgedacht worden waren, sondern wir waren einfach anders.

Bemerkenswerterweise war der größte Teil dieser Utopien in Englisch geschrieben. Es gab keine einzige in Französisch oder Spanisch. Möglich, daß die Engländer idealistischer sind als wir und deshalb so merkwürdige Sachen wie eine "ideale" Gesellschaft beschreiben. Unsere Gesellschaft war wenig "ideal", sie war aber recht "real", ziemlich "down to earth", wie man sagt, und darin glich sie sehr dem Skinnerschen Walden.

Unsere Gemeinschaftsfarmen, Kollektive, waren eine der Errungenschaften, auf die wir besonders stolz waren; sie ähnelten den Kibbuzim in Israel und auch dem "Walden Zwei" von Skinner. Ich habe nie etwas gesehen, das einer "idealen" Gesellschaft so nahe kommt wie ein Kibbuz: wie man dort den Gedanken betont, daß alle Menschen Brüder sind, wie man den Wert der Arbeit heraushebt, wie man strikt versucht, auf das Geld zu verzichten, und wie man den Gemeinschaftsgeist fördert, — all das scheint mir dem sehr nahe zu kommen, was alle Verfasser von Utopien — von Platon bis Skinner — gesucht haben.

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Unsere Gemeinschaftsfarmen also folgten dem Kibbuz-Modell — der umfassenden Planung, den kollektiven Entscheidungen, der Einheit von körperlicher und geistiger Arbeit. Es war sehr schön, unter der tropischen Sonne unsere jungen Leute zu sehen, Männer und Frauen, die bei Sonnenaufgang aufstanden, auf das Feld gingen, säten und ernteten, die Erde umpflügten, mit einem Lächeln und einem — im allgemeinen politischen — Lied auf den Lippen den Traktor bedienten:

"Unidos en la lucha, no nos moverän!
Unidos en la huelga, no nos moverän!
No, no, no nos moverän!"

("We shall not be moved ...")

Wir waren ein Agrarland. Die fortschreitende Industrialisierung bedeutete nicht, daß man das Land aufgab, verließ, sondern, daß die Landarbeit mehr und mehr technisiert, mechanisiert wurde. Daraus waren aber viele Probleme erwachsen, und einige — wie die Preiskontrolle für landwirtschaftliche Produkte — gaben unseren Experten der Agrarökonomie Anlaß zu ziemlicher Besorgnis. 

Aber das Land war voll fröhlicher, arbeitsamer Männer und Frauen, die von Sonnenaufgang bis kurz nach Mittag arbeiteten und dann nach Hause gingen, um sich zu waschen, zu essen, Bücher zu lesen, ins Kino zu gehen, Konzerte anzuhören oder einfach bei ihrer Familie zu sein. "Peterchens Stunde" war auf dem Lande wie in der Stadt eingeführt und akzeptiert worden. Auch auf dem Land gab es Ersatzmütter, Bildungsstätten auf dem neuesten Stand des technischen Fortschrittes und der für unser System typischen Vereinigung (oder Vermischung ...) von personaler Unterweisung, programmierter Instruktion und Montessori-Methode. Auf dem Land gab es alles, was es auch in der Stadt gab — alles außer der Umweltseuche "Streß", außer Schlaflosigkeit und existentiellen Ängsten.

Die Mitarbeiter unserer Agrarkollektive hielten sich keineswegs nur für "einfache Bauern". Es gab unter ihnen keinen Analphabetismus mehr, und obwohl tagtäglich darum gekämpft werden mußte, daß sie nicht in ihre alten Gewohnheiten zurückfielen, sondern fleißig Zeitungen lasen und Radio hörten, war man in dieser Hinsicht wesentlich vorangekommen. Da man versucht hatte, körperliche und geistige Arbeit zu vereinigen, zu integrieren, geschah es, daß die "einseitige" Arbeit — wie im Fall der Lehrer und Lehrerinnen, die "nur" geistig arbeiteten — mit Mißtrauen betrachtet wurde und überdies relativ wenig Prestige genoß. 

Das Ideal war der ganzheitliche Mensch, kräftig und gesund in jeder Beziehung, mit Muskeln und Geist, der tätig an den Entscheidungen seines Kollektivs mitwirkte, seinen Ehepartner und seine Kinder liebte, zugleich aber über die neuesten politischen

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Lieder auf dem laufenden war, die Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt kannte, ja, vielleicht sogar über die neuesten philosophischen Traktate eines Sartre oder literarische Glanzleistungen eines García Marquez Bescheid wußte (— obwohl das letztere zu erreichen, ein sehr schwieriges Unterfangen war).

"Wir in der Dritten Welt sind alle sehr erdverbunden", sagte Mercedes zu mir, während sie sich den Schweiß von der Stirn wischte und tief einatmete. "Die Erde, das ist etwas sehr Wichtiges, die reine, ursprüngliche Quelle des Reichtums der Menschen, Quelle der Nahrung, des Lebens. Es ist gar nicht verwunderlich, daß unser Volk eigentlich an die ,Mutter Erde' glaubt, daß es Gott als Mutter und nicht als Vater auffaßt, daß Gott die Erde ist. Deswegen werden sogenannte Modernisierungspläne, wonach die Bauern in die Großstädte ziehen und ihr Land leer zurücklassen sollen, nie Erfolg haben. Die Bauern verlassen ihre Parzellen nur unter tiefem Schmerz, so wie damals in der Epoche der ,Violencia' — in den 50er Jahren in Kolumbien —, als die Felder mit Leichen übersät und die Flüsse rot vom Blut der Getöteten waren. 

Aber unsere Bauern wollen bleiben, wollen früh am Morgen aufstehen und aufs Feld gehen, einen Traktor bedienen, einen Korb mit Orangen füllen und mit einem Lächeln auf den Lippen zurückkehren, um dann mit ihrer Frau und ihren acht Kindern eine kräftige Mahlzeit hinunterzuschlingen; um sich dann mit den Kindern zu beschäftigen und mit ihnen zu plaudern, zu beobachten, welche Fortschritte der Kleinste im Laufen gemacht hat und die Hausaufgaben der Tochter nachzusehen, die später einmal zur Universität gehen und Lehrerin werden will. — Im Grunde sind wir ein einfaches, gutmütiges, anspruchsloses Volk. Ein Volk, das die Erde liebt und möchte, daß man es in Frieden leben läßt."

Auch wir selbst waren im Grunde Bauern. Wir glaubten auch, daß die Familie etwas sehr Wichtiges war, und daß man sie erhalten müßte. Daß die Religion wichtig sei, wenn auch ohne Mythen, ohne fantastische Vorstellungen, ohne Gott, ohne Pseudoerklärungen und ohne Wissenschaftsfeindlichkeit. Wir liebten die Kinder und die Natur, wir sorgten uns um die Ökologie und verstanden — im Grunde — nichts von Politik.

Auf dem Lande gab es keine Verbrechen, keine Kriminalität. Wenn jemand etwas brauchte — nun, dann gab man es ihm, ohne daß er erst eine völlig unbekannte Person in einer dunklen Großstadtecke überfallen und berauben mußte. Man denkt sowieso immer nur an den Überfallenen, den Angegriffenen, aber nie an den Angreifer! Ich zum Beispiel hätte große Angst, jemanden zu überfallen und ihn aufzufordern, mir — ohne Sperenzchen zu machen — sein Geld zu geben! Meine Stimme würde zittern, der Revolver in der Hand wackeln wie ein Lämmerschwanz, und ich hätte sicherlich größere Angst als mein Opfer ... Bei Gott, das wäre gar nicht so einfach, einen Überfall zu begehen! Es war selbstverständlich, daß es auf dem Land keine Verbrecher gab, wie wir auch keine Umweltverschmutzung hatten, keinen Streß, keine Schlaflosigkeit ...

In der Stadt gab es das alles. Gerade das Problem der Kriminalität, des Straffälligwerdens, war sehr kompliziert. Wir gingen es natürlich mit verhaltensmodifikatorischen Mitteln an (— womit denn sonst?). Und es gab ein besonderes Institut dafür, das beauftragt war, dieses Problem der Kriminalität zu untersuchen.

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