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23. Delinquenz und Kriminalität  

 

 

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Das "Institut für Kriminologie" war eine stolze Errungenschaft der neuen Regierung. In den vier Jahren des Bestehens der Neuen Ära waren wir in der Erforschung vieler Bereiche mächtig vorangekommen, besonders natürlich in den Verhaltenswissenschaften. Die Kriminologie war eine der Stärken der neuen Regierung, und viele interessierte Leute kamen nach Panama, um die Erfolge zu studieren, die wir in diesem so wichtigen und dabei so komplizierten Bereich menschlichen Verhaltens aufzuweisen hatten.

Die betreffende Kommission hatte damit begonnen, das Problem — Kriminalität, Verbrechen, Delinquenz — in seiner gegenwärtigen Perspektive zu erforschen. Sie hatte eine Menge Daten gesammelt: über die Verbrechen und Delikte, die vorkamen, über die betroffenen Bevölkerungsgruppen (also die, gegen die sich die Delikte richteten) und auch über die hauptsächlichen Ursachen für Verbrechen. Man hatte eine — allerdings nur schwer zu interpretierende — Interaktion, ein Zusammenwirken von psychologischen, sozialen und ökonomischen Faktoren gefunden. Eine Kriminalität, die auf biologische Faktoren zurückgeführt werden konnte (man denke an Chromosomenveränderungen, etwa solche vom XYY-Typ), hatte man dagegen nicht entdecken können.

"Delinquenz beruht nun einmal nicht auf biologischen Ursachen; auf diesem Gebiet wie auch auf vielen anderen sind die genetischen Determinanten für Verhalten nicht besonders wichtig. Kriminalität ist ein gesellschaftliches Phänomen, kein biologisches, im Gegensatz zu dem, was viele vulgäre, bös' vereinfachende Theorien behauptet haben", meinte ich zu Charles, als wir eines Tages auf dem Weg zu einem wichtigen Zentrum für Rehabilitation von Straffälligen waren. (Dort arbeitete man natürlich auf verhaltenstheoretischer Grundlage.)

"Dann gibt es also keinerlei Beweise für die Existenz eines biologischen Substrates bei bestimmten Personen mit kriminellen Tendenzen?"

"Wahrscheinlich nicht. Ja, ich glaube sogar, daß die Situation sehr eindeutig ist. Das XYY-Syndrom ist das einzige, was in diesem Zusammenhang immer wieder angeführt wird, da es die Ursache für ein höheres Maß an Impulsivität zu sein scheint; und deshalb hat man es immer wieder mit kriminellem Verhalten in Beziehung gesetzt. Es ist aber schon merkwürdig, wie sehr viele Menschen von solch genetischen Erklärungen fasziniert sind, die auf die Dauer doch wirklich nichts richtig <erklären>. - Zu behaupten, es gebe einen <geborenen> Kriminellen, bedeutet doch, auf eine kausale Erklärungsmöglichkeit zu verzichten und einem Rehabilitations­prozeß des Straffälligen die Tür zu verschließen. Ich meine, daß die einzigen, denen bei diesen biologischen Kriminalitäts-<theorien> wohl sein kann, die Anhänger des Faschismus sind."

"Und was ist mit den Arbeiten von Konrad Lorenz über die Aggression?"

"Auch die sind nichts als Pseudoerklärungen, Charles. Zu sagen, daß der Mensch eine von Grund auf aggressive, zerstörerische Persönlichkeit hat, daß er quasi genetisch programmiert sei, seinen Nächsten zu erledigen, ist doch wohl mehr als problematisch. Es gibt da neuere anthropologische Arbeiten eines brillianten Wissenschaftlers aus Kenia, Richard Leakey, die, über jeden Zweifel erhaben, nachweisen, daß unsere Art, daß der Homo Sapiens also, im Kontext von Kooperation und nicht von Kampf, Streit, Auseinandersetzung entstanden ist. Seit den frühesten Anfängen der Menschheitsgeschichte ist der Mensch altruistisch und kooperativ. 

Zu behaupten, wir Menschen seien von Grund auf aggressiv und destruktiv, das sei unsere <animalische Natur>, ist eine sehr vulgäre, überaus vereinfachende Position, ist faschistisch. Ich ziehe es vor, daran zu glauben, daß wir kooperativ sind, immer schon kooperativ waren, und daß unser Streben dem Wohl der Gemeinschaft, der anderen gilt. Ich frage mich nur, warum die Theorien von Konrad Lorenz eine so große Verbreitung gefunden haben, warum sie so ernst genommen wurden. Wenn jemand von der Möglichkeit der Verhaltensänderung überzeugt ist, kann er nicht an die genetische Determination von Aggression oder ähnliche Dinge glauben."

Im "Rehabilitations-Haus" erwarteten uns bereits einige Mitglieder der "Kommission für Delinquenz und Kriminalität". Die Kommission wurde übrigens von einer Frau geleitet, die über eine große Arbeitskapazität und enorme Tatkraft verfügte. (Außerdem hatte sie große Fähigkeiten darin, alle möglichen Leute schnell ärgerlich zu machen.) Das Gebiet der Kriminalität war zweifelsohne ziemlich schwierig und kompliziert. Wir mußten Pionierarbeit leisten und in gewisser Hinsicht neue Lösungswege finden; ja, es ist richtig: wir hatten zu improvisieren (ein denkbar schlechter Ausdruck).

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Beatriz, die Vorsitzende der Kommission, war eine junge Frau, wie wir überhaupt alle noch recht jung waren. Sie war nicht älter als 30, hatte aber schon zwei Scheidungen "auf dem Buckel" und war Mutter von drei Kindern. Sie war eine attraktive Person, mit intelligentem Gesichtsausdruck und bemerkenswerten Fähigkeiten, sich sprachlich auszudrücken. Sie sagte immer intelligente Sachen, und ihre Einwürfe auf den Sitzungen der "Nationalen Planung" gefielen mit gut.

Nach den unerläßlichen Vorführungen und Rundgängen hob Beatriz hervor, wie viel Erfolg die Arbeit ihrer Kommission hatte und daß diese Arbeit eine echte Neuerung auf dem Gebiet der Kriminologie darstellte.

"Als wir versuchten, die ,Grundrate' der Kriminalität in unserem Lande aufzuzeichnen, stießen wir immer wieder auf ökonomische Faktoren. Die Menschen raubten und mordeten vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Das erschien verständlich und einleuchtend. Eine Lösungsmöglichkeit für dieses Problem bestand nun darin, eine Arbeitslosenversicherung zu schaffen, Nahrungsmittel-Gutscheine ('Karten') einzurichten und ähnliche Dinge, die es in einigen industrialisierten Staaten gibt. Aber wir bemerkten, daß diese Mittel die Straftaten nicht verminderten, und so erdachten wir andere Lösungswege. 

In <Walden 3> gibt es keine Arbeitslosenversicherung, weil wir jedem eine Arbeit verschaffen, der zu arbeiten in der Lage ist. Mit der Arbeitslosigkeit wurde Schluß gemacht und auch mit der Unterbeschäftigung. Aber trotz dieser Maßnahmen änderte sich die Verbrechensquote nicht wesentlich. Das ließ uns vermuten, daß die ökonomischen Probleme und Schwierigkeiten zwar mit dem Straffälligwerden zusammenhängen — ,korrelieren', wie man in den Sozialwissenschaften sagt —, aber eben keine kausale Verbindung besteht. Die ökonomischen Faktoren und Probleme stehen mit der Kriminalität in Zusammenhang, schaffen, verursachen sie aber nicht. 

Eine merkwürdige Sache, nicht wahr? — Dann gab es noch die Möglichkeit, auf biologische — oder besser ,biologistische' — Theorien zurückzugreifen, auf die Annahmen über genetische Einflüsse, — die uns aber nicht überzeugen konnten. — Es blieben andere Erklärungsmöglichkeiten, die vor allem Faktoren wie 'Selbstkontrolle' und 'Impulsivität' herausstellten; und man fand schließlich, daß diese in der Tat sehr wichtig sind: Verbrecher sind Menschen, die zur Selbstkontrolle nicht fähig sind, die ein hohes Erregbarkeitsniveau haben, die auf einen geringen Stimulus, einen kleinen Anlaß, unangemessen heftig und intensiv reagieren, und die gewaltige Schwierigkeiten haben, mit ihrer Impulsivität fertigzuwerden, umzugehen."

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"Natürlich gibt es viele Arten und Formen von Straftätern", fügte ein anderes Mitglied der Kommission von Beatriz hinzu. "Die Verhaltensstrukturen eines Betrügers, eines Mörders und eines Kinderschänders sind natürlich schon unterschiedlich."

"Selbstverständlich", meinte Beatriz, "das ist klar. Bei jeder einzelnen Straftat ist es notwendig, das spezielle Verhalten, seine Entstehung und die Gründe für das Beibehalten genau zu operationalisieren. Ein Mann, der eine Unterschrift fälscht, hat andere Motive als der, der den Liebhaber seiner Frau im Zorn umbringt, und das erfordert jeweils verschiedene Programme und Verstärkungspläne. Die Kriminologie muß dementsprechend diese Unterschiede berücksichtigen. Merkwürdigerweise aber befaßten sich die traditionellen, klassischen Theorien überhaupt nicht mit diesen Problemen."

"Wir haben hier ein offenes Reform- und Rehabilitations-System", bemerkte ich erklärend zu Charles. "Bei den traditionellen Reformmodellen gab es zwei Alternativen, die mit zwei Ländern, Deutschland und Schweden, verknüpft sind: das deutsche Modell baut vor allem auf große Strenge und viele aversive Reize (also Strafen jeder Art), das schwedische Modell zeichnet sich durch ,offene Türen' und eine viel positivere Einstellung zum Problem aus. Wir, als permissive und nichtrepressive Gesellschaft, folgen dem schwedischen Modell."

"Ja, das stimmt", fügte Beatriz hinzu. "Aber in Wirklichkeit haben wir unser eigenes Modell. Es ist eigentlich nicht eines der 'offenen Türen' und schon gar nicht das deutsche Modell. Wir legen großen Wert darauf, daß Fertigkeiten erlernt werden, und darauf, daß die begangene Straftat ,wiedergutgemacht' wird. Die traditionelle Haltung und Einstellung der Gesellschaft gegenüber straffällig Gewordenen kann auf der Basis zweier Konzepte erklärt werden: Strafe und Verantwortlichkeit. Der Mensch ist verantwortlich für das, was er tut, und wenn er ein Verbrechen begeht, muß er dafür 'bezahlen'; und die Gesellschaft will sich 'rächen', an dem rächen, der die Gesetze der Gesellschaft gebrochen und eine Straftat begangen hat."

"Wir allerdings glauben nicht daran, daß sich die Gesellschaft notwendigerweise an den Delinquenten rächen muß. Und wir glauben auch nicht an diese umfassende individuelle Verantwortlichkeit des Individuums (für seine Taten)."

"Mit der Entmythologisierung des Freiheitsbegriffs", präzisierte die junge Vorsitzende der "Kommission für Delinquenz und Kriminalität", "verlieren die Konzepte der Verantwortung und der Rache einen großen Teil ihrer Bedeutung. Wir haben die Gründe für Straftaten untersucht und viele Typen von Straffälligen gefunden.

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 Es gibt individuelle Unterschiede, aber vor allem gibt es Gruppenunterschiede, je nach dem begangenen Delikt: Betrüger, Mörder, Kinderschänder, Hochstapler, Einbrecher und so fort. In vielen Fällen sind wirtschaftliche Probleme als Grund erkennbar. Allerdings verlieren diese wirtschaftlichen Faktoren infolge der Arbeitsbeschaffungsprogramme und der Durchsetzung des Wohlfahrtsprinzips zusehends an Bedeutung. Natürlich bleibt die Möglichkeit, daß die Erfahrung frühkindlicher Entbehrungen sich im späteren Leben solcher Personen auswirkt."

"Wir werden also eine Gesellschaft ohne Straffällige und Kriminelle?" fragte Charles.

"Wahrscheinlich wird es dazu kommen, aber das wird sicherlich noch eine ganze Weile dauern. Wenn alles, wirklich alles kontrolliert ist, wird die Wahrscheinlichkeit, daß es zu Straftaten kommt, sehr viel geringer sein. Wenn es nur noch Leute gibt, die in der Neuen Ära geboren, während der Neuen Ära aufgewachsen sind, dann wird es möglicherweise keine Straftaten und Verbrechen mehr geben."

"Das heißt, wenn wir alle nicht mehr sind ...", fügte ich hinzu.

Wir gingen dann durch das Rehabilitationszentrum (das früher <Nationales Frauengefängnis> gewesen war) und besichtigten mehrere Pavillons. Jetzt waren die Gefängnisse, also die "Rehabilitations-Häuser", sehr klein und im Freien gelegen. Das Scheitern des traditionellen Gefängnissystems hatte viele Gründe, die wir gegenwärtig erforschten, ohne allerdings auf alle Fragen eine Antwort gefunden zu haben. Als ein gemeinsames Element hatten wir bei allen straffällig Gewordenen die Unfähigkeit gefunden, "Belohnungen", <Gratifikationen> aufzuschieben (das heißt also, die Tendenz, sofort, nicht erst später nach Befriedigung zu suchen). 

Und diese Tendenz war bei den Straftätern mit hoher Impulsivität verbunden. Einem normalen Menschen fällt es nicht schwer, eine Stunde länger auf das Mittagessen zu warten und er kann sich auch zurückhalten, dem Chef zu sagen, was er wirklich von diesem hält ... Im Gegensatz dazu ist dies für einen Kriminellen (in spe) fürchterlich schwierig: er äußert, ganz impulsiv, ohne sich dabei zu kontrollieren, was ihm gerade durch den Kopf geht; anstatt seinem Feind oder Gegner in Gedanken eine Ohrfeige zu versetzen, gibt er ihm eine <wirkliche>; anstatt im Geiste auf eine Person, die ihn beleidigt hat, drei Schüsse mit dem Revolver abzufeuern, schießt er wirklich, mit einem <echten> Revolver. Diese Impulsivität und Unfähigkeit zum Aufschub von Triebbefriedigung hatten wir sehr gut erforscht.

Wir lehrten die Straftäter, die Befriedigung von Impulsen, Trieben aufzuschieben. In vielen Fällen hatten wir in unseren Rehabilitations­programmen auf der Basis von "token systems", "Münzökonomien", gearbeitet.

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Die Münze (oder der Token) diente als Brücke zwischen dem Verhalten und der nachfolgenden Belohnung. (Die Münze oder Spielmarke ist ein Tauschwert­symbol; sie wird als generalisierter Verstärker eingesetzt, zur Belohnung von erwünschtem Verhalten und kann vom solchermaßen Belohnten gegen Nahrungsmittel oder bestimmte Leistungen und Privilegien eingetauscht' werden.) Bei den Straftätern vergrößerten wir allmählich die Zeitspanne (bis zur Gewährung der Belohnung): von Sekunden auf Minuten, von Minuten auf Stunden, von Stunden auf Tage und schließlich auf Monate und Jahre. Es war ein langer und schwieriger Prozeß. Man durfte von den Kriminellen nicht zuviel verlangen; man mußte in sehr langsamen, allmählichen Schritten, sehr behutsam vorgehen. Und man überließ natürlich nichts dem Zufall.

Das Rehabilitations-Haus, das wir besuchten, war eines für Frauen. Beatriz und ihre Mitarbeiter hatten den schwierigsten Pavillon von allen ausgewählt und begonnen, dort ein Münzverstärkungssystem aufzubauen. Sie hatten Ziele festgelegt, die die Sträflinge (oder Insassen, beziehungsweise Insassinnen) in gegenseitigem Einvernehmen mit den Forschern aufgestellt hatten; für jeweils eine bestimmte Anzahl erledigter Aufgaben ( — wie: Stoffe weben, Pullover stricken, Pavillon reinigen, inaggressives Verhalten den anderen gegenüber zeigen, mit den anderen Gefangenen kooperieren, Anordnungen befolgen) erhielt eine Frau eine bestimmte Anzahl von Münzen. 

Jede Verhaltensweise hatte ihren <Preis>, der je nach Schwierigkeit differierte. Dies betraf sowohl die negativen Verhaltensweisen (— wie: "unangepaßtes Sexualverhalten", also Masturbation in der Öffentlichkeit, Berühren der Brüste einer anderen Insassin), deren Häufigkeit reduziert werden sollte, als auch positive Verhaltensformen (— wie: Kooperativität, Sauberkeit, richtige Ausdrucksweise), deren Auftretenswahrscheinlichkeit erhöht werden sollte. Wir legten Wert darauf, den Insassinnen Verhaltensweisen beizubringen, die für sie nach ihrer Entlassung nützlich sein würden. Einige Verhaltensformen waren im Rehabilitations-Haus nützlich, aber nicht "draußen", weshalb sie ein besonderes Problem darstellten.

"Nachdem das Verhalten aller Frauen im schwierigsten Pavillon modifiziert worden war, wurden sie als Helferinnen bei der Verhaltensmodifikation der Insassinnen anderer Pavillons herangezogen. Sie hatten die Verstärkungsprinzipien, die Lernprogramme, den Verstärkerentzug und die Anwendung der Münzökonomie bestens gelernt. Sie waren gute Assistentinnen, aber die Mitgefangenen waren wegen ihrer privilegierten und mächtigen Stellung sauer auf sie. Es war nicht leicht, damit fertig zu werden.

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Es gab Streikdrohungen im Gefängnis, und wäre es tatsächlich zu einem Streik gekommen, wäre dies schrecklich gewesen. Sie wollten nicht, daß andere Gefangene ihnen Verhaltensnormen vorgaben, ihnen Belohnungen zuteilten, das Magazin verwalteten, in dem die Münzen gegen Sachen oder Privilegien eingetauscht werden konnten. Aber letztendlich hatten wir doch Erfolg, weil wir mehr Diplomatie und gesunden Menschenverstand als Wissenschaft gebrauchten."

"Jetzt scheint ja alles prima zu laufen."

"Ja. Wir haben jetzt weniger als 200 Insassinnen, in einem sehr großen Areal. Jede hat ihre eigene Zelle. Jede kann auch ihre kleinen Kinder mitbringen, die hier die nötige Betreuung erhalten und zugleich bei ihrer Mutter sind. Sie dürfen auch Besuche ihrer Männer empfangen, was ziemlich neuartig ist; sowas gibt es fast nie in Frauengefängnissen. Mittlerweile erlauben fast alle ,modernen' Gefängnisse der Welt Gattenbesuche, soweit es sich um männliche Insassen handelt, aber in fast keinem einzigen Frauengefängnis ist dies möglich. Das bedeutet faktisch, daß Männer in dieser ,machistischen' Gesellschaft sexuelle Bedürfnisse haben und haben dürfen, während wir Frauen aber keine haben!"

(Anstatt an die Insassinnen und ihr Sexualleben zu denken, stellte ich mir Beatriz, mit den zwei Ehemännern, drei Kindern und einer attraktiven Jugendlichkeit, vor, wie sie auf der "Jagd" nach einem Mann war ...)

Alle arbeiteten hier viel, alle waren stets beschäftigt. Es gab Veranstaltungen zu den unterschiedlichsten Themen, und viele Stunden waren der Re-Sozialisation gewidmet. Jede Frau erhielt — nach Abzug der Kosten für Zelle und Essen — das Geld, das sie mit ihrer Arbeit verdient hatte. Man behandelte die Gefangenen nicht wie "Objekte", sondern man betrachtete jede als ein menschliches Wesen mit individueller Vergangenheit, Gegenwart und Realität. Sie kannten alle einander und wußten sehr gut, warum sie im Gefängnis waren, aber sie stellten ihre eigene Straftat nicht in den Vordergrund und bewunderten nicht die, die eine schlimmere Untat als die anderen begangen hatten.

Eine wichtige Neuerung in unserem Gefängnis-System war das Prinzip der "Wiedergutmachung". Jeder Straffällige mußte für das von ihm begangene Delikt Wiedergutmachung leisten. Er machte es "wieder gut" — an der betroffenen Person (oder deren Familie), und auch an der Gesellschaft. Nicht, indem der Gefangene jahrelang sinnlos in einem Gefängnis herumlungerte, sondern auf eine sehr konkrete Weise. 

In Mordfällen war es natürlich unmöglich, der Person das Leben wiederzugeben, die der Impulsivität des Straftäters zum Opfer gefallen war; aber dieser mußte mit der Familie des Opfers Kontakt aufnehmen und auf diese Weise die wirkliche Größe des von ihm verursachten Schadens, des Verbrechens, erfahren, und

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er mußte versuchen, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um den von ihm verursachten Verlust wiedergutzumachen, obwohl natürlich die Toten nicht wieder zum Leben erweckt werden können!

 

"Die traditionelle Rehabilitation oder Re-Sozialisation ist gescheitert", erklärte weiter der Assistent von Beatriz, der uns herumführte, "der klassische Humanismus war nicht sehr effizient. Heute rehabilitieren wir die Straffälligen, indem wir davon ausgehen, daß es sehr darauf ankommt, das Verhalten und die Einstellung von jemandem, kurz: die ganze Person in ihrem Verhältnis zur Umwelt, zu ändern. Man muß sie lehren, neu zu leben. Genauso, wie man auch in der Erziehung intellektuelle und emotionale Faktoren, soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten und so fort betont, geschieht es auch bei der Rehabilitation von Kriminellen. Wir glauben, daß es viele Gemeinsamkeiten, Analogien zwischen dem Sozialisations- (oder Humanisations-) Prozeß in unserem neuen Erziehungssystem einerseits und den Rehabilitationsprozessen bei Straffälligen andererseits gibt. 

Aber da man es ja nicht mit Kindern zu tun hat, ist das Problem der Resozialisierung von Straffälligen weitaus schwieriger. Ein Leben voller Haß, voller falscher, unangepaßter Verhaltensweisen, voll von Aggression, Ressentiment, Elend, Leiden und Armut, ein Leben, das nur daraus bestand, Frustrationen, Ungerechtigkeiten einzustecken und auszuteilen, muß verlernt werden. Wir in der Neuen Ära haben kein Mitleid mit den Kriminellen; das würde nicht in Übereinstimmung mit den Prinzipien dieser Gesellschaft stehen. Aber wir erweisen ihnen Achtung und geben ihnen unsere Zuneigung, wir behandeln sie wie menschliche Wesen, — und das hat sehr positive Ergebnisse gebracht."

 

"Rehabilitation setzt eine Änderung des Lebensstiles voraus", sagte Beatriz zu Charles gewandt. "Wir glauben nicht an einen 'kriminellen Geist', und auch nicht an irgendwelche genetischen Erklärungsfaktoren für Delinquenz, wir glauben an offenes Verhalten. Wir sind auch davon überzeugt, daß der Straftäter kein Kind ist und nicht wie ein Kind behandelt werden sollte. Wir schieben alle Vorurteile und Stereotypen der traditionellen Kriminologie beiseite und beginnen praktisch bei Null: Wir analysieren die Straftaten in ihrer natürlichen Umwelt, beschreiben die Fälle genau, bevor wir sie erklären, suchen nach den Gemeinsamkeiten verschiedener Typen von Straftaten. Wir entdecken, daß der Kriminelle und der, der die Strafe verhängt, in einen endlosen Teufelskreis der Rache getrieben werden; jeder rächt sich am anderen; daher rührt auch die Rückfälligkeitsquote bei Straftätern, die die Kriminalexperten so alarmiert hat. Wir erforschen die Vorgeschichte jedes straffällig Gewordenen, wir interessieren uns für seine frühe Kindheit, für die Geschichte seiner Verstärker, also die Belohnungen und Strafen, die er in seinem Leben bekommen hat.

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Fast immer finden wir eine unglückliche Kindheit: eine Mutter, die das Kind mißhandelte, einen Vater, der es exzessiv strafte und ihm beibrachte, daß die Welt voller Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten sei und daß sich das Kind genauso ungerecht und grausam verhalten müsse, um zu überleben. Das waren Spielregeln, die das Kind nicht verstehen konnte. Es wollte sich an der Welt rächen, beging seine erste Straftat, und wurde zuerst in ein Jugendgefängnis gesteckt. Dort kam es heraus mit dem brennenden Wunsch, sich für die schlechte Behandlung zu rächen, und bald geriet es in ein anderes Gefängnis; es kam von einem Gefängnis ins nächste, es beging jedesmal größere, schlimmere Delikte, es lernte der Polizei zu entkommen, hatte immer mehr den Wunsch, seine Wut auszuleben, auf sein Unglück aufmerksam zu machen, wollte sich an der Welt für die Ungerechtigkeiten rächen, die man an ihm begangen hatte. Ein regelrechter Teufelskreis, diese ewige Suche nach Vergeltung, nach Rache. Und das ,Gesetz', die traditionelle 'Justiz', trägt seinen Teil dazu bei, daß dieser circulus vitiosus aufrechterhalten wird."

"Und welche Alternativen haben Sie nun gefunden?"

"Rehabilitations- und Resozialisierungssysteme wie dieses hier. Mit Betonung der Belohnung und nicht der Strafen. Mit Gewicht darauf, Verhaltensweisen ,einzupflanzen', die nachher nützlich sind, wenn die Straffälligen das Gefängnis hinter sich haben. Diese Insassinnen hier zum Beispiel kommen später in ein ,Übergangshaus', in dem sie ein fast normales Leben führen können. Sie bekommen eine anständige Arbeit und werden — vorausgesetzt, daß wir sie als rehabilitiert, resozialisiert ansehen — vom Stigma des Gefängnisaufenthaltes befreit. Sie haben eine reine Weste. Können von vorne anfangen. Es gibt kaum Rückfälle, und wir sind mit den bis jetzt erreichten Resultaten sehr zufrieden."

"Der Aufenthalt im Gefängnis dauert unterschiedlich lang. Das hängt davon ab, wie schnell der Prozeß der Resozialisierung vorangeht und wie es mit der Wiedergutmachung, entweder am Opfer selbst oder an dessen Familie, steht. Später kommen die Gefangenen, wie Beatriz erläutert hat, in ein ,Übergangshaus'. Dort gehen sie einer geregelten, gut bezahlten Arbeit nach, ohne daß irgend jemand weiß, daß sie straffällig gewesen sind. Darüber machen wir eine Nachuntersuchung, deren Ergebnisse allerdings noch nicht vorliegen, weil das System schließlich noch neu ist ... (wie wir ja alles untersuchen und evaluieren, was wir in unserer Neuen Ära machen)."

"Es ist ja seltsam, daß man bei den Kriminellen dieses Rachemotiv findet, Rache an der ganzen Welt, und daß dies mit ungerechten und überharten Strafen in der frühen Kindheit zusammenhängt.

Skinner hat ja auch schon in seinen Büchern über die Wirkungen von Strafen auf die Entstehung von Neurosen geschrieben; übermäßige Bestrafung produziere emotionelle und Verhaltens-Fehlanpassungen; aber er sagte meines Wissens an keiner Stelle, daß sie Straftäter produziere."

"Nein, das hat er nicht gesagt", antwortete ich. 

"Und in <Walden 2> gab es ja auch weder Delinquenz noch Kriminalität. Weil es sich dabei um eine verhältnismäßig kleine Gesellschaft handelte, brauchte man die ökonomischen, ideologischen, politischen und religiösen Probleme und auch die Kriminalität nicht zu berücksichtigen. Übrigens auch die Ökologie nicht. Wir in <Walden 3> dagegen müssen uns sehr mit diesen Problemen beschäftigen. Es ist wesentlich einfacher, ein <Walden Zwei> zu erbauen als ein <Walden Drei>. Wenn man versuchen will, die operanten Prinzipien auf nationaler Ebene anzuwenden, erfordert dies, daß man eine ganze Menge weiterer Parameter oder Faktoren miteinbezieht. Unsere Gesellschaft ist viel komplexer als die Skinners und sie birgt viele Variablen, die für die Skinnersche Utopie irrelevant waren."

"Aber wir sind der Wirklichkeit viel näher", fügte Beatriz hinzu, "viel näher an der tatsächlichen Welt und ihren Problemen."

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