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11  Jens Nordt  /  Mißglückte Flucht mit dem Eisenbahnwaggon

 

Jens Nordt aus Rehbrücke bei Potsdam/Babelsberg, wurde nach einem vorbereiteten, aber nicht zur Ausführung gelangten Fluchtversuch 1980 verhaftet und zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. In der Haft war er schlimmen Mißhandlungen ausgesetzt. Er stellte zahlreiche Ausreiseanträge und wurde wegen seines Kontaktes mit der Initiative »Hilferufe von drüben« erneut verhaftet und in die DDR entlassen. Erst nach mehr als siebenjährigen Bemühungen konnte er in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen.

 

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Jens Nordt, geboren 1961 in Dresden, wuchs in einem Elternhaus auf, das uneingeschränkt auf SED-Linie lag. Sein Vater hatte in der Sowjetunion studiert, und als Mitarbeiter der sowjetischen Truppen in der DDR verfügte er über enge Kontakte zu deren Oberbefehlshaber. »Hoher Geheimnisträger« sei der Vater gewesen, so Jens Nordt.

Jens ging zur Jugendweihe, besuchte die Polytechnische Oberschule bis zur 10. Klasse und absolvierte eine Lehre im Schwermaschinenbau. Die Lieblosigkeit, die er von den Eltern erfuhr, führt er wesentlich darauf zurück, daß sie ihn — und im besonderen sein Vater — zu einer »sozialistischen Persönlichkeit« erziehen wollten. 

Diskussionen oder ein Vater-Sohn-Gespräch über das politische System und die Mißwirtschaft in der DDR waren im Elternhaus ebenso unmöglich wie das West-Fernsehen — heimlich sah er bei Freunden die verbotenen Programme.

Mehrfach lief Jens Nordt von zu Hause weg, manchmal tagelang. Zwar trat er noch den Jungen Pionieren bei, aber schon der FDJ stand er wegen ihres autoritären Stils, der ihn so sehr an zu Hause erinnerte, ablehnend gegenüber; Mitglied ist er nicht geworden. Dieses »Nicht-Mitschwimmen«, so formulierte es Jens Nordt, habe seine ersten Bestrafungen nach sich gezogen. Er wurde aus dem Klassenkollektiv und dem GST-Ferienlager ausgeschlossen.

Bei der Musterung erklärte Jens Nordt, er werde nicht auf Menschen schießen. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten: Er wurde aus der Sportschule, der er angehörte, entlassen und von der NVA ausgemustert.

Jens Nordt hatte keinerlei Verbindungen in den Westen, auch verwandtschaftliche Beziehungen gab es nicht. Gespräche im Freundeskreis, wo »Westkontakte« die Regel waren, ließen in ihm »dämmern, daß es noch etwas Besseres, Lebenswerteres gibt«. Die politischen Verhältnisse und die häusliche Trostlosigkeit bestärkten ihn, nach einem »Fluchtpunkt, einem Neuanfang« zu suchen. Es sei, meint er selbstkritisch, ein »naives Denken« gewesen, das ihn schließlich 1979 zu einem ersten Ausreiseantrag veranlaßte. Von den innerstaatlichen Konsequenzen habe er »keine Ahnung gehabt«. Sofort verlor er seinen Arbeitsplatz. Für ein halbes Jahr schlug er sich als Kellner in einem privat betriebenen Cafe in Potsdam durch.

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In dieser Zeit stieß er zu einem Kreis, der intensiv einen Fluchtversuch vorbereitete. Mit einem Eisenbahn­waggon, der Baustoffe von Ost- nach West-Berlin transportierte, sollte es gewagt werden. In die festverpackten Steinpakete wurden in nächtelanger Arbeit unbemerkt kleine »Höhlen« gebaut und mit Bretterverschlägen gesichert. Elf Personen, darunter mehrere Kleinkinder, sollten auf diesem Weg in den Westen gelangen.

Die Vorbereitungen konnten zwar abgeschlossen werden, aber in der Nacht, in der der Waggon rollen sollte, wurden auf dem entsprechenden Gleis Reparaturarbeiten im Scheinwerferlicht durchgeführt. Die Flüchtlinge konnten den Waggon nicht unbemerkt erreichen und gaben den Fluchtversuch auf.

In West-Berlin stellte die Empfängerfirma Herfurth fest, daß als Folge der Aushöhlungen etwa 3.500 Steine fehlten. Der Stasi-Akte von Jens Nordt zufolge meldete die Firma ihrem Lieferanten in Potsdam, einige Steinpakete seien »so gestapelt worden, daß Hohlräume vorhanden waren, die als Fluchtraum geeignet anzusehen seien«. Dies führte sofort zu Ermittlungen der Stasi-Bezirksverwaltung, die nach weniger als einem Monat zur Festnahme aller Beteiligten führte. Jens Nordt war zwar erst später zu der Fluchtgruppe gestoßen und sah sich als »Mitläufer«, aber dies half ihm wenig.

Alle Beteiligten wurden nach einjähriger Untersuchungshaft zu Haftstrafen von mehr als zwei Jahren verurteilt, auch die Frauen; die Kinder kamen in staatliche Heime. Jens Nordt, der zu keinem Zeitpunkt ein Gespräch mit einem Anwalt hatte führen können, weil es nur eine Art »kumulativer« Verteidigung gab, erhielt drei Jahre und sechs Monate Zuchthaus. Zur Strafverbüßung kam er nach Cottbus.

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In der Haftanstalt, die in »Erziehungsbereiche« aufgeteilt war, arbeitete er an einer Drehmaschine; er mußte Kunststoffteile für den »Trabant« anfertigen. Die Arbeitsbedingungen waren menschenunwürdig. Schutzmaßnahmen gegen die feinen Kunststoffpartikel in der Luft gab es für die Häftlinge nicht, und für ihre Akkordarbeit erhielten sie weniger als 50 DDR-Mark monatlich — vorausgesetzt, sie erreichten das vorgegebene hohe Soll. Verfehlten sie es, waren Disziplinarmaßnahmen wie die Einschränkung des Postverkehrs oder die Streichung des halbjährlichen Paketgutscheins die Folge.

Beim Wachpersonal galt Jens Nordt bald als »aufsässig«. Weil er bei der Arbeitsein Weisung durch einen Unterleutnant Hoffmann lächelte, warf dieser ihm aus kürzester Distanz einen Schlüsselbund mit voller Wucht ins Gesicht. Jens Nordt erlitt schwere Gesichtsverletzungen. Die ärztliche Versorgung war völlig unzureichend: Die Wunden wurden geklammert, aber nicht genäht. Noch heute ist Jens Nordt von diesem Zwischenfall gezeichnet.

Disziplinarmaßnahmen wurden gegen Unterleutnant Hoffmann nicht ergriffen, im Gegenteil: Um den Vorfall zu vertuschen, kam Jens Nordt auf Befehl des »sozialistischen Pädagogen«, als den sich Hoffmann sah, in Einzelarrest in den »Erziehungsbereich 12«. Unter den Häftlingen hieß die weniger als viereinhalb qm große und doppelseitig vergitterte Zelle »Tigerkäfig«.

Um Schach mit sich selbst zu spielen, malte Jens Nordt im »Tigerkäfig« ein Schachbrett an die Wand. Dieses »Vergehen«, ein anderes Mal die Mißachtung des Rauchverbots, führte zusätzlich zur Ankettung. Den ganzen Tag mußte er stehend verbringen. Die Ketten waren so kurz, daß er sich weder auf den Boden legen noch setzen, sondern lediglich den Fäkalieneimer stehend erreichen konnte. Mit einer kurzen Unterbrechung, in der er mittags zugleich auch das Abendessen einnehmen mußte, verbrachte er in dieser Haltung den Tag von 6 bis 22

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Uhr, manchmal bis zu vier Tagen hintereinander. Wohl an die 30 Tage habe er zusammengerechnet dort so verbracht — abgesehen von den insgesamt acht Monaten Einzelhaft im »Erziehungsbereich 12«, dem »härtesten« Bereich. Freigang gab es dort überhaupt nicht.

 

Jens Nordt saß dreieinhalb Jahre im Zuchthaus Cottbus ohne jeden Briefkontakt — auch die Eltern schrieben ihm nicht. Lediglich einer seiner fünf Brüder besuchte ihn gelegentlich. Aus der Haft stellte er 22 Ausreiseanträge; erst später erfuhr er, daß sie nicht weitergeleitet worden waren.

Dreimal signalisierte ihm die Anstaltsleitung, er werde in Kürze als »freigekaufter« Häftling die DDR in Richtung Bundesrepublik Deutschland verlassen können. Dreimal verschenkte Jens Nordt daraufhin die geringen, in der Haft aber wie Schätze gehandelten Habseligkeiten, Zigaretten, Feuerzeug und anderes, an Mithäftlinge. Dreimal hatte sich die Anstaltsleitung einen makabren Witz erlaubt — der Name Jens Nordt stand auf keiner Entlassungsliste, er mußte bleiben.

Nichts habe ihn, erklärte er im Rückblick, so tief getroffen wie diese enttäuschten Hoffnungen. Erst nach Verbüßung der gesamten Haftzeit wurde er im Mai 1984 entlassen — zu seinem Entsetzen zurück in die DDR.

Jens Nordt wurde zwangsweise in die elterliche Wohnung eingewiesen. Vom Tag der Haftentlassung an war er ständigen Kontrollmaßnahmen ausgesetzt: sein Aufenthalt wurde auf die Stadt Potsdam beschränkt, er mußte sich wöchentlich melden, erhielt willkürlich Hausarrest, nächtliche Ausgangssperren und Verkehrs­verbot mit bestimmten Personen, er durfte den Arbeitsplatz nicht wechseln, die Post mit Freunden in der Bundesrepublik wurde »gesperrt«. 

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Nach den schlimmen Hafterfahrungen und ihren psychischen und physischen Folgen sah Jens Nordt sich weiterhin der Willkür der Staatsorgane ausgesetzt; sie drohten ihm die erneute Verhaftung an, weil er seine Ausreiseabsicht ständig bekräftigte. Seine Verfassung, so urteilt er im Rückblick, sei »immer labiler« geworden.

Freunde in der Bundesrepublik, mit denen er über seine Freundin Cerstin K. Kontakt aufnehmen konnte, boten ihm ihre Hilfe an. Er sandte seine Unterlagen nach Westdeutschland — und wurde bereits im Oktober 1984 erneut verhaftet. Ein ehemaliger, inzwischen freigekaufter Mithäftling publizierte den Fall Jens Nordt in einer »Sensationsmache, die ich nicht gebilligt habe«. Ausschlaggebend war freilich der Verrat seiner damaligen Freundin; als die Beziehung zerbrach, ging sie, wie angedroht, zur Stasi.

Bis zum Prozeß, der im April 1985 stattfand, kam er in das Stasi-Gefängnis Potsdam. Ihm wurden Verstöße gegen die §§ 214 (Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit) und 219 (Ungesetzliche Verbindungsaufnahme) des Strafgesetzbuches der DDR vorgeworfen. Zeit für ein Gespräch fand Rechtsanwalt H. aus Potsdam, der ihn vertreten sollte, vor der Verhandlung nicht; lediglich ein brieflicher Kontakt kam zustande. Entsprechend fiel die Verteidigung aus — es gab sie faktisch nicht. Jens Nordt wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt.

In Cottbus begrüßten ihn einige aus dem Wachpersonal mit sichtlicher Häme, aber er hatte aus seiner ersten Haftzeit gelernt. Sein Verhalten war unauffällig, und er ließ sich nicht provozieren; die früheren Mißhandlungen blieben ihm erspart. Auch die äußerliche Anpassung nutzte ihm wenig. Er mußte seine Strafe — unter Einbeziehung der Untersuchungs-Haft — voll absitzen; erst im November 1986 wurde er entlassen.

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Er sah sich, wie nach seiner ersten Entlassung, erneut umfassenden Repressalien ausgesetzt. Eine Bewerbung bei der Mitropa konnte angesichts seiner politischen »Vergangenheit« keinen Erfolg haben. Man teilte ihm kurz und trocken mit: »Nach Klärung aller Umstände sind wir zu dem Entschluß gekommen, von einer Einstellung Ihrer Person Abstand zu nehmen. Somit wäre Ihre Bewerbung erledigt. Mit sozialistischem Gruß.«

Ein Hoffnungsanker war der Kontakt zu Hubert Schneider in Rheine/Nordrhein-Westfalen. Schneider hatte bereits zwischen den beiden Haftzeiten Kenntnis von dem Fall Nordt erhalten. Der Kontakt gelang über eine ältere Dame in Ost-Berlin, die als Rentnerin die Grenze nach West-Berlin überqueren durfte und die Briefe in ihrer Unterwäsche mitnahm.

Schneider, der die häuslichen Verhältnisse nicht kannte, suchte in Ost-Berlin vergeblich engeren Kontakt mit den Eltern von Jens Nordt aufzunehmen; zugänglicher zeigte sich einer der Brüder. In einer Vielzahl von Eingaben wandte sich Schneider an politische Persönlichkeiten, u. a. den bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß. Über die Vermittlung Schneiders kam auch das Engagement einer dänischen Schulklasse zugunsten von Jens Nordt zustande.

Das Innerdeutsche Ministerium stellte über eine West-Berliner Anwältin den Kontakt zu Rechtsanwalt Vogel her. Dieser schrieb Jens Nordt 1986, er könne in seiner Sache nicht tätig werden. Eine Begründung dafür gab es nicht.

Im gleichen Jahr erhielt Schneider, dessen umfassende Aktivitäten der Stasi natürlich nicht verborgen geblieben waren, ein Einreiseverbot für die DDR. Begründet wurde dieses Verbot mit seiner Tätigkeit für eine »terroristische Vereinigung« — gemeint war <Hilferufe von drüben>. 

Den Kontakt zu Jens Nordt hielt Schneider über die mutige ältere Dame, bis Nordt im Juni 1987 überraschend die Aufforderung erhielt, die DDR binnen 48 Stunden zu verlassen. Über das Aufnahmelager Gießen gelangte er in die Bundesrepublik Deutschland. Der 26jährige war acht Jahre von der Stasi überwacht worden, fünfeinhalb Jahre hatte er in DDR-Haft verbracht.

Wie andere ehemalige politische Gefangene der DDR hatte Jens Nordt zunächst Schwierigkeiten, sich in der Freiheit zu orientieren und zurechtzufinden. Er hat diesen Prozeß, wie er hofft, inzwischen erfolgreich abgeschlossen.

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Original-Stasi-Akten: 

 

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