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Teil 1 

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   1 Alles Menschliche wird teuer   

12-26

Noch bis vor siebzig, achtzig Jahren wußten die meisten Menschen mit den Worten Psychologie und Psycho­therapie nicht viel anzufangen. Heute, Mitte der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, scheint das Wort Psychologie für viele Menschen so etwas wie eine Zauberformel darzustellen, die eine magische Anzieh­ungskraft ausübt. Viele sind bereit, dieser geheimnisvollen Kraft ihren Tribut zu zollen.

Sie bringen große Opfer an Geld und Zeit. Denn wo immer Psychologie in eine Dienstleistung verwickelt ist, kann man sicher sein, daß es nicht gerade billig ist. Wer in den Supermarkt der Psychologie geht, sollte sich dessen bewußt sein und schon vorher prüfen, was er eigentlich will, wo seine Bedürfnisse liegen, sonst kann er allzuleicht verführt werden von dem heute bestehenden Riesenangebot. Bildlich gesprochen kann ihn das gleiche Schicksal treffen, das vielen Ahnungslosen im Labyrinth des sagenumwobenen Minothaurus von Kreta widerfuhr. Ohne <Leitfaden> ist er mit Haut und Haaren verloren.

Die Psychologie hat heute Einfluß auf fast alle Lebensbereiche des modernen Menschen, insbesondere des Stadtmenschen. Psychologie wird wirklich groß geschrieben. Psychologische Bücher stehen mit auf den Bestsellerlisten einiger westlicher Länder. Die Titel und Themen scheinen unerschöpflich: neuerdings ist sogar die Psychologie des Todes in Mode gekommen. Jede menschliche Tätigkeit, jedes Bedürfnis kann mit der Etikette Psychologie versehen werden. Überspitzt könnte man sagen, Psychologie ist heute ein Gesellschaftsspiel par excellence geworden, das alle anderen Spiele in die Tasche steckt. Das ist nicht nur ironisch gemeint. Auf dem <Spielzeugmarkt> für Erwachsene stehen Psychospiele obenan. Fast jede Illustrierte hat eine psychologische Kummerecke, wo Tante <Hertha> zu großen und kleinen Problemen Stellung nimmt.

In <Bravo>, einer Zeitschrift für Teens und Twens, beantwortet eine Psychologin unter dem Pseudonym Dr. med. Alexander Korff drängende Fragen. In Diskussionen und alltäglichen Auseinandersetzungen verblüfft die Floskel <psychologisch betrachtet> oft den hartnäckigsten Gegner und erstickt damit jede weitere Argumentation. Sie wirkt wie ein Fetisch, vermittelt Distanz und Respekt.

Sind Psychologie und Psychotherapie auch wieder auf den Hund gekommen? Diese <treue> Spezies genießt seit Pawlow unsterblichen Ruhm innerhalb der Psychologie. Auch ihm kann heute durch Psychologie und Therapie geholfen werden. Wie könnten Frauchen und Herrchen ihm besser ihre Liebe beweisen, als ihn in Therapie zu schicken. Alle Hundehalter sollten daher bei folgenden Symptomen die Ohren spitzen: Springt ihr Hund ständig herum, bellt und winselt, dann handelt es sich um ein ernsthaftes Angstsyndrom. Beißt ihr Hund unaufgefordert fremde Leute, lautet die Diagnose: fehlgeleitete psychosexuelle Orientierung. Wenn >Hasso< sich nicht mehr an der Leine führen lassen will, wenn er seine eigenen Wege gehen will, ist sofortige stationäre Behandlung angezeigt, denn >Hasso< befindet sich in einer >Dominanzfrustration< und >Identitätskrise<. Hasso möchte selbst der Boß sein. Dieser Drang zur Vermenschlichung droht die Beziehung Mensch-Hund auf den Kopf zu stellen. Die Einzelbehandlung für Hunde kostet weniger, als eine Einzelanalyse für Menschen. Warum dann nicht lieber den Hund in Therapie schicken!? 2)

In das Geschäft mit der Psychotherapie hat sich auch die Computerforschung eingelassen. Der therapeutische Computer ersetzt den Therapeuten. Der Klient tippt dem Computer seine Probleme ein, sofort antwortet der Computer schriftlich:

X: (ein fünfzig Jahre alter Mann): Es scheint, daß ich mich für gar nichts mehr interessiere. 
Komputer: Erzählen sie mehr über diese Gefühle. 
X: Ich hab so 'ne Ahnung, warum ich so fühle. 
K: Sie haben. 
X: Ja, offensichtlich fehlt mir ... ich habe keine Familie. 
K: Was gibt Ihnen das Gefühl, daß Ihnen eine Familie fehlt? 
X: Da liegt eine Herausforderung für mich.  
K: Warum ist das so wichtig für Sie?  

oder ein anderer >Patient<:

Y: Ich hasse dich, du blöde Maschine.
K: Was stört dich an mir?
Y: Du hast keine Gefühle!
K: Wie meinst du das?
3)

Auch die Werbung mischt kräftig mit. So eine Reklame für die immer mehr in Mode kommenden Sitzelemente: »Ein durch­schlagendes Konzept, mit dem sie die Atmosphäre von Gruppentherapie schaffen können, anstatt in hinterwäldlerischer Weise auf vierfüßigen platten Dingern zu sitzen.«4)  

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    2.  Angebote — auf welche Nachfrage   

 

Wir registrieren heute einen ungeheuren Andrang zu Veranstaltungen, die in weitestem Sinne mit Psychologie, Psychotherapie und Selbsterfahrung zu tun haben. Wir sehen darin grundlegende neue Bedürfnisse, die allerdings der Gefahr unterliegen, vom Psychomarkt kommerziell ausgebeutet zu werden. Eine veränderte gesellschaftliche Situation ruft auch veränderte psychische Probleme im individuellen und sozialen Bereich hervor. 

Um diese Bedürfnisse herum hat sich in den USA — in Deutschland bahnt sich eine ähnliche Entwicklung an — ein riesiger Markt gebildet, der einem Warenhaus gleicht, in dem man verschiedene Erfahrungen und Erlebnisse einkaufen kann. Jede Abteilung betreibt eine marktschreierische Werbung. 

Wie soll der Kunde herausfinden, was seinen spezifischen Wünschen und Bedürfnissen entspricht, wenn er neben- und übereinander ausgebreitet findet: Psychoanalyse, Selbstanalyse, Psychodrama, Urschrei­therapie, Gestalttherapie, transaktionale Analyse, Hypnose, Selbsthypnose, Bioenergetic, Rolfing, Konzentrationstraining, Autogenes Training, Encountergruppen, Marathongruppen, sinnliche Erweiterung, Aggressionstraining, Realitätstherapie, rational-emotive Therapie (RET), Yoga, T'ai Chi Ch'uan, Astrologie, Scientology, Bewußtseinserweiterung, transzendentale Meditation, Zenbuddhismus, Tantra usw.

Viele suchen heute nach neuen Antworten, nach einem anderen Sinn im Leben. Sie sind nicht mehr zufrieden mit Wert­vorstellungen wie <liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst>. Eine solche Orientierung erscheint im gegenwärtigen Chaos schwer lebbar.

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Der moderne Mensch befindet sich in jeder Beziehung seines Alltagslebens in einer nie dagewesenen Abhängigkeit: er fährt einen Wagen, den er nicht versteht, er trägt Kleider, die er nicht selbst angefertigt hat; er nährt sich von Früchten, die er nicht gesät und geerntet hat; er wird behandelt von Ärzten, die eine für ihn fremde Sprache sprechen, er vertraut seine Gesundheit der Macht der Pillenchemie an, seine Forderungen nach Gerechtigkeit muß er Rechts­anwälten übergeben, denn er ist nicht fähig, im Paragraphenwald seinen Fall wiederzuerkennen; die Massenmedien überfluten ihn mit Informationen, die ihn verblüffen, beängstigen und verschrecken, aber er steht den Ereignissen machtlos gegenüber. Was kann er denn zur Lösung der Energiekrise wirklich beitragen? Es bleibt ihm nur die Hoffnung auf vernünftige Politiker, die zumindest ab und zu mal seine Interessen vertreten.

Der sogenannte Weltfrieden beruht auf Abschreckung, die Vernichtung der Menschheit liegt in der Hand weniger; ein Fingerdruck genügt, um die Welt in ein Chaos zu stürzen.

Wie soll er da seinen Nächsten lieben, wenn er selbst keine Liebe erfährt, wenn er Angst hat, abends allein über die Straße zu gehen, wenn er jederzeit darauf gefaßt sein muß, von gerissenen Geschäftsleuten übers Ohr gehauen zu werden, wenn er hört: wir müssen alle Opfer bringen, um die schwierige Krise zu überwinden, aber sein Opfer im Verlust des Arbeitsplatzes besteht.

Nach einer langen Phase materialistischer Grundeinstellung, wissenschaftlicher Fortschritte, mörderischer Kriege und Entfremdung durch Industrialisierung und Konsumüberfütterung betrachten wir das gegenwärtige Suchen als Anfang einer psychologischen Renaissance. Das Bewußtsein steigt, daß es nicht genügt, die gegenwärtige Misere mit Schlagworten wie Aggression, Entfremdung, Existenzangst, Lebensqualität, usw. zu belegen und in gelehrten Abhandlungen in Bibliothekssilos zu lagern, ohne etwas dagegen zu unternehmen. 

Viele verspüren, daß sie aus der passiven Beobachterrolle herausmüssen, um Kommunikationsprobleme mit einem Minimum an feindseligen Konflikten und Frustration und einem Maximum an schöpferischer Lebensfreude anzugehen. Sie entdecken lange unterdrückte eigene Potentiale, die sie befähigen, Konflikte nicht nur in angemessener Weise zu verstehen, sondern auch in eigener Verantwortlichkeit und engagiertem Handeln zu lösen, bzw. einen Beitrag dazu zu leisten. Als Vehikel für dieses neue Bewußtsein dienen die alten und neuen Therapien. Wir glauben, daß die besonders neuen Therapien Beantwortungs­versuche der wachsenden Entfremdung des Individuums von sich selbst und seiner Umwelt darstellen und als Versuch dienen, das <existenzielle Vakuum>, wie Victor E. Frankl es nannte, auszufüllen.5)  

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   3 Humanistische Psychologie  —  Neue Rituale gegen Lebensangst  

 

Neben der Entwicklung einer >humanistischen Psychologie< die sich um die Überwindung verkrusteter psychologischer Dogmen bemüht — sie wird in Europa simplifizierend Encounterbewegung, Sensivitytraining, Gruppendynamik, Erlebnistherapie u.a. genannt —, zeigen sich zunehmende Tendenzen zu neuen dogmatischen Lebensanschauungen, die von ihren Anhängern mit fanatischem Behauptungswillen und sektiererischem Ernst verfochten werden. Die Autoren befürchten, daß bei der heutigen Veränderung von Wertvorstellungen und Infragestellung alter Normen auch die Psychologie zum Religionsersatz mit eigenen Bibeln werden kann.

Der Verlust alter Ritualisierung wird ersetzt durch neue Rituale, die für die gegenwärtige Situation des Individuums bedeutungs­voll und inspirierend sind, da die religiösen Rituale von vielen als leer und nichtssagend erlebt und erfahren werden. Dabei nimmt die <Psychologie und Psychotherapie> mit allen ihren Verästelungen und Vermischungen mit Philosophie, Religion und Weltanschauung immer mehr die Stelle der herkömmlichen Seelsorge ein. Wer heute Probleme hat, die er allein nicht mehr bewältigen kann, geht nicht mehr zum Pfarrer, sondern zum Psychologen oder in eine der vielen Formen von Selbst­erfahrungs­gruppen. Gegenwärtig tritt sogar eine neue Dimension verstärkt in den Vordergrund: Yoga, Zen-Meditation, Pfingst- oder charismatische Bewegung, Okkultismus, Spiritismus, Übersinnliches, Astrologie und Seelenwanderung.

Die psychische Befindlichkeit der Leute, die zu uns in die Gruppen und in die Therapie kommen, zeigt viele Gemeinsamkeiten: sie finden in der Religion nicht mehr genügend Halt, um mit ihren persönlichen Schwierigkeiten fertig zu werden. Viele klagen über Einsamkeit und Langeweile. Sie leiden unter Angst und Entfremdung. Sie suchen nach neuen Wegen und Formen, nach Lebensstilen, die eine Alternative dazu bieten.

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Eine Schauspielerin, die an unserem Institut Einzel- und Gruppentherapie mitgemacht hat, sagte in einem Interview, auf diesen Zusammenhang hin angesprochen: 

»Ich glaube an ein höheres Sein. Ich meine nicht diese Kirchensachen. Ich glaube an einen Plan. Nicht alles ist Zufall, sondern es existieren kosmische Ordnungen. Der Katholizismus war für mich immer sehr sinnlich, und als junges Mädchen sehnte ich mich nach Sinnlichkeit, nach den Gerüchen, Tönen, Bildern, der Musik, den Gesten und Ritualen. Die presbyterianische Kirche, in der ich aufwuchs, hatte den Charakter und die Heimlichkeit einer reichen Rechtsanwaltpraxis. Die Therapie half mir, meine eigene Identität zu finden, wieder mit den Füßen auf den Boden zu kommen und mit festem Schritt umherzugehen.«6a 

Ein Freund der Autoren, der sich mit diesem Problem als Theologe auseinandersetzt, schrieb uns dazu: 

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»Daß die Hochkonjunktur für Gruppenbewegungen aller Art auch mit dem Versagen der etablierten Kirchentümer zusammenhängt, glaube ich auch. Aber vielleicht spielt auch eine Rolle das Umschlagen des politischen Protestes der 60er Jahre in eine neue Art Innerlichkeit und manchmal Subjektivismus, weiter die Rolle der Subkulturen und der Drogenszene, vor allem der Drop-outs. Bei den Bewegungen der Jesus-People ist dieser Zusammenhang ja deutlich. Es könnte ja sein, daß hier eine Art Kompensations­mechanismus vorliegt, ähnlich wie auch Religion funktionieren kann, <Religion als illusorisches Glück des Volkes> (Marx), und also diese Bewegungen, als Ersatzreligionen, diese alte Funktion von Religion übernommen haben, Trost, Zuflucht, Geborgenheit.«7

So kann Psychologie zum neuen Erlöser, zur neuen Kirche werden. Sie zeigt einem, man kann das für sich selbst tun, wovon man dachte, Gott täte es für einen.8 Von dieser Illusion wurden schon viele getäuscht, aber leider nicht geheilt.

Fast 2000 Jahre herrschte in der westlichen Kultur, wenn auch in verschiedenen Ausprägungen, der Glaube an einen Gott. Trost, Rettung und Erlösung waren an dieses Glaubenssystem gebunden. Die Befolgung der Gebote Gottes stellte und stellt die Menschen vor eine schwer zu versöhnende, aufzulösende Paradoxie: sie sollen die Gebote aus Furcht vor Strafe, Hölle und Verdammnis befolgen, andererseits gleichzeitig Gehorsam aus Liebe zu Gott praktizieren. Die Liebe gilt als das Höchste, d.h. liebe den, der dich straft. Doch wie gering und unvollkommen man auch diesen Erwartungen entsprechend lebt, es bleibt die Hoffnung: da ist ein Gott, der einen liebt und immer wieder bereit ist, Verzeihung und Vergebung zu schenken. Diese nicht leicht lebbaren Widersprüche versucht die humanistische Psychologie zu überwinden.

Der Hauptstrom der humanistisch orientierten Psychologie unterstreicht nachdrücklich die These: »Du bist o.k., wir werden dir zeigen, was alles in dir steckt, du bist nicht verkrüppelt, wir werden dir helfen, dich zu befreien.«

Die humanistische Psychologie sehen wir als einen neuen Versuch, eine andere Antwort zu geben auf die uralte Frage: wer bin ich, und wo gehe ich hin. Materialismus und Atheismus haben offensichtlich nicht vermocht, den Drang des Menschen auf der Suche nach einem Sinn im Leben ausreichend zu beantworten.

Die <neue Psychologie> unterstützt den Glauben an das Individuum: es ist eine gute und schöne Sache, ein sensitives menschliches Wesen zu sein. Sie hilft dem Menschen, sich selbst als Individuum zu akzeptieren. Sie erscheint uns als eine neue Variation in dem endlosen Streben des Menschen nach einem Sinn im Leben. Ch. Ansell, der sich mit dieser Frage auseinandersetzt, interpretiert das Suchen so: »Wenn der Mensch jemals so desillusioniert wird von der am Menschen orientierten Religion wie von der an Gott orientierten Religion, wird er etwas anderes finden. Ganz gleich wie, die Welt bleibt blutig und grausam und voller Schmerz. Man wird ein anderes Glaubenssystem finden. Das Suchen nach Glauben ist ohne Ende 9) 

Wir teilen persönlich nicht diese pessimistische Sicht, sondern glauben, daß eine Psychologie, die zum Religionsersatz wird, an der falschen Front kämpft und zu einer Vergötzung des Selbst, einem Narzißmustrip werden kann: <ich bin mein eigener Gott>. Die Wiederentdeckung des Individuums und seine bessere Selbstverwirklichung, müssen Hand in Hand gehen mit dem Erlernen von Kommunikations­fertigkeiten, die nicht nur in einer Glashausatmosphäre Echtheit und Offenheit ermöglichen, sondern auch gesellschaftspolitisch krankmachende Bedingungen entlarven und helfen, Veränderungen einzuleiten. Sonst gleichen die <neuen Therapien>, wie ein Freund es formulierte, lediglich Beschwörungsriten für unser unausgeglichenes Inneres und streßerfülltes Dasein. 

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    4 Entfremdung in Ehe und Familie   

 

Für uns als Gruppen- und Familientherapeuten zeichnet sich diese Entwicklung am offensichtlichsten in einer Neuorientierung partnerschaftlichen Zusammen­lebens ab. Denn Unsicherheit und Entfremdung breiten sich auch in jener Institution aus, die früher traditionsgemäß Hort der Sicherheit und Geborgenheit war. Die konventionelle Ehe und Familie ist nicht nur ins Blickfeld der Gesellschaftskritiker geraten, sondern wird auch von den Beteiligten in immer größerem Maße als eine Form erlebt, deren Selbstverständlichkeit in Frage gestellt wird. In Kalifornien z. B. ist die Scheidungsrate schon fast so hoch wie die Heiratsrate.

Die negativen Sanktionen der Gesellschaft gegenüber Geschiedenen nehmen immer mehr ab. Wiederheirat wird schon lange nicht mehr als Schande betrachtet. Die Ehe als zeitbeschränkte Institution oder >Mono­gamie auf Raten< ist gesellschaftsfähig geworden. An erster Stelle stehen nicht mehr die unbedingte Loyalität und eheliche Treue der Gatten zueinander, sondern Excitement, Intimität und persönliches Wachstum und Weiterentwicklung. Viele erweitern ihre ehelichen Beziehungen und suchen nach neuen Lebens- u. Liebesformen. Die Frauenbewegung (Women's Lib) stärkt die Stellung der Frau als gleich­berechtigter Partner. Neue gesetzliche Regelungen machen es der alleinstehenden oder geschiedenen Frau auch leichter, ökonomisch unabhängig vom Mann zu leben.

Das ökonomische Risiko ist zumindest geringer geworden, wenn auch die Frauen selbst für gleiche Arbeit immer noch schlechter bezahlt werden als die Männer. Die Pille und andere Arten der Geburtenkontrolle ermöglichen den Partnern, in größerer Unabhängigkeit und eigener Verantwortlichkeit die Zahl der Kinder zu bestimmen. Der immer mehr sich technisierende Haushalt verringert die anfallende Hausarbeit so sehr, daß selbst in Partnerschaften, in denen beide berufstätig sind, das notwendige Pensum an Hausarbeit mit einem verträglichen Maß an Überbelastung und Streß geleistet werden kann. Da viele Frauen heute besseren Zugang zu Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten haben, die ihnen Spaß machen und ihren Unterhalt garantieren, entscheiden sie sich, als Alleinstehende zu leben, ohne dabei auf sexuelle Beziehungen zu verzichten. Mehr und mehr Männer und Frauen leben kurz- oder langfristig unverheiratet, in freien Beziehungen und Gruppen, zusammen.

Früher traf sich die Familie regelmäßig beim Essen. Dieses Ritual regelmäßigen Zusammenseins geschieht heute in der durchschnittlichen amerikanischen Familie nur noch zweimal pro Woche. Die völlig neue Art der Lebensmittelverarbeitung macht es zum Beispiel möglich, daß sich die Kinder schon in einem relativ frühen Alter praktisch selbst versorgen können. Fernsehmenüs, die nur kurz aufgewärmt werden müssen, gehören zum Alltag in vielen amerikanischen Haushalten. Untersuchungen über die Kommunikations­häufigkeit innerhalb der Familie ergaben eine erschreckende Bilanz: die amerikanische Familie sitzt in der Woche 27 Stunden vor dem Fernseher. Das tatsächliche Miteinanderreden beträgt nicht einmal eine halbe Stunde.

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    5 Wie Offenheit zu Zwang werden kann   

 

Sandstone, eine komfortabel umgebaute Ranch in einer Seitenschlucht des Topanga-Canyon in Los Angeles, wurde nach längerer Schließung wiedereröffnet und steht heute unter der Leitung des Gestalttherapeuten Paul Paige.

Die Sandstonephilosophie propagiert in einer mobilen, vom Wettbewerb regierten und industrialisierten Welt ein Heilmittel gegen die Entfremdung in Partnerschafts­beziehungen. Im Erdgeschoß der Ranch stehen große Wasserbetten bereit für die Sandstone-Clubmitglieder, die totale Offenheit und freien Sex praktizieren wollen. Hinter diesen Bedürfnissen verbergen sich hedonistische Lust und antibürgerliche Ideale.  

Das in Kalifornien bekannte Zentrum ist eine inzwischen stark kritisierte Gruppe innerhalb der humanistischen Psychologie, 

»die mehr die positiven Fähigkeiten und Werte menschlicher Existenz in den Vordergrund stellt ..., d.h.: Erfahren, was möglich ist, herausfinden, was ist und sein kann, anstatt dessen, was sein sollte oder schon immer so gewesen ist; eine Einstellung zum Lernen entwickeln; Phantasien auch im Verhalten ausleben; offene Sexualität und offene Beziehungen verwirklichen.«10

Das sind schöne Worte, die Wirklichkeit stellt sich jedoch eher als <pornosophische Philo-Theologie> (James Joyce) dar.11

Eine dem Sandstone-Club angehörende junge Schweizerin, die vor drei Jahren mit der Urschreitherapie begann, faßte ihre Erfahrungen mit dem neuen Experiment in einem Interview mit uns zusammen: 

»Ich hab bis heute noch niemanden getroffen, der nicht regelmäßig wirklich, wirklich runterfällt, und sich furchtbar weh tut und sich schwört, nie, nie wieder über die Schwelle von Sandstone zu kommen, und magisch kommen wir doch alle wieder zurück. ... Es war wirklich ein Klima, ein emotionelles Klima, das unaggressiv war, und ich bin mir nicht vorgekommen wie Wild zwischen Jägern oder irgend so etwas. Ich hab mich sehr wohl gefühlt. Es war mir möglich, Kontakt zu machen ohne irgendwelche diffizile Bedrohungen im Hintergrund. Ich hab mich wirklich wohl gefühlt.«

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Zu der Atmosphäre, die in Sandstone herrscht, sagte sie: 

»Es ist sehr offen, so offen, daß man zurückhaltend sein kann, nicht, weil es so ehrlich ist, wenn jemand kommt und sagt: <Möchtest du mit mir hinuntergehen?> Dann kann man ganz lieb sagen: <Nein, danke, eigentlich möchte ich das nicht>, und das ist völlig in Ordnung. Ich hab noch nie in dem Jahr, wo ich da bin, gesehen, daß jemand böse wurde oder verletzt. Die Art und Weise, wie man ist, sexuell ist, ist sehr freundlich. Es ist nichts furchtbar Verführerisches oder etwas Schleichendes. Es ist alles so offen, nicht? Man sieht das sofort, ob jemand mit einem schlafen will oder nicht, weil, es gibt einige Merkmale, die sehr deutlich darauf hinweisen. Und da gibts nichts zu vertuschen, wenn man nackt ist, und das ist schön.«  

Sandstone bietet eine Umgebung, die Offenheit stimulieren und Eifersucht ausschalten soll. Über Eifersucht in Sandstone befragt, berichtete unsere Interviewpartnerin sehr engagiert: 

»Eifersucht, ja, o ja, an Ort und Stelle habe ich das beobachtet, und das ist mir auch selbst passiert. Ich hatte zwei gute Erlebnisse. Der Rest ist sehr leidenschaftlich, und ich habe so gebrüllt, daß die Leitung von Sandstone sich gefragt hat, ob es nicht eine gute Idee wäre, mich auszuschließen, weil, wenn es wirklich weh tut, dann brülle ich los — und ich habe schon sehr viel Krach gemacht, weil das alles zuviel wurde für mich, ich fühlte mich vernachlässigt. 

Und ich habe sehr oft Leute gesehen, denen es nicht nur möglich war, ganz offensichtlich zur Schau zu stellen, daß sie gekränkt waren oder eifersüchtig, sondern sogar ein Zeter und Mordio losgelassen haben. Ich muß ehrlich sagen, es hat mir mehr weh getan als gefallen. Wenn ich eine ganz normale Bilanz machen möchte zwischen dem Vergnügen und dem Schmerz und dem Leiden, dann würde ich also wirklich sagen, ich weiß nicht, warum ich überhaupt noch dahin gehe.«12

Diese Frau hat ihre total widersprüchliche Erlebnisweise zwischen totaler Zustimmung und totaler Ablehnung nicht verarbeitet.

Sie ist, in der Ablehnung ihrer bürgerlichen Vergangenheit, begeistert von den neuen gruppen­sexuellen Lustempfindungen, fühlt sich wohl wie nie zuvor, ohne Probleme, ohne Eifersucht. In dem Augenblick, in dem ihr Partner Personen aus Sandstone mit in das vertraute Zweierleben nimmt und auch in Sandstone selbst andere Frauen bevorzugt, fühlt sie sich verloren, einsam wie ein Kind, erniedrigt sich, bettelt um seine Liebe und will sich schließlich umbringen. Die Sandstoneranch ist nicht mehr der sichere Rahmen für freien Sex, sondern bedrohliche, selbstzerstörerische Offenheit, keine reale Alternative. 13

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