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Teil 3  

 

 

    1. Erfahrungen mit gruppentherapeutischer Arbeit    

 

72-90

Um den Standort unserer eigenen therapeutischen Arbeit und die Mitwirkung am <Growth movement> und <Psychoboom> kritisch zu reflektieren, haben wir die berufliche Entwicklung des älteren Mitautors, der auf eine über dreißigjährige* therapeutische Praxis zurückschaut, zum Gegenstand unserer Untersuchung gemacht. Wir knüpfen daran einige grundsätzliche Fragen zur Auseinandersetzung Einzel- und/oder Gruppentherapie.68

Der in der humanistisch-psychologischen Bewegung aufkommende <Zeitgeist> ermöglichte eine Befreiung vom Überintellektualisieren zu einer mehr pragmatischen Einstellung. Zu Beginn meiner Arbeit als Therapeut vor über 30 Jahren* war ich psychoanalytisch eingestellt. Es war nicht leicht, mich davon zu befreien. 

Ich hatte meine Praxis in einer Straße, die wegen der hohen Konzentration von Psychoanalytikern volkstümlich <Couchcanyon> oder <Freudallee> genannt wurde. Als ich z.B. versuchte, die Spieltechniken, die ich für Kinder entwickelt hatte, auch mit Erwachsenen anzuwenden, wurde ich ausgelacht. Meine psychoanalytischen Kollegen machten mir zum Vorwurf, daß ich damit nur das Ausagieren ermutige. Am Anfang meiner therapeutischen Arbeit versuchte ich eine Verschmelzung der Psychoanalyse mit der Lewinschen Feldtheorie. Aber da zeigten sich Widersprüche, beispielsweise hatten Lewin und Freud unterschiedliche Auffassungen über die Rigidität alter Einstellungen und neurotischer Verhaltensmuster. 

Heute wissen wir, daß das Gehirn alles registriert, aber nicht notwendigerweise daraus dynamische Wiederholungen macht. Das Konzept der zwanghaften Wiederholungen halte ich für übertrieben. Ich führte eine Studie63) durch, in der ich Klienten die Aufgabe gab, ihre vergangenen Kindheitserlebnisse, die sie mir in der Therapie erzählt hatten, wiederzuerkennen. 

*  (d-2011)  also seit 1946  


Sie konnten ihre eigenen Gedächtnisinhalte nicht wiedererkennen und wählten die Erlebnisse anderer Klienten, weil sich ihre gegenwärtigen Einstellungen verändert hatten. Solange sie z.B. Angst vor ihrem Boß hatten, erinnerten sie sich an Szenen, wo ihr Vater sie schlug. Durch die Therapie überwanden sie ihr Autoritätsproblem, und dieser Gedächtnisinhalt war nicht mehr weiter wichtig für sie. Wenn dann z.B. Intimitäts­probleme bei ihnen aufkamen, erinnerten sie sich mehr an Zärtlichkeitsaustausch mit Brüdern und Schwestern oder an erste sexuelle Erfahrungen. 

Daraus entwickelte ich die Hypothese: Gedächtnis hat eine dynamische Kraft, die für die Hier-und-Jetzt-Problematik aktiviert wird.

Diese Studie, die von nicht-analytischen Kollegen wohlwollend aufgenommen wurde, brachte mich zu der Einsicht, daß es sich psychologisch gesehen wohl eher so verhält, daß das Hier-und-Jetzt die Vergangenheit bestimmt und nicht umgekehrt, zumindest nicht in dem ausschließlichen Maße, wie das die Psychoanalyse postuliert, sondern es findet ein sehr komplexer Austausch statt. Danach widmete ich in meiner therapeutischen Arbeit den historischen Perspektiven der Individualgeschichte, dem Unbewußten und den Träumen immer weniger Zeit. Ich befaßte mich mehr mit unbewußtem, spontanem Verhalten der Hier-und-Jetzt-Situationen. Der Therapeut und die Gruppe wurden zum Spiegel, dieses unbewußte Verhalten bewußtzumachen. 

Meine Besuche bei den Existentialanalytikern in Europa, vor allem meine Begegnung mit Binswanger und Boss, meine Verpflichtung gegenüber Kurt Lewin und meine spätere Arbeit in Esalen brachten mich dazu, eine andere Richtung einzuschlagen. 

Carl Rogers Therapiekonzept half mir dabei, den Menschen in seiner Art der Mitwirkung in der Einzel- und Gruppentherapie neu zu sehen. Anstatt den einzelnen als Produkt seiner Geschichte zu analysieren, begann ich ihm Feedback zu geben, wie sein Verhalten auf mich und die Gruppe wirkte. Hier wird auch der Einfluß der ahistorischen Lewinschen Feldtheorie und der in den 50er Jahren sich ausbreitenden Sensitivity-Gruppen in meiner Arbeit deutlich. Anstatt den Leuten sogenannte gute Ratschläge zu geben oder sie zu analysieren, zeigte ich ihnen ihre Wirkung auf mich. 

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In der Gruppe bekamen sie natürlich sehr viel mehr Feedback. Die Verhaltensänderung lag jedoch immer noch in der alleinigen Verantwortung des Individuums. Später, in einer neuen Phase, gab ich mich nicht mehr damit zufrieden, daß die Leute im Sinne von Encounter, Begegnung und Rückkopplung die Möglichkeit haben zu sehen, welche Einwirkung sie auf andere haben, sondern durch den Einfluß der Verhaltenstherapie führte ich in meiner Arbeit Techniken ein, die auf spezifische Verhaltensänderung zielten. Das theoretische Wissen dazu verdanke ich meinem Lehrer Kenneth Spence, einem Schüler Hulls

So verlief meine Entwicklung von Wertschätzung und Begegnung in Gruppen zu aktivem und kritischem Feedback bis hin zu Aufgaben und Techniken, die direkt das Verhalten veränderten. Besonders entwickelte ich dann Rituale, welche die zwischenmenschliche Aggression humanisieren, d.h. sie zu einem konstruktiven, assertiven* Instrument machen. Otto Ranks psychoanalytisches Konzept der Geschwisterrivalität und seine besondere Beachtung der Angst vor Zurückweisung blieben weiterhin hilfreiche Sichtweisen.

In die Zeit, in der ich mit Fred Stoller zusammen die ersten Marathons durchführte, fiel auch meine Arbeit in Esalen. Dadurch rückten für mich die psychologische Bedeutung des Körpers, die Körpersprache und der Ausdruck der Gefühle mehr in den Blickpunkt meiner therapeutischen Arbeit. Nacktsitzungen mit Bad und Sauna, Massage, Bodyimage haben hier ihre Wurzeln. Meine Begegnung und Zusammenarbeit mit Stanley Keleman in Esalen zeigte mir, daß Körperübungen ein ernsthaftes, brauchbares therapeutisches Instrument sein können. Diese Art neuer gruppentherapeutischer Konzepte machten mir selbst auch mehr Spaß als die alten rigiden theoretischen Konzepte.

Mein Hauptinteresse in all den Jahren meiner psychotherapeutischen Arbeit blieb jedoch, das hat sich bis heute nicht geändert, das Konfliktmanagement, das ursprünglich von Kurt Lewin stammt. Ich persönlich glaube, daß das Fertigwerden mit Konflikten das Wesentliche des menschlichen Lebens und Wachstums ausmacht. 

 * (d-2011:)  assertiv: 

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Daher sehe ich meine Aufgabe als Gruppentherapeut darin, die Konfliktbewältigung zu fördern: das beinhaltet, daß die Gruppenteilnehmer zunächst ein Konflikt­bewußtsein entwickeln und die Angst verlieren, mit Konflikten wie z.B. Konkurrenzgefühlen umzugehen. Dadurch trage ich zu der Erfahrung bei, daß konstruktives Umgehen mit Konflikten (sogar) Spaß macht und den Weg zu neuen Verhaltensmustern öffnet.

Alle diese verschiedenen neueren Einflüsse halfen mir, mein therapeutisches Repertoire zu erweitern. Die extraverbalen Aktivitäten z. B. bereichern die Gruppeninteraktion. Damit hatte ich mich beschäftigt, als ich in der Gruppentherapie mit dem Problem des Gruppenzusammenhaltes (Kohäsion) konfrontiert wurde. Die gruppendynamische Forschung und klinische Beobachtung zeigten, daß mit größerer Gruppenkohäsion mehr Einfluß auf die Gruppenmitglieder ausgeübt werden kann. Daher glaube ich, das ist meine ganz persönliche Meinung, die ich auch mit Fakten belegen kann, daß im allgemeinen eine kohäsive Gruppe mehr Einfluß auf die Veränderung von Gruppenmitgliedern hat als selbst der klügste Guru oder Individual-therapeut. Die Frage: wie kann man eine rein verbal agierende Gruppe kohäsiver machen, beschäftigte mich. Das motivierte mich, die Übungen der >sensory awareness<,70) die ich in Esalen kennenlernte, in den Gruppenprozeß einzuführen. Auch das Psychodrama Morenos trug in dieser Hinsicht viel zur Gruppenkohäsion bei. Heute wende ich nicht mehr so viele Rollenspiele an. Der Einfluß Morenos hat sich vor allem in meinen frühen Arbeiten über kindliches Rollenspiel niedergeschlagen.70a) 

Ich halte es für einen direkteren Zugang, die Teilnehmer im >Hier-und-Jetzt< miteinander zu konfrontieren. Manchmal verwandeln wir einen kleinen Konflikt in einen großen, um Konfliktbewältigung einzuüben. Die Beteiligten handeln und agieren, als ob es der Ernstfall wäre. Heute bin ich, hervorgerufen durch die Diskussion mit meinen Mitarbeitern Herb Goldberg und Haja Molter, Techniken gegenüber skeptisch und stelle wieder mehr das »Encounter« in den Mittelpunkt meiner Arbeit, d. h., ich arbeite nicht technikorientiert, sondern prozeßorientiert. Einer Phase von Übungen und Ritualen muß unbedingt ein kritisches Feedback mit Bezug auf das >Hier- und-Jetzt< folgen.

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Bei meinen Werkstattseminaren mit deutschen Kollegen stieß ich öfter auf Kritik, weil ich auf das Einhalten fester Regeln pochte. Sie sagten mir, wir sind hier, um uns selbst auszudrücken, was sollen da diese blöden Regeln. Unter dieser Klischeevorstellung Selbstausdruck und Ausagieren von Gefühlen, wird die amerikanische Encounterbewegung in Westeuropa kolportiert. Meine Vorstellung und Praxis von Encounter beinhaltet die Möglichkeit, sich selbst auszudrücken und zu erleben, um mit Hilfe des Gruppenfeedbacks Veränderungen im eigenen Verhalten einleiten zu können. Um das zu gewährleisten, halte ich Strukturierung durch kontrollierbare Regeln für unumgänglich.

Um diese Widersprüche einigermaßen miteinander zu versöhnen, haben wir im Institut für Gruppenpsychotherapie einmal mehr erzieherisch orientierte Seminare, in denen die Leute mit Hilfe von Übungen eine Art neue Sprache lernen, die als Ubergangshilfe zur Bewältigung von Konflikten eingesetzt werden kann. In den therapeutisch orientierten Gruppen geben wir den Leuten verstärkt Gelegenheit, mit den Gefühlen zu arbeiten, die durch Techniken ausgelöst werden. Hier liegt der Schwerpunkt mehr auf der Integration von Fühlen, Denken und Verhalten; wenn man will, betreiben wir mehr Gestaltarbeit, aber auch das Erlernen von Kommunikationsfertigkeiten kommt nicht zu kurz. Heute sind unsere Marathons z. B. in ihrem Ablauf unvorhersagbarer denn je, da durch die humanistische Bewegung ein ungeheurer Reichtum an Interventionsmöglichkeiten verfügbar wurde.

Noch ein weiterer Grund, warum ich die Gruppe für ein hervorragendes therapeutisches Instrument für Wachstum und Veränderung halte, liegt darin, daß das Individuum sich in seiner Andersartigkeit in der Gruppe erleben kann. In einer gesunden Gruppenatmosphäre wird die Einzigartigkeit eines jeden Individuums geschätzt, verschüttete und unterdrückte Fähigkeiten einzelner Teilnehmer können sich entfalten. Die Gruppe ist wie das Netz, das dem Seiltänzer beim Training Sicherheit verleiht. 

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Natürlich tritt in den Gruppen Konformitätsdruck auf. Hier sehe ich die Aufgabe des Therapeuten, diesen Gruppenmechanismus aufzugreifen und transparent zu machen, um gegenläufiges Handeln und Verhalten im Gruppenprozeß einzuleiten, denn eine gute therapeutische Gruppe erlaubt eine breite Skala an sozialem Verhalten und hilft den Mitgliedern, sich nicht nur Alternativen nach der Art von Neujahrs Versprechungen und Regierungserklärungen vorzunehmen, sondern sie auch innerhalb und außerhalb der Gruppe zu erproben.

Die heftigsten Gegner der Gruppentherapie, besonders der Encountergruppen, sind noch immer unter den Psychoanalytikern zu finden, obwohl die Zahl der analytisch orientierten Gruppentherapeuten aller Richtungen und Schulen ständig wächst. So wird die Form des Marathons heute auch von Psychoanalytikern natürlich auf dem Hintergrund des analytisch-theoretischen Konzeptes benutzt.

Auch Erich Fromm, der doch immer als ein Ziehvater der humanistischen Bewegung betrachtet wird, hat sich mir gegenüber pessimistisch bis mißtrauisch über Gruppentherapie geäußert.71

Viele Analytiker sind der Ansicht, daß in einer Gruppe die psychoanalytischen Vorgänge ebenso gut, wenn nicht sogar besser als in der Einzelsitzung in Gang gesetzt und gefördert werden. 

Ihre Argumente können wir in fünf Punkten zusammenfassen:

1. Die Analyse der Übertragungstendenzen ist in der Gruppe leichter, denn nicht nur der Therapeut, sondern auch die einzelnen Gruppenmitglieder bieten dem einzelnen eine Vielfalt von Übertragungsmöglichkeiten an.

2. Die Kleingruppe belebt die Probleme des Familienlebens in einer mehr gefühlsmäßigen Art wieder. Da die Neurosen ihren Ursprung (meist) im früheren Familienleben haben, besteht der klinische Vorteil darin, daß die therapeutische Gruppe die verdrängten Probleme schneller ans Tageslicht bringt.

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3. Neurotische Patienten sind blind gegenüber ihren eigenen neurotischen Tendenzen. Klinische Erfahrungen und Forschungen zeigen jedoch, daß Neurotiker ein gutes Gespür für die unbewußten Motive ihrer Mitmenschen haben. Der Gruppentherapeut kann durch die Mitarbeit seiner Patienten sein eigenes analytisches Instrumentarium bedeutend erweitern.

4. Die Bedenken, daß Patienten sich in Gruppen nur austoben wollen, wurzeln in dem Aberglauben, daß eine von einem Therapeuten geleitete Kleingruppe sich genauso verhalten würde wie die Massen, über die Le Bon und Freud so einseitig berichtet haben. Die Gruppentherapie hat eine neue Art von Gruppe hervorgebracht. Bion nennt sie psychologische Arbeitsgruppe<, in der die Patienten unbewußte Konflikte analytisch durcharbeiten können.

5. Die Gruppenatmosphäre begünstigt das Untertauchen des Individuums in der Sphäre des Unbewußten. Das Widerstandsproblem, das in der individuellen Analyse eine starke Barriere gegen die Überwindung der Neurose darstellt, wird durch das Gefühl der Zusammenarbeit mit anderen stark vermindert.

C.G. Jungs Einstellung zur Gruppentherapie verdient in der gegenwärtigen Auseinandersetzung wieder beachtet zu werden. Zusammen mit dem Gruppen­therapeuten Hans Illing habe ich mich 1956 mit seinem differenzierten Standpunkt auseinandergesetzt. Die folgenden Thesen schienen uns dabei besonders bemerkenswert:

1. Die Gruppentherapie ist unerläßlich zur Erziehung des sozialen Menschen.

2. Sie ersetzt aber die Individualanalyse nicht.

3. Die beiden Formen der Psychotherapie ergänzen einander.

4. Das Risiko der Gruppentherapie ist das Steckenbleiben auf kollektivem Niveau.

5. Das Risiko der Individualanalyse ist die Vernachlässigung der sozialen Anpassung, (vgl. Bach/Illing)

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In einem Brief verdichtete Jung seinen Standpunkt: 

»Ich lasse der Einpassung des Individuums in die Gesellschaft durchaus ihr Recht, aber ich setze mich für die unveräußerlichen Rechte des Individuums ein, denn es allein ist der Lebensträger und ist heutzutage durch Nivellierung aufs Schwerste bedroht. Auch in der kleinsten Gruppe ist es nur akzeptabel, wenn es der Mehrheit annehmbar erscheint. Es hat sich mit der Duldung abzufinden. Aber Duldung allein fördert nicht, im Gegenteil, sie fördert den Zweifel an sich selber, unter dem ein isoliertes Individuum, das etwas zu vertreten hat, unter Umständen ganz besonders leidet. Ohne eigenen Wert hat auch die soziale Beziehung keine Bedeutung.«72) 

C.G. Jung benutzte in diesem Briefe die Begriffe >Masse< oder >Gesellschaft< gleichbedeutend mit >Gruppe<. Die Frage, die Jung stellte: kann eine Gruppe ein psycho-therapeutisches Instrument für das Individuum sein, glauben wir positiv beantworten zu können.

Der Londoner Psychoanalytiker Walter Schindler sieht bei der Gruppenbehandlung vor allem folgende Probleme: 

1. Die Behandlung der Gruppe als Ganzes im Interesse des Individuums.

2. Die Behandlung des Individuums in der Gruppe und durch die Gruppe.

3. Die Gruppe als eine Gestalt zusammengesetzt aus einzelnen, wobei die Gestalt eine mütterliche Atmosphäre (von mir 1949 eingeführt) besitzt. Im ganzen also die Frage, ob die Gruppe phylogenetisch oder ontogenetisch gedeutet wird oder ob beide Deutungen vorgenommen werden.

4. Das therapeutische Hauptziel dürfte bei jeder tiefenpsychologischen Therapie ein Entwöhnungsprozeß sein, wobei stereotype Übertragungen korrigiert werden müssen. Bei En-countergruppen, die sich im allgemeinen unverbal abspielen (eine völlige Verkürzung des Encountergeschehens, die Verfasser/), handelt es sich um eine Behaviortherapie, die aber verbal durchgearbeitet werden sollte. Dasselbe gilt für psy-chodramatische Gruppen.74) 

Schindlers unqualifizierte Ansicht über Encounter steht übrigens prototypisch für die Art von Analytikern, die es offenbar nicht für notwendig halten, sich mit der entsprechenden Fachliteratur auseinanderzusetzen, sondern sich lieber von Gerüchten leiten lassen.

Die Frage, ob die Gruppe ein angemessenes therapeutisches Instrument sein kann, ist nach den Ergebnissen der klinischen Forschung eindeutig mit ja zu beantworten. Wir leugnen die den Gruppen innewohnenden pathogenen Gefahren nicht, wir sind uns bewußt, daß, wie in der Einzeltherapie, >schlechte< Therapeuten oder Leiter unqualifizierte Arbeit leisten, das rechtfertigt aber nicht eine Ablehnung der Gruppentherapie oder gut geführter Encountergruppen schlechthin.

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    2  Aggression im Dienste persönlichen Wachstums  

 

Noch ein paar Worte dazu, warum ich in meiner Arbeit so großen Wert auf die Bewältigung der zwischenmenschlichen Aggression lege.75) Meine eigene klinische Erfahrung und Forschung haben mich davon überzeugt, daß Feindseligkeiten unter Gruppenmitgliedern oder zwischen Leiter und Gruppenmitglied wachstums­fördernd genutzt werden können. Gruppenmitglieder lernen aggressive Verhaltensmuster zu identifizieren. Sie erhalten Feedback über ihren Aggressionsstil. Die Fähigkeit zu konstruktiver Veränderung resultiert aus der Bindung an die Gruppe als Zeuge.

Feindselige Interaktionen kommen häufig in intimen Gruppen emotional voneinander abhängiger Individuen vor wie in der Familie, bei Liebespaaren, therapeutischen Gruppen und anderen.

Normalerweise ist das Individuum, das Gegenstand der Feindseligkeit wird, dazu gezwungen, selbst herauszufinden, ob die Interaktion in >guter< oder >böser< Absicht geschieht. Wenn die Aggression im Kontext >böser Absicht< steht, bedeutet das gewöhnlich, »ich hasse dich, weil du schlecht bist, und ich muß dich dafür bestrafen oder vernichten«. Aggression im Kontext >guter Absicht< hat weniger bestrafenden als Korrektur fordernden Einfluß: »ich hasse dich, ich bin ärgerlich über dich, ich fühle mich durch dich verletzt - weil du gemein bist und mir das und das angetan hast. Ich verlange von dir, daß du damit aufhörst, damit ich dich wieder lieben kann.« Aggression im Dienste größeren persönlichen Wachstums ist das Kennzeichen jeder verantwortlichen Eltern-Kind-, Lehrer-Schüler-, Therapeut-Klienten-Beziehung. 

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Die Auffassung Rogers, das Wesen der therapeutischen Hilfe liege in der Abwesenheit jeder kritischen Zurückweisung oder Ablehnung und hänge in erster Linie von der bedingungslosen Annahme, Echtheit und Wärme< ab, mag spezifisch und begrenzt für den nondirektiven Individualtherapievertrag zutreffen, wo der Therapeut sich für 50 Minuten zu dem Kunstgriff verpflichtet, jede Art von Ärger oder Aggression auszuschalten oder zu unterdrücken. 

Jedoch in natürlichen und künstlich zusammengeführten intimen Gruppen wie Familien und therapeutische Gruppen werden solche Pakte der Nichtaggression - wenn ihnen überhaupt jemals zugestimmt wurde - früher oder später gebrochen, da sie als unrealistisch erkannt werden. Die >geheime Intelligenz< der Klienten findet das schnell heraus. Solche verführerischen Illusionen dienen dazu, sich dem romantischen Wunsch nach Frieden durch Konfliktvermeidung anzupassen. Konflikt, Frustration und Aggression treten in jeder Gruppe von zwei oder mehr emotional voneinander abhängigen Personen auf, die ein gemeinsames Interesse an persönlicher Entwicklung haben und die ihr eigenes Schicksal und den Sinn, die Bedeutung ihrer Existenz verbessern wollen. Unter den Gesprächstherapeuten, auch in der BRD, setzt sich immer mehr die Einsicht durch, daß das krampfhafte Festhalten an den drei Rogersvariablen noch keinen erfolgreichen Verlauf einer Therapie garantiert. 

R. Tausch hat die Therapievariablen Rogers in der BRD eingeführt. Für wesentlich hielten Gesprachstherapeuten die >Verbalisierung emotionaler Inhaltes d. h., der Klient soll ganz offen und frei über seine Probleme sprechen können, weiter >positive Wertschätzung und emotio- jj nale Wärme<, d. h., der Therapeut soll den Klienten voll und ohne Vorurteile oder Vorbehalte akzeptieren, und schließlich >Echtheit und Selbstkongruenz<, d. h., der Therapeut soll ganz er selbst sein, sich nicht hinter einem weißen Kittel oder sonstigen professionellen Masken verstecken. Gerade die letzten beiden Variabein müssen unserer Meinung nach den >offe-nen< und >echten< Therapeuten in verrücktmachende Situationen bringen, wenn ihm alle Signale, die er vom Klienten empfängt, eigentlich auf Ablehnung oder Zurückweisung des Klienten hindeuten.76) 

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     3 Drei schmerzliche Mißerfolge    

 

Vielen Therapeuten fällt es schwer, sich ihre Mißerfolge einzugestehen. Wir glauben, daß gerade die Reflexion darüber ein unumgänglicher Lernprozeß für die therapeutische Praxis ist. Auch Klienten und an Therapie Interessierten wird dadurch eine gerechtere Einschätzung möglich.77)

Meine Mißerfolge lassen sich im wesentlichen einer Kategorie zuordnen: der des zwanghaften Narzißten. Dieser kommt in die Therapie, nicht um sich zu verändern, nicht um persönlich zu wachsen, sondern er hegt die Hoffnung, Trost und Beistand zu finden in dem Leid, das ihm die <bösen anderen> zufügen, die ihn mit ihren Zurückweisungen kränken. 

Selbstverständlich schützt sich der Narzißt davor, sich selbst zu entlarven oder sich durch den Therapeuten entlarven zu lassen. Ein sicherer Weg, mit Eindeutigkeit eine narzißtische Orientierung zu diagnostizieren, besteht darin, mit steter Entschlossenheit gegen die innere Abneigung des Narzißten an jeglicher Form von Gruppenpsychotherapie teilzunehmen, anzugehen. Wie Martin Grotjahn78 und andere Gruppentherapeuten, die sich auf die Therapie der narzißtischen Persönlichkeit spezialisiert haben, feststellen, ist Gruppentherapie die indizierte Behandlungsmethode. 

Zu oft jedoch findet der narzißtische Patient einen liebenswürdigen nachgiebigen Therapeuten vor, welcher der selbstzerstörerischen Auffassung zustimmt, Gruppentherapie sei nichts als Kurpfuscherei - unwissenschaftlich und oberflächlich - angesichts >tiefer< psychologischer Probleme! Auf jeden Fall hängen meine Hauptmißerfolge damit zusammen, daß ich den liebenswürdigen Therapeuten spielte, als ich - trotz meiner Überzeugung von der Angemessenheit gruppentherapeutischen Vorgehens - klein beigab, ja geradezu mitspielte, wenn Klienten sich entweder schlichtweg weigerten, eine Gruppe mitzumachen, oder nicht mit der Konfrontation zurechtkamen, die ihnen das Feedback von anderen Gruppenmitgliedern bot, das - realistisch oder subjektiv - in jedem Fall ehrlich war.

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Ich definiere als den augenscheinlichsten Mißerfolg eines Psychotherapeuten den Selbstmord eines seiner Patienten. Ich halte die in Mode gekommene Theorie vom Recht auf Selbstmord für äußerst unmoralisch. Für mich ist jeder Selbstmord ein ver-kappter Mord. Von meinen soziologischen und interpersonellen Einstellungen her ist Selbstmord für mich der Gipfel narzißtischer Feindseligkeit.

Jedoch habe ich selbst, so sehe ich es heute im Rückblick, dem narzißtischen Ausagieren Vorschub geleistet. Die Tatsache, daß ich nicht darauf bestand, daß die betroffenen Patienten in fortlaufender Gruppentherapie blieben, trug zu ihrer Isolierung bei. Während 35 Jahren psychotherapeutischer Praxis unterlief mir kein Fall von Selbstmord, solange ein Patient einer psychotherapeutischen Gruppe angehörte. Ähnliches wird in der einschlägigen Literatur berichtet. Sogar in speziellen gruppentherapeutischen Programmen für selbstmordgefährdete Patienten ist die Häufigkeit des Ausagierens weit geringer, als wenn Patienten nur in Einzeltherapie sind. Das hängt natürlich nicht nur mit der Nichtteilnahme an Gruppentherapie zusammen. Wie sich im vorliegenden Artikel zeigen wird, erstreckte sich meine damalige Liebenswürdigkeit* auch auf meine Einzelsit- , zungen. Ich paßte mich dem narzißtischen Spiel an. Immer wieder redete ich meinen Patienten nach dem Mund. So wie ich die Problematik heute sehe, mußte ich geradezu Schiffbruch erleiden.

Das einzig Tröstliche ist, daß ich eine Lehre daraus gezogen habe und nie wieder etwas tun werde, was aus meiner jetzigen Sicht fatal für die Therapie ist, nämlich, einem Patienten mit einer Gruppentherapiephobie nachgeben und ihm exklusive Einzeltherapie gewährleisten. Ich werde mir nie wieder eine derartige ko-narzißtische >folie-ä-deux< zwischen Therapeut und Patient leisten.

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Mißerfolge lassen sich leicht unter dem Aspekt der Selbstbeschmutzung sehen. Andererseits können sie zu einem aufrüttelnden, äußerst beunruhigenden Erlebnis werden, da sie kaum einen Anhaltspunkt bieten für ein Erklärungsprinzip oder eine Kategorisierung. Meine tragischsten Mißerfolge, und das sind Selbstmorde meiner Patienten, ereigneten sich alle während der ersten zwölf Jahre meiner Praxis. Diese historische Tatsache stellt einen wichtigen Anhaltspunkt dar.

Zwischen 1944 und 1956 vergingen mir jegliche Illusionen über die Allmacht des Psychotherapeuten, soweit ich sie je gehabt habe. Es ereigneten sich drei Selbstmorde. Ich werde im folgenden die betroffenen Patienten und meine Interaktion mit ihnen aus einer neuen Perspektive schildern. Ein von innen kommender Hang zur Selbstzerstörung trotzte der Art therapeutischer Intervention, zu der ich im ersten Drittel meiner Praxistätigkeit neigte: es war in erster Linie eine Art therapeutischer Freundschaftsangeboten von einem im wesentlichen <liebenswürdigen> Psychotherapeuten.

Im Gefolge von Szasz übernahmen eine Reihe von Therapeuten seine Interpretation und Anwendung existentieller Werte im Bereich der Psychiatrie in einer meines Erachtens übermäßig vereinfachenden, fast unverantwortlichen Weise. Danach ist Selbstmord nichts anderes als eine von verschiedenen Alternativen, die sich dem einzelnen stellen; er wählt sie mit derselben Freiheit, mit der er sich für Ferien am Meer statt im Gebirge entscheidet! Diese Auffassung vom >freigewählten Selbstmord< kommt nicht gegen meinen althergebrachten zugegebenermaßen altmodischen Humanismus an. 

Der Selbstmord eines Menschen, den ich kenne, löst noch immer Entsetzen und Trauer in mir aus. Die Einsicht, daß Selbstmord eine elementare Form indirekter Feindseligkeit ist, hilft nicht, meine Gefühle zu besänftigen. Auch das Wissen um die Gleichung, daß jeder Selbstmord mindestens einem, wenn nicht mehreren Morden entspricht, schmälert kaum mein brennendes Anliegen, Methoden ausfindig zu machen, die Retrogression und Tod verhüten und Wachstum und Leben fördern. Die Aufforderung, <do your own thing>, wird zum Mord, wenn sie in Selbstmord mündet!

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Meine drei Klienten, die sich das Leben nahmen, waren geradezu besessen von narzißtischer Selbstbespiegelung. Der Narzißmus zeigte sich als fixe Idee von schlichtweg dramatischer Inkongruenz mit dem späteren selbstmörderischen Verhalten: jeder der Klienten hatte von sich das Image einer hervorragend begabten und attraktiven Persönlichkeit, deren Talente er voll von anderen gewürdigt und bewundert wissen wollte. 

Der erste dieser Patienten war ein gebildeter sechsunddreißigjähriger Mann. Er sah sich als schöpferisches Genie, das zu außergewöhnlichen Leistungen auf dem Gebiet der Ökologie fähig war. Seine Ideen, falls verwirklicht, würden der Welt unter Garantie eine Unzahl von Umweltkrisen ersparen. Ihre rechtzeitige praktische Verwirklichung hätte dem Smog in der Gegend von Los Angeles ein Ende bereitet. Tatsache war, daß der Patient seinen Doktor gemacht und einige begrenzte Beiträge von durchschnittlichem akademischem Wert auf dem Gebiet der Ökologie geleistet hatte. 

Er war äußerst gekränkt durch die Tatsache, daß diese wertvollen, wenn auch keinesfalls atemberaubenden wissenschaftlichen Beiträge ihm nicht zu einer Machtposition innerhalb des sehr komplexen politischen Geflechts in dem damals ganz neuen Fachbereich der Ökologie im Staat Kalifornien verholfen hatten. Er war der Meinung, daß sich die Probleme in seinem Privatleben, besonders seine dürftigen Erfolge bei den Damen, von selbst lösen würden, wenn er nur endlich die ersehnte Machtposition erhielte. Er war davon überzeugt, daß er auf seinem Gebiet einer solchen Position durchaus gerecht würde, und daß er ein Segen für den Bereich der Ökologie wäre. 

Obwohl gebildet und in vieler Hinsicht schöpferisch, war der Patient dennoch mir und anderen Gruppenmitgliedern ungewöhnlich zuwider. Er war arrogant und äußerst sarkastisch. Er machte anderen Angst, indem er sie abfällig behandelte, indem er sich bissig und spöttisch über jeden Gedanken hermachte, der von den seinen abwich, indem er die Vorschläge anderer Gruppenmitglieder als trivial oder banal brandmarkte. Er hatte sich eine Riesenbibliothek von Artikeln zum Thema Umweltverschmutzung zugelegt. Jeden einzelnen hatte er von Grund auf zerrissen und mit Anmerkungen überhäuft, mit denen er die angeführten Argumente oder Daten lächerlich machte. 

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Es war keine Seltenheit, daß er in meine Praxis oder zu einer Gruppensitzung ein spezielles Beispiel eines seiner Ansicht nach komischen oder lächerlichen Produkts von Kollegen aus seinem Arbeitsbereich mitbrachte. Ich als liebenswürdiger Therapeut hörte mir diese Monologe voller Wohlwollen an, wobei mir das Fachwissen fehlte, das mir ein Urteil über die Argumentation oder die Kontroverse, in der er schwelgte, erlaubt hätte. Durch meine >Technik< der Liebenswürdigkeit unterstützte ich seine alles verwerfenden Gefühle. Die Gruppe schloß sich damals meinem Modell des liebenswürdigen nachgiebigen Therapeuten an nach dem Motto >Mach was du willst<. Sie verhielt sich liebenswürdig und akzeptierend und streichelte dem Mann -der inzwischen nicht mehr lebt - mitleidig über den Kopf und bestätigte ihn darin, daß die grausame Welt doch endlich anerkenne, welche Schätze, welchen Wert seine Leistungen berge. Er >desertierte< aus der Therapie, weil er acht Monate lang kybernetische Versuche machen wollte. In dieser Zeit beging er Selbstmord.

Die zweite Patientin war eine verblühende Schönheit aus den Südstaaten. Sie hatte sich ihre phantastische Figur erhalten, obwohl sie auf die Fünfzig zuging. Es sagte ihr gar nicht zu, daß sie trotz ihrer Bemühungen, den Altersprozeß aufzuhalten, ganz eindeutig verblaßte. Sie war als erfolgreiche Gastgeberin der gesellschaftliche Mittelpunkt in einer der großen Städte im Süden gewesen und verhielt sich sichtlich elegant und keinesfalls wie eine Hure in recht promiskuöser Weise. 

Sie hatte drei Ehen hinter sich, doch jedesmal lief sie ihren Männern davon. Jedesmal beklagte sie sich darüber, daß sie die ihr gebührende Bewunderung nicht beibehielten - sie war doch schließlich die attraktive Frau, der man zugestehen mußte, daß sie mit ihren besten Freunden flirtete, wenn auch nicht etwa aufdringlich, sondern sehr taktvoll. Die Ehemänner spürten selbstverständlich die Untreue, in dem Moment lief sie davon. 

Sie wandte sich nicht aus eigenem Antrieb an mich. Es ist ziemlich schwierig für eine narzißtische Persönlichkeit, freiwillig die Art von Hilfe in Anspruch zu nehmen, die ich leiste, nämlich die von Narzißten gefürchtete und gemiedene Gruppentherapie.

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Es war klar, daß sie nicht bei einem Therapeuten bleiben würde, der ihre Überzeugungen besonderer Attribute als >femme fatale< nicht unterstützte. Aus demselben Grund konnte sie auch nicht aus vollem Herzen eine Gruppentherapie mitmachen.

Ihre Gesellschaft war äußerst angenehm, und ihr anregendes Geplauder plätscherte beredt und in angenehmem Südstaatendialekt von ihren Lippen. Sie verfügte über alle sozialen Tugenden, war eine hervorragende Tänzerin und eine gute Unterhalterin, und sie behielt jeden Namen auf Anhieb. In die Therapie brachte sie das Problem, daß ihr vierter Gatte, der verhältnismäßig unattraktiv, dafür aber ein junger und erfolgreicher Wissenschaftler im Bereich der Mathematik war, der ebenfalls unter einem >Genie-Komplex< litt, ein potentieller Selbstmordkandidat war. Er gab ihrer sexuellen Zurückweisung die Schuld an seinem Unglück. Sie beklagte sich darüber, daß sein Penis zu groß, seine italienischen Hände nicht sensitiv, seine Möbel zu alt und die Gäste, die ins Haus kamen, zu doof seien.

Während meiner ersten Jahre fehlte mir die nötige Erfahrung für die ausgewogene Mischung von positiver Wertschätzung, wie sie ein Narziß braucht, und realistischer Konfrontation und Kritik, die er für sein persönliches Wachstum benötigt. Das paßte zum Bild des liebenswürdigen Therapeuten. Ich konnte nett und lieb sein, aber nicht kritisch konfrontieren. Es kam nie zu einer echten Auseinandersetzung über den Alterungsprozeß, und ich konfrontierte sie nie damit, daß ihre Beschwerden sich am falschen Objekt entzündeten. Ich sagte kein einziges Mal zu ihr: 

»Schau, in Wirklichkeit magst du dich selbst nicht leiden, und damit mußt du dich auseinandersetzen. Du mußt dein Image verändern, weg vom Image der Sexbombe, des gesellschaftlichen Mittelpunktes, des Marlene-Dietrich-Typs, dem die Männer zufliegen wie die Motten dem Licht. Wenn sie immer noch auf diese Scheinattraktion hereinfallen und sich dabei die Flügel verbrennen, so ist das doch nicht mehr deine Sache. Du hast das nicht nötig, das schadet dir.« 

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Aber ich behielt all das für mich und reagierte auf meine alte nicht aggressive, liebe Art mit falschem Mitleid und ging auf ihre Schwierigkeiten ein. Ich unterrichtete sogar ihren Ehemann über ihre Beschwerden, was seinen großen Penis betraf, und gab Ratschläge, wie er Geschlechtsverkehr mit ihr haben konnte, ohne daß sie dabei Schmerzen zu haben brauchte. Sie hörte bei mir auf, weil sich ganz offensichtlich nichts veränderte. Sie ging zu einem orthodoxen Psychoanalytiker. Nachdem sie ungefähr ein Jahr lang bei ihm in Therapie gewesen war, ertränkte sie sich im Swimming-pool ihrer Schwiegermutter. Ein dramatischer Beweis passiver Aggressivität.

Dieser Selbstmord war ein schmerzhafter Schock für ihre gesamte Umwelt, ihren Mann und mich. Psychodynamisch gesehen, war ihr Verhalten ähnlich dem des ökologischen Umweltschutz-Genies. Sie nahm sich lieber das Leben, als daß sie ein Leben akzeptierte, in dem ihr bei ihren Parties die Männer nicht mehr nachpfiffen. Die jüngeren Damen stahlen ihr die Schau. Sie zog den Tod einem Leben vor, in dem sie nicht mehr als erfolgreiche Femme fatale agieren konnte. 

 

Die dritte Klientin war ein häßliches Entlein, das sich für eine hinreißende Schönheit hielt. Sie war eine Gelegenheitssängerin, die sich auf der Gitarre begleitete. Sie drohte ihrem Mann ganz offen mit Selbstmord. Hier zeigt sich ein Unterschied zu den anderen Patienten, deren Selbstmorddrohungen weniger eindeutig waren. Sie kündigte an, sie werde sich umbringen, wenn er sich nicht mehr um sie kümmere, ihr nicht bei ihrer Boutique helfen und sie finanziell unterstützen würde. Doch ihr Mann schätzte sie als weibliche Partnerin und Mutterersatz, ihr Anspruch auf Originalität ließ ihn völlig kalt. Ebensowenig berührten ihn ihre Selbstmorddrohungen. An dem Abend, als er sagte: »So tu's halt«, hatte sie im Garten alle entsprechenden Vorbereitungen getroffen und brauchte bloß hinauszugehen. Sie erhängte sich. Er hörte zwar etwas, aber er nahm es nicht ernst.

Sie war ein Durchschnittsmensch. Obwohl sie aus einer Familie erfolgreicher und begabter Künstler stammte, war sie ganz offensichtlich die am wenigsten Begabte. Sie hatte eine berühmte Schwester. Außer ihren Illusionen über ihre künstlerische Begabung hatte sie einige merkwürdige Ideen zum Thema Kindergarten, die ihrer Ansicht nach der Verbreitung wert wären. In der Praxis erwiesen sie sich jedoch als wenig originell. 

Sie selber besaß zu wenig Format und verfügte nicht über die Fähigkeit, in ihrer Gemeinde Anhänger zu mobilisieren und zu organisieren. Auch war sie nicht fähig, entsprechende finanzielle Unterstützung lockerzumachen. All das habe ich ihr natürlich nicht gesagt. Obwohl ich es dachte, sagte ich nichts. Ich ermutigte sie dazu, <nach ihrer Facon selig zu werden>. Ich tat nichts oder wenig, um sie von ihrer irrigen Vorstellung abzubringen. 

Sie hörte bei mir auf und ging zu einem orthodoxen Psychoanalytiker. Ihr Selbstmord ereignete sich im Jahr darauf.

Seit 1956 habe ich nie mehr von einem Selbstmord eines meiner Patienten gehört. Während der folgenden 20 Jahre meiner Praxis haben sich meine ganze Einstellung, meine Methoden, meine Haltung fortentwickelt von einer - wie ich es jetzt sehe - pathogenen <Rot-Kreuz-Schwester>-Liebenswürdigkeit zu der Methode, die ich entwickelt habe und die inzwischen als <kreative> oder <therapeutische> Aggression bekannt ist. Dieser Wandel vollzog sich dank meiner eigenen theoretischen sowie pragmatischen Einstellungen. 

Ich war nie so ganz ich selbst bei dem behutsamen, alles akzeptierenden non-direktiven Ansatz. Ich habe eine sehr niedere Toleranzschwelle für jede Art von nachgiebigem Einschmeichelungsmanöver. Auch nach dieser Wende hatte meine Praxis ihre Mißerfolge, aber keiner war derart drastisch und tragisch wie ein Selbstmord. 

Daß ich diesen Ansatz der kreativen Aggression - der meiner eigenen Persönlichkeit gemäß ist - nicht eher anwandte, trug ganz unmittelbar zum Rückzug der drei suiziden Patienten von der Therapie und ihrem tragischen Ende bei. 

Die Tatsache, daß sie Selbstmord begingen, nachdem sie bei mir aufgehört hatten, und sie nun unter der Obhut von Kollegen standen, verschafft mir wenig Erleichterung bei immer noch schmerzhaften Betrachtungen meiner damaligen Fehler. 

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