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   4  Der Marathonmensch  

 

 

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Die meiste Einsicht in therapeutische Prozesse beruht auf Beobachtungen und Erfahrungen von Therapeuten, die ihre Patienten in 50-Minuten-Sitzungen oder zwei- bis dreistündigen Gruppensitzungen behandeln.

Bei meinem Kollegen und Freund Frederic Stoller und mir wuchs das Unbehagen darüber, daß wir nach solchen Sitzungen beim nächsten Mal - überspitzt ausgedrückt - fast wieder von vorne anfangen mußten, das was in den Sitzungen erarbeitet und durchgearbeitet wurde, hielt dem Alltagsstreß nicht stand

Diesen verzögerten Wachstumsprozeß, einem Fortschritt mit mühselig gezahlten Raten vergleichbar, wollten wir durchbrechen. Unsere Hypothese war, daß wir in einem 24- bis 36-stündigen Marathon Widerstände leichter erkennen, da durch den intensiv andauernden Gruppenprozeß Verhaltensweisen nicht so leicht kaschiert werden können wie in der 50-Minuten- oder Dreistundensitzung.79)

Das war damals ein gewagtes Experiment. 
Unsere Frauen warnten uns davor, weil sie fürchteten, wir könnten unsere Praxis dadurch ruinieren.

Wir fassen den Marathontherapieprozeß als ein Praktikum in authentischer Kommunikation auf, die frei von sozialen Ängsten ist, die normalerweise aufkommen, wenn es um Offenheit untereinander geht.

Die einzigartige Gelegenheit, einen Tag und eine Nacht lang an einer offenen und ehrlichen Begegnung (encounter) teilzunehmen, schafft Intimität unter den Teilnehmern. Sie bekommen einen Geschmack davon, was man mit Menschen, die einem wichtig sind (significant other), auch anderswo erreichen kann. Sie tauschen subjektive Wahrheiten miteinander aus, sie erkennen, daß sie irrationales und nicht effektives Verhalten, das sich als Störung ihrer Persönlichkeit auswirkt, aufgeben und Verhaltensmuster erlernen müssen, die mehr Intimität und Kompetenz garantieren.


Dabei orientieren wir uns an dem >Hier-und-Jetzt<, d.h., die Bearbeitung richtet sich auf das >Was< und das >Wie<, nicht auf das >Warum< und >Woher<. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, jedem Gruppenmitglied optimale Bearbeitungsmöglichkeiten bereitzustellen. Weiter soll er dafür sorgen, daß möglichst viel Gruppenfeedback gegeben wird, daß die Mitglieder mit dem Gruppendruck in Kontakt kommen und sich mit ihm auseinandersetzen. Man kann ein Marathon mit einem >Druckkessel< vergleichen, in dem >Scheinheiligkeit< verdampft und genuine Gefühle übrigbleiben. Zu diesen echten Gefühlen zählen auch die sogenannten negativen Gefühle wie z.B. Ärger und Haß. Dabei zentrieren wir uns auf den Gruppenprozeß, greifen das auf, was zwischen den Teilnehmern passiert.

Die Marathonerfahrung wirkt sich positiv aus, wenn die Teilnehmer bereit sind, sich überhaupt auf Veränderungen einzulassen, indem sie aufhören, andere und die Umwelt für ihre Unzufriedenheit verantwortlich zu machen. Neulinge versuchen gewöhnlich das Spiel >Psychiatrie< (E. Berne): »Ich bin krank, heilen sie mich.« Teilnehmer, die dieses Spiel »ich bin krank, sie sind der Doktor, sie und die ganze Gruppe müssen mich pflegen« aufgeben, verhalten sich wie Erwachsene, die bereit sind, ihre Probleme selbst zu lösen. Sie begreifen sehr schnell, daß die Auseinandersetzung mit vernünftig dosiertem Gruppendruck hilft, den eigenen Charakter zu stärken. Es liegt im Verantwortungsbereich des Marathontherapeuten, daß die Gruppe mit ihrem Gruppendruck nicht als Ersatz für Individualität oder einer Art sozialer Uterus mißbraucht wird, wo man sich vor Konfliktlösung und Konfrontation regressiv verstecken kann.

Das Ziel des Marathons besteht nicht darin, den Leuten >schöne< Gefühle zu vermitteln, sondern jeder Teilnehmer soll sich besser bewußt werden, wie er sich in der Gruppe verhält, wie er ist, in welche Richtung er sich verändern will. Durch die zeitlich gedrängte intensive Erfahrung zwingen wir die Marathonteilnehmer nicht zu einem >Geständniszwang<8°. Sie stehen hinterher nicht völlig isoliert und auf sich selbst angewiesen da, sondern sie haben jederzeit, wenn so etwas wie >Marathonkater< aufkommt, die Möglichkeit, in ihren wöchentlichen therapeutischen oder Encountergruppen die auftretenden Konflikte zu bearbeiten. Als ungeschriebenes Gesetz unserer Marathons gilt, daß die Teilnehmer sich in Selbstorganisation innerhalb von vier Wochen noch einmal treffen, um über Erfolge und Mißerfolge zu reflektieren. Hier haben auch jene Mitglieder, die nicht in fortlaufenden Gruppen sind, Gelegenheit der Weiterbearbeitung ihrer Konflikte. 

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  5 Geheime Verschwörungen gegen Offenheit und Veränderung   

 

Während eines Wochenendmarathons gerate ich gewöhnlich irgendwann einmal in einen Streit zwischen Gruppenmitgliedern, der nicht direkt mich betrifft. Aber ich gebe Feedback, indem ich meine Gefühle über den Streit mitteile. Ich betrachte passive Neutralität gegenüber der Privatwelt eines Gruppen­mitgliedes als Schritt zur Entfremdung und Gleichgültigkeit. Das verträgt sich nicht mit der intimen, aufnahmebereiten Atmosphäre eines Marathons. Tatenloses Zuschauen, besonders während eines Konflikts, das bloße >Gaffen<, ist nicht mit der aktiven Philosophie intimen Gruppenlebens zu vereinbaren. Bloßes Zuschauen, >Herumschnüffeln< halte ich für eine selbstsüchtige und parasitäre Haltung. Die Teilnehmer drücken sich vor verant­wort­lichem Mitmachen.

Teilnahmsloses Zuschauen ist jedoch eine gängige Haltung in unserer Gesellschaft und schleicht sich allzu oft auch in Therapiegruppen ein. Ich kämpfe gegen eine solche Haltung bei mir und anderen, wie das folgende Beispiel zeigt. 

Ich wurde von einem geschätzten Kollegen und Freund als Co-Therapeut eingeladen. Ich gab meine Zustimmung, ein drei Tage und zwei Nächte dauerndes Marathon mit einer Gruppe von Managern durchzuführen, mit denen er früher schon im T-Gruppen- oder Sensitivity-Trainingsstil gearbeitet hatte. Während der ersten Hälfte des Marathons verhielt sich mein Kollege äußerst passiv. Er war Zuschauer meines aktiven Mich-Gebens an diese große und in vieler Hinsicht schwierige Gruppe. Im Laufe der ersten vierundzwanzig Stunden packte mich langsam, aber sicher die Wut auf meinen Freund. Ich kam mir hintergangen vor. Er entzog sich für mein Gefühl unserem Vertrag, die Gruppe aktiv und zusammen zu leiten. Er handelte nicht als verantwortlicher Leiter. 

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Zudem gab er mit seiner »sanften« Passivität ein schlechtes Beispiel, er zog sich zurück und demonstrierte damit, daß er nicht bereit ist, andere an sich herankommen zu lassen, und lieferte so ein schlechtes Imitations- und Lernmodell. Außerdem wurde es mir leid, als Hauptzielscheibe der Gruppen­feind­seligkeit zu dienen, während er nichts abbekam. Das wurmte mich schrecklich, und ehe es mich verrückt machte, konfrontierte ich ihn vor der Gruppe und nicht etwa privat damit. 

Wir gerieten in einen handfesten Streit.

Ich machte ihm schwere Vorwürfe: »Du hast mich in eine unhaltbare Zwickmühle gebracht. Wenn ich mich auf deinen Stil gemeinsamer Leitung einlasse - das ist ja überhaupt kein Stil -, betrüge ich mich und meine Grundsätze; das tut mir wirklich selber weh. Aber wenn ich dich hier in deiner Gruppe angreife, wenn ich nicht den beschönigenden Gastleiter spiele« - ich wandte mich zur Gruppe -, »dann könntet ihr mich alle für unloyal halten.« 

Darauf wieder zum Kollegen: »Denn ich untergrabe deine Autorität, die du dir vor deinen Leuten hier aufgebaut hast. Das würde mich natürlich von dir entfremden. Das will ich aber nicht! Deshalb lasse ich lieber gleich die Katze aus dem Sack. Dein passives Beobachten der Gruppe, dein Nicht-Leiter-Sein mit deinen gelegentlichen Bemerkungen, wie die Gruppe läuft, schafft nicht die Intimität, wie sie ein Marathon braucht. Du betreibst T-Gruppen-Technik. Du bist ein Wichtigtuer, nicht ein >Vollblutteilnehmer<«. 

Und ich habe noch weiter Dampf abgelassen: »Mit deinem wohlwollenden Schweigen sanktionierst du die Ethik der Konfliktvermeidung, - du kollaborierst und koalierst mit den Teilnehmern und unterstützt sie in ihren unsinnigen Rollen. Was noch schlimmer ist, mehr und mehr von diesen Leuten ahmen dich nach, weil sie sehen, wie >sicher< deine Haltung ist. Auch sie werden Gruppenzuschauer und Gruppenanalytiker, genauso wie du. Das verdirbt mir das Marathon.«

Ich ging noch weiter: 

»Mich macht es völlig k.o., alles allein zu machen, dabei sind wir jetzt gerade erst in der Mitte des Marathons angelangt. Außerdem brauche ich dich, um das Feedback zu vertiefen und die Interaktion zu erleichtern. Ich muß dich aus deiner Ecke herausscheuchen, wenn ich nicht in Kürze der einzige Aktive hier sein will und jeder mich beobachtet und meine <Wirkung auf die Gruppe> analysiert. Als ob das hier ein Praktikum in Sozialpsychologie wäre, wo ich das Versuchskaninchen bin. Mir stinkt das! Ich will, daß du aktiv mitmachst.«

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Dieser Angriff kam für meinen sanftmütigen Freund aus heiterem Himmel und verwirrte ihn. Aber er stellte sich meinen Anschuldigungen und kämpfte zwei Stunden lang mit mir vor einer faszinierten Gruppe. Er verteidigte sich sehr wirkungsvoll und erläuterte seine Sicht unseres Vertrages: »Ich habe dich eingeladen, um deine Methode vorzustellen, du bist hier, um zu zeigen, wie du ein Marathon leitest. Ich bin diesmal lediglich ein professionelles Anhängsel.«

Das Resultat des Streites war: die Gruppe war beeindruckt, daß die beiden professionellen Leiter etwas für ihre Beziehung so Wichtiges >öffentlich< ausfochten. In der Folge öffneten sich alle mehr und setzten sich mit den kritischen Punkten ihrer gegenseitigen Beziehung in erfrischender und aufrichtiger Art auseinander. Unser Streit hatte auf alle Zeugen eine therapeutische Wirkung. Von nun an startete die Gruppe mehr Initiative und entwickelte mehr aktive Eigensteuerung. Ich fühlte mich mehr und mehr auch als Gruppenmitglied, wie es in einem guten Marathon sein sollte. Mein Freund teilte uns viel mehr über sich mit. Unsere Freundschaft hat seit jenem Tag an Intimität gewonnen. 

Danach haben mein Freund und ich noch mehrere Marathons zusammen durchgeführt. Heute arbeitet er völlig unabhängig von mir. Er hat seinen eigenen Stil gefunden. Wenn man einige minimale Grundregeln beachtet und einhält, ist damit nicht der Erfolg einer Gruppentherapie oder Marathonsitzung garantiert. Aber ihre Beachtung erleichtert die beeindruckende Metamorphose, die aus Fremden in wenigen Stunden eine kreative und intime Gemeinschaft formt, die sich nicht scheut, Konflikte offen auszutragen. An dieser Verwandlung (vgl. C. G. Jung) möchte ich als Therapeut teilhaben - und versuche daher, blockierendes Verhalten zu verhindern. Noch bis in die jüngste Zeit hinein benutzten die meisten Therapeuten den Stil einer gleichbleibenden Liebenswürdigkeit.

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Sie verhielten sich ihren Klienten gegenüber so, als könnten sie alles und jedes annehmen und verstehen. Sie signalisierten verbale Hilfsbereitschaft, die auch tatsächlich Unterstützungsfunktion hatte. Sie versuchten, ständig eine Art von wohlwollender Neutralität zu bewahren und / oder setzten die Interpretation des Geschehens als Haupttechnik ein. Als ungeschriebenes Gesetz galt, Spannungen möglichst zu vermeiden und Konflikte gar nicht erst aufkommen zu lassen. Sie waren nicht in der Lage, in einem dialektischen Austauschprozeß ihre akzeptierende Haltung mit konstruktiver Konfrontation zu verbinden. Wie Kopp in Abwandlung des bekannten Bettelheim-Titels sagt: »Liebe ist nicht genug, aber sicherlich hilft sie.«

 

Heute setzt sich auch bei anderen Schulen und Richtungen immer mehr ein aggressiverer Stil therapeutischer Gruppenleitung durch. Der so ausgerichtete Therapeut hat keine Angst, einen Konflikt anzustiften, ja sogar die Gruppenmitglieder vorübergehend zu entfremden. Er verweigert nicht nur jene Hilfe, die in der Aufforderung besteht: >mach du es für mich<, sondern attackiert jedes irrationale und kindische Verhalten, das zu Ausgleich, Ausagieren und bloßem Kaffeeklatsch­vergnügen führt. (Vgl. Berne, Ellis, Perls, Yablonski, Whitaker u. a.)

Beim längsten Streit, den ich je ausfocht, stellte ich mich ganz alleine gegen eine Marathongruppe. Kollegen aus dem Bereich der sozialwissenschaftlichen Beratung, selbst Fachleute in Gruppendynamik, hatten mich dazu eingeladen. Das Marathon erstreckte sich über fünfzig Stunden. Schon bald wurde mir klar, daß sie nicht ein Marathon erleben, sondern neue Techniken kennenlernen wollten. Nach dreißig Stunden mühseligen Kampfes für >meine< Grundregeln wurde ich kampfesmüde. Einerseits hatte ich einfach keine Lust mehr, andererseits suchte ich die Anerkennung meiner Kollegen. Ihr verbissener Widerstand verführte mich, >barmherzig< mit ihnen umzugehen. Ich beugte mich ihrem Widerstand gegen echte Transparenz und fügte mich resignierend ihrem Spielchen <wie vergleiche ich Techniken>. 

Die Strategie, mit der sie mich besiegten, war sehr einfach. 

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Zuerst bekannten sie sich scheinbar zu den von mir aufgestellten Grundregeln, die zu authentischer und offener Begegnung führen. Schließlich war ich ja der Gastleiter. Ich gab mir wirklich alle Mühe, in der ersten Stunde meine Auffassung von Marathon darzulegen, d.h. klarzumachen, wie die Entstehung einer intimen Marathon­gruppen­atmosphäre beschleunigt werden kann. Ich diskutierte die Gruppenregeln mit ihnen. Sie sagten brav <ja>, um dann anschließend sämtliche Regeln zu ignorieren oder dagegen zu verstoßen. 

Das frustrierte mich: Entweder mußte ich meine Niederlage hinnehmen oder mich selbst zum Aufpasser degradieren. So verwickelte ich mich in eine <Doppelbindung> (Bateson): Beide Positionen konnte ich nicht akzeptieren. Dadurch geriet ich vorübergehend in einen Zustand der Verrücktheit und verlor meinen Einfluß auf die Gruppe. Diese geriet völlig aus der Bahn: Es bildeten sich Untergruppen, einige gingen zur Cocktailbar, andere blieben der Gruppe stundenlang fern, wieder andere versuchten eine Routinegruppe ablaufen zu lassen mit Psychodrama, Interpretationen des Gruppenprozesses usw. 

Einer der Rebellenführer deklarierte im Namen aller Demokraten <das Recht auf passive Beobachtung ohne aktive Teilnahme>. Das Ganze war eine beispielhafte Demonstration dafür, welche Macht eine Gruppe entfalten kann, wenn sie einen geübten Leiter außer Gefecht setzen will.

Damals erlebte ich dieses Pseudomarathon als Farce und Niederlage. Aber ich lernte von dieser verlorenen Schlacht, wie vor allem die sogenannten Experten aus dem sozialen Bereich sich durch Offenheit bedroht fühlen. Seither betrachte ich mich als Spezialist, wenn es darum geht, mit Kollegen und anderen Professionellen darum zu kämpfen, daß sie ihre Masken fallen lassen und sich zumindest während des Marathons öffnen und auf der Gefühlsebene ansprechen lassen.

Zweierbündnisse als Bedrohung des Gruppenprozesses werden oft übersehen. Man kann damit rechnen, daß Paarmanöver häufig als Versteck oder Ausweich­möglichkeit vor dem Veränderungsdruck, der durch die Gruppe entsteht, benutzt werden; Diese Tendenzen zur Paarbildung in Marathon- und Therapiesitzungen greife ich an.

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Mir ist nicht immer wohl dabei. Im Gegenteil, oft bedrückt es mich, einzelne Teilnehmer zu frustrieren und einander zu entfremden. Ich komme mir vor wie ein >Spielverderber<, wenn ich Leute davon abhalte auszuagieren, was sie ausagieren möchten. Besonders Teilnehmer mit regressiver und abhängigkeits­bedürftiger Persönlichkeitsstruktur >hassen< mich zeitweilig dafür, daß ich ihnen ihre liebgewonnenen* Verteidigungsmechanismen zum Rückzug aus der sozialen Realität, die Flucht in eine >folie a deux<, durcheinanderbringe. 

Mein Angriff gegen diese Untergruppen schweißt Paare oft noch stärker zusammen. Sie agieren versteckt weiter, benutzen die Pausen dazu, ihre Zusammengehörigkeit zu demonstrieren. Paare, besonders heterosexuelle, neigen dazu, sich insgeheim in einer Phantasiewelt zu verbinden. Sie bilden oft sehr clevere Allianzen gegen die Versuche der Gruppe, die Realität zu testen. In jedem Marathon bilden sich mindestens zwei oder drei solcher Verteidigungsbündnisse, die sich insgeheim zum Ziel setzen: >Wir wollen einander vor dem Druck der Gruppe schützen, damit wir unsere Beziehung nicht auf Gruppenebene zu klären brauchen.< Sobald ich diese Geheimbündelei entdecke, gehe ich zum Angriff über. Meiner Meinung nach trägt die Toleranz gegenüber solchen >unheiligen Allianzen* dazu bei, daß Gruppensitzungen schwache therapeutische Wirkung zeitigen. 

In meinen Anfangsjahren mehr als heute kam und kommt es vor, daß ich mich gehen lasse. Manchmal gehe ich auf die ganze Gruppe oder einen einzelnen Teilnehmer los. Gruppenteilnehmer, die diese >irrationalen< Wutanfälle nicht mögen, haben mich in verschiedenen Gruppen angegriffen: »Dein Ausbruch gegenüber X war völlig ungerechtfertigt. Du kamst mir vor, als hättest du den Verstand verloren.« 

Meine Frau Peggy stellte einmal unter großem Beifall einer Gruppe fest: 

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»George, manchmal sind deine Attacken wirklich nicht therapeutisch. Manchmal bist du ganz einfach bösartig. Du greifst ganz besonders jene Teilnehmer an, die du magst, weil du von ihnen mehr erwartest als sie geben. Wenn sie dem Image, das du von ihnen hast, nicht nachkommen, wirst du grob mit ihnen. Du packst auch die Leute hart an, die du beeindrucken willst, um ihre Zuneigung zu erhalten. Wenn einer von ihnen daran zweifelt, daß du den großen Durchblick hast und ganz große Klasse bist, wirst du wütend auf sie. Wenn einer der Teilnehmer, zu denen du dich hingezogen fühlst, es wagt, dich mit deiner Unvollkommenheit zu konfrontieren, dann läßt du einen Tobsuchtsanfall los. Du kannst mir nicht weißmachen, daß es von therapeutischem Wert ist, Leute total fertigzumachen. Du selbst kommst ja mit so was überhaupt nicht zurecht. In meinen Augen seid ihr ganzen >Aggressionstherapeuten< groß im Geben und klein im Nehmen. Das gilt für dich und deine Kollegen.« 

Dann nannte sie mehrere befreundete Kollegen, die >Aggressionstherapie< praktizieren.

Dazu muß ich sagen: 

»Ich habe es nie erlebt, daß jemand durch mich oder die Angriffe der Gruppe völlig am Boden zerstört wurde. Ich stehe nach wie vor auf dem Standpunkt, daß meine sogenannte irrationale <Wut> sowohl ein Ausdruck dafür ist, daß mir die Beziehung zum anderen wichtig ist, als auch ein Ventil für meine eigene Spannung: ich fühle mich tatsächlich wohler, wenn ich einigen Ärger abgelassen habe. Wer ihn abkriegt, hat das Recht, es mir zurückzugeben. Dafür habe ich besondere Rituale und Techniken entwickelt. 

Es ist ein wichtiges Erlebnis für den Betroffenen, mich auch beschimpfen zu können. Ich kann sehr wohl damit umgehen. Ich gebe zu, daß in dem Ärger über eine persönliche Beziehung sehr viel Unsinn steckt, der der Selbstverteidigung dient, und mich nicht wirklich verletzen kann. Wenn ich mich gelegentlich in liederlichen Schimpfkanonaden ergehe, so ist das meine törichte Art, einen Gefühlsausbruch zu kriegen, wenn Leute, an denen mir was liegt, das Gegenteil von dem sagen oder denken, was ich von ihnen erwartet hatte. Wenn Leute mich gelegentlich in einem dieser lächerlichen Augenblicke der Raserei sehen, wird es ihnen ein für alle Male klar, daß ich weit davon entfernt bin, gottähnlich zu sein. Dabei ist zu beachten, daß wir durch Ritualisierung und Einführung von <Spielregeln> einen Kontext schaffen, in dem Aggression möglich und erlaubt ist. Wir betreiben keine <Austobtherapie>.

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Ich sage jedem den Kampf an, der sich davor zu drücken sucht, sich mir oder der Gruppe zu stellen. Ich bestehe nachdrücklich darauf, die Gruppenteilnehmer zu konfrontieren, die sich in Schweigen hüllen, wenn es um ihre eigene Person geht. Ich bin allergisch gegenüber Leuten, die sagen, wenn sie nach ihren Gefühlen zu sich selbst, mir und der Gruppe gefragt werden: <Ich weiß nicht, ich kann dazu nichts sagen.> 

Diesen Teilnehmern erwidere ich: Wenn du deine eigenen Gefühle nicht kennst, wer zum Teufel soll dann darüber Bescheid wissen? Hör doch mit dem Spiel auf, <ich bin ein ganz großes Geheimnis>. Versteck dich nicht in mysteriösem Schweigen! Denn ich weigere mich, dich als geheimnisvolles Rätsel zu betrachten. Du mußt den Schritt wagen, klar und deutlich zu deinen eigenen Gefühlen stehen! Zumindest hast du hier die Chance, es zu versuchen«.

 

Manchmal halte ich mich auch heraus, wenn die Gruppe wie ein Rudel Wölfe über einzelne Teilnehmer herfällt. Sie kommen gut ohne mich zurecht, denn ich nehme die Gruppe als therapeutisches Instrument ernst. Ich schütze niemals einen einzelnen vor dem Angriff der Gruppe, denn es ist ein wichtiger Schritt im persönlichen Wachstum eines Menschen, sich gegenüber Gruppendruck behaupten zu lernen. Diese Erfahrung würde ich verhindern, wenn ich einzelne Teilnehmer in Schutz nähme. Oft lasse ich Teilnehmer ihre Kämpfe allein austragen, ohne einzugreifen. Ich gebe jedoch Feedback, indem ich meine Beobachtungen, Eindrücke, Gefühle und Absichten während des Zuhörens und Zuschauens mitteile. Erst wenn die Gruppe gelernt hat, offen und ehrlich miteinander umzugehen, zeige ich mehr meine unterstützende freundliche Seite. In vielen Marathons und Therapiesitzungen habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, und die klinischen Forschungsergebnisse unseres Institutes belegen das, daß Aggression in einem solchen Bezugsrahmen nicht zerstört, sondern Intimität und Liebe möglich macht.

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Wir setzen den Gruppendruck nicht dazu ein, unsere eigenen sadistischen oder masochistischen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern benutzen ihn dazu, um dem einzelnen Gelegenheit zu geben, ein gesünderes Verhalten im Umgang mit dem anderen einzuüben. Im Marathon - wir schließen uns als Therapeuten ausdrücklich mit ein - bietet sich uns heuristisch gesehen ein sozialer Wirkungskreis, der uns ermöglicht, unsere Selbstwahrnehmung zu schärfen und die Fremdwahrnehmung ernst zu nehmen. Neben Einsicht und kognitiver Verarbeitung können wir an Ort und Stelle konkretes Handeln einüben und so einen ersten Schritt machen, unsere verrücktmachenden Verhaltens-weisen im Alltag abzubauen.

In den letzten Jahren haben immer mehr Individualtherapeuten damit begonnen, Gruppentherapie zum festen Bestandteil ihrer Praxis zu machen. Wir selbst verwenden ähnlich wie in Gestalttherapie, Transaktionaler Analyse, Realitätstherapie und Rational-Emotiver Therapie ein flexibles Konzept. Wir führen Einzel-, Paar-, Familien- und Gruppentherapie durch. Allerdings liegt unser Schwerpunkt auf der Arbeit mit Gruppen und Systemen. Wann immer es geht, versuchen wir unsere Klienten zur Gruppentherapie zu motivieren. Oft wenden wir auch eine Kombination von Einzel- und Gruppentherapie an. 

Bei unserem methodologischen Vorgehen halten wir Prinzipien und Handlungsschritte ein, von denen wir glauben, daß sie im wesentlichen in jeder guten Gruppentherapie, ganz gleich welcher Richtung, beachtet werden müssen. Leute, die sich in Gruppen befinden, können vielleicht mit Hilfe dieser >Richtlinien< ihr Unbehagen in den Griff bekommen und die eingeschlagenen Irrwege analysieren und Konsequenzen daraus ziehen, falls sie sich als Opfer des Psychobooms sehen. Als erstes wird ein Vertrag abgeschlossen8'. Wir stellen die Grundregeln vor, die allen Gruppenmitgliedern und nicht nur dem Therapeuten die Möglichkeit bieten, Orientierung und Kontrolle über das Gruppengeschehen zu haben. Dann schließen wir mit jedem einzelnen von der Gruppe einen Arbeitskontrakt. 

Wir begnügen uns nicht mit vagen Formulierungen wie »ich will mich verändern« oder »ich will hier mal sehen, was ich machen kann«, sondern wir bestehen zu Beginn darauf, daß jeder sich aus seinem Problemkuchen ein kleines Stück herausschneidet, das heißt spezifisch und für die anderen Gruppenmitglieder verständlich und beobachtbar zum Ausdruck bringt, woran er innerhalb der Gruppe arbeiten will.

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Die Verträge können sich auf Gefühle, z. B. Umgang mit Ärger, Verhaltensweisen oder psychosomatische Störungen beziehen. Als Therapeuten übernehmen wir die Verantwortung dafür - das ist unser Vertrag mit den Gruppenteilnehmern -, innerhalb und außerhalb (»Hausaufgaben«) des Gruppenprozesses Möglichkeiten bereitzustellen, am Vertrag zu arbeiten. Die Verantwortung liegt nicht allein beim Klienten. Wir gehen davon aus, daß die Klienten in Therapie kommen, weil sie Hilfe und Behandlung beanspruchen. Manche Therapeuten übertreiben die Betonung der Selbstverantwortung, wenn sie Klienten, wie einer unserer Interviewpartner es ausdrückte, >in ihrem eigenen Saft schmoren lassen<. Gerade bei Klienten mit mangelnder Selbstverantwortung ist Frustration von Seiten des Therapeuten nicht die indizierte Behandlungsmethode, zumindest nicht durchgängig-

Von Anfang an bemühen wir uns, in den Gruppen eine Atmosphäre zu schaffen, wo offene Aussprache und Verhaltensweisen möglich sind, die stereotype Verhaltensmuster durchbrechen, welche von höfischer Etikette und Konformität geprägt sind.

Nach unserem Verständnis ist das nur durch gegenseitige Konfrontation, konstruktive oder kreative Aggression möglich. Konfrontation hilft Klient und Therapeut ihre Stärken und Schwächen herauszufinden. Sie motiviert zum Handeln, sie bringt Informationen hervor, welche dem Individuum unbekannt sind. Sie verstärkt die schon bekannten Selbstinformationen.

Erst wenn die versteckten Spiele innerhalb der Gruppe transparent gemacht und gestoppt sind, sind die Gruppenteilnehmer voll in der Lage, sich gegenseitig unterstützendes Verhalten zu zeigen. Sie werden zu echten Co-Therapeuten, da sie realisieren, daß alle »im gleichen Boot sitzen« und ähnliche Probleme haben. Diese Wechselseitigkeit (mutuality) ist eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Gruppentherapie überhaupt.

Wenn die Gruppen vom Leiter nicht total autokratisch geführt werden, entwickelt sich eine Gruppenorganisation, wo der Therapeut seine Rolle bedeutend modifizieren kann. Er wird mehr zu einem Katalysator, der das Eigenleben der Gruppe dadurch fördert, daß er - bei Einhalten der Grundregeln - die Gruppe sich selbst regulieren läßt. 

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   6  Gefahren, Krisen, Störfaktoren   

 

Aus klinischer Erfahrung wissen wir,82 daß man in therapeutischen Gruppen - ähnliches gilt für Begegnungsgruppen - sowohl verrücktmachende und verwirrende als auch persönliche Entwicklung und Reifung fördernde Erfahrungen machen kann. Diese gegenläufigen Erfahrungen ziehen sich durch alle Gruppen. 

Viele Fälle zeigen, daß dabei nicht nur die therapeutische Richtung oder die Persönlichkeit des Therapeuten eine Rolle spielen; denn auch in fortlaufenden Gruppen mit gleichem Leiter tauchen diese paradoxen Erlebnisweisen auf. Diese Erfahrung haben wir immer wieder in unseren Gruppen und Interwiews mit anderen Therapeuten gemacht. Wenn jemand an einer Gruppe teilnimmt, mit deren Ziel- und Wertvorstellungen er nicht übereinstimmt, gerät er in eine persönlich verwirrende Situation: Er ist bereit, sich zu verändern, aber um diese Veränderung einzuleiten, muß er meist unbewußt die innerlich von ihm abgelehnten Gruppennormen übernehmen. 

Wer an einer Gruppe teilnimmt, sollte sich darüber im klaren sein, daß jede Art von Gruppenaktivität, ganz abgesehen von ihren angestrebten Zielen, emotionale Energien mobilisiert, die er nicht unmittelbar in seinen Lebenskreis und für seine spezifischen Alltagsprobleme umsetzen kann. Um diese mögliche Verwirrung zu verhindern, verwenden wir in unserer gruppentherapeutischen Arbeit Übungen oder Rituale, die es den Teilnehmern ermöglichen, in der Gruppe hervorgerufene Bedürfnisse zumindest auf symbolischer oder heuristischer Ebene zu bearbeiten.

Wir halten jede Art therapeutischer oder Selbsterfahrungsgruppen für gefährlich und schädlich, wenn die Teilnehmer nicht außerhalb und unabhängig von der Gruppe Kontaktmöglichkeiten haben, die ihnen persönliche Resonanz bieten. Sie müssen ein soziales Umfeld finden, wo sie mit Hilfe von aufgeschlossenen Personen, Gruppen und Subkulturen die neuen Anstöße und Zielvorstellungen Schritt für Schritt verwirklichen können.

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Eine andere Gefahr ist, daß in Gruppen einzelnen Individuen Stereotype wie >gute Mutter<, >Erfolgstyp<, >weiser Alters >Sexbombe< u.a.m. übergestülpt werden. Wenn dann einzelne nicht gemäß dieser Erwartungsrolle handeln, ergeben sich daraus innerhalb der Gruppe Spannungen, die einem erfahrenen Therapeuten oder Leiter untrüglich signalisieren, daß in der Gruppe eine Atmosphäre entsteht, in der persönliche Weiterentwicklung verhindert wird. Wir warnen die Teilnehmer davor, sich gedrängt durch den Gruppendruck Rollen aufzwingen zu lassen, die ihnen persönlichkeitsfremd sind. Weder Teilnehmer, Therapeut oder Gruppe haben das Recht, jemandem ein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben. Jeder muß seine Entscheidung treffen, was er verändern möchte und in welche Richtung er in seinem persönlichen Wachstum gehen will. Gruppe und Therapeut können dabei Hilfestellung leisten. Die eigentliche und schwierigste Arbeit, persönliche Veränderung, muß jeder selbst in eigener Verantwortung leisten. Nur Selbsttätigwerden garantiert Erfolg!

Krisen in Gruppen entstehen auch dann, wenn die Beteiligten es nicht schaffen, mit indirekter Feindseligkeit, wie Ablehnung oder Zurückweisung, fertig zu werden. Oft suchen Gruppen sich dann in der Außenwelt ihre Sündenböcke. Minoritäten, moralische oder politische Abweichler, Radikale, Homosexuelle, Prostituierte, Kapitalisten oder Kommunisten sind bevorzugte Zielscheiben, um mit Wortgeklingel die latente Spannung herabzusetzen

Solche Phasen im Gruppenleben werten wir als sichere Anzeichen dafür, daß unter den Gruppenangehörigen großer Widerstand gegen das >Hier-und-Jetzt< herrscht, d.h., die verbalen Feindseligkeitsausbrüche werden dazu benutzt, die tatsächlichen Spannungen und Konflikte untereinander zu vertuschen. Das Spiel, wer ist der Sündenbock, kann natürlich auch innerhalb der Gruppe mit dem Therapeuten oder mit Gruppenmitgliedern gespielt werden. Besonders bei Leuten mit gescheiterten Gruppenerfahrungen stießen wir immer wieder auf die Tendenz, andere einseitig jede Verantwortung von sich abwälzend dafür verantwortlich zu machen.

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Wir glauben, daß hier nur ehrliche und offene Konfrontation während der Gruppendauer eine geeignete Gegenmaßnahme ist. Während des Gruppen­geschehens bilden sich oft Subgruppen. Wir haben nichts dagegen, wenn dadurch die Harmonisierungstendenz, >wir sind alle ein Herz und eine Seele<, sabotiert wird. Wir halten es für einen gefährlichen Mythos, daß jeder einem gleichermaßen sympathisch sein müsse. Untergruppenbildung wird dann gefährlich - wir kämpfen dagegen -, wenn die Subgruppen sich als autonome Inseln verstehen, die ihre Brücken untereinander abgebrochen haben. Wenn die Untergruppen jedoch ihr Territorium abstecken und die Macht- und Rivalitätskämpfe offen austragen, können unserer Erfahrung nach falsche Bündnisse nicht bestehen bleiben, sondern diese Einstellung begünstigt wachstumsfördernden Gruppenzusammenhalt (Kohäsion).

Der immer stärker aufkommende Enthusiasmus für Gruppendynamik und Encountergruppen hat viele blind gemacht. Sie stehen mit verschlossenen Augen vor den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, ein kreatives und Problemlösung stimulierendes Klima in Gruppen zu fördern. Jede Gruppe kann sich potentiell kreativ oder psychologisch gesehen schädlich auswirken.

Um die positiven Aspekte des Gruppenlebens voll auszunutzen, muß eine Gruppenkultur entwickelt werden, in der persönliche und soziale Entwicklung fördernde Kräfte unterstützt und subtile Manipulationen kontrolliert und beseitigt werden. Nach unserem Verständnis der Zusammenhänge lassen sich die Gefahren für ein gesundes Gruppenleben nicht durch nondirektive Leitertechniken beseitigen. Nur wenn es der Gruppenkultur als Ganzes gelingt, diese wachstumsschädlichen Verhaltensweisen unter Kontrolle zu bringen, besteht die Hoffnung, daß sie auf das übrige soziale Leben ausstrahlen kann. Wir halten eine Gruppenkultur für wertlos, die in ihrer sozialen Organisationsform mit den gleichen »Spielchen« operiert, die vielen das Alltagsleben so schwer und unerträglich machen.

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   7  Die hoffnungslose Verzweiflung   

 

Encounter-, Marathon- und andere Therapiegruppen entwickeln in ihrem Verlauf eine eigene soziale Organisationsform. Wir können von einer Art Subkultur mit eigenen Regeln und besonderer Geschichte sprechen.83) Eine kritische Entwicklungsphase im Gruppenleben zeichnet sich dann ab, wenn sich eine kurze aber intensive Zeitperiode lang Ernüchterung, Verzweiflung oder sogar totales Chaos ausbreiten. Alle sind gelähmt, keiner weiß mehr ein noch aus. Alle scheinen das Vertrauen in die Gruppe zu verlieren. Die Enttäuschung über das, was in der Gruppe vor sich geht, bringt die Gruppenaktivitäten zum Stillstand. Die Begeisterung der Anfangsphase ist verflogen. Lustlos ziehen sich die Mitglieder von aktiver Beteiligung zurück oder drücken in scharfer, feindseliger Form ihre Unzufriedenheit aus. Sie verlieren das Vertrauen in den Therapeuten oder Gruppenleiter. 

Ein Teilnehmer, der zum erstenmal an einem unserer Marathons teilnahm, berichtete: »Ich war wie gelähmt. Mein Kopf hämmerte, ich spürte deutlich meinen Puls, aber ich konnte mich keinen Schritt bewegen. Hilflos heftete ich meinen Blick auf den Leiter. Der saß bleich in sich gesunken abseits von der Gruppe. Alles, was so gut angefangen, die Freude und Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzungen, die Herzlichkeit, die ich von völlig Unbekannten erfahren habe, war dahin, meine >Freunde< erstarrten in eisigem Schweigen.« 

Unserer Erfahrung nach kann man diese Phase der >trostlosen< Gruppenmoral voraussagen: sie ereignet sich meist zwischen dem zweiten und dritten Viertel der Gesamtdauer einer Gruppe, wenn ihr Entstehen nicht durch zu direkte Leitung oder totale Programmierung unterdrückt wird, oder von einem ungeschickten Leiter mit Übungen und Spielchen zugedeckt wird.

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Während die meisten Teilnehmer diese Ausweglosigkeit als unangenehm, peinlich oder langweilig empfinden, schlägt für den Leiter die Stunde der Wahrheit. Er geht durch eine schmerzliche, an den Kräften zehrende und Angst machende Erfahrung, wenn er plötzlich spürt, daß er seine anfängliche Autorität über die Gruppe verloren hat. Blockiert durch das Geschehen, ist er unfähig, Schritte einzuleiten, die aus dem <Tal der Verzweiflung> herausführen. Zur gleichen Zeit wächst die Spannung so sehr, daß Gruppenleiter und Mitglieder kurz davor stehen, die Geduld zu verlieren. Doch beide Seiten haben Angst vor der Explosion des Pulverfasses. In dieser Zeitphase lauern zwei besondere Gefahren: einmal Gruppenmitglieder, die mit Vorschlägen kommen, welche im Hinblick auf die Gruppenziele unbedeutend sind, aber in der Not der Verzweiflung begierig aufgegriffen werden; zum anderen kann ein Therapeut gefährlich werden, der ohne Toleranz und Humor die Gruppe durch einen Kraftakt mit Hilfe von Befehlen aus dem Tiefpunkt herausreißen will. 

Wir haben noch keine Gruppe erlebt, in der dann nicht ein oder mehrere Rebellen auftreten, die diese <hoffnungslose Verzweiflung> als willkommene Einladung betrachten, ihren Autoritätsneid auszuspielen. Sie versuchen, die Führung der Gruppe zu übernehmen. Sie benutzen den Tiefpunkt dazu, ihre Interessen ohne Rücksicht auf die Gruppe durchzusetzen. Der Leiter sieht seine Pläne durchkreuzt und fürchtet, daß ihm die Gruppe ganz aus den Händen gerät, was für eine kurze Zeitspanne auch tatsächlich passiert. Doch diese Periode der >Gruppenpathologie<, die als verrücktmachend erlebt wird, zeigt ein neues Stadium des Gruppenwachstums und Verständnisses an. Der vorübergehende Zusammenbruch der <Arbeitsmoral> ist symptomatisch für die Veränderung der Gruppenverfassung: die Gruppe schreitet von ihrer anfänglichen, jetzt überholten sozialen Organisation zu einem neuen sozialen System.

Die zeitweilige Entthronung des Leiters gleicht fast einer rituellen Demonstration seiner Hilflosigkeit, der meist eine Phase des offenen Aufstandes folgt. Als Ersatzritual haben wir in vielen Fällen den Versuch erlebt, das <Tal der Verzweiflung> durch langwierige Diskussionen oder tiefschürfende Analysen zu beheben. Eine gefährliche Bedrohung der ursprünglich gesetzten Ziele.

Entthronung und Rebellion aktivieren jedoch die <heilenden> Kräfte von Gruppen, die sich in Krisen befinden. Die Gruppe wird fähig, sich realistisch einzuschätzen. Die <Gruppenmoral> wird weiter gefestigt durch das Herausarbeiten einer neuen <sozialen Ordnung>. Die Gruppe insgesamt entwickelt mehr Selbstregulation, verringert die Führerabhängigkeit und verstärkt die Wertschätzung der <peers>.

Die neuen Ziele innerhalb der Gruppe sind noch nicht klar formulierbar, aber die ausschließliche Beschäftigung mit den Problemen, ob einzelne von der Gruppe isoliert bleiben können, oder unbedingt alle miteinbezogen werden müssen, ob die Gruppe in der Lage ist, sich selbst ohne Leiter zu regulieren, verschwindet unwiderruflich.

Diese Veränderung des Gruppenklimas tritt bezeichnenderweise dann ein, wenn die Mehrzahl der Gruppenmitglieder ihre anfänglichen Ängste verloren haben, nämlich keine Bestätigung in der Gruppe zu finden oder gar aus ihr ausgeschlossen zu werden. Jetzt, wo sie sich selbst bestätigt und von der Gruppe angenommen fühlen, haben sie keine Angst mehr vor der Kritik der Gruppe oder des Leiters. Im weiteren Verlauf möchten sie ein Wörtchen mitreden. Sie sind jetzt auch bereit, mehr für ihr eigenes persönliches Wachstum zu riskieren. Die vorrübergehende Ratlosigkeit hat einen neuen Start mit vergleichbaren Ausgangschancen herbeigeführt.

Aus unserer Sicht setzt die <Phase der Hoffnungslosigkeit> den Schlußstrich unter den Demokratisierungsprozeß der Gruppe. Der Leiter kann jetzt seine kreativen und erworbenen Fähigkeiten mit neuen Variationen zum Nutzen der Gruppe einsetzen. 

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