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Teil 4 

4.2   4.3   4.4   4.5

1. Erotik und Sexualität in der Beziehung Klient-Therapeut  

 

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Eine Hauptforderung der humanistischen Bewegung ist größere Offenheit und Ehrlichkeit im Ausdruck von Gefühlen sich selbst und anderen gegenüber. Das hat auch die Diskussion über die Beziehung Klient-Therapeut und mehr spezifisch die erotischen und sexuellen Anteile daran stärker in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gebracht.84)

Die Veränderung der therapeutischen Situation von einem hierarchischen Prozeß (oben/unten) zu einem mehr gegenseitigen Austausch macht es dem humanistisch orientierten Psychologen leichter, über dieses heiße Eisen zu reden und zu schreiben; denn bis in die jüngste Zeit galten erotische oder sexuelle Beziehungen in der therapeutischen Situation als gravierende Verstöße gegen die Berufsethik und waren mit einem totalen Tabu belegt. In den wenigen Fällen, die bekannt wurden — sicherlich signalisierten sie nur die Spitze eines Eisbergs — reagierten die Kollegen mit heuchlerisch moralischer Empörung und Ausschluß aus der Berufsorganisation. Unserer Meinung nach haben hier die Psychotherapeuten vor den Augen der Öffentlichkeit ein glänzendes Beispiel für den von Freud beschriebenen Verdrängungsmechanismus geliefert.

Der amerikanische Psychiater James McCartney wurde 1966 aus der amerikanisch psychiatrischen Gesellschaft ausgeschlossen, weil er zugab, daß in seiner 40jährigen Praxis 30% der erwachsenen weiblichen Patienten »in irgendeiner Form offene Übertragung zum Ausdruck brachten: sie saßen auf dem Schoß des Analytikers, hielten seine Hand, umarmten oder küßten ihn. Ungefähr 10% hielt es für notwendig, sich in extremer Weise durch gegenseitiges Entkleiden, genitale Manipulation oder Geschlechtsverkehr auszuagieren.« 85) 

McCartney betonte, daß er in allen Fällen die Erlaubnis des Patienten, des Ehemannes, wenn verheiratet, und der Eltern, wenn alleinstehend, hatte. Ganz gleich, welche Position man diesem Phänomen gegenüber einnimmt, es ist evident, daß erotische und sexuelle Kontakte in therapeutischen Beziehungen stattfinden, und zwar mehr, als die medizinischen, analytischen und psychologischen Berufsorganisationen wahrhaben und sich eingestehen möchten.

Erst einige Veröffentlichungen der letzten Jahre haben die lange unterdrückte Kontroverse — für oder gegen — einigermaßen salonfähig gemacht: auf psychologischen Kongressen wird das Thema, wenn auch vorsichtig und in abstrakter Weise, zumindest diskutiert und nicht einfach mit dem Hinweis auf den Ehrenkodex abgetan. Bei vielen Kollegen stießen wir auf eine ablehnende Haltung. Sie argumentieren, das Ganze sei so unethisch, daß man es am besten als professionelles Tabu behandele und es ansonsten totschweige. 

Wir sind der Überzeugung, daß der Therapeut die Konsequenzen einer möglichen sexuellen Beziehung thematisieren soll, denn sonst kann sich die Therapie unter Umständen jahrelang hinschleppen, weil echtes Durcharbeiten blockiert wird.

Die Autoren können weder für den Klienten noch für den Therapeuten eine Patentlösung vorschlagen. Bei der veränderten Werteinstellung der Sexualität gegenüber halten wir es für notwendig, das Thema sachlich zu diskutieren. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Klient und Therapeut gegenseitig sexuelle Gefühle und Fantasien entwickeln. 

Ruth Cohn85a) (1966) betrachtet diese Fantasien als ein wichtiges therapeutisches Werkzeug, betont aber die Notwendigkeit, die psychologische Bedeutung dieser Fantasien in der Therapie zu bearbeiten. Sie haben auf jeden Fall Einfluß auf den therapeutischen Prozeß. Untersuchungen, über die in der Literatur bekanntgewordenen Fälle zeigen, daß die meisten Therapeuten eine Vorliebe für junge attraktive Frauen haben. Das ist sicher kein Zufall.86)   

Wie Masters und Johnson schreiben, ist das am häufigsten vorkommende Muster die Klientin, die mit einem sexuell inadäquaten Gatten lebt. Sie fühlt sich zum Therapeuten hingezogen und sucht bei ihm sexuelle Befriedigung. Da die meisten Therapeuten männlich sind, kann man vermuten, daß diese Situation am häufigsten vorkommt. 

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Es sind auch einige Fälle bekanntgeworden, wo männliche Klienten von männlichen Therapeuten zu homosexuellen Aktivitäten verführt worden sind. In <ähnlichen Fällen> berichten sie von weiblichen Klienten, die von weiblichen Therapeuten verführt wurden. Masters und Johnson schreiben auch von zwei weiblichen Therapeuten, die Geschlechtsverkehr mit männlichen Patienten hatten.87) 

Wenn in früheren Jahren über dieses Problem geschrieben wurde, benutzten die Autoren meistens das Konzept von Übertragung und Gegenübertragung. Damit kann man sich theoretisch ganz gut aus der Affäre ziehen, wird aber keineswegs der existenziellen Bedrängnis gerecht, die das Problem für Klient und Therapeut erhalten kann, wenn einseitig oder beiderseits echtes persönliches Engagement mit im Spiel ist. Zweifellos entstehen in allen sexuellen Beziehungen bestimmte Fantasien und Erwartungen, wie die Beziehung emotional und körperlich-sexuell aussehen soll. Oft werden diese Fantasien und Erwartungen verzerrt, je nachdem, was man selbst glauben möchte oder annimmt, was der andere gerne möchte. 

Ob die Beziehung positiv oder negativ verläuft, hängt davon ab, wie gut die Fantasien dann tatsächlich ausgelebt werden können, und wieweit die gegenseitigen Erwartungen miteinander verträglich sind. Wenn ein Partner die Beziehung als dauerhaft und bindend ansieht, der andere aber nur ein sexuelles Abenteuer will, werden mit Sicherheit Schwierigkeiten auftreten. Diese dynamischen Kommunikationsmuster gelten auch für die Therapeut-Klienten-Beziehung. Es ist daher schwierig zu entscheiden, was <echt> und was <Übertragung> ist. 

Wenn Therapeuten ehemalige Klienten heiraten, was gar nicht so selten vorkommt, wird die Beziehung auch von den Berufskollegen gebilligt. Kardener (1974) sieht in einer erotischen Beziehung zwischen Therapeut und Patient eine Ähnlichkeit zum Inzest. Er sieht die Funktion des Therapeuten ähnlich der Rolle Vater-Kind. Damit liefert er natürlich die theoretische Voraussetzung, das Problem als Inzest zu sehen. In vielen neueren therapeutischen Ansätzen jedoch wird die Beziehung als ein gegenseitiger therapeutischer Vertrag gesehen, der zwischen zwei Erwachsenen abgeschlossen wird. 

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Wir sehen die Schwierigkeiten, die mit einem erotischen Engagement auftauchen, daher von dieser vertraglichen Basis aus, denn wenn Therapeut oder Klient zum Liebhaber werden, ändern sich damit die ursprünglich vertraglich festgelegten Intentionen. Auch wenn man, wie M. Shepard in seinem Buch >The Love Treatment<88, den Geschlechtsverkehr als ein <therapeutisches Werkzeug> hinstellt, bleiben dennoch einige Fragen:

  1. Muß der Klient für die Sitzung, in der der Geschlechtsverkehr stattfindet, zahlen? Ist das therapeutisch für den Klienten und gehört somit zum professionellen Repertoir, oder ist es Privatvergnügen und deshalb keine professionelle Interaktion?

  2. Sollte ein Therapeut Geschlechtsverkehr mit jedem Klienten haben, der ihn <braucht>, ob man von ihm sexuell angezogen ist oder nicht?

  3. Wie verhält sich der heterosexuelle Therapeut gegenüber einem homosexuellen Klienten, dessen sexuelle Wünsche gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Therapeuten genauso stark wie bei andersgeschlechtlichen Klienten sind?

  4. Bleiben Klienten, mit denen ein Therapeut eine sexuelle Beziehung hatte, für immer in Therapie? Kann ein Therapeut in einem Jahr 30 bis 50 Klienten bedienen?

Wir glauben, daß hier ein Therapeut total überfordert ist. Die meisten Beziehungen spielen sich, wie schon erwähnt, zwischen männlichen Therapeuten und jungen attraktiven Klientinnen ab. Wie verhält sich der Therapeut gegenüber älteren, nicht so attraktiven Klienten, die sexuell noch dringender Hilfe brauchen? Außerdem besteht kein Grund anzunehmen, daß ein Therapeut auch in jedem Fall ein kompetenter Liebhaber ist. Normalerweise hat er mit den gleichen sexuellen Schwierigkeiten zu kämpfen, die durchschnittlich jeder hat, der in der westlichen Kultur aufgewachsen ist.

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Ein anderes schwerwiegendes Problem stellt die ungleiche Machtverteilung zwischen Therapeut und Klient dar. Nach welchem theoretischen Muster auch immer man die therapeutische Beziehung sehen will, in den meisten Fällen hat der Therapeut eine bevorzugte Stellung. Der Klient muß zum Therapeuten kommen, der per Definition ein psychologischer >Fachmann< ist. Wissen bedeutet Macht. Der Therapeut kann sehr schnell die Schwächen des Klienten herausfinden, ohne irgend etwas über sich selbst zu enthüllen. 

Der Therapeut besitzt die totale Kontrolle: er entscheidet, wann, wo und wie oft der Geschlechtsverkehr stattfindet, wie er ausgeführt und an welchem Punkt er beendet wird. Wenn die Begegnung sich als überwiegend unbefriedigend erweist, neigen die Klienten dazu, sich stärker verletzt zu fühlen und sich selbst dafür verantwortlich zu machen. War die sexuelle Begegnung jedoch ein Erfolg, geht das auf das Pluskonto des Therapeuten. Unter solchen Voraussetzungen halten wir es einfach für unfair, eine sexuelle Beziehung einzugehen. Wir stimmen mit Dahlberg überein, »daß es dem Therapeuten zu leichtgemacht wird, mit einem Klienten zu schlafen. Sie kommen, um Hilfe zu erhalten, und investieren ihr Vertrauen in uns. Sie haben keine Alternative. Wenn sie zu zurückhaltend sind, entsteht kein therapeutisches Bündnis, die Therapie findet nicht statt. Wir haben alle Karten in unserer Hand.«90) 

So berichten z.B. eine Anzahl von Frauen, die Phyllis Chessler91 interviewt hat, daß Therapeuten nach einer sexuellen Beziehung jegliche Kommunikation verweigert haben. Das Ergebnis für die Klienten war eine schmerzliche und traumatische Erfahrung der Verlassenheit und Zurückweisung, die das ohnehin angeknackste Selbstimage der Klienten negativ verstärkte.

Auf der anderen Seite wissen wir, daß sexuelle Beziehungen nicht grundsätzlich zu negativen therapeutischen Folgen führen müssen. Auch werden nicht alle Frauen von männlichen Therapeuten sexuell ausgebeutet, wie Chessler vermutet.92 Dafür sprechen genügend Fälle, wo Klienten selbst ihre Beziehung als persönlich förderlich schildern. Aber als grundsätzliche therapeutische Methode >der Therapeut als Lehrmeister de Sexualität teilen wir nicht die optimistische Auffassung, welche Shepard in >Love Treatment< vertritt. 

Es gibt Fälle, wo solche Beziehungen positiv verlaufen. Wenn man aber, wie Shepard, den Geschlechtsverkehr zum therapeutischen Instrument hochstilisiert, wird der Therapeut auf die Dauer zu vielen künstlichen Tricks greifen müssen, er wird zum Sexualakrobaten. Abgesehen von Bedenken, die von gesetzlicher Seite erhoben werden und leicht zur Falle werden können, vor der sich Therapeut und Klient schützen sollten, betrachten wir eine erotisch-sexuelle Beziehung zwischen Therapeut und Klient als ihre Privatangelegenheit, die nicht in die Therapie gehört, und schlagen als Modell vor: in solchen Fällen Ko-Therapeuten verfügbar zu machen, welche die Therapie übernehmen, um eventuell entstehende Schwierigkeiten auffangen zu können. In dieser neuen therapeutischen Beziehung sollte es dem Klienten auch freistehen, über seine sexuelle Beziehung mit seinem vorhergehenden Therapeuten zu reden.

Es mag Situationen geben, wo Sexualität zwischen Therapeut und Klient sich nicht nachteilig auswirkt. Wir sind jedoch der Ansicht, daß dabei unbedingte Offenheit herrschen muß. Der Therapeut soll die Verantwortung dafür übernehmen, sein eigenes sexuelles Verlangen zuzugeben und sich einzugestehen, daß er es sich selbst und nicht dem Patienten zuliebe tut. Wir halten es für Heuchelei, sich unter dem Deckmantel der Therapie sexuelle Abfuhr zu verschaffen.

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  2. Sexualtherapie mit ausgebildeten Sexualpartnern 

 

Wenn Klienten unter sexuellen Dysfunktionen (Störungen) wie Impotenz, vorzeitiger oder verspäteter Ejakulation, Frigidität, verhindertem Orgasmus oder Vaginismus leiden, halten wir Sexualtherapie (Modifikation sexuellen Verhaltens), wie sie etwa Masters und Johnson93 oder die mehr psychodynamisch orientierte Helen Kaplan94 praktizieren, für angebracht. 

Abgesehen von möglichen organischen Störungen, die medizinisch behandelt werden müssen, treten dabei Probleme auf, die auf Kommunikationsstörungen hinweisen. Wann immer möglich, versuchen wir daher die Partner mit einzubeziehen. Auf diese Weise zielt die Therapie direkt auf das soziale und sexuelle Milieu und Niveau der Klienten. Wenn die Klienten keinen Partner haben, ziehen wir es vor, zunächst mit dem Klienten an seinen Kontakt- und Kommunikationsstörungen zu arbeiten. Denn wir sehen das Problem in einem Kontext der Unfähigkeit zu intimen zwischenmenschlichen Beziehungen und partnerschaftlichem Verhalten.

In Einzelfällen kann es angebracht sein, als Übergangshilfe ein Sexualsurrogat, einen Ersatzpartner zum Einüben sexuellen Verhaltens in die therapeutische Behandlung mit einzubeziehen. Der Verhaltenstherapeut Joseph Wolpe äußerte 1969 die Hoffnung: »Vielleicht gibt es eines Tages eine <Interessen­gemeinschaft> akkreditierter Frauen, die ihre Dienste an Männer mit sexuellen Problemen verkaufen. Augenblicklich bleibt nichts anderes übrig, als sich eine Prostituierte zu suchen — es ist gewöhnlich nicht leicht, eine zu finden, die sowohl persönlich ansprechend ist als auch genügend mitfühlendes Interesse besitzt, am therapeutischen Programm mitzuarbeiten.«95)

In Kalifornien besteht seit 1974 eine Gesellschaft für professionelle Surrogate (IPSA),96 die rund 20 Mitglieder (Stand November 1975) hat. Vier Fünftel davon sind Frauen, nur ein Fünftel Männer. Die Gesellschaft versteht sich als eine Organisation, zu deren Selbstverständnis es gehört, daß Erwachsene das Recht haben, an neuen experimentellen Methoden zur Behandlung sexueller Leiden teilzunehmen.

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Um Möglichkeiten der Regulierung und Kontrolle der Klient-Surrogat-Therapeuten-Beziehung zu haben, hat die Gesellschaft Normen entwickelt, die wir hier gedrängt wiedergeben. Die Arbeit des Ersatzpartners mit dem Klienten ist zeitbeschränkt und darf nur während der vom Sexualtherapeuten festgelegten Sitzungen (>Liegungen<) stattfinden. Diese Art der Therapie muß immer unter der Supervision eines klinischen Therapeuten stehen.

Der Sexualersatzpartner hat zum Klienten eine rein berufliche Beziehung. Seine sozialen und sexuellen Fertigkeiten soll er dafür einsetzen, daß der Klient eine Neuorientierung in seiner Sexualität findet, die ihm — das ist das erklärte Therapieziel — befriedigende sexuelle Beziehungen mit Partnern seiner eigenen Wahl ermöglichen. Der therapeutische Sexualpartner soll seine eigenen Bedürfnisse nach sozialer, emotionaler und sexueller Erfüllung in privaten und intakten Beziehungen befriedigen. Ein solcher Sexualpartner muß nicht der Idealvorstellung des Klienten bezüglich Alter, Figur, Aussehen, Kleidung oder Art der Persönlichkeit entsprechen. Der Klient braucht diesem Übergangspartner gegenüber nicht die gleiche sexuelle Anziehung zu verspüren, wie er sie bei einem selbstgewählten Sexualpartner empfinden möchte. Durch die Therapie soll er herausfinden, daß das Surrogat Hilfestellung leistet, um Übersetzungs- und Übertragungsmöglichkeiten zu lernen, durch die er sich selbst in einer intimen und herzlichen Beziehung erleben kann.

<Angst, etwas leisten zu müssen> (performance anxiety), ist oft eine der Wurzeln eingeschränkter sexueller Funktionsfähigkeit. Durch die Entwicklung der Sexualtherapie steht heute eine Serie von zielgerichteten und graduell abgestuften Übungen zur Verfügung, die Therapeut und Surrogat einsetzen können, diesen Angst auslösenden Leistungsdruck zu überwinden. Sexuelle Arbeit mit dem Surrogat als Hilfstherapeut darf nur dem Zweck dienen, daß der Klient seine Sexualität besser verstehen und sie zum Bestandteil zufriedenstellender Beziehungen machen kann.

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Es ist nicht beabsichtigt, die unmittelbaren Wünsche des Klienten oder des Surrogates zu befriedigen. Durch die Therapie soll der Klient Information über seine Sexualität aus eigener Erfahrung gewinnen, um eine bessere sexuelle Funktions- und Liebesfähigkeit gemäß seinen persönlichen Wertvorstellungen und seinem Lebensstil zu erreichen. Das Therapieprogramm soll sowohl die sexuellen als auch die sozialen Fertigkeiten verbessern. Es soll Verhaltensmuster verfügbar machen, die dem Klienten selbständige Partnerwahl möglich machen.

Die <Drei-Weg-Kommunikation> zwischen Klient, Surrogat und Sexualtherapeut bildet einen wesentlichen Bestandteil der Therapie. Während des Behandlungs­programms sollte der Klient ständig dazu ermutigt werden, in der <Dreierbeziehung> über seine Gefühle und auftretende Komplikationen zu sprechen. In einem Interview mit Haja Molter nahm Beverly Engels, Präsidentin von IPSA,97) zu Fragen der Ausbildung des Surrogats und seiner spezifischen Beziehung Stellung. Früher fand die Ausbildung in Selbsterfahrungs- und Einübungsgruppen statt, heute üben unter Supervision ein männliches und ein weibliches Surrogat miteinander. Die Ausbildung kostet 250 Dollar. Je nachdem, wieviel persönliche Arbeit mit dem Surrogat geleistet werden muß, umfaßt die Ausbildungszeit 50 bis 100 Zeitstunden.

Die Organisation besteht nur aus Sexualsurrogaten, die aber mit einer Reihe von Beratern aus dem medizinischen, psychologischen und juristischen Bereich zusammenarbeiten. Nach ihren Aussagen bemüht sich die Organisation neben einem mehr technischen Training (Vertrautwerden mit den Massageübungen, Vermittlung von Kenntnissen über Anatomie und Physiologie der Sexualität), besonders die persönlich emotionalen Schwierigkeiten schon während der Ausbildung zu thematisieren.

Im Gruppentraining stand zu sehr der technische Aspekt der Klient-Surrogat-Beziehung im Vordergrund, die psychodynamischen Aspekte der Beziehung wurden vernachlässigt. 

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Dieser Lücke versucht Beverly Engels mit einem neuen Ausbildungskonzept zu begegnen: 

»Selbst wenn jemand dazu motiviert ist, als Surrogat zu arbeiten, müssen eine Reihe von Problemen beachtet werden. Eine Frau kann das Gefühl bekommen, daß sie sich prostituiert, ein Mann kann sich darüber ängstigen, ob er einer fremden Frau gegenüber sexuell adäquat reagieren kann. Wenn die Surrogate verheiratet sind, können Unsicherheit und Besorgnis auftreten über die Stellungnahme des Partners oder Angst davor, wie sie ihre Arbeit ihren Kindern verständlich machen. Mit diesen Problemen müssen die Surrogate sich auseinandersetzen, und zwar auf einer wirklich persönlichen Ebene, vor allem im Gefühlsbereich.« 

Bevor die Sexualsurrogate ihre Arbeit beginnen, proben sie noch einmal mit wenigstens einem Freiwilligen, dem sogenannten Naiven. 
Wie dann eine tatsächliche Therapie ablaufen kann, soll der folgende etwas stilisierte Fall zeigen: 

Ein Mann, Anfang Dreißig, wendet sich an eine Sexualklinik, er klagt über Impotenz. Er bekommt einen Termin mit einem Therapeuten, meist sogar mit einem männlich-weiblichen Co-Therapeutenpaar. Dort bekommt er eine Einführung in das Programm. Man zeigt ihm die Klinik und führt ein Einführungsgespräch. Dann muß er sich einigen Tests unterziehen, um sein Problem näher einzugrenzen. Dann teilt man ihm mit, daß die Möglichkeit besteht, mit einem Sexualsurrogat zu arbeiten. Wenn der Klient damit einverstanden ist, teilen ihm die Therapeuten ein Surrogat zu, von dem sie glauben, daß es am besten mit dem Klienten arbeiten kann. Dabei treffen sie ihre Auswahl nicht nach den Idealvorstellungen des Klienten, sondern versuchen mit dem Klienten ein realistischeres Partnerbild zu erarbeiten, falls solche Idealbilder bestehen. Dann erhält der Klient Information über die Zusammenarbeit mit seinem Ersatzpartner: Während der Behandlungszeit, ungefähr 14 Tage, arbeitet das Surrogat als >Vollzeitpartner< mit dem Klienten, 5-8 Stunden täglich, das Surrogat wird unter keinen Umständen die Nacht mit ihm verbringen. Soziale Kontakte, wie z.B. ins Kino oder zusammen Essen gehen, sind erlaubt. 

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Der erste Kontakt dient dem gegenseitigen Bekanntwerden. Im Beisein des Therapeuten wird noch einmal über das Therapieverhalten (wichtig: Einhalten der Anonymität) gesprochen. Dann machen Surrogat und Klient zusammen einen Spaziergang oder gehen eine Tasse Kaffee trinken. Wenn sie nach einer Stunde zurückkommen, machen beide zusammen die Übung >Fuß streicheln< (foot caress) in Anwesenheit des Therapeuten. Danach kann ein Film gezeigt werden, in dem andere Streichelübungen demonstriert werden, von denen einige danach eingeübt werden können. Nach jeder Übung sprechen Klient und Surrogat mit dem Therapeuten über ihr Erleben bei den Übungen.

In den nächsten Tagen erfolgt dann unter Beobachtung des Therapeuten eine Einführung in Nacktheit. Klient und Surrogat umarmen und streicheln sich. Der Therapeut gibt Feedback. Wenn dieser Schritt erreicht ist, arbeiten Klient und therapeutische Surrogat allein im Hotelraum des Klienten. Dort werden die anderen Übungen durchgeführt, wie Streicheln und Reizen der Genitalien bis hin zum Geschlechtsverkehr. Zum Austausch mit dem Therapeuten finden zwischendurch ständig Feedbackphasen in der Klinik statt.

Nach dieser Intensivbehandlung kann die Arbeit mit dem Surrogat noch weitergehen. Der Klient trifft dann das Surrogat einmal wöchentlich im Hause des Surrogats. Beverly Engels betonte in dem Interview, daß nach dem Selbstverständnis von IPSA die Behandlung erst dann als Erfolg angesehen wird, wenn die funktionelle Störung tatsächlich verschwunden ist. Mit so vagen Formulierungen wie »es sind gewisse Fortschritte erzielt worden« oder »es geht jetzt besser« möchte sie sich nicht zufriedengeben. Sie spricht jedoch optimistisch von einer hohen Erfolgsquote (90%). 

Die IPSA führt zur Zeit mit einer Sexklinik in Los Angeles Nachfolgeuntersuchungen durch. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Sexualtherapie mit dem Surrogat sich als erfolgreich erweist. Unsere Spekulation geht dahin, daß noch eine therapeutische Weiterbehandlung darüber hinaus stattfinden muß, damit die Übertragung und Anwendung im Alltag erleichtert wird und Mißerfolgserlebnisse aufgefangen und bearbeitet werden können. 

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     3. Spiele, Übungen, Rituale    

 

Viele neuere Therapieformen verwenden in ihrer Arbeit — beeinflußt von der Verhaltenstherapie und der humanistischen Psychologie — Techniken, Übungen und Rituale.98) Die Gefahr besteht, und die heutige psychotherapeutische Szene bestätigt das, daß man aus dem Gebrauch einzelner Übungen gleich eine neue Schule kreiert oder zumindest es nicht ungern sieht, mit in den modischen Strom zu geraten. Rein eklektisch werden einzelne Techniken herausgegriffen, ohne sie in einen therapeutisch verstehbaren und kontrollierbaren Prozeß einzubeziehen. 

Wir betreiben Therapie nicht um der Techniken willen. Wir sehen ganz deutlich die Gefahren, die durch den Gebrauch der Aggressionsrituale entstehen können, wenn sie rein schematisch, nicht prozeß- und personenorientiert eingesetzt werden. 

Wir diskutierten dieses Problem mit unserem Mitarbeiter Herb Goldberg, der die Szene seit Jahren kritisch verfolgt. In seinen frühen Tagen als Therapeut hatte er ein Büro zusammen mit Arthur Janov, damals noch nicht der Urschreipapst: 

»Ich sehe es so, daß viele Therapeuten geradezu nach einem neuen Weg, einer neuen Methode hungern. Mal stoßen sie jemanden in eine Ecke, mal in die andere, mal sagen sie: <Schließen Sie Ihre Augen>. Sie bringen ständig eine kleine Variation und behaupten dann, das sei etwas Brandneues. Vieles davon scheint mir kindisch zu sein, jedenfalls hat das mit ..... -- Showbusiness-Pop-Psychologie ist lediglich manipulativ, der Therapeut schmückt sich mit einer Aura von Omnipotenz, oder einem mächtigen Energiefeld, wie man das heute nennt.« 99)

Diese Art, Therapie zu betreiben, kann einmal dazu führen, Klienten weiszumachen, sie hätten es mit einem <Psychotechniker> zu tun, der für jedes Wehwehchen eine andere Salbe hervorzaubert, oder zum anderen mit einem Mann von solcher Einfühlungsgabe (tuning in), die ihn geradezu gottähnlich macht. Solche Tricks hält man dann für Heilung. 

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Herb Goldberg präzisierte seinen Standpunkt und illustrierte ihn mit einem Beispiel: 

»Ich glaube, Techniken enthalten ein Stück Unverantwortlichkeit, wenn man sie nicht im Zusammenhang mit der Art der Einwirkung (impact) sieht, die der Therapeut auf den Klienten ausübt. Der Glaube an ein Eigenleben der Übungen ist gefährlich. Ich arbeitete zusammen mit Dr. Zaslow in St. Jose, später in Colorado. Zaslow hatte eine Technik entwickelt mit dem Namen C-process. Der Therapeut und einige Gruppenmitglieder hielten schizophrene Jugendliche mit Gewalt am Boden fest, kitzelten sie und zwangen sie so zur Konfrontation. Ich war sehr beeindruckt davon, was passierte. Es ging echt weiter in der Therapie. Aber dann starb dieser Ansatz wieder, als andere begannen, damit zu arbeiten. Selbst Zaslow vertrat anfangs die naive Auffassung, daß die Technik unabhängig von seiner Persönlichkeit existieren könne. Er ist ein guter Therapeut, sehr einfühlsam. Wenn jemand anderes diese Technik benutzte, wurde daraus ein sadistischer Akt.«  

Für uns haben Spiele, Übungen und Rituale nur eine heuristische Funktion.100) (Heuristik: Methode des Auffindens neuer Erkenntnisse.) 

Sie haben keinen Sinn in sich selbst, sie dienen lediglich als Hilfsmittel und vorübergehende Angebote an die Gruppenteilnehmer, psychische Prozesse künstlich in Gang zu setzen. Wir sind uns bewußt, daß sich seelisches Geschehen nicht durch ein paar Regeln einzwängen läßt. Andererseits bereichern Techniken unser therapeutisches Instrumentarium in Richtung neuer Anstöße und Interventionsmöglichkeiten. Wir sehen die Risiken, die solche Techniken für Quacksalber und Scharlatane haben können. Gerade für nicht ausgebildete Therapeuten oder gruppendynamisch Geschulte, die sog. Paraprofessionellen, sind Techniken eine ständige Verführung, da sie ein scheinbares Gerüst mit vielen Festhaltepunkten im sich entwickelnden Gruppenprozeß bieten. 

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Aber auch für den ernsthaft bemühten Therapeuten können Techniken und Spiele zur Falle werden, wenn er sie dazu einsetzt, Konflikte innerhalb der Gruppe mit Spielen zuzudecken, ohne prozeßorientiert zu arbeiten. Gerade diese Haltung, Techniken um jeden Preis, hat dazu geführt, Verfahren der humanistischen Psychologie in den Ruch verantwortungsloser Psychotechnik zu bringen. Tatsächlich bestehen heute vielerlei Gruppen, die nur durch die Tyrannei von Techniken, eingesetzt von meist narzißtischen Leitern, künstlich am Leben gehalten werden. Fritz Perls schreibt in <Four Lectures>: »Es ist sehr eigentümlich, daß wir Spontaneität nur erlangen können, wenn wir äußerst diszipliniert sind.«101)

Ein System von Techniken gleicht einem zweischneidigen Schwert: es kann dabei helfen, eine Bresche für die Freiheit des Sich-selbst-Erlebens und echten Ausdrucks von Gefühlen zu schlagen, es kann aber auch authentische Selbsterfahrung und Spontaneität verhindern. Viele, die bei uns am Institut in Ausbildung waren, haben diese paradoxe Erfahrung gemacht. Es treten sogar Momente auf, wo Techniken nur noch als billige Tricks (gimmicks) erlebt werden. Das passiert meistens dann, wenn in der Gruppe die Atmosphäre preußischen Schuldrills entsteht, weil der Trainer starken Druck ausübt, damit die Teilnehmer gleichsam die Übungen auswendig lernen.

Eine Vorhersage zu machen, wann eine bestimmte Übung als Trick erlebt wird, ist schwierig. Beurteilungsmöglichkeiten gibt es oft erst im nachhinein — dann ist es meist zu spät, es sei denn, der Gruppenleiter thematisiert dieses Problem —, wenn Teilnehmer sich z.B. wie Schulkinder verhalten, die dem Drill des Paukens verfallen sind. Eine Übung ist für die meisten Teilnehmer meist so neu und interessant, daß sie die augenblickliche Neugierde befriedigen kann. Das genügt jedoch nicht, wenn die Übungen nicht zu einem vertieften Erleben und Verarbeiten führen, d.h. Übungen sind wertlos und psychologisch gesehen Zeitvergeudung, wenn sie nicht klären helfen, was die Gruppenmitglieder wirklich voneinander wollen und was der persönliche Standpunkt und die Kritik sich selbst und anderen gegenüber für sie bedeuten. 

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Es gibt einige Kriterien für die >Echtheit< von Übungen: Wichtig für den Leiter ist, in der Feedbackphase nach jeder Übung das subjektive Erleben heraus­zufinden, wieweit durch die Techniken gegenseitige und gefühlsmäßige Anteilnahme ausgelöst wurde, die das Eingrenzen von Problemen, Verständnis­lücken und emotionalen Ungereimtheiten erleichtert. Wenn auch diese Feedbackphasen oft mühsam und schleppend ablaufen, sollte kein Leiter auf sie verzichten, um etwa noch ein paar Übungen mehr durchzuziehen.

Ein anderes Kriterium für die Effektivität von Ritualen sind Zeichen tiefen Betroffenseins, wie z.B. Lachen und Weinen. Gruppen, in denen ohne Tricks gearbeitet wird, erzeugen charakteristische Gruppenklänge, die manipulierte Gruppen nicht zeigen. Dirigistisch geführte und manipulierte Gruppen entwickeln keine stimulierende und inspirierende Nähe und Wärme zwischen den Gruppenmitgliedern. Wenn Gruppen sich aus Teilnehmern zusammensetzen, die sich kennen — Ehegatten, Freunde oder Arbeitskollegen —, verringert sich die Gefahr der Verflachung, da sie sehr bald merken, daß Techniken ihnen helfen, ihre Beziehungen zu vertiefen und kritische Auseinandersetzung zu fördern. 

Was in der Gruppe >künstlich< geübt wurde, können sie in ihrem spezifischen Umfeld überprüfen und sich das >einverleiben<, was ihnen wirklich weiterhilft, indem sie sich gegenseitig kontrollieren. Vielleicht, weil so viele unserer gesellschaftlichen Regeln repressiven Charakter haben, betrachten viele Gruppenteilnehmer das Wort >Regel< mit Skepsis. Zudem gehören die Begriffe Spontaneität und Kreativität heute zum modischen Repertoire jedes dynamisch Progressiven. Wir können diese Einstellung verstehen, da unsere tägliche Existenz mit viel Routine und Regeln belastet ist, die Spontaneität und Kreativität verhindern. Wir stimmen mit Perls überein, daß Spontaneität Disziplin verlangt. Übungen und Regeln im Gruppenprozeß sind dann legitime therapeutische Werkzeuge, wenn sie echte Interaktion und persönliche Selbstentfaltung fördern: Gerade die Bewunderer versponnener Spontaneität und des permissiven >laissez-faire< können durch wohldosierte Programmierung lernen, seelischen Stillstand zu überwinden.

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    4. Therapie findet nicht im Glashaus statt    

 

»Früher stand ich so zu den Menschen: wenn ich ihre Worte hörte, so glaubte ich an ihre Taten. Jetzt stehe ich so zu den Menschen: ich höre ihre Worte, und dann sehe ich nach ihren Taten.«102) Diese Worte aus dem Mund von Kungfutse treffen exakt einen kritischen Punkt jeder Therapie: welche Möglichkeiten hat der Therapeut, die Übertragung des in der Therapie Erarbeiteten in den Alltag zu beeinflussen.103) 

Als Kriterium für die Effizienz einer Therapie interessiert uns nicht so sehr, was und wie der Klient denkt, sondern wie er sich tatsächlich verhält. Viele Therapeuten, die sich der humanistischen Psychologie verpflichtet fühlen, überprüfen ähnlich den Verhaltens- und Realitätstherapeuten den Transfer in den Alltag mit situations- und personen­spezifischen Übungsangeboten (>Hausaufgaben<), die während der Woche durchzuführen sind, denn auch zwischen den Sitzungen — und vielleicht gerade da — findet Therapie statt. Zumindest ist die Zwischenzeit der eigentliche Prüfstein, wieweit eine Therapie tatsächlich Einwirkungsmöglichkeiten hat. »Um zu beweisen, daß ein Pudding gut ist, muß man ihn essen.«

Wenn auch einiges dafür spricht, daß vor allem gruppentherapeutische Settings so etwas wie einen >Mikrokosmos des Lebens< produzieren, so weisen doch unsere klinischen Erfahrungen immer wieder darauf hin, daß Gruppe und Alltagsleben zwei Paar verschiedene Schuhe sind. Gruppen entwickeln — wie schon beschrieben — eine eigene, ihnen immanente Organisationsform. In der Therapie erlernen die Mitglieder gleichsam eine neue >Sprache<: sie schärfen ihre Sinneswahrnehmungen, bringen ihr Denken, Fühlen und ihre Absichten in andere Sinnzusammenhänge und üben neue Verhaltensweisen ein. Wenn sie sich dann mit dieser neuen >Sprache< auf andere losstürzen, kann das oft zu ernsthaften Kommunikations­störungen führen. 

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Wir sehen diese Gefahr vor allem bei der Einzeltherapie, wo Therapeut und Klient in der Zweisamkeit eine Sprache entwickeln, deren Gebrauch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Hier führt die >Sprache< des Nicht-sprechen-Dürfens zu Verständigungslücken, besonders dann, wenn der vorgeschickte oder identifizierte Patient als Störfaktor eines Systems (z.B. Familie) angesehen wird. Deshalb sollte unserer Meinung nach auch jeder Einzeltherapeut den >ökologischen Kontext<104 des Individuums mit einbeziehen. Damit meinen wir, daß die Verhaltensweisen von Individuen zu einem großen Teil von der Struktur des Systems (wie lebt die Familie zusammen) beeinflußt sind.

>Hausaufgaben< erleichtern die Übersetzung der neuen >Sprache< in den Alltag. Ihre Funktion besteht darin, neben Hilfestellung Klient und Therapeut Kontrollmöglichkeiten an die Hand zu geben: die Therapie wird so ins Alltagsleben hinaus verlängert. Schwierigkeiten können dann während der Therapie thematisiert werden und Verhaltensweisen weiter zur Vorbereitung auf und zur Einübung in die Wirklichkeit modifiziert werden.

 

Aus der Erfahrung der Gruppentherapie und unseren Aggressionslaboratorien haben wir einige Richtlinien entwickelt, welche die Durchführung von Aktionsprogrammen während der Woche begünstigen:105) 

  

1. die <Hausaufgaben> sollen so konkret und spezifisch wie möglich sein. Allerweltsvorsätze helfen nicht weiter. Einzelne Handlungsschritte sollen »vorprogrammiert« werden. Beispiel: jemand hat Schwierigkeiten mit dem Aufstehen: er wird seinen Wecker ins Nebenzimmer stellen, aufstehen, wenn er rappelt, den Wecker abstellen, dann zum Briefkasten gehen, die Zeitung holen, danach zur Toilette (nicht mit der Zeitung ins Bett) und dann seinen Freund anrufen, der sich darauf verläßt, von ihm geweckt zu werden.

2. Mit eigenem Widerstand und dem Unwillen anderer müssen Sie rechnen. Entscheiden Sie sich, es trotzdem zu versuchen, das ist der einzige Weg, über den Widerstand hinwegzukommen.

3. Hüten Sie sich vor manipulativer Künstlichkeit, wenn die vorgeschlagene Übung nicht zu Ihnen paßt. Wenn die Aufgabe zum Trick wird, ist sie wertlos.

4. Bedenken Sie, daß Leute im täglichen Leben nicht Ihre Therapie- oder Gruppenerfahrung haben. Verhalten Sie sich deshalb informativ, spielen Sie nicht mit gezinkten Karten. Wenn Sie für Ihre Aufgabe jemand anderen brauchen, teilen Sie ihm mit, daß Sie auf seine Kooperation angewiesen sind, oder bringen Sie die Übung in einen akzeptablen Kontext, d.h., überfallen Sie den Partner nicht mit ihm fremden Techniken.

5. Seien Sie >egoistisch< mit Ihren Hausaufgaben, wenn Sie merken, daß Sie Ihre zentrale Problematik berühren. Gönnen Sie sich eine Freude, wenn Sie eine Aufgabe gemeistert haben. Aber vermeiden Sie, Partner zu überladen, dadurch gerät leicht die ursprüngliche Absicht der Übung ins Abseits. Sie schaffen sich einen zusätzlichen Konflikt. 

   

Was wir schon zu den Übungen und Ritualen gesagt haben, gilt auch für die (manchmal lächerlich wirkenden) Hausaufgaben: sie haben keinen Sinn in sich selbst, ihre Bedeutung kann nur im gesamten therapeutischen Sinnzusammenhang gesehen werden. Für sich genommen können einige Aufgaben horrenden Unsinn produzieren.

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   5. Handeln und Riskieren   

 

Ein Einwand, dem schon das Psychodrama Morenos ausgesetzt war, lautet: Rollenspiele, Übungen, Techniken und Rituale sind zu künstlich, die Leute tun nur so »als ob«.106) Das ist nicht ihre Wirklichkeit. Wenn diese Haltung von Gruppenmitgliedern gegen Übungen geltend gemacht werden, kann es vorkommen, daß wir sie bitten, sich auf ein Experiment einzulassen. Vor jedem solcher Experimente fragen wir die Teilnehmer ausdrücklich um Erlaubnis, mit ihnen diese Übung durchführen zu dürfen: »Sind sie bereit, sich auf folgende Übung einzulassen.« 

Der Teilnehmer soll sich in Selbstverantwortung entscheiden. Bei Ehepaaren machen wir häufig die Erfahrung, daß beide Partner behaupten, sie könnten nie in expressiver Weise ihren Ärger und ihre Wut aneinander auslassen. Sie lehnen es entschieden ab, beispielsweise auch nur die Batacas (Schaumstoff­schläger) anzufassen. Unser Vertrag lautet dann, falls die Paare sich darauf einlassen: »Tun Sie mal so, als ob Sie riesige Wut aufeinander hätten.« 

Wir erklären die Regeln, machen die Gruppe darauf aufmerksam, daß sie die Schiedsrichterfunktion hat, daß die Regeln eines fairen Batacakampfes eingehalten werden. Dann geht's los. Wir erleben dann oft, daß beide oder nur ein Teil in echten, tiefen Zorn gegeneinander ausbrechen. Dieser Kunstgriff des »als ob« half die gegenseitige Wut erlebbar zu machen und zumindest für den Augenblick den Widerstand beider Partner zu brechen. Dadurch bekommt die expressive Wut einen anderen Kontext. Aus diesem Kontext heraus können wir dann mit dem Paar und der Gruppe zusammen neue Lösungsstrategien erarbeiten.

Oder wir benutzen die <Als-ob>-Technik dazu, daß Klienten erst mal bestimmte dysfunktionale Gefühle akzeptieren, aber gegenläufig handeln. Wenn eine Frau z.B. darüber klagt, daß sie ängstlich ist, schlagen wir ihr vor, so zu tun, sich so zu verhalten, als sei sie mutig und gelassen. 

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Dabei muß man den Zusammenhang von Zeit, Ort und Inhalt beachten, in dem das >Handeln als ob< steht: Der Klient wählt eine spezifische Situation (hier und jetzt in der Gruppe), in der er üben will, gegensätzlich zu seinen Gefühlen zu handeln. Er wird ermutigt, diese Verpflichtung (commitment) sich selbst gegenüber in Gegenwart des Therapeuten, der Familienmitglieder oder anderer ihm wichtiger Personen (significant others) einzugehen. Diese Personen können zu Verbündeten beim Prozeß der Veränderung werden, indem sie die Verhaltensänderung verstärken und dabei das Recht des Individuums akzeptieren, zu seinen Gefühlen zu stehen.

Dazu ein Fallbeispiel aus einer Ehepaartherapie:107)

Mark und Laura lebten in einer festen Beziehung und wollten diese Beziehung auch aufrechterhalten, doch ihr Appetit nach gegenseitiger Sexualität zeigte drastische Unterschiede. Mark war ganz zufrieden mit gelegentlichem Sex, während seine Partnerin Laura auf häufigeren Sexualverkehr pochte. Manchmal wurde ihr Marks zeitweiliges Desinteresse bewußt, und das löste in ihr Ängstlichkeit und Zweifel aus bezüglich ihrer eigenen sexuellen Attraktivität. Sie redete sich selbst ein, sich nicht so dumm anzustellen, denn es gäbe wirklich keinen Grund, sich zu ängstigen. Sie begann sich vorzustellen, daß sie zurückgewiesen würde, wenn sie Mark um mehr Sex bitten würde, und um sich selbst diese Demütigung zu ersparen, fragte sie dann tatsächlich auch weniger. 

Ihre Ängstlichkeit über ihre eingebildete unzulängliche Anziehungskraft stieg so sehr, daß sie von sich aus darauf verzichtete, überhaupt noch sexuellen Kontakt zu initiieren. Sie entschloß sich, eine Eheberatungsstelle aufzusuchen. Nach zwei Sitzungen mit dem Eheberater und Therapeuten, in denen sie ihre Annahmen über Marks Gefühle zu sich sortierte, lud sie ihn ein, als ein »Verbündeter in Sachen Veränderung« an einer Sitzung teilzunehmen. Mark stimmte zu. Laura verpflichtete sich in seiner und des Therapeuten Gegenwart, daß sie bereit sei, im Widerspruch zu ihren ängstlichen Gefühlen so zu handeln, als ob sie ihm vertraue. Sie wollte sich so verhalten und handeln, als ob sie zu seinem sexuellen Interesse und ihrer sexuellen Attraktivität Vertrauen habe und mit ihm Sex haben wolle, wann sie Lust dazu habe. 

Als sie zusammen mit ihm ihre Annahmen über seine Gefühle zu ihr überprüfte, versicherte er ihr, daß er sie auch sexuell sehr gerne hätte und sie sehr attraktiv fände. Er versprach, ihren sexuellen Wünschen bewußt Aufmerksamkeit zu schenken. Er sei fest dazu entschlossen, ihr auch mitzuteilen, wie sehr er sich freue, wenn sie sexuell nach ihm verlange. Zusätzlich entschlossen sie sich, durch Bücher und weitere Beratung sich über sexuelle Variationen zu informieren, die sie möglicherweise alternativ zum Geschlechtsverkehr gemeinsam anwenden könnten. Damit war das Problem natürlich noch nicht gelöst. Doch Lauras sexuelles Kommunikationsproblem hatte einen anderen Stellenwert erhalten, ihre Besorgnis stand dadurch in einem neuen Zusammenhang. Im neuen Kontext des Vertrauens konnte sie ihre Ängstlichkeit, die sie in die Isolation trieb, mit Hilfe weiterer therapeutischer Beratung überwinden. Aus ihrem <Als-ob>-Handeln wurde ein vertrauensvolles und partnerschaftsbezogenes Handeln.

Watzlawick 108) und seine Mitarbeiter nennen diesen paradoxen Interventionsprozeß »die sanfte Kunst des Umdeutens« (reframing). Diese Übersetzung trifft nicht ganz den Kern: es geht darum, einen neuen begrifflichen und/oder emotionalen Bezugsrahmen herzustellen. Um dies mit Klienten erfolgreich zu tun, kommt es nicht darauf an, Einsicht zu produzieren, sondern eher ein <anderes Spiel zu lehren>. 

Daß Einsicht jedoch überhaupt nicht zu Lösungen von Problemen beiträgt (<wenig oder fast gar nichts>),109) darin können wir nicht mit Watzlawick übereinstimmen. Hier scheinen er und seine Mitarbeiter Opfer ihrer eigenen Einsicht geworden zu sein. Wir glauben, daß kognitive Verarbeitung (cognitive reconstruction) zwar allein völlig unzureichend ist, aber mit zum therapeutischen Prozeß gehört. 

Was die therapeutische Theorienbildung angeht, stimmen wir ihnen darin zu, daß es heute nicht mehr um interessante neue theoretische Erklärungen oder Spiegel­fechterei rivalisierender Schulen geht, sondern therapeutische Effizienz muß nach den praktischen Ergebnissen beurteilt werden, die innerhalb verschiedener therapeutischer Richtungen erzielt werden.

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