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  Teil 5  von Bach/Molter 1976 

5.2    5.3    5.4

 

5.1. Annäherung der Gegensätze in der Psychotherapie?

 

134-151

Trotz der schon bestehenden <Therapie-Inflation> hat es gerade in letzter Zeit immer wieder marktschreierische Versuche gegeben, den einzig richtigen Weg — <die Wahrheit> therapeutischer Veränderungs­möglich­keiten und der Heilung — zum Dogma zu erklären. 

Einige stehen auf Entspannungstraining und Meditation, andere suchen <ihr> Heil im Fegefeuer des Urschreis wie Arthur Janov, der aus der Tatsache, daß es so viele Abspaltungen gibt, den Schluß zieht, die Primärtherapie sei die einzige Heilmethode für psychische Krankheiten. Ganz unschuldig schreibt er: »Doch nicht ich bin intolerant: die Primärhypothese ist es.«(110)

Und weiter: »Das impliziert, daß damit alle anderen psychologischen Theorien widerlegt sind und als überholt zu gelten haben. Es bedeutet, daß es nur eine einzige gültige Methode zur Behandlung von Neurosen und Psychosen geben kann.«

Anhänger der <Körpersprache> verwenden alle Energie darauf, die Körperhaltung, den <Charakterpanzer> und muskuläre Aktivität zu reorganisieren. Psycho­analytiker setzen beim Durcharbeiten der Probleme auf den Gewinn von Einsicht. Verhaltenstherapeuten glauben die Welt verändern zu können durch Modifizieren von Verstärkungs­kontingenzen. 

Diese Darstellung ist sicherlich etwas überzogen, doch vor allem in der theoretischen Auseinandersetzung zieht man sich doch immer wieder hinter Schul­meinungen zurück: »Die einzelnen psycho­therapeutischen Schulen betonen — nicht zuletzt, um sich voneinander abzugrenzen — sehr die für sie jeweils charakteristischen Momente ihrer Theorien und Behandlungsverfahren. Dabei bleiben die gemeinsamen Züge, die allgemeinen oder nicht-spezifischen Wirkfaktoren des psychotherapeutischen Feldes häufig unbeachtet und unreflektiert.« 111) 

* (d-2011): Janov, Arthur  50, 134, 155, 166f., 170f. 


Theoretisch brauchbar hat sich die kommunikations-theoretische Analyse erwiesen, wie sie unter dem Einfluß von Bateson, D.D. Jackson und seiner Nachfolger in Palo Alto, Kalifornien, entwickelt wurde und in Deutschland u.a. von dem Kommunikations­therapeuten-Ehepaar Mandel und seinen Mitarbeitern aufgegriffen wurde. Weitere Ansätze zeigen sich in dem Versuch, Familientherapie in Deutschland zu etablieren und in der Arbeit des von Hilarion Petzold gegründeten »Fritz Perls Institutes« auf dem Wege zu einer <integrativen Therapie>.

Theoretisches und praktisches Arbeiten auf dem Gebiet der Psychotherapieforschung befindet sich noch im Embryonalzustand. Es bleibt nur zu hoffen, daß die ersten fruchtbaren Ansätze nicht von Interessenkonflikten zerstört werden. Arnold Lazarus, der mit Wolpe zusammen zu den Begründern der wissen­schaft­lichen Verhaltenstherapie zählt, hat aus dieser Einsicht heraus ein multimodales Therapiekonzept entwickelt, das wir hier kurz vorstellen wollen, weil sich darin viele Ansätze und Anregungen der humanistischen Psychologie widerspiegeln.

Lazarus hält den ahistorischen Ansatz der Verhaltenstherapie nicht mehr für ausreichend. Auf dem <Kongreß für Verhaltensmodifikation>, Oktober 1975 in Los Angeles, sagte er wörtlich: »Eine Therapie, die Zukunft und Vergangenheit außer acht läßt, ist eine unvollkommene Therapie.«111a) Folgende Modalitäten müssen seiner Meinung nach — sei es in Einzel- oder Gruppentherapie — bei der Behandlung berücksichtigt werden: Empfindungen (sensations), Wahrnehmung (perception), Erkennen (Cognition), Verhalten (behavior) und zwischenmenschliche Beziehungen (interpersonal relationships).

Im Bereich der Empfindungen kann der Therapeut mit Entspannungs- und Atemübungen (z.B. autogenes Training), Biofeedback und anderen Verfahren wie Bioenergetic oder Rolfing arbeiten, die auf direktem Wege körperliche Begleiterscheinungen wie Verspannung, Ängstlichkeit und Nervosität angehen. Die Modalität des Erkennens dient der Überprüfung der Phantasien und Imaginationen des Klienten. Der Therapeut kann dabei auf ein großes Repertoire von Übungen zurückgreifen, die in Kreativitätstrainings entwickelt wurden.

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Im Bereich der Affektivität oder der emotionalen Zone beschäftigen sich Therapeut und Klienten mit der Art und Weise, wie Klienten mit Ärger, Ängstlichkeit und Depressionen umgehen, mit dem Ziel, unangenehme oder negative in positive und konstruktive Gefühle umzuwandeln. Die kognitive Modalität zielt auf Einstellungen, Entscheidungen, Werte und Glaubenssysteme, um die irrationalen Komponenten daran zu verändern. Bei der Verhaltens­modalität konzentriert sich das therapeutische Vorgehen auf nicht angepaßte Reaktionen (maladaptive responses) und versucht, neue Verhaltensmuster verfügbar zu machen, um Störungen im Verhaltensrepertoire auszuschließen. Schließlich befaßt sich die Therapie im zwischenmenschlichen Bereich damit, daß die meisten emotionalen Probleme Produkt der wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen sind. Diese Probleme werden oft dadurch am Leben gehalten, wie andere Leute darauf reagieren.

Die klinische Konsequenz aus diesem Ansatz, kein Stein darf unberührt liegenbleiben, führt zu einer allumfassenden therapeutischen Intervention. Wenn auch Veränderungen innerhalb eines Bereiches Auswirkungen auf alle anderen Modalitäten haben, sollte der Therapeut doch auch allen anderen Modalitäten Beachtung schenken, wenn er eine anhaltende Veränderung erreichen möchte.

Innerhalb der humanistischen Psychologie — wo dieser Weitblick ja selbstverständlich sein sollte — findet dieser methodische Austausch in der Praxis der Therapeuten statt: TA-Therapeuten verwenden z.B. Gestalttechniken, Aggressionsrituale und Körperübungen, Gestalttherapeuten betreiben Scriptanalyse usw. Nicht so gut bestellt ist es mit der theoretischen Verarbeitung therapeutischer Praxis — sie scheint uns oft zu anekdotenhaft. Mit hinzu kommt, daß viele Therapeuten der humanistischen Bewegung sich für kleine <Götter> halten und sich bei dieser <Guruitis> ganz wohl fühlen, ja diese Mystifizierung sogar pflegen. 

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5.2 - Nicht jede Gestalt ist eine gute Gestalt — 
Grenzen der Selbstverwirklichung in der humanistischen Psychologie 

 

Wie wichtig theoretische Bearbeitung und Festlegungen für therapeutische Richtungen sind, zeigt sich exemplarisch an der gegenwärtigen Situation der Gestalttherapie im Feld der humanistischen Psychologie. Das Problem mit Gestalt ist, daß es noch keine <Gestalt> gibt, wir meinen damit eine verbindliche, von allen Gestalttherapeuten anerkannte Theorienbildung. In unseren Gesprächen mit Gestalttherapeuten klang das, wenn auch in unterschiedlicher Stärke, immer wieder durch. Zudem zeigt sich gerade bei den Gestalttherapeuten ein immer stärkerer Trend, andere Ansätze in die Praxis mit einzubeziehen, z.B. Transaktionsanalyse, Bioenergetik, Tanz und Theater. 

Wir müssen offen sagen, daß unser Eindruck über die gestalttherapeutische Praxis sehr gemischt ist. Mit ein Grund dafür ist, daß fehlende klare theoretische Festlegungen kaum eine Kontrollierbarkeit (was ist noch Gestalt, was ist Unsinn) zulassen. Das erschwert auch der ersten und zweiten Gestalt­therapeuten­generation, ihre Arbeit an die jüngeren Nachfolger weiterzugeben. Unserer Meinung nach genügt es nicht, an ein paar Gestalt­werkstatt­seminaren teilzunehmen, um als Gestalttherapeut durch Städte und Dörfer zu ziehen. Der Gestalttherapeut Ulrich Schurrmann, der in der BRD Gestalt-Seminare für Kollegen anbietet, mußte schon öfter die Erfahrung machen, daß nach einem seiner Seminare plötzlich eine kleine Gestalt­therapie­inflation hereinbrach. Auch Hilarion Petzold vom <Fritz Perls Institut> (FPI) Düsseldorf beklagte diese Situation und wies mit Recht auf das vom FPI erarbeitete Ausbildungskonzept hin, das eine kontinuierliche Kontrolle gewährleistet.113) 

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Wir schätzen unter den Praktikern der Gestalttherapie jene Leute, die in der Lage sind, nicht analytisch, sondern existenziell im >Hier-und-Jetzt< die Klienten zu einer Schärfung des Bewußtseins (awareness) zu führen: dabei geht es um das >Wie< und >Was< und nicht um das >Warum<: Was macht der Klient und wie macht er es, um sich eine Neurose anzuschaffen. Dabei geht der Therapeut davon aus, daß der Klient >gesund< genug ist, seine >Krankheit< selbst zu >heilen<. (Gesundheitsmodell der humanistischen Psychologie) Anstatt den Klienten noch weiter in Vergangenheit und Gegenwart, Seele und Körper aufzuteilen, versucht der Therapeut, den Klienten durch Konfrontation mit sich selbst dahin zu führen, daß er seine Störungen und Lücken schließen kann und sich im »Bewußtheitskontinuum« (continuum of awareness) als Ganzer erleben kann (Integration).

Aber unter den Gestalttherapeuten gibt es auch viele traurige Gestalten, <Möchte-Gern-Perls>, die sich Bart und Haare wachsen lassen und sich dann als therapeutische Freigeister (»I do my own thing«) auf die Menschheit stürzen. »Ich mache meine Sache« dient dann als Rechtfertigung, sich nicht in den therapeutischen Prozeß der Verwandlung miteinzubeziehen. Kritikern, die auf die Schädlichkeit solcher Verantwortungslosigkeit hinweisen, halten sie entgegen: »Das ist das Problem der Leute, nicht mein Problem. Es ist doch ihre Verantwortung, wenn sie zu mir in die Therapie kommen, ich kann keinem helfen.«

Der Gestalttherapeut Karl Vööbus, ein langjähriger Freund Fritz Perls, mißbilligt diese Haltung der <Gestaltklempner>: 

»Das darf aber nicht zu einem indifferenten Standpunkt führen. <Wer wirklich an sich arbeiten will, wird schon bald herausfinden, was echt und was hohl ist> (Iljine). Das ist sicher nicht falsch, aber es genügt nicht. Gestaltisch leben heißt, aggressiv leben, direkt auf die Dinge zugehen. Die Organismus-Umweltverbindung ist ja eine dynamische, d.h. aber, daß die Umwelt auch durch die Aktivitäten des Organismus gestaltet und verändert wird. Dieses Faktum der Veränderung bzw. der Veränderbarkeit äußerer Gegebenheiten, das Paul Goodman immer wieder betont hatte, ist leider in der Personzentrierung des gestalttherapeutischen West-Coast-Stils untergegangen.« 114) 

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Vööbus' Kritik kann man verallgemeinern und auf die humanistische Psychologie beziehen. An der humanistischen Psychologie orientierte Therapeuten bringen in die Therapie ihre eigene Persönlichkeit mit ein. Darin liegen Chancen und Begrenzungen. Eine solche Therapie dient auch der Persönlichkeit des Therapeuten. Wir können das an der vom Seniorautor entwickelten <therapeutischen> Aggression verdeutlichen: 

»Ich entwickelte diese therapeutische Haltung, um mein eigenes Verhalten selbst besser in den Griff zu bekommen. Ein weiterer Grund war, ich konnte mit einigen Institutionen nicht konform gehen. Das Problem der zwischenmenschlichen Aggression betraf direkt meine eigenen Beschränkungen und sozialen Fertigkeiten. Die Auseinandersetzung mit Aggression im therapeutischen und alltäglichen Bereich trug dazu bei, diese spezifischen Umgangsschwierigkeiten zu normalisieren.«115) 

Andererseits können Therapeuten bei dem Vertrauensvorschuß, der ihnen meistens von den Klienten entgegengebracht wird, leicht dazu verführt werden, ihre eigenen Schwächen zum therapeutischen Instrument hochzustilisieren oder bewußt/unbewußt die Annahme ihrer Lebensphilosophie als Kriterium für therapeutischen Erfolg werten. Das kann zu einem Narzißmus führen, der sich selbst genügt und jedes soziale und politische Engagement verhindert. 

Aus einer Esalengruppe dazu ein paar erhellende Sätze eines Gruppenleiters: »Es ist doch schön, wenn Du unglücklich bist, steh zu Deinem Gefühl. Du bist, weil Du bist, das wirst Du sein, und außerdem, wenn Du nicht Du selbst bist, wer sonst wirst Du sein. Wir sind im Zeitalter des Aquarius, das ist die Zeit, wo Du Dein Selbst sein kannst, die eigene Schönheit lieben und mit Deinem eigenen Lebensfluß gehen kannst. Du mußt kapieren, die einzig wichtige Sache ist im jetzigen Augenblick zu leben, das ist der Trick.«

Ein Gruppenteilnehmer erwiderte: »Du mußt mit dem Zeitalter-des-Aquarius-Quatsch aufhören. Wenn das das Zeitalter des Aquarius ist, dann sind wir ganz schön beschissen dran. Nixon hat uns reingelegt, Ford legt uns rein und wir lassen Kissinger hereinlegen, wen immer er möchte.«

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Überlegen antwortete der Gruppenleiter: "Ich verstehe nichts von Politik, aber auch gar nichts, daher hab ich auch nicht das Gefühl, daß ich herein­gelegt werde. Das gehört nicht zu meiner Realität, also trifft es nicht zu für mich."116)

Ein anderes kritisches Beispiel betrifft Abraham Maslows Selbstverwirklichung, ein typisches Merkmal der Mittel- und Überschichtsideologie in den USA. Eine von Maslows Grundthesen ist,117) daß der Mensch von Natur aus von einer Bedürfnishierarchie motiviert wird, die nach Befriedigung strebt; erst wenn die tief erliegenden Bedürfnisse befriedigt sind, zeigt sich ein Streben nach höheren Bedürfnissen. Auf der untersten Stufe der Grundbedürfnisse stehen die physiologischen Triebe (Hunger, Durst usw.), auf der nächsten Stufe die Sicherheitsbedürfnisse wie Stabilität, Abhängigkeit, Schutz, Freisein von Furcht, Angst und Chaos, die Notwendigkeit von Struktur, Ordnung, Gesetz und Beschränkung. 

Dann folgen die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe und an vierter Stelle die Bedürfnisse nach Selbstwertgefühl und Anerkennung durch andere. An der Spitze der Bedürfnisse steht das Streben nach Selbstaktualisierung, großes Ziel und leider oft nur Schlagwort der humanistischen Bewegung. Maslow versteht darunter eine ständige Aktualisierung von latenten Fähigkeiten und Talenten, um so zu einer besseren Kenntnis und Annahme der inneren menschlichen Natur zu gelangen. Das Wesen dieser Natur ist es, daß sie niemals aufhört, nach Einheit, Integration und Zusammenwirken in der Person zu streben.

In diesem Zusammenhang scheint uns interessant, daß Maslow in der Phase, als er seine Thesen zur humanistischen Psychologie entwickelte, ökonomisch ziemlich unabhängig war, er sich also um die Grundbedürfnisse nicht mehr kümmern mußte. Für Leute, die täglich um Nahrung, Wohnung und Arbeit kämpfen müssen, bleibt keine Zeit und Muße, darüber hinauszugehen, sich im Maslowschen Sinne selbstzuverwirklichen. Hier sehen wir einen der Gründe, warum die humanistische Psychologie bisher gesellschaftlich so wenig Einfluß nehmen und Veränderungen einleiten konnte.

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Viele humanistische Psychologen und ihre Gefolgschaft haben aus der Selbstverwirklichung den Schluß gezogen, daß sie anderen überlegen sind, sie lassen dabei völlig außer acht, daß Unterdrückung ein Faktor bei psychologischen Leiden isf, und ignorieren dadurch den politischen Stellenwert ihrer Arbeit. Ganz scharf formuliert wird dieser Vorwurf von den Vertretern der radikalen Therapie. Sie fordern gesellschaftliche Kontrolle über therapeutisches Arbeiten. Ihr Ziel ist, die oppressiven Praktiken der etablierten Psychiatrie und Psychotherapie und die künstlich aufrechterhaltene Mangelsituation therapeutischer Versorgung zu entmystifizieren.118) 

Sie bescheinigen Perls z.B., daß er eine radikale therapeutische Methode entwickelt habe, sich aber politisch liberal verhalten habe, den gesellschaftlichen Bedingungen nicht Rechnung getragen habe. Sicher ist, daß Perls seinen Nachfolgern kein leichtes Erbe hinterlassen hat. Perls, der erst durch Esalen Popularität gewonnen hat, geriet in den Zeitgeist der 6oer Jahre und wurde zum Prophet des Individualismus. Sein Gestaltgebet zierte die Schlafzimmer­wände vieler Ehepaare: 

»Ich tu, was ich tu; und du tust, was du tust. 
Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben.
Und du bist nicht auf dieser Welt, um nach den meinen zu leben. 
Und wenn wir uns zufällig finden — wunderbar.
Wenn nicht, kann man auch nichts machen.« 119) 

Auf den Postern, die man heute kaufen kann, fehlt der letzte Satz. Perls Verteidiger sagen, dieser Satz stamme nicht von ihm. Jerry Greenwald,120) Gestalttherapeut in Malibu, sagte in einem Interview mit uns, daß Perls zwar von diesem individualistischen Zeitgeist angesteckt gewesen sei, aber er habe Esalen verlassen, weil ihm die ganze Mystifizierung des Individuums, wie sie in Esalen Ende der sechziger Jahre begann, nicht mehr paßte. Ähnlich äußerte sich Hilarion Petzold.121)

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Während den <Gestaltklempnern> dieser Slogan als willkommene Rechtfertigung gilt, Quacksalberei und Scharlatanerie zur Bestätigung ihres Ego an Klienten und Wachstumsgruppenteilnehmern auszuüben, suchen die klinisch orientierten Gestalttherapeuten dieser >Ver-Ichung< gegenüber klare Grenzen zu ziehen. Ruth Cohn, die Perls <einen subtilen Psychoanalytiker> nennt, »der frühe Fixierungen aufgrund seines Einfühlungsvermögens und seines Wissens intuitiv erkannte«, setzt sich mit dem Perlsschen Gestaltslogan kritisch auseinander: 

»Dieser Slogan hat sich gegenüber der verbreiteten irrationalen Forderung, daß mein Partner so sein muß, wie ich ihn haben will, und sein Leben nach meinen Erwartungen einrichten muß, als hilfreich erwiesen. Und doch trägt er zugleich — und darin liegt die Gefahr — das Streben nach einem autistischen Scheuklappen-Egoismus in sich. Interessant ist die Tatsache, daß der letzte Satz des Postertextes, >wenn nicht — kann man auch nichts machen< nicht in die Sprache der Gestalttherapie paßt. Die Sprache der Gestalttherapie schließt >es ist< und >kann nicht< und viele >wenns< aus.«122) 

Wir können Leuten nur empfehlen, die sich in Gestalttherapie begeben — grundsätzlich gilt das für jede Therapie und jeden Therapeuten —, kritisch zu überprüfen, ob der Therapeut seine >Sache< abzieht oder sich der >Sache< des Klienten widmet. Um eine der Verheißungen der humanistischen Psychologie (authentisch und frei von Zwängen) noch ein wenig näher auszuleuchten, machen wir noch einen kleinen Exkurs über die psychische Befindlichkeit der Mittelschicht in der amerikanischen Gesellschaft.123) 

Das moralische Selbstverständnis der Mittelschicht ist an politische und ökonomische Doppelbindungen (double binds) gekettet. Die Mittelschicht steht in dem Ruf, ein gutes Leben und Auskommen zu haben, aber um gute Sozialleistungen zu bekommen, reicht es nicht. Sie sind nicht wirklich verarmt, doch immer am Rande des Bankrotts, bei dem Versuch, statusgemäß zu leben, z.B. ihren Kindern eine Collegeerziehung zu finanzieren. Von ihrem Einkommen her sind sie nicht berechtigt, Sozialhilfe zu empfangen. 

Verallgemeinernd kann man sagen, daß die Amerikaner sich in einem Gesellschaftssystem befinden, das auf seine Fahnen die Freiheit des Individuums geschrieben hat, sie aber zwingt, größtenteils als Konformisten zu leben. Das ist ein verrücktmachender Mechanismus einer Gesellschaft, die Überfluß und Freiheit propagiert. Dieses Problem der Doppelbindung ist deshalb eine Zwickmühle , weil man mit Problemen beladen ist, die man eigentlich gar nicht haben dürfte. Von außen ist keine Lösung zu erwarten, man verrennt sich.

Die >Harris-Umfrage< hatte als Ergebnis einen absoluten Hochpunkt der Demoralisierung des Vertrauens in öffentliche und private Institutionen. Unter anderem sprach Harris, Leiter der Umfrage, auf der Konferenz der Bürgermeister in San Francisco im Juli 1975 davon, daß das Vertrauen der Bevölkerung in Ärzte von 72% auf 45% zurückgefallen sei; in höhere Ausbildung von 61% auf 33%; ins Militär von 62% auf 29%; in die Presse von 21% auf 16%; in die Geschäftswelt von 55% auf 18%; in den Kongreß von 42% auf 13% ; in die Regierung von 42% auf 16%.

Diese allgemeine Demoralisierung ist ein Faktum, keine Spekulation. Die Explosion psychologischer Dienstleistungen muß in diesem Zusammenhang gesehen werden: im <Psychoboom> kann man sich durch den Einkauf von <Selbstverwirklichung> und bewußtseinserweiternden Methoden eine Privatwelt mit wenigen persönlich wichtigen Bezugspersonen verschaffen. 

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    5.3 - Körpertherapien: Wir sind unser Körper   

 

Eine neue Bewegung breitet sich auf dem Gebiet der Psychotherapie aus: die Körpertherapien — alte Weisheiten in neuer Verpackung.124) Die mit dem Beginn der Psychotherapie (Freud) bestehende Tendenz, psychische Störungen durch <Sprechen> zu beeinflussen, ließ auch weiterhin die Spaltung in Körper und Seele und daher auch in zwei Heilberufe — ein Doktor für den Körper, einen anderen für die Seele — bestehen. 

In den zwanziger Jahren begannen Schüler Freuds (Rank, Groddeck, Ferenczi, Reich125) die <reine> Psychotherapie zu verlassen und ihr Hauptaugenmerk auf die Identität von Seele und Körper zu richten. Ferenczi versuchte mit seiner >Bioanalyse< Kenntnisse der Psychoanalyse auf Tiere, Organe, Organteile und Gewebeelemente zu übertragen. Groddeck faßte den Körper als das eigentliche Unbewußte und Es auf.

Reich schreibt über seine charakteranalytische Vegetotherapie: »Ihr Grundprinzip ist die Wiederherstellung der biophysischen Beweglichkeit durch Auflösung der charakterlichen und muskulären Erstarrungen (>Panzerungen<).«126) Reichs Begriff der <biophysischen Energie> wurde zum Ausgangspunkt der Bioenergetik. (»Jede muskuläre Verkrampfung enthält die Geschichte und den Sinn ihrer Entstehung.«)127 

Die gegenwärtigen bioenergetischen Therapien, deren Hauptvertreter neben Stanley Keleman und Norman O. Brown der in New York arbeitende Alexander Lowen128) ist, wenden in ihren Werkstattseminaren und therapeutischen Sitzungen körperliche Übungen, Streß-Positionen und Bewegungsabläufe an, ohne dabei zu sprechen, um das Bewußtsein auf das Gleichgewicht, das Fließen und Blockiertwerden der Energie aufmerksam zu machen.

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Dadurch erreichen die Klienten ein freifließendes System im seelischen und physischen Leben. Ein anderer Neo-Reichianer, Charles Kelley, konzentriert sich in seiner Arbeit auf die Verbindung von Sehen und Fühlen. Kelley und die übrigen Bioenergetiker glauben, daß durch die Erfahrung des physischen und energetischen In-der-Welt-Seins mehr an Selbsterkenntnis freigesetzt wird als bei Therapien, die sich nur auf das Bewußtsein und seine Gedanken und Gefühle einlassen.

Für diese Körpertherapien (der Körper ist tatsächlich die Persönlichkeit oder deren sichtbare Verkörperung) lautet die Grundthese: Haltung ist Verhalten (posture is behavior). Ida Rolf(129), Biochemikerin und Physiologin, hat ein System der Strukturalen Integration (das nach ihr »Rolfing« genannt wird) entwickelt, mit dem sie versucht, durch Massage auf die formbare Qualität des Bindegewebes, das den Muskel umschließt, einzuwirken, um das natürliche Gleichgewicht und die Grazie des Körpers wieder hervorzubringen.

Von seiner ersten Begegnung mit Rolfing berichtet Rappaport, daß ihm während der schmerzhaften Arbeit auf seiner Brust, die gesamte Szene eines traumatischen Asthmaanfalls, den er als Kind einmal hatte, dramatisch wieder in Erinnerung kam. Alle physischen und emotionalen Eindrücke seines >Körper-Gedächtnisses< waren ihm wieder lebendig und schmerzhaft gegenwärtig.

Manche Rolfing-Praktiker arbeiten jedoch nicht direkt mit den Erinnerungen und Gefühlen, die während der Arbeit hervorgerufen werden. Sie glauben vielmehr, daß die entspannende und emotionale Wirkung sich allein und von selbst aus der Körperarbeit ergibt, ohne daß es nötig ist, sich durch Gespräche auf Gefühle einzulassen.130) 

Die Polaritätstherapie von R. Stone hat sich aus verschiedenen Quellen altöstlicher Weisheiten entwickelt. Sie ähnelt der Akupunktur darin, daß sie es auch mit <drahtloser Anatomie> zu tun hat. Die Polaritätstherapie, die davon ausgeht, daß bestimmte Nervenzentren auf der Körperoberfläche in Beziehung zu den Organen stehen, versucht durch ein System punktueller Druckmassage die behinderte und blockierte Energie frei zu machen und ein natürliches Gleichgewicht zu erreichen. 

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Neben diesen Therapien, die auch den Anspruch auf Therapie geltend machen und von denen wir nur einige kurz dargestellt haben, verbreiten sich immer mehr Körpertechniken, die keinen Anspruch auf Therapie stellen (Tanz, Yoga, Aikido, Tai-Chi). Ihr Ziel ist es, die Sinne, das >Körper-Wissen< und das natürlich-gesunde Leben eines freien Organismus zu fördern und zu entwickeln. 

Die Körpertherapien können als Reaktion auf die westliche Vernachlässigung des Körpers aufgefaßt werden. Die vitalitäts-fördernden Aspekte physischer Therapien war den Yoga-Praktikern, Chiropraktikern und anderen seit Jahrhunderten vertraut.

Eine Aufnahme dieser Einstellungen und Techniken in das Erziehungssystem (Ida Rolf hat mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet) könnte den leistungs- und wettkampforientierten Sport in der Schule ersetzen.

Eine neue Hoffnung auf diesem Gebiet ist die >Biofeedback<-Forschung. Um diesen neuen Forschungsbereich gibt es mittlerweile schon Kompetenz­schwierigkeiten zwischen Medizinern und Psychologen.

Auch der <Psychomarkt> hat zugeschlagen: Biofeedbackmaschinen werden in allen möglichen Größenordnungen mit der Verheißung auf den Markt geworfen, daß der Kunde sich mit ihrer Hilfe selbst gesund machen könne. Dr. Barbara Brown, renommierte Forscherin auf diesem Gebiet an der kalifornischen Universität Los Angeles, weist diese Versprechungen beim jetzigen wissenschaftlichen Stand entschieden zurück. 

Unter >Biofeedback< versteht man eine besondere Art der Rückkoppelung von verschiedenen Teilen des Körpers aus: Gehirn, Herz, Kreislaufsystem, verschiedene Muskelgruppen usw. Die Informationen kann man auf Meßgeräten ablesen. Die Hoffnung der Biofeedbackforscher besteht darin, daß wir durch die neuen Informationen über unsere Körperfunktionen schließlich auch Kontrolle über sie erlangen können. Fernziel ist die Aufhebung des Arzt-Patientverhältnisses in seiner jetzigen asymetrischen Form. »Der Patient macht die Behandlung«, d.h., durch entsprechendes Training kann er gestörte Körperfunktionen normalisieren.

Barbara Brown nennt fünf Punkte, welche in der weiteren Entwicklung angezielt werden sollen:

  1. Der Patient erhält exakte Informationen über seine physiologischen Prozesse. Das könnte zu einer Entschleierung der Medizin führen.

  2. Der Patient kann, wenn er will, sich ständig selbst informieren.

  3. Dadurch wird er vom Objekt zum Subjekt seiner Behandlung.

  4. Der Patient kann freiwillige Kontrolle über seinen Körper übernehmen. Medikamentöse Abhängigkeit fällt weg.

  5. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ändert sich grundlegend. Mit Hilfe des >Biofeedbacks< kann der Patient ärztliche Informationen jederzeit überprüfen. 

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   5.4 - Synanon: Therapie (ohne Therapeuten) in einer Lebensgemeinschaft   

 

Einer Anekdote nach entstand der Name Synanon aus der sprachlichen Verwechslung und Verdichtung von Seminar und Symposion. Synanon, ursprünglich ein radikal anderer Weg zur Behandlung von Drogen­abhängigen, Alkoholikern und Kriminellen, hat sich heute zu einer sozialen Bewegung und einer Lebens­philosophie entwickelt, das ständig mehr <Gesunde> anzieht, die im Synanonverband, aufgeteilt in Stämmen (tribes), leben wollen oder wenigstens wöchentlich einmal das <Synanon Game> spielen wollen. 

Viele Drogenprogramme, freie und staatliche Organisationen in den USA und Europa haben den Synanonansatz aufgegriffen und variiert. So zehrt z.B. die Kinzigtalklinik Herrenalb davon in ihren Behandlungs­gruppen (day top) nach dem Konzept von Casriel, der auf seinem <Einkaufstrip> durch die humanistische Psychologie auch aus <Synanon> seine Ware bezog.132) 

Charles E. Dederich, ein ehemaliger Alkoholiker, mit einem genialen Gespür für das Verständnis und die Lösung sozialer Probleme, gründete Synanon 1958 in St. Monica, Kalifornien.133) Dederich ist weder ausgebildeter Psychologe, noch Therapeut. Bis heute lehnt Synanon jegliche professionelle Supervision ab. Ein weiterer radikaler Grundsatz, den Synanon bis heute durchgehalten hat: die Organisation, inzwischen ein autonomer Wirtschaftsbetrieb mit riesigen Umsätzen, lehnt auch jede staatliche Hilfe finanzieller Art ab. Bei einem Einführungsabend in St. Monica, den ich (Molter) zusammen mit meiner Frau besuchte, sagte uns eine der Gastgeberinnen, daraufhin angesprochen: »Lieber würden wir alle wieder wie in den Anfängen weggeworfene Sandwiches essen.« 

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Das <Synanon Game>, nur annähernd Gruppentherapie vergleichbar, gleicht einem Lebenselexier, von dem die allgegenwärtige Organisation, immer wieder — magisch oder therapeutisch oder beides zusammen — ihr Berechtigungsgefüge, ihr Leben ableitet. So dreimal in der Woche versammeln sich die Synanonbewohner zum >Game< in Gruppen von zehn bis fünfzehn Personen. Zu Beginn setzt sich jeder im Kreis so bequem wie möglich hin, die Gruppenmitglieder schauen sich gegenseitig an. Gewöhnlich herrscht anfangs kurzes Schweigen, man vergewissert sich, wer alles anwesend ist, man fixiert sich gegenseitig, und dann stürzt sich die Gruppe heftig auf emotionale Einzel- und Gruppenprobleme. 

Die Gruppe kommt nach dem Verständnis von Synanon erst dann richtig in Fahrt, wenn es den <Mitspielern> gelingt, sich extrem kompromißlos miteinander zu konfrontieren. Es entsteht ein emotionales Schlachtfeld, wo Selbstblendung und Wahnvorstellungen, verzerrte Selbstbildnisse und negatives Verhalten des einzelnen wieder und wieder attackiert werden. Die Verbalattacken (physische Gewalt ist strikt verboten, ihr Auftreten wird sofort unterbunden) setzen sich aus einseitigen, völlig überzogenen Behauptungen, Lächerlichmachen und allen möglichen Anspielungen zusammen.

Diese Art der <Attack-Therapie> mit ihrem <Überschuß an Realität> (Yablonski)134 stärkt die Persönlichkeit. Sie hilft dem Abhängigen, sich in Beziehung mit anderen einzulassen; er erhält Informationen und Einsichten in seine Problematik. Die Standards professioneller Gruppentherapie gelten nur bedingt für die Synanon-Gruppen. Im Kreis sitzen >Gleichgestellte< (peers), die ähnliche Probleme haben. Gerade wegen dieser ähnlichen Lebenserfahrung und vergleichbarer Identifikationsmuster wird ein Synanonbewohner eher als Therapeut anerkannt als ein professionell distanzierter Therapeut, der als >Autorität< auftritt. 

Es entsteht eine Art kooperativer Therapie, welche die Verwirklichung einer therapeutischen Kommunität — jeder kann zum Therapeuten des anderen werden — erleichtert. Die Synanongemeinschaft hat als erste in dieser Radikalität die Statusunterschiede zwischen Arzt und Patient aufgehoben. Die Gruppe, jeder einzelne darin, nimmt Anteil an der persönlichen Selbstentwicklung des anderen. 

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Im Ansatz hat so etwas wie eine Umstrukturierung von Gesundheit und Krankheit stattgefunden, dadurch daß diese Unterscheidungen irrelevant wurden. Diese Art therapeutischer Gemeinschaft gehört z.B. auch zum Konzept der <Feelingtherapie>, mit der Zielvorstellung, daß jeder jeden therapiere.

Charles Dederich hat den Prozeß des <Synanon Game> erweitert durch gelegentliche Marathonsitzungen, den <48-Stunden-Trip>. Yablonski, der persönlich an solchen Sitzungen teilgenommen hat, berichtet, daß vor allem gegen Ende dieses >Trips<, wenn die meisten emotional sehr offen sind, es vorkommt, daß ganz spontan psychodramatische Rollenspiele inszeniert werden: 

»Ich nahm an einem <Trip> teil, wo ein junger Mann, der sich dreißig Stunden lang verbal über seinen grausamen Vater aufregte, plötzlich in Tränen ausbrach und schrie: <Warum hast du mich nicht geliebt, Papi? — Ich liebte dich so sehr!> Ein intuitiver junger Mann, der neben dem Agierenden saß, begann aus sich heraus — er hatte keine Erfahrungen mit Psychodrama — den Vater zu spielen; sein Partner begann, seinen <Vater> zu umarmen, die komplexe Emotionalität eines ganzen Lebens begann sich über ihn zu ergießen. Diese und ähnliche Episoden hatten das Ergebnis, daß Psychodrama später zum festen Bestandteil des <48-Stunden-Trips> wurde.« 135)

Seit dem Start 1958 hat Synanon erfolgreich mit Drogenabhängigen, Alkoholikern und Kriminellen gearbeitet. Synanon arbeitet auf einer lebenslänglichem Basis. Dederichs Überzeugung ist, daß die <Abhängigen> ohne eine feste Struktur wie Synanon über kurz oder lang wieder im Getriebe der Gesellschaft zermahlen werden. 

In den USA gibt es über 150 Organisationen, welche die Struktur von Synanon und vor allem das <Synanon Game> übernommen haben. In fast allen Organisationen sind ehemalige Synanonangehörige die inspirierenden Kräfte der Arbeit. Die <Delancey-Street-Gemeinschaft> in San Francisco, die auch von einem ehemaligen Synanonmitglied gegründet wurde, lehnt das Prinzip <lebenslänglich> ab. Sie benutzt ähnliche Methoden wie Synanon und rechnet mit einem Zeitraum von zwei bis drei Jahren, bis die ehemaligen Abhängigen so weit sind, jetzt auch von der <Delancey Street> frei zu werden.

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Nach Lew Yablonsky hat sich Synanon nie den Anschein gegeben, eine demokratische Gemeinschaft zu sein. Es gibt eine klare Hierarchie von oben nach unten, bei Verstößen gegen die Synanonregeln gibt es, ohne im geringsten auf den Status einer Person zu achten, Herabstufungen. Ein Psychologe und Therapeut, der wegen persönlicher Schwierigkeiten in Synanon lebte, mußte über ein Jahr lang Teller waschen. Von Anfang an sagt man den >Abhängigen<, daß keinem eine Extrawurst in Synanon gebraten wird. Neuankömmlingen sagen sie schon bei der Aufnahme: 

»Deine Worte klingen so, als ob du nicht ganz hirnlos seiest. Aber es ist doch ganz offensichtlich, du bringst dich selbst um, du bist ja noch nicht einmal fähig, dir den Arsch abzuputzen. Du bist ein Baby, vielleicht ein Kind. Uns interessiert überhaupt nicht, was du bisher gemacht hast, ob du Geld hast oder einen Titel. Du bist ein Baby, und du wirst genau und nur das machen, was wir dir sagen. Später vielleicht kann es anders werden, aber im Moment können wir dir keinen Pfifferling Vertrauen schenken.« 136) 

Das ist genau das Gegenteil des Krankheitsmodells, das bei Abhängigen wenig Erfolg brachte, wo man den Leuten sagt: »Du bist krank, du bist bedauerns­wert, wir lieben dich alle, es wird schon alles wieder gut werden.«

In Synanons Minigesellschaft, die mittlerweile ein komplettes eigenes Erziehungssystem vom Kindergarten bis zum College entwickelt hat, lassen sich nach Ansicht von Yablonski durchaus Parallelen zu totalitären Staatswesen, faschistisch oder kommunistisch, ziehen. Es geht nicht um individuelles Verhalten und persönliche Wehwehchen, Ziel ist, eine Synanonidentität zu gewinnen. Die Hingabe und Bindung an Synanon als einer Supergesellschaft — Synanon über alles — ist entscheidend. 

Charles E. Dederich wußte bisher verantwortungsvoll mit dieser totalen Macht umzugehen. Nach Yablonskis Worten besteht aber jederzeit die Gefahr, wenn Dederichs Einfluß nicht mehr richtungsweisend ist, daß das Ganze umkippen kann und aus der Synanongesellschaft eine faschistische Horde wird.137) 

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