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 Drittens — Harmonisierung der Reproduktion

 

"Denn es spricht alles dafür, daß das Aufgehen der jetzigen Kleinfamilie in größeren — keinesfalls aber staatlich zu organisierenden — 
Verbänden der Schlüssel zu den nächsten wesentlichen Fortschritten auf zwei Gebieten ist, deren Zurückbleiben den Gesamtprozeß 
der zivilisatorischen Umwälzung stark behindern müßte: der Befreiung der Frau und der Befreiung der Kinder." (S.531, hier gekürzt)

Viertens (517)  

 512-520

Wenn die Störung des Naturgleichgewichts durch den Menschen zum Stillstand gebracht und wieder ausgeglichen werden soll, und wenn der Mensch seine eigene Existenz dort harmonisieren will, wo dies durchaus möglich ist, nämlich in ihren materiellen Grundlagen, dann muß eine konsequente Umstellung in den Produktions­gewohnheiten erfolgen. 

Der Durchschnittstypus der großen Industrie, auf den die heutige Zivilisation der entwickelten Länder gebaut ist und der auf die übrigen Regionen übergreift, ist natürlich weit entfernt, ein rein technisches Phänomen zu sein, das mit beliebigen Gesellschaftsformen verträglich wäre. Er ist von Herrschaft aus und auf Verwertung abstrakter Arbeit hin entstanden und konstruiert. Jetzt wird er von der einen Seite durch die ökologische Krise, von der anderen durch die psychologische Krise, speziell die Paralyse der Arbeitsmotivation, in Frage gestellt. Die übliche, »normale«, an einem verkürzt ermittelten Kostenminimum der vorgesehenen Produktion orientierte Investitionspolitik wird verhängnisvoll. 

Die notwendige Umstellung der Produktionsgewohnheiten erfordert, daß sich die Gesellschaft über etwa die folgenden Direktiven einigt:

513


 

     

   Rüstung ist Verschwendung  

 

Es ist mit solchen Direktiven natürlich der Punkt erreicht, wo die Frage wiederkehrt, ob sich die Länder des real existierenden Sozialismus diese ökonomische Strategie, die den Verzicht auf »technologische Führerschaft« im Geiste der kapitalistischen Effizienz einschließt, militärpolitisch leisten können — mag man sie sonst für vernünftig halten oder nicht. 

Die Rüstungsproduktion und die Armee sind das Muster aller Verschwendung von Material und menschlicher Arbeitskraft, aller Rücksichts­losigkeit gegenüber der Natur und dem Menschen, auch solange noch nicht gesprengt, verbrannt, entlaubt, erschossen wird. Aber die Blöcke sind sich einig, daß die Rüstung zu den wichtigsten Subsistenzmitteln zählt. 

Ich will die Bemerkungen über eine Eskalation der Abrüstung aus dem 11. Kapitel hier nicht wiederholen. Es war dort von einer durch das internationale Bündnis der »linken«, kulturrevolutionären Kräfte gegen beide Machtblöcke anzustrebenden Synchronisierung der politischen und sozialökonomischen Umwälzungen im Spätkapitalismus und im real existierenden Sozialismus die Rede. 

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Die in jeder Hinsicht zu erwartenden Widerstände gegen die Kulturrevolution werden sich deshalb besonders systematisch auf diesen Punkt konzentrieren, weil sie, die aussichtsreichste Strategie darstellt, den Spielraum für den Ausbruch aus dem supermilitaristischen Hexenkessel zu erobern, in dem sich das Befreiungsstreben der Menschheit totläuft. Erfolgreich im Rahmen des ganzen sowjetischen Blocks unternommen, hätte schon ein Experiment wie das tschechoslowakische einen äußerst ernstzunehmenden Transformationsdruck auf die Struktur Westeuropas ausgelöst; kluge Reaktionäre vom Schlage Strauß' hatten das schnell erkannt.

Sicher darf — angesichts der wahrscheinlichen zeitlichen Diskrepanzen der Bewegungen in beiden Blöcken — antimilitaristische Konsequenz nicht mit kompromißloser Bedenken- und Gedankenlosigkeit gleichgesetzt werden. Das Problem der Sicherheit durch Gleichgewicht der Abschreckung gehört zu den Realien der verkehrten Welt. Jedoch ist der beiderseitige »Overkill« wahrhaft groß genug, um einschneidende, weltweit sichtbare Abrüstungsdemonstrationen zu unternehmen, deren Auswirkungen über die Volksbewegung im anderen Block einige Zeit politisch aktiv abgewartet werden können. 

In jedem Fall muß man aufs entschiedenste aller irrationalen und noch mehr der politisch bewußten Feindbildpflege entgegentreten. 

Jenen Angehörigen der älteren Generationen, die allzuviel von den Ängsten und Erfahrungen der beiden Weltkriegszeiten irrational verinnerlicht haben, muß man den stimmungs­mäßigen Einfluß durch Aufklärung nicht über die Gefahrlosigkeit, sondern über die Verschiebung der Gefahrenmomente in der veränderten historischen Situation beschneiden; wer z.B. die ganze kapitalistische Welt von heute unmittelbar durch die Brille der Hitlerfaschismus-Erfahrung betrachtet, gefährdet selbst die Sicherheit. Jenen anderen Menschen, die durch ihre berufliche und statusmäßige Zugehörigkeit an der Militär- und Sicherheits­maschine interessiert sind, muß man die ungeschmälerte Aufnahme und volle produktive Eingliederung in die zivile Gemeinschaft sichern. 

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Den Dritten aber, die diese Maschine und die Stimmung der belagerten Festung als Herrschaftsbedingung brauchen, muß man gerade auch in dieser spezifischen Frage einen rücksichtslosen politischen Kampf liefern, indem man die hinter ihrer systematischen Massendemagogie verborgenen Sonder­interessen aufdeckt.

  

   Wertgesetz  

 

Ein in dem skizzierten Sinne veränderter Reproduktionstyp ist auch aus einem anderen internationalen Aspekt, der engstens mit dem Weltfrieden auf der Nord-Süd-Achse zusammenhängt, hochnotwendig. Eine der wichtigsten Aufgaben der Kulturrevolution in den ökonomisch fortgeschrittenen Ländern beider Machtblöcke wird darin bestehen, das Wertgesetz für den Verkehr mit den weniger entwickelten Ländern außer Kraft zu setzen. Gegen das Wertgesetz, im nackten Äquivalentenaustausch, sind sie zum Pauperismus verurteilt, der durch den Abzug der Rohstoffe in eine ferne Zukunft fortprojiziert wird. Es geht nicht darum, ihnen eine parasitäre Existenz zu verschaffen, um sie auf diese Weise noch tiefer zu degradieren. Die Lösung dürfte im Tausch nach gleichen nationalen Arbeitszeitaufwänden bestehen. 

In den bisher kapitalistischen Ländern steht hierfür offensichtlich sogar überschüssige Kapazität zur Verfügung, die allerdings so profiliert werden muß, daß der Ausstoß in die ökonomische Entwicklung der Partnerländer hineinpaßt! anstatt sie zu stören und zu sprengen. Die technischen Lösungqn müssen also von dorther inspiriert und akzeptiert sein. Die Ökonomisten werden es zwar schwer begreifen und noch eine Weile ihren banalen Spott darüber ausgießen, doch es würde höchstwahrscheinlich nicht nur für diese Völker selbst von Vorteil sein, wenn sie dahin gelangen könnten, »das Fahrrad zum zweiten Mal zu erfinden«, nämlich eine autonome, von einer nichtkapitalistischen Ökonomik hervorgebrachte Technik.

Die entwickelten Länder können ihnen Menschen anbieten, solche, die dort weder in privilegierten europäischen Reservaten die fremden Götter spielen noch moralische Guthaben für ihr späteres Seelenheil sammeln, sondern die brüderlich mit ihnen arbeiten, leben und kämpfen wollen, weil darin eine tiefe gemeinsame Notwendigkeit und ein tiefer individueller Sinn liegen. 

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Unsere Zivilisation hat immerhin vereinzelte Leitbilder solcher wahrhaft solidarischen und kontrakolonialen Mission hervorgebracht, Menschen wie Las Casas und Multatuli, wie Albert Schweitzer und Norman Bethune, wie Ernesto Guevara und Camilo Torres. Man muß sagen, daß die Sowjetunion gegenüber ihren am wenigsten entwickelten Völkerschaften im großen und ganzen eine Politik praktiziert hat, die im klaren Kontrast zu der bourgeoisen Ausrottung der nordamerikanischen und neuerdings der brasilianischen Indianer steht, obwohl nun auch im sowjetischen Asien die Frage noch einmal neu gestellt werden muß. Der sowjetische Block hat Kuba und Vietnam nicht bloß im Rahmen des Wertgesetzes unterstützt. Aber die Kulturrevolution muß über die Grenzen der staatlichen und Blockinteressen hinaus den breiten sozialen Boden schaffen, auf dem eine massenhafte und ökonomisch effektive Entwicklungshilfe gedeihen kann, die der Größe des Nord-Süd-Gegensatzes gerecht wird.

 

   

Viertens — Wirtschaftsrechnung für eine neue Ökonomie der Zeit.  

 

Man wird finden, daß die Orientierung, die in den Direktiven des vorigen Abschnitts enthalten ist, dem Gebrauchswert, den qualitativen, materialen und naturalen Faktoren größeres Gewicht verleiht als ein auf die maximale Verwertung abstrakter Arbeitskraft gerichtetes System. Genau darin besteht die erwünschte Umstellung der Produktionsgewohnheiten, wenn man sie vom Standpunkt der ökonomischen Theorie betrachtet. Sie befindet sich, wie man immer wieder an Menschen beobachten kann, die ihre Arbeit noch lieben, in voller Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der konkreten Arbeitskraft, die sich als schöpferische mit dem geschaffenen Gegenstand identifizieren möchte, auch wenn sie ihn nicht als individuelle selbst geschaffen hat. 

517 / 518

Solche Menschen haben z.B. stets den letztlich berechtigten Zweifel, ob die ökonomistische Devise, nach der Wegwerfen in vielen Fällen billiger als Reparieren ist, wirklich stimmt, obwohl der unmittelbare Anschein das oft bestätigt. In der Tat, wenn sie manchmal im Einzelfall zutrifft, so ist sie doch verhängnisvoll mit ihren Folgen im Gesamtzusammenhang der Kultur, der sich der kleinen Kostenrechnung entzieht.

Viele dieser ökonomistischen Begründungen sind aber selbst im Rahmen ihrer eigenen Voraussetzungen falsch, was sich nur deshalb schwer beweisen läßt, weil es gegen allen Anschein keine in ihren Prämissen und internen Kopplungen zuverlässige volkswirtschaftliche Kostenrechnung gibt. Denken wir nur an den angeblich so bedeutenden Produktivitätsanstieg durch die Industrialisierung des Bauwesens, der sich bei näherem Hinsehen großenteils als Selbsttäuschung erweist. Noch heute kann, z.B. in Thüringen, ein Stein-auf-Stein-Ziegelbau von erheblichen Ausmaßen billiger sein als dasselbe Gebäude in der geheiligten Fertigteilbauweise, und das ist aufschlußreich trotz der Tücken finanzieller Kostenrechnung, die ja im Makrobereich viel mehr als im Mikrobereich verzerrt. 

Was not tut, um die neue Ökonomie, die Herrschaft der lebendigen ,über die vergegenständlichte Arbeit regulatorisch zu bewältigen, ist der Übergang vom Messen nach Wert- oder vielmehr Preisgrößen zum direkten Messen nach Zeitäquivalenten auf der Primärebene der Wirtschaftsrechnung. Darin liegt eine große, auch von Marx (Grundrisse/71) als »nicht so leicht« angesehene, schwer vernachlässigte Aufgabe für die Ökonomen. Die Arbeitszeitrechnung durch alle Produktionsstufen hindurch bis zum Endprodukt aufzubauen, bei konsequenter Anwendung Erfahrungen damit zu sammeln und sie bis zum Ende, d.h. im gesamtwirtschaftlichen Maßstab durchzuführen, ist unabdingbare Voraussetzung, um den Produkten schließlich auch die Warenform abzustreifen. 

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Man muß ganz entschieden darauf hinweisen, daß bisherige Versuche in dieser Richtung (die von Behrens angeregte Zeitsummenmethode in der DDR) von der Wirtschaftsleitung nie so durchgängig angelegt und so geduldig praktiziert wurden, daß sich aus den Ergebnissen Schlüsse für oder gegen die Realisierbarkeit und Effizienz der Arbeitszeitrechnung ziehen ließen.

Die Arbeitszeitrechnung hat zwei hochbedeutsame sozialökonomische Vorteile gegenüber der Finanzrechnung. Erstens macht sie — und sie allein — die Anteile der individuellen, kollektiven und gesellschaftlichen Gesamtzeitpläne über die Grenze von »notwendiger« und »freier« Tätigkeit hinweg kommensurabel. Bisher nistet die Entfremdung schon in der Faktizität des Planungsverfahrens, das die »gesellschaftlichen Anforderungen«, den »gesellschaftlichen Bedarf« usw. absolut setzen muß, ohne wirklich fragen zu können, was für die Entwicklung der Individuen, für das erklärte Ziel der Produktion dabei herauskommt. 

Die lebendige Arbeit kann sich die vergegenständlichte nur unterwerfen, wenn sie die Gesamtinteressen, also den Gesamtzeitplan der gesellschaftlichen Individuen in der Ökonomie repräsentiert. Als bloßer isolierter Kostenfaktor einer bestimmten betrieblichen Produktion angesetzt, muß sie je länger je mehr gegen die Masse der eingesetzten vergegenständlichten Arbeit verschwinden. Die qualitative Proportionalität der Zeitausgabe vom Standpunkt des Produktionsziels herzustellen, ist schlechthin die Hauptaufgabe des Gesamtplans. Er kann nur demokratisch zustande kommen, wenn sich die Masse der Individuen ein Urteil über die Konsequenzen ihrer Bedürfnisse bilden kann, wenn sie, beispielsweise, weiß, daß die private Motorisierung mit ihren infrastrukturellen Konsequenzen — nehmen wir einmal an — den Arbeitstag jedes einzelnen für eine halbe Stunde in Anspruch nimmt, und das würde bedeuten, jeden werktätigen Menschen nahezu 3 Arbeitsjahre kostet. 

Hieran wird schon der zweite Vorteil der Arbeitszeitrechnung sichtbar: im Unterschied zur Finanzrechnung macht sie die ökonomischen Proportionen und Probleme verständlicher und durchschaubarer, weil viel weniger Verzerrungen der realen Aufwände in sie eingehen (sicher werden die Ökonomen Verfahren finden, um z.B. Importe annähernd adäquat in die nationale Arbeitszeitrechnung einzugliedern) und die Beziehung zum individuellen Lebensprozeß ins Auge springt. 

Die auf Preise gestützte Finanzrechnung kann diese Durchschaubarkeit prinzipiell nicht gewährleisten, weil die Preise (in ihrer zumindest einstweilen weiterhin notwendigen Funktion) bewußt der Entwicklung von Angebot und Nachfrage, insbesondere der Knappheit bestimmter Ressourcen auf dem Weltmarkt oder im Naturhaushalt, Rechnung tragen müssen. Sie taugen daher von vornherein nicht zur Kostenrechnung und dürften konsequenterweise an keiner Stelle direkt, d.h. unter Verschwinden ihrer Abweichung vom Aufwand, in sie eingehen. Gerade die Effektivitätsmessung scheitert — jedenfalls für den Leistungsvergleich zwischen den Wirtschaftseinheiten — daran, daß die Aufwendungen an vergegenständlichter Arbeit nicht in durchschnittlich notwendiger, die Aufwendungen an lebendiger Arbeit nicht in effektiver Arbeitszeit eingehen.

Kostenrechnung auf Arbeitszeitbasis würde erlauben, die als solche bereits propagierte, aber nur sporadisch und in begrenzten Horizonten angewandte Gebrauchswert-Kosten-Analyse zum maßgeblichsten Instrument ökonomischer Effizienzberechnungen zu entwickeln. 

519-520

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Rudolf Bahro -1977- Die Alternative