wikipedia Wolf-Dieter_Narr 1937-2019 Sterbejahr Zur Biografie unten
«An einen hilflosen Antikapitalisten in der Bundesrepublik — auch an mich selber»
«Die Weisheit der Resignierten nützt niemandem etwas» (R. Bahro, Die Alternative, S. 447).
«Man muß aller selbstzerstörerischen Erbitterung Herr werden. Ich sehe das als Schwäche, wenn manche Oppositionellen dazu neigen, den Gang der Geschichte übelzunehmen,
wenn er ihre unmittelbaren Intentionen nicht bestätigt. Wer sich selbst krankmachen läßt, ist im allgemeinen für die Sache der Erneuerung verloren» (R. Bahro, Selbstinterview).#
Meine Liebe, mein Lieber !
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Wem analytisch und strategisch nichts mehr einfällt, der kommt einem «moralisch». So scheint es auch mir zu gehen. Ich werfe Euch, bevor ich Euch auch nur anspreche, zwei Äußerungen Rudolf Bahros an den Kopf und verlange stramm wie ein verkörpertes Ausrufezeichen, daß Ihr Euch diese Worte zu Verstande und zu Herzen nehmt und Euch dementsprechend verhaltet. Resignieren gibt es nicht; wer sich krankmachen läßt, scheidet aus. So einfach ist das, so einfach scheint das wenigstens.
Ist aber mit solchem Reden, solcher Tantenmoral überhaupt etwas anzufangen? Geht denn das, was ich fordere, über einen protestantischen schwarzen Humor hinaus? Zwei Freunde sitzen zusammen. Der eine mit dem Rücken zur Wand gerichtet. Der schlägt periodisch, wenn auch nicht gerade rhythmisch, seinen Hinterkopf an die Wand. Der Kopf schmerzt danach durch und durch. Er wird demgemäß mit verzogenem Gesicht in den Händen geborgen. Geste der Hilflosigkeit und des Schmerzes. Von seinem frei sitzenden Freund befragt, warum er denn seinen Kopf ohne sichtbare Not gegen die Wand schlage, antwortet er: um zu sehen, zu spüren, wie der Schmerz nachläßt.
Und sind sie nicht der Wand vergleichbar, die herrschenden Verhältnisse im voll entwickelten Kapitalismus?
Gewiß, jeder der nicht die herrschende Fähigkeit besitzt, systematisch wegzusehen und der nicht daran teilhat, die Perspektivlosigkeit zur Herrschaftsmethode zu machen, weiß um Widersprüche, Konflikte und Krisen. Nein. Dieses bestehende System der kapitalistischen Gesellschaft ist kein glatter Monolith, ist kein Koloß, der nur von unversieglicher Kraft strotzte.
Wie sonst wäre es nötig, daß auf kleine, ja kleinste Herausforderungen auch nur einiger zart kritischer Lehrer, öffentlich Bediensteter und gar spontan streikender Arbeiter so unverhältnismäßig reagiert würde, so als wäre «der Bestand» in Gefahr.
Wie sonst wäre es denkbar, daß Einfallslosigkeit Trumpf ist, wenn der herrschende, insbesondere ökonomische Trost gestört ist. Da kann man dann nur noch, wenn das Wachstum stockt, die Autoproduktion ankurbeln — konsumiert, o konsumiert doch — und gleichzeitig die Ausbildung drosseln. Wozu brauchen wir auch so viele Abiturienten, Studenten gar und dann noch unruhige. Da bleibt einem nur noch übrig — o unheiliger Keynes und noch heilloserer Friedman —, dauerhafte, vor allem zu Lasten von Jugendlichen und Frauen gehende Arbeitslosigkeit zu «riskieren». Man muß nur Mechanismen finden, um das Risiko, daß plötzlich die arbeitslosen und die noch Arbeitenden kollektiv handeln könnten, gar entgegen dem herrschenden Trott, abzubauen. Besänftigungs-, sprich Individualisierungsstrategien. Die Devise «teile und herrsche» bewährt dann ihre alte Herrschaftstugend erneut.
Also. Die Widersprüche, die potentiellen und die aktuellen Konflikte — sie sind nicht beiläufig, fast zufällig; sie haben Methode, sie liegen im System. Aber dennoch ist die Vorstellung der herrschenden Verhältnisse als einer Wand, vor der man mittel- und demgemäß hilflos steht, nicht falsch, jedenfalls nicht ohne weiteres abzuweisen. Da nützt es nichts, sich hinter einer «starken» Partei zu verbergen oder einem orthodox festgelegten Marx (der keiner mehr ist) zu verschanzen. Solches ist nur interessant, wenn man den vielerlei Gebilden nachgehen will, mit deren Hilfe sich Selbsttäuschung institutionalisiert. Diese herrschenden Zustände scheinen trotz, zuweilen ist man fast geneigt zu sagen, wegen aller Krisen geradezu ultrastabil.
Gerade indem die kapitalistische Gesellschaft von der Substanz der Arbeiter, ja aller zehrt: Macht nicht gleichzeitig die Arbeiter unfähig, sich zu wehren, ja kapitalisiert noch die Interessen der Arbeiter auch dort, wo sie sich — systemgerecht nun — wehren? Wo wäre denn auch nur, kaum daß der Gedanke überhaupt geäußert wird, eine Alternative zum technologisch angetriebenen und Technologie antreibenden Wachstum sozial und politisch sichtbar, ein Wachstum, das Wohlständigkeit schafft und doch alle Wohlfahrt, alles sozial und politisch gegründete Selbstbewußtsein nimmt?
Gewiß der bürokratische Wohlfahrtsstaat geht nicht an die Wurzeln ökonomischer und sozialer Probleme. Er formuliert sie um, verschiebt sie, verteilt sie. Die nächsten Konflikte und Krisen kommen bestimmt. Doch im bürokratischen Verfahrensmodus sind Problemlösungen auch nicht vorgesehen, sondern nur deren fortlaufendes Verschieben und Verdrängen zugunsten des augenblicklichen Bestands. Solches Verdrängen und Verschieben auch innerhalb der verschiedenen Sparten der Bürokratie selber — erst Arbeitslosigkeit, dann Drogensucht, dann Drogenbehandlung, notfalls Jugendfürsorge oder auch Gefängnis — ist kostenreich und schafft Kosten.
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Da wird immer wieder zurechtgehobelt und da fallen auch kräftig Späne, möglicherweise einmal (und zuweilen schon heute) so viel, daß es dann gar nichts mehr zu hobeln gibt. Der Patient ist tot. Einstweilen jedoch rührt diese spänereiche bürokratische Hobelkunst nicht an die Stabilität, nicht jedenfalls derjenigen der Bürokratie selber. Denn die Kosten fallen vor allem kollektiv an, sie werden, wie man so schön sagt, sozialisiert. Dieser «Sozialismus» der kapitalistischen Gesellschaft klappt in der Tat. Die Kosten fallen aber nur kollektiv an; sie sind jeweils individuell zu verarbeiten. Zur Dialektik des bürokratischen Verfahrens gehört es, den einzelnen zu entlasten — er ist an der aktiven Problembehandlung nicht beteiligt — und ihm zur gleichen Zeit die ungelösten Problemkrümel zuzuschieben. Wichtig ist es hierbei gerade, daß diese Individualisierung glückt, obwohl die Kosten kollektiv anfallen.
Diese doppelte Individualisierung der Gesellschaft sowohl in ihrer Leistungs- und Einkommenskonkurrenz (die «Freud» der kapitalistischen Gesellschaft) als auch in der bürokratischen Marginalisierung des Leides (die Kosten werden «an den Rand» zu den jeweiligen Betroffenen hin verschoben) funktioniert prächtig. Jedenfalls gilt diese Beobachtung dann, wenn sie unter dem Blickwinkel alternativlosen Bestandes und seiner prinzipiell unveränderten Entwicklung angestellt worden ist. Die atemberaubende Ausdehnung aller Formen von psychischen Problemen und psychiatrischen, psychagogischen Behandlungsformen (und dementsprechender neuer Berufe) verweist auf die angesprochenen Kosten und auch darauf, wie sie «bewältigt» werden.
Noch in dem gegenwärtig so starken Zug zur Privatisierung, zur Suche nach einem durchaus akzeptablen Glück in einem noch nicht oder nicht mehr herrschaftlich-bürokratisch durchwirkten Winkel kommt «negative Vergesellschaftung» zum Ausdruck, die bürokratisch-rechtliche Vermittlung nahezu aller Lebensbereiche und die komplementäre Hilflosigkeit und dementsprechende Fluchtreaktion, wenn man sich nicht nur einpaßt (ohne letzteres noch zu bemerken). So gesehen ist auch der vielbeschriebene und gewiß nicht von oben herab zu tadelnde Strand von Tunix durchaus ein Strand dieser Gesellschaft, mag auch ein wenig Geruch des Ufers einer anderen zuweilen schmeckbar sein.
Was soll also, stimmt diese horizonthafte Beschreibung des Zustands, mein schlechtes Moralisieren? Denn «schlecht», doppelmoralig, wird solches Moralisieren, solches normative Reden dann, wenn die verkündeten Normen nicht mehr als irdische Wegezeiger in dieser hier und heute gegebenen Realität zu fungieren vermögen. Normative Strohhalme, die doch aus dem Sumpf der Gegenwart nicht zu ziehen vermögen, verstärken noch das Bestehende. Sie können, greift man dennoch wider alle Vernunft nach ihnen, nur in erneuter Enttäuschung enden und geben der Resignation, der Haltung des «Ich-weiß-doch-daß-das-nicht-geht» das gute Bewußtsein. Amor fati, in jedem Fall Passivität oder ästhetisierende Apathie.
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Entscheidend ist so gesehen die Antwort auf die Frage: Trifft die angedeutete Analyse bestehender Ultrastabilität zu (nicht zu verwechseln — erneut betont — mit Krisen- und Konfliktlosigkeit)? Wurde die Analyse herrschender Zustände nicht immer schon dadurch verdorben, daß man entweder übertriebenen Hoffnungen anhing oder kleingläubig nicht allzu weit über den gewiß festgerammten Zaun des Bestehenden zu blicken wagte?
Gerade an dieser Stelle, um diese Frage zu beantworten, kann Rudolf Bahro weiterhelfen. Ich führe ihn Euch und mir selbst gegenüber weniger der Skizze seiner <Alternative> wegen an, des III. Hauptteils seines Buches, der ihm selbst der Wichtigste ist.
Denn so sehr ich mit seiner <Alternative> sympathisiere, so entscheidend ist es — das betont auch Rudolf Bahro zu Recht — vor aller genaueren Auskunft über die Gestalt der Alternative im einzelnen, deren Bedingungen der Möglichkeit am Stoff des Hier und Heute zu diskutieren.
Wenn ich Bahro so zur Hilfe rufe, um das Fundament, den zureichenden oder nicht zureichenden Grund unserer Hilflosigkeit und Resignation zu erörtern, dann versteht es sich, daß man seine Argumentation nicht einfach abschreiben kann. Gerade wenn man Bahros zentralen Impuls und sein zentrales Ziel begreift und teilt, kann er nicht als Ersatz- und Stellvertreterdenker und als Ersatz- und Stellvertreterhandler dienen, als Held aus einer anderen «real sozialistischen» Welt, dessen Züge wir nur zu kopieren brauchten. Aber Bahro hat Breschen ins Dickicht des Bestehenden geschlagen oder erneut sichtbar gemacht, Breschen, in die wir ausweitend, korrigierend und verändernd nachstoßen müssen, wollen wir unsere teilweise selbstverschuldete Hilflosigkeit nicht nur selbstverliebt und reuig zu spät beweinen.
Damit mein Brief nicht zu lang gerate und Euch gar langweile, will ich mich auf einige wenige Aspekte beschränken. Ich verzichte, damit die Argumentation schlank bleibe, auch auf fast jegliche kritische Auseinandersetzung. Ich erörtere nicht, ob sich Rudolf Bahro, auch wenn man seinen Spuren eng folgt, nicht zuweilen gefährlich irrt oder ob er nicht doch hin und wieder allzu zweideutig formuliert, zu vieles offenläßt. So etwa, wenn er die erste Etappe des Industrialisierungsprozesses aus «nichtwestlichen» Bedingungen allein durch eine Entwicklungsdiktatur für möglich ansieht, eine Etappe, die dann in der nächsten Phase wie eine veraltete Haut wieder abgestreift werden können soll.
So beispielsweise, wenn er den historischen Kompromiß in Italien vorweg adelt als eine, wenn nicht die westliche Entwicklungsmöglichkeit zum Sozialismus über die Eroberung des Staates. So wenn er, um ein drittes Beispiel zu geben, die Möglichkeit und Funktion der Intellektuellen trotz mancher Vorbehalte im Sinne einer wohltätigen Avantgarde schildert, Intellektuelle, denen die solidarische und verzichtbereite Vorkämpferrolle beim Durchbruch zum Sozialismus zugewiesen wird.
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In der historischen Analyse, auch in manchen Aussagen über gegenwärtige und zukünftige Möglichkeiten, meine ich noch zu viele Brisen «Leninismus» zu entdecken, zu viel Vertrauen auf sozio-ökonomische Evolutions-, wenn schon nicht Revolutionsprozesse. Zuweilen vermisse ich auch, obwohl Bahros Analyse sich gerade dadurch auszeichnet, daß er — glänzend am Beispiel der Motivationsstruktur der Bürokratie — ökonomische, politisch-soziologische und psychologische Perspektiven nicht beliebig auseinanderreißt und hinterher addiert, die entsprechenden harten Konsequenzen aus den eigenen Untersuchungen.
Obwohl Bahro vor allem im ersten und zweiten Hauptteil durchgehend zeigt, was die Bürokratie des «realen Sozialismus» der Gesellschaft insgesamt und allen einzelnen antut bis ins Innerste ihrer Bedürfnisse hinein, baut er den dritten Teil auf der Voraussetzung auf, «ökonomischer Zwang» sei in jedem Fall härter als «politischer». Nachdem der «politische Zwang» als der im «realen Sozialismus» dominierende herausgearbeitet worden ist, kann dieser «politische Zwang» verhältnismäßig leichter abgeschüttelt werden, sobald die entsprechenden ökonomischen Voraussetzungen geschaffen worden sind. Bahro ist hier nicht nur in Gefahr, doch wieder eher ökonomistisch zu argumentieren; vielmehr gerät er in Gefahr, das «bürokratische Phänomen» allzu äußerlich zu begreifen, so daß demgemäß ein hegelisch-marxscher Schluß ohne zureichende Analyse möglich wird: die Bürokratie (alias der «politische Zwang») erzeugt aus sich selbst heraus seinen eigenen Totengräber. Das aber ist genau die zentrale analytische und strategische Frage.
Jedoch: so wichtig eine sympathisch-kritische Auseinandersetzung mit Rudolf Bahro ist, die er wie wenig andere in solidarischer Weise ermöglicht, so sehr will ich mich hier auf einige positive Anregungen, die Bahros <Alternative> vermittelt, beschränken.
Ich konzentriere mich aufs Methodische in einem nicht auf wissenschaftliche Analyse beschränkten Sinn des Wortes, auf den Weg und die Wegsamkeiten.
1. Überblickt man die Mehrheit gegenwärtig greifbarer und brauchbarer Analysen der kapitalistischen Wirklichkeit und Wirksamkeit, so zerfällt dieselbe unbeschadet anderer Unterschiede in zwei Teile. Der eine fahndet nach den Faktoren und Bedingungen, die den Kapitalismus «hart» machen, die seine Stabilität bewähren und beweisen. Der andere Teil ermittelt die Schwächen und Verfallsgründe dieser Gesellschaft. Bahros historisch zu Recht ausholende Analyse des «real existierenden Sozialismus» besticht vom Ansatz und einem Großteil der Ausführung dadurch, daß er die Schwächen der Stärken und die Stärken der Schwächen herauszuarbeiten vermag. Nur so ist er in der Lage, dem Dogmatismus des Bestehenden ebenso zu entgehen wie der Äußerlichkeit des Zukünftigen, des Alternativen.
Die in der Regel ungleichgewichtige Doppeldeutigkeit bestehender Verhältnisse und existierender Funktionen schließt sich nur auf, wenn man individuelle Erscheinungen gesamtgesellschaftlich und gesamt-gesellschaftliche Gegebenheiten individuell transparent macht; wenn man außerdem alles vermeidet, was man die reduktionistische Methode nennen kann. Man verkürzt dieser gemäß ökonomistisch, psychologistisch oder politizistisch.
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2. Die Revolution, also die Umwälzung der Verhältnisse erscheint Bahro unabdingbar. Sucht man im Verlauf der Lektüre seinen Revolutionsbegriff genauer zu fassen, macht man folgende, wie mir scheint, im Hinblick auf gründliche Änderung notwendige Entdeckungen. Revolution meint zunächst nicht schlichte Umkehrungen der Verhältnisse nach dem biblischen Motto: die ersten werden die letzten sein und die letzten die ersten. Revolution, die Herrschaftsverhältnisse beseitigen soll, dreht oben und unten nicht einfach um; sie geht auf Aufhebung dieser Spaltung aus. Wichtiger aber ist noch: die Ausweitung des Begriffs des zu Revolutionierenden und die veränderte Ökonomie der Revolutionierungszeit. Wer immer gesellschaftliche Veränderungen größeren Stils auf einen Faktor fixiert irrt. Die Beseitigung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse als solcher schafft ebensowenig eine demokratische Gesellschaft im vollen Sinne des Wortes wie auf der anderen Seite die Institutionalisierung politischer Demokratie.
Wer nur «objektive» Strukturen zu verändern ausgeht, aber die «subjektiven» Bewußtseins- und Verhaltensweisen in ihrem Struktur ausprägenden Sinn vergißt, wälzt den Stein der Veränderung vergeblich in die Höhe. Er rollt zurück in die alten Brunnenschächte des Bewußtseins. Weil aber das, was es, will man eine neue Gesellschaft nicht nur dem Scheine nach oder nur im Sinne der Elitenzirkulation, zu verändern gilt, die ganze Breite gesellschaftlicher Existenz umfaßt, ist Revolution nur als Revolutionierung, das heißt nur als Prozeß möglich. Dieser Prozeß kann und muß sofort beginnen und darf sich nicht mit schönmundigen Versprechungen für übermorgen vertagen. Dieser Prozeß muß auch fortlaufen; und sei es noch so kleine, Früchte für diejenigen, die beteiligt sind, abwerfen.
Das Vertrösten auf die Erfolge übermorgen kann schlimme Ausbeutung zur Folge haben. Zur gleichen Zeit aber ist dieser Prozeß nur als langfristiger, kaum je abzuschließender denkbar. Bedürfnisse beispielsweise müssen selbst einer Veränderung unterliegen, soll eine nichtkapitalistische Gesellschaft möglich sein. Doch Bedürfnisse entstehen als grundsätzlich andere, nicht nur als auf dieses oder jenes Gut fixierte erst allmählich. Diese Aussage gilt gerade auch dann, wenn man mit Bahro davon ausgehen zu können meint, daß die Bedürfnisse, denen eine sozialistische Gesellschaft gerecht wird, humaner, menschenwürdiger sind, als diejenigen, die von der gegenwärtigen Produktions- und Herrschaftsstruktur erzeugt worden sind und letztere ihrerseits stabilisieren.
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3. Neuerdings ist öfters vom «subjektiven Faktor» die Rede. So als lasse sich derselbe abtrennen, den «objektiven Faktoren» gegenüberstellen und gegebenenfalls, weil man ihn wiederentdeckt hat, gesondert pflegen. Abgesehen davon, daß schon der Begriff des «subjektiven Faktors» bürokratisiertes Wahrnehmen anzeigt, stumpft man die Analyse ab, indem man in Kästchen (überlegene) «objektive» Faktoren und abhängig «subjektive» (= unterworfene) Faktoren teilt. Bahro zeigt in Analyse und strategischen Überlegungen, daß es erneut um die wechselseitige Erschließung geht. Welche Formen und Inhalte der Bedürfnisse, des Bewußtseins, des Verhaltens (ihrerseits wiederum nicht gleichzusetzende Faktoren) lassen die bürokratischen Institutionen zu? Welche Bedürfnisse und ähnliches mehr werden vielmehr von ihnen geschaffen? Wie läßt sich im Wechselspiel gegenseitiger Bedingung Bewußtseins-, Verhaltens- und Institutionenänderung ins Werk setzen? Daß Bahro nicht nur analytisch vom «überschüssigen Bewußtsein» ausgeht, davon, daß totale Unterwerfung unter verdinglichte, verdinglichende Herrschaftserfordernisse nicht möglich ist, entspricht der sozialistischen Konzeption. Letztere geht normativ von der Emanzipation des Menschen, aus der entsprechend Institutionen, «objektive» Faktoren gebaut werden müssen.
4. Die Beobachtung ist so alt wie schlecht. «Große» Theoretiker, Propheten und ähnliches überlassen die Praxis ihrer Theorie bzw. Prophetie den anderen. Sie selbst leisten gemächlich dem «alten Adam» ihren Tribut. Ist es nicht genug, daß der Theoretiker Konzepte für andere entworfen hat, wie könnte man verlangen, er selbst solle auch noch ihnen gemäß zu leben versuchen. Auch Brechts freilich schon ganz anders begründete Klage im Gedicht <An die Nachgeborenen> scheint in dieselbe Richtung zu weisen: «Ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein ...»
Bahro, belehrt durch bittere Erfahrung im «realen Sozialismus» — in Ländern, wie Sartre sich ausdrückte, «mit einer sozialistischen Verfassung» — unterstreicht, daß es unabdingbar ist, wenigstens zu versuchen, dem sozialistischen Anspruch gemäß zu leben. Man kann den Sozialismus in der Tat nicht «den anderen» überlassen. Will man auf eine sozialistische Gesellschaft hinwirken, dann darf man den eigenen sozialistischen Habitus nicht auf den Tag X verschieben, an dem es dann — «ein Rätsel ist rein Entsprungenes» — eine sozialistische Gesellschaft geben wird. Es ist vielmehr erforderlich, daß man selbst ohne jeden Stell Vertreteranspruch sich als ein Sozialist zu verhalten versucht. Ohne auch persönliche Glaubwürdigkeit bleibt jede Solidaritätsbehauptung in schlechter Weise abstrakt, irreal.
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5. Bahro verleitet nicht dazu, die Ansprüche und Hoffnungen herunterzunehmen. So als solle man sich mit den Brosamen, die täglich vom Herrschaftstisch abfallen, zufriedengeben und allenfalls versuchen, sie zu kleinen Brötchen zusammenzubacken. Bahro vertritt einen revolutionären Anspruch selbst im Hinblick auf unsere eigenen, oft insgeheim oder offen viel zu sehr auf den gegenwärtigen Bestand und seine materielle Produktion fixierten Bedürfnisse. Nicht den Anspruch gilt es kürzer zu machen, so daß er unsere eigene Alltagsgröße erreicht; zu begreifen gilt es aber, daß man diesem Anspruch nicht auf einmal gerecht zu werden vermag. Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Auch den Mount Everest besteigt niemand in einem Tageshüpfer. Die sozialistische Verheißung aber erfordert, nüchtern und pathetisch zugleich gesprochen, eine lebenslange Arbeit auch an einem selber. Das Ziel geht hier in den Weg fortlaufend ein. Nur so ist es auch möglich, daß diejenigen, denen die sozialistische Verheißung gilt, selbst beteiligt werden, daß sich Bewußtsein nach und nach akkumuliert. Diese Akkumulation aber ist, wenn solches Gegeneinanderausspielen zur Verdeutlichung erlaubt ist, als «ursprüngliche sozialistische Akkumulation» bei weitem ausschlaggebender denn die materielle. Solidarität heißt nicht nur, die eigenen Ansprüche auch selbst verwirklichen, sondern heißt zugleich, die Fähigkeit zum Mitmachen beim anderen beachten.
6. Marx und Engels ließen die «utopischen Sozialisten» sehr schlecht wegkommen, obwohl sie ihnen durchaus einen gut Teil ihres eigenen Konzepts sozialistischer Gesellschaft verdankten oder doch mit ihnen gemein hatten. Die Kritik ist hier nicht zu wiederholen, auch nicht die Kritik dort zu kritisieren, wo sie erheblich, wenn auch aus angebbaren Gründen über ihr Ziel hinausgeschossen ist. Die Tradition nach Marx und Engels hat in jedem Fall in der Regel deren Kritik bedenkenlos übernommen und gemeint, man könne darauf verzichten, Alternativen zu erarbeiten. Daß und wie Bahro dieses zum Teil katastrophale Versäumnis, diesen sozialistischen Quietismus — es wird schon gut werden, sobald wir drankommen — ohne große Diskussion behebt, macht allein schon sein Buch ungewöhnlich.
Allzu lange hat man darauf bestanden in einer Art Vulgär-Hegelianismus, daß nur die Analyse der Verhältnisse aus ihren immanenten Voraussetzungen heraus angängig sei. Man hat dabei nicht nur nicht begriffen, daß eine «rein» immanente Analyse unmöglich ist, man hat auch versäumt, das Politikum wahrzunehmen, das darin liegt, daß man den Status quo mit einer realistischen, einer realisierbaren Alternative konfrontiert. Dieses Mißverständnis einer «rein immanenten» Analyse und dieses Versäumnis, «in der Garküche der Zukunft» zu kochen, hat die sozialistische Tradition in ihrer Ziel- und ihrer Theorie- und Praxis-Diskussion oft im wörtlichen Sinne verantwortungslos gemacht. Wie sollte man denn Rede und Antwort stehen, wenn man alles sozialdemokratisch der Evolution oder sozialistisch-kommunistisch der Dunkelkammer Revolution überließ? Die Erneuerung der Zieldiskussion auch gerade um der Analyse willen — das nicht zuletzt ist Bahros Herausforderung.
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Er treibt auch dazu, sich der schweißtreibenden Anstrengung des Begriffs alternativer Gesellschaft, und zwar nicht im Sinne des Konstrukts beliebiger Wolkenkuckucksheime zu unterziehen. Theorie kann hier endlich wieder praktisch werden und stirbt nicht ab oder verkümmert zu einem abstrakten Rest, nur weil sie die Massen, die sie so ohnehin nie ergreifen kann, noch nicht ergriffen hat.
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Ich breche hier ab und überlasse es Euch, die «Moral» aus diesen ausgewählten und ungeheuer verkürzten Gesichtspunkten zu ziehen, die ich — von Bahro inspiriert — vorgestellt habe. Ob damit unser «hilfloser Antikapitalismus», den ich noch nicht einmal positiv Sozialismus zu bezeichnen wage, aufgehoben werden kann? Ich meine jedenfalls, man dürfe es sich nicht so leichtmachen, wie wir alle dies üblicherweise tun, die wir doch die Reflektion und die Analyse oft nur dazu benutzen, um uns und nötigenfalls anderen zu beweisen, daß man wenig oder nichts — und versteht sich guten analytischen Gewissens! — zu tun vermöge. Sind die herrschenden Verhältnisse tatsächlich eine Betonwand, an der man nur die Praxis des schwarzen Humors einzuüben vermag? Bahro und nicht nur Bahro stehen dringend fordernd — und zwar mit guten Gründen, besseren noch, als ich zu referieren vermochte, dagegen.
Wenn ich so Bahro in nicht autoritativer Weise, so hoffe ich, zu Hilfe gerufen habe, so muß ich ein letztes Mal einschränken. Trotz aller Einsicht, Genauigkeit und Vorsicht geht Bahro noch davon aus, dem großen Erbe der Arbeiterbewegung, aber auch anderer emanzipatorischer Bewegungen folgend, daß «die Geschichte mit uns» sei. Daraus erwächst sein letztlich durchdringender Optimismus, seine Überzeugung, es werde gelingen, davon lebt auch ein Teil seiner Analyse und Teil seiner Strategie. Meiner, hier nicht mehr zu belegenden Auffassung entspricht diese letzte Geschichtsgläubigkeit nicht. Sehe ich es recht, gibt es zu viele systematische und aktuelle Gründe dagegen. Diese eher skeptische Haltung ändert aber nichts daran, daß ich Bahros Alternative im Prinzip für sinnvoll, für wert zu verfolgen halte.
Mehr noch: ich sehe keine prinzipielle Alternative dazu, nur, freilich im einzelnen wichtige Änderungen. Diese Bahro und viele andere immer noch erfüllende Geschichtsgläubigkeit, deren auch politische Gefährlichkeit ich hier nicht betrachten kann, ist meines Erachtens aber auch nicht erforderlich.
Erforderlich ist meines Erachtens allein ein Dreifaches.
Nötig ist zum ersten, soll Denken und Handeln in Alternativen nicht schierer Voluntarismus werden, daß es Ansatzpunkte, gewisse Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten für eine Alternative in der Gegenwart und ihrer Entwicklungstendenz gibt. Ausschlaggebend ist zum zweiten die gut belegbare Überzeugung, daß selbst, wenn die Alternative nie gelänge, ein Eintreten für ihre Verwirklichung, auch ihre Wirklichkeit bei uns selber um unserer eigenen Identität, unseres eigenen Selbstbewußtseins und seiner Freiheit willen erforderlich sind.
Schließlich muß man drittens für eine andere Zukunft streiten, schon um eine noch viel schlimmere Gegenwart in der Zukunft vermeiden zu helfen. Reaktives Bremsen allein hilft da nichts. Selbst richtiges Vermeiden erfordert den ganzen Aufwand alternativer Konzeption und alternativen Handelns.
Ich will nicht mit einem süßlichen Hoffnungsbonbon enden oder einer neuen sozialistischen Humordefinition und humorigen Sozialismusbestimmung: Gehfähiger Sozialist ist man dann, wenn man trotzdem für eine bessere Gesellschaft kämpft. Daran mag gleichwohl etwas sein. Ich will Euch nur auffordern, mich auffordern, unser Privileg, daß wir sogar noch begründet resignieren zu können glauben, aktiv umzukehren.
Aktive Resignation? Vielleicht. In keinem Fall aber resignative Aktivität. Letztere ist meines Erachtens unverzeihlich; auch um unserer selbst willen. Verzeiht — aber vergeßt die Sache darüber nicht —, wenn mich Bahro zu solcher Epistel angeregt hat. Let's go.
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Euer Narr
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Leben
Von 1957 bis 1962 studierte Wolf-Dieter Narr in Würzburg, Tübingen und Erlangen. Seine Promotion und die Habilitation 1969 erfolgten in Konstanz. Er war Fellow an der John F. Kennedy School of Government der Harvard University und lehrte von 1971 bis 2002 als Professor für empirische Theorie der Politik am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin.Narr verzichtete 1985 zusammen mit Peter Grottian auf ein Drittel seiner Professur, um damit eine Professur für Frauenforschung zu ermöglichen.
Seine Publikationen beschäftigen sich mit Menschenrechten, Globalisierung und Demokratie.
Narr war Mitgründer und Mitsprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac.
Narr gehörte zu den Gründungsherausgebern der Zeitschrift Leviathan, die erstmals 1973 erschien.Politische Tätigkeit
Wolf-Dieter Narr beteiligte sich im Januar 1959 am Studentenkongress gegen Atomrüstung. 1968 war er Mitbegründer der Bundesassistentenkonferenz, einer treibenden Kraft bei der späteren Hochschulreform. 1969 trat Narr aus Protest gegen die Große Koalition aus der SPD aus. 1971 gründete er unter anderem mit Heinrich Albertz und Helmut Gollwitzer das Iran-Komitee.
Mitte der 70er Jahre arbeitete an der Freien Universität Berlin unter seiner Leitung eine kleine Gruppe zum Themenkomplex Politik/Innere Sicherheit. Anfänglich nannte sie sich AG Bürgerrechte, später wurde ein gemeinnütziger Verein mit dem Namen Institut für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit e. V. gegründet.[2] Das Institut bzw. der Verein gibt ein Periodikum heraus, das Magazin Bürgerrechte & Polizei/CILIP, bei dem Wolf-Dieter Narr Mitherausgeber war.
1978 war Narr Mitglied des Deutschen Beirats beim 3. Russell-Tribunal über die Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik. Zusammen mit Uwe Wesel und Vladimir Dedijer gehörte er zu den Hauptinitiatoren dieses Tribunals, aus dessen Unterstützerbewegung zwei Jahre später das Komitee für Grundrechte und Demokratie hervorging, dessen Sprecherposten Narr zeitweise innehatte. Ebenso war er Mitorganisator des Foucault-Tribunals zur Lage der Psychiatrie, das 1998 in Berlin stattfand und nach Michel Foucault benannt wurde.[3]
Zuletzt engagierte Narr sich in der Flüchtlingspolitik. So lebte er beispielsweise für zwei Tage im Flüchtlingslager Bramsche. Seit 2002 publizierte er auch in der Zeitung Graswurzelrevolution u. a. über den Anarchisten Pjotr Kropotkin[4], Johannes Agnoli[5] und Albert Camus.[6]Über zwanzig Jahre lang litt Narr an einer Krankheit, die seine Bewegungsfähigkeit und seine Stimme zunehmend einschränkte.[7] Er starb am 12. Oktober 2019 im Alter von 82 Jahren in Berlin. Die Beisetzung fand am 22. Oktober 2019 auf dem Friedhof Dahlem in Berlin-Dahlem statt.
Auszeichnungen
2001: Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union[9], zusammen mit weiteren Erstunterzeichnern, die am 21. April 1999 in der taz den „Aufruf an alle Soldaten der Bundeswehr, die am Jugoslawien-Krieg beteiligt sind: Verweigern Sie Ihre weitere Beteiligung an diesem Krieg!“[10] unterzeichnet hatten.