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Teil 2

Der Sozialist — Menschenrechte im Sozialismus 

 

   Buess (65)    Goldstücker (71)

Peter von Oertzen: 

«Ihr Urteil über die SPD ist eher kühl»   

Oertzen-Bahro-Mandel (1980)

wikipedia  P.v.Oertzen  1924-2008 

 

 

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Lieber Genosse Bahro, ich weiß nicht, und niemand weiß es, ob Sie wohl auch nur zu einem kleinen Teil von jener Diskussion erfahren haben, die seit dem Erscheinen der <Alternative> und seit Ihrer Verhaftung über Ihre Ideen und Ihre Person geführt wird. Ich will so schreiben, als ob Sie von dieser Diskussion erfahren hätten, an ihr teilnehmen dürften und jene Fragen stellen könnten, die von Ihrem Standpunkt aus gestellt werden müßten.

Ich spreche zu Ihnen als ein westdeutscher Sozialdemokrat, zwar als ein «Linker» — wie man hier so sagt —, aber doch als Mitglied einer Partei, die in ihrer großen überwiegenden Mehrheit jene gesellschaftlichen Ziele längst aufgegeben hat, die Sie als (demokratischer) Marxist und Kommunist immer noch mit leiden­schaftlichem Ernst verfolgen. Was hat ein Sozialdemokrat Ihnen also zu sagen? 

Ihr Urteil über die SPD ist distanzierend und eher kühl: 

«Die Sozialdemokratie an der Macht ist die Partei des Interessenkompromisses zwischen der <systemtranszendierend> votierenden Spezialisten­schicht und dem <systemreformatorisch> orientierten Teil des Managements, besonders des <öffentlichen>, das natürlich nach wie vor in den langfristigen Interessen des Monopolkapitals seine Grenze respektiert. Genau besehen finden die beiden Flügel nur in der Konfrontation mit der konservativen Fraktion der Bourgeoisie eine gemeinsame Sprache» (<Alternative>, S. 222). [Alternative]

Und an anderer Stelle, kurz vorher, schreiben Sie (S. 221), die SPD sei weder bürgerliche noch Arbeiterpartei, schon gar nicht «Volkspartei», sondern dem qualitativen Kern ihrer Massenbasis nach am ehesten Partei der «neuen Arbeiterklasse», der breiten Spezialistenschicht.

Selbst wenn man die Bedeutung, welche die traditionelle «Arbeiterklasse», also insbesondere die Arbeiter- und untere Angestelltenschaft der privaten Wirtschaft für die westdeutsche Sozialdemokratie besitzt, höher einschätzen sollte, als Sie es tun, ist diese Charakterisierung dennoch von einer bemerkens­werten Treffsicherheit — vor allem wenn man bedenkt, welchen äußeren Beschränkungen ein Beobachter aus der Position der DDR ausgesetzt ist.

Aber zurück zu meiner Ausgangsfrage: Was kann Ihnen ein Sozialdemokrat auf jene Fragen antworten, die sich — ausdrücklich oder unausdrücklich — aus Ihrer <Alternative> an die Adresse der westdeutschen «Linken» ergeben? 

Ich fürchte, auf die Bedeutsamkeit Ihrer Überlegungen für die weitere konkrete Entwicklung in der DDR und darüber hinaus im gesamten Lager des sogenannten «realen Sozialismus» werden sich solche Antworten kaum oder jedenfalls nicht in erster Linie beziehen können. 

Zum einen natürlich deswegen, weil jemand, der — wie ich — außerhalb des ökonomischen, sozialen und politischen Systems der DDR steht, die Richtigkeit Ihrer konkreten Analysen, Programme und — vor allem — Therapien nur in Grenzen beurteilen kann. Zum anderen aber auch, weil man — wie Sie es formulieren — daran zweifeln muß, daß das derzeitige sozialdemokratische Programm inhaltlich einer sich demokratisierenden DDR viel zu sagen haben würde (S. 417/418). (Sie lassen freilich die Frage unerörtert, ob nicht bestimmte Persönlichkeiten aus den Reihen der SPD — ich denke da vor allem an einen Mann wie Willy Brandt — als Personen einen Einfluß auf große Teile der Menschen in der DDR ausüben würden.)

In der Tat ist es sehr fraglich, ob die Wiederherstellung des privaten Eigentums an den industriellen Produktionsmitteln und der weitgehend unbeschränkten Marktwirtschaft in der industriellen Produktion — die beide Bestandteile sowohl des Godesberger Programms als auch des Orientierungsrahmens 1985 der SPD sind — bei den arbeitenden Menschen der DDR auf großes Interesse stoßen würden. 

Die Wiederherstellung oder Ausweitung privaten Eigentums und freier Marktkonkurrenz im weiteren Dienstleistungsbereich freilich, zum Beispiel im Handwerk, im Einzelhandel und im Beherbergungsgewerbe, wäre vielleicht schon eine andere Sache, ganz zu schweigen von freien Gewerkschaften, frei gewählten Betriebsräten und wirksamerer Mitbestimmung der Belegschaften in der Leitung der Betriebe. 

Die zuletzt genannten Programmpunkte der Sozialdemokratie wären allerdings in einer sich aus eigener Antriebskraft zur Demokratie hin entwickelnden DDR genauso wie die allgemeinen politischen und persönlichen Freiheiten keine spezifisch sozialdemokratischen Forderungen mehr. (Auch das Ihnen möglicherweise nicht bekannte Dokument der SPD über Sozialdemokratie und Kommunismus aus dem Jahre 1971 betrachtet solche Programmpunkte nicht als im engeren Sinne sozialdemokratisch, sondern erkennt die Möglichkeit eines — mit der Sozialdemokratie trotzdem nicht identischen — demokratischen Kommunismus an; Anzeichen dafür erblickt jener Text sowohl im tschechischen Reformkommunismus des Jahres 1968 als auch in der KP Italiens.)

Ich werde Ihre Ideen unter dem Gesichtspunkt der immanenten Kritik des «realen Sozialismus» — lies: «Stalinismus» — also nicht weiter diskutieren (die westdeutsche Diskussion, auch die linke, auch die seriöse, hat ihre Beiträge weitgehend auf diesen Aspekt beschränkt). 

Mir scheint nämlich, daß Ihr Buch — weit über den Ansatz der antistalinistischen Kritik hinausreichend — einen bedeutenden Beitrag zur marxistischen Theorie des Sozialismus darstellt. 

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Bitte mißverstehen Sie diese Feststellung nicht als eine sentimentale Reverenz, die jemand, der in fast vollständiger Freiheit denken, reden und schreiben kann, einem jeden schuldet, der nicht das Glück hat, jene unentbehrlichen «bürgerlichen» Freiheiten zu genießen. Ihr Buch wäre auch dann eine große Leistung, wenn es von dem wohlbestallten Inhaber eines westdeutschen soziologischen oder ökonomischen Lehrstuhls geschrieben worden wäre (nur wäre es dann vermutlich eben nicht und auf jeden Fall nicht so geschrieben worden).

Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland (vom übrigen westlichen Europa gar nicht zu reden) seit etwa zehn Jahren — und im krassen Gegensatz zur Periode 1945 bis 1965 — eine immer noch zunehmende, kaum mehr übersehbare Flut von Beiträgen zur wissenschaftlichen Theorie des Sozialismus; es gibt eine Unzahl von Zeitungen und Zeitschriften mit wissenschaftlich-theoretischem Anspruch; und es gibt vor allem Scharen von Theoretikern und damit geborenen Lehrern der sozialistischen Bewegung. Die tatsächliche Zersplitterung, Schwäche und Wirkungslosigkeit der sozialistischen Linken in der Bundesrepublik kontrastiert in einer sehr merkwürdigen Weise zu jenem theoretischen «Überfluß».

Bei näherem Zusehen ist jene Diskrepanz freilich nicht mehr ganz so erstaunlich. Gelehrsamkeit und Scharfsinn kann der innerlinken marxistischen Theorie­diskussion hierzulande nicht abgesprochen werden; im Gegenteil: der rein wissenschaftliche Ertrag dieser Diskussion ist beträchtlich. Aber dies allein kann den Marxisten nicht befriedigen. Noch gilt jene Feuerbach-These als methodischer Kern des Marxismus, die da lautet: «Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.» 

(Das gebrochene Verhältnis von Theorie und Praxis in der westdeutschen marxistischen Diskussion ist dabei natürlich ebenso Ausdruck wie Mitursache der praktischen Schwäche der westdeutschen Linken.)

Von den alt- und neostalinistischen Dogmatikern wollen wir dabei nicht reden. Ihre Praxis ist in den ZK ihrer jeweiligen Sekten und in den Regierungs­apparaten der respektiven Heimatländer des «realen Sozialismus» (und wenn es Albanien ist) gut und sicher verankert. Aber die zahlreiche und theoretisch durchaus fruchtbare undogmatische marxistische Linke hierzulande leidet unter einer merkwürdigen und — wie mir scheint — nicht zwingend notwendigen Entfremdung von ihrer eigenen möglichen Praxis. Diese Entfremdung nun scheint mir nicht so sehr und in erster Linie Ausdruck sozialpsychischer Beschränkungen (Stichwort: «Studentenparteien») oder organisatorischer Versäumnisse (Stichwort: «mehr politische Verbindlichkeit») zu sein, als vielmehr auch Ausdruck theoretischer Schwächen selbst. 

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Eine theoretische Arbeit, die in ökonomischer Einseitigkeit das gesellschaftliche Ganze aufsplittert, die in dogmatischer «Ableiterei» alle Spielräume praktischen Handelns bereits in der Theorie zumauert, die Geschliffenheit und Detailliertheit zum Selbstzweck macht und praktische Fragen gar nicht mehr stellt, geschweige denn beantwortet — eine solche theoretische Arbeit verfehlt bereits als solche den Zugang zu jeder möglichen Praxis. Demgegenüber ist Ihre <Alternative> ein leuchtendes Beispiel, wie man es anders machen kann, ohne daß dabei an irgendeiner Stelle der Anspruch theoretischer Stringenz aufgegeben würde.

Ich kann die Fülle der von Ihnen gegebenen Anregungen für unsere Diskussion hier nicht im einzelnen erörtern. 

Ich will nur auf jene Problemfelder hinweisen, auf denen auf der Grundlage Ihrer Ansätze weitergearbeitet werden sollte. Dabei greife ich nur einige Felder heraus, die mir zentral wichtig zu sein scheinen; andere mögen aus dem Reichtum Ihrer Analysen noch weitere Schwerpunkte betonen.

1. Entgegen einem verbreiteten marxistischen Denkschema (hingegen keineswegs im Gegensatz zu Marx und Engels) betonen Sie, daß spezifische Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse vorkapitalistischen Ursprungs sind, zum Beispiel die Ausbeutung und Unterdrückung der Frauen durch die Männer, des Landes durch die Stadt, der Hand- durch die Kopfarbeit. -- Und daß infolgedessen die Überwindung des Kapitalismus nicht notwendig solche Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse mit aufhebt. Damit eröffnen Sie den Blick auf die Möglichkeit und Gefahr alter und neuer Unfreiheiten und Ungleichheiten in nach-kapitalistischen Gesellschaften (S. 54/55).

2. Zentral — nicht nur für Ihre Kritik des Stalinismus, sondern auch für das Verständnis des Staates in jeder Gesellschaft, die auf der ökonomischen Basis einer industriellen Produktion beruht — ist Ihre materialistische Erklärung staatlicher Herrschaft aus der Fortdauer der «alten Arbeitsteilung». Dies ist natürlich erst einmal die Grundlage für eine korrekte marxistische Analyse der bürokratischen Unterdrückung und Ausbeutung auf der Basis nichtkapitalistischer Produktionsverhältnisse. Darüber hinaus aber liefern Sie einen Beitrag zur marxistischen Staatsdiskussion in kapitalistischen Gesellschaften, dessen Wert kaum abzuschätzen ist. Sie zeigen, daß man streng marxistisch argumentierend, Produktionsverhältnisse und staatliche bürokratische Herrschaft begrifflich aufeinander beziehen kann, ohne in eine eklektische, bloß äußerliche Parallelisierung oder aber in eine enge Funktionalisierung des Staates auf die Ökonomie zu verfallen. Daß Sie dabei die klassischen Engelsschen Erkenntnisse über den Ursprung der Klassenherrschaft aus der Arbeitsteilung wieder beleben, ist ein besonderer Gewinn (S. 164 ff). 

3. Von größter Wichtigkeit scheint mir Ihre analytische Trennung der notwendigerweise hierarchischen informationellen Struktur der modernen industriellen Produktion und ihres bürokratisch repressiven Überbaus zu sein. Die für Sozialisten mörderische falsche Alternative von (utopischer) genossenschaftlicher Dezentralisierung und bürokratisch-herrschaftlicher Zentralisierung wird aufgehoben. Es gehe darum, wie Sie sagen, die «notwendige funktionelle Hierarchie» «nicht mehr in Sozialstruktur» umzusetzen (S. 522).

4. Die von Ihnen skizzierte «Kulturrevolution», die nichts anderes ist als ein konkretes Übergangsprogramm auf dem Weg zum Sozialismus, zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung, Unterdrückung und geistiger Unmündigkeit, ist zwar auf die Systeme des «realen Sozialismus» gemünzt, enthält aber eine kaum zu bewältigende Fülle von Anregungen für die hiesige Diskussion. 

(Der Kampf um die Aufhebung der gesellschaftlichen Entfremdung oder, wie Sie sagen, gegen die «Subalternität» steht in Ost und West gleicherweise auf der Tagesordnung — siehe die Seiten 321, 324/25, 449ff, 483ff Ihres Buches). 

Auch die konkreten Elemente dieser «Revolution» sind für den Kampf gegen den Kapitalismus nicht weniger wichtig als für die Überwindung des Stalinismus. 

Zum Beispiel:

Verallgemeinerung eines Höchstmaßes an Bildung.

Beschneidung aller materiellen Privilegien für herausgehobene soziale Funktionen.

Weitgehende berufliche Rotation, um jede Verfestigung sozialer Funktionen zu gesellschaftlichen Herrschaftspositionen zu verhindern.

Umschmelzung der patriarchalischen Kleinfamilie im Interesse der Kinder und der Frauen.

Wiederbelebung sozialer und kultureller kommunitärer Strukturen.

Radikale politische Dezentralisierung und Demokratisierung 

usf., usf.

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Von besonderer Bedeutung für die hiesige Diskussion um «Wachstum» und «Lebensqualität» scheinen mir Ihre Aussagen über «Produktionsziel reiche Individualität», «Neubestimmung des Bedarfs», «Reproduktion» und «Wirtschaftsrechnung» zu sein (S. 489ff, 508ff, 512ff, 517ff). Hier ist zum erstenmal eine sinnvolle ökonomische Lösung des Dilemmas von Wachstumsfetischismus und asketischer Nullwachstumsideologie angedeutet.

Damit will ich diese Problemskizze abbrechen. 

Unendlich vieles bliebe zu diskutieren, auch manches zu kritisieren. 

Daß Sie betroffen sind von der fehlenden öffentlichen Diskussion und der lückenhaften Information in der DDR, wissen Sie selbst sicher am besten.

So geht Ihre Kritik an der trotzkistischen Analyse des «realen Sozialismus» (S. 453/54) schon auf Grund Ihrer offenbar zu schmalen Literaturbasis sicherlich teilweise fehl. 

Der an einer anderen Stelle getroffenen Feststellung von Ernest Mandel (<Kritik des Eurokommunismus>, Berlin 1978, S. 118), die Gesellschaft des «realen Sozialismus» sei eine «Übergangsgesellschaft zwischen Kapitalismus und Sozialismus», «die infolge des Machtmonopols der Bürokratie derart erstarrt ist, daß der Vormarsch zum Sozialismus ohne den Sturz der Bürokratie unmöglich geworden ist», müßten Sie eigentlich zustimmen können. 

Die vom Trotzkismus propagierte «politische Revolution» im «realen Sozialismus» wird von Ihnen ausdrücklich gefordert (S. 459), was Mandel seinerseits in seiner Kritik an Ihnen verkennt (a.a.O.,S. 112).

Ebenso diskussionsbedürftig ist Ihr Verzicht, den militärisch-polizeilichen Machtapparat und seine Funktionen ausführlicher zu analysieren.

Auch den Verzicht auf ein Mehrparteiensystem in der von Ihnen geforderten sozialistischen Demokratie vermag ich nicht für begründet zu halten. Ohne institutionalisierte «politische» Pluralität sind gesamtgesellschaftliche Alternativen nicht demokratisch zu stellen und zu entscheiden. Hier schlägt die Kritik Mandels an Ihnen voll durch (a.a.O., S. 113/114).

Hoffen wir, daß wir alle diese offenen Fragen bald mit Ihnen persönlich und in Freiheit diskutieren dürfen.

Ihr 
Peter von Oertzen

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Eduard Buess - An Erich Honecker

  «An Bahro werden sich die Geister scheiden»  

 

 

Sehr geehrter Herr Honecker,

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mein Schreiben ist veranlaßt durch die Diskussion um Rudolf Bahros Buch <Die Alternativa und die Inhaftierung des Autors unter Anklage auf «Verdacht nachrichtendienstlicher Tätigkeit». Ich schreibe Ihnen als akademischer Lehrer, der mit jungen Menschen im gemeinsamen Interesse am Sozialismus verbunden ist. Ich schreibe als kritischer Schweizer Bürger, der sich jungen Mitbürgern auch dann solidarisch weiß, wenn sie ihren politischen Aktionsraum in der PdA, der schweizerischen «Schwesterpartei» der SED finden.

 wikipedia  Partei_der_Arbeit_der_Schweiz 

So oder so handelt es sich um junge Menschen, die mit offenen Augen in die Welt hinausschauen, die von daher mit dem Schweizer Staat, soweit er vom Industrie- und Finanzkapital prädominiert erscheint, immer neu in Konflikt geraten — junge Menschen, die sich zugleich laufend mit der Kritik auseinandersetzen müssen, die von sozialdemokratischer und «eurokommunistischer» Seite gegen die sozialistischen Staaten des Sowjetblocks vorgebracht wird. Diese Jungmarxisten sind dabei, Rudolf Bahros Buch zu studieren. Der Vorwärts, parteioffizielles Organ der PdA, hat selber ablehnende und zustimmende Artikel zu Bahro veröffentlicht. Unter marxistisch interessierten Studenten wird Bahros Buch wohl das Thema des Jahres werden.

Wenn ich mich an Sie, verehrter Herr Honecker, wende, so wesentlich im Namen dieser Jugend. Deren Fragen gebe ich an Sie weiter. An diesen Fragen vorübergehen, würde meines Erachtens heißen, an den vitalen Fragen in der Weltbewegung, sozialistischer Jugend vorübergehen.

1. Die Fragen beziehen sich zunächst auf die Verhaftung Bahros als solche: auf diesen weiteren Fall behördlicher Maßregelung und Unterdrückung innermarxistischer Kritik in Ihrem Staat.

Vor mir liegen Dokumentationen, die ich mir im Zusammenhang meiner Marxismusstudien von der Botschaft der DDR in Bern erbat. Ich zitiere aus Artikel 21 der Verfassung der DDR: «Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben der sozialistischen Gemeinschaft und des sozialistischen Staates umfassend mitzugestalten. Es gilt der Grundsatz: <Arbeite mit, plane mit, regiere mit!>» Junge Marxisten, die diesen Text (statt ihn gleich als Mittel zur Tarnung der wahren Machtverhältnisse zu verdächtigen) im Wortlaut ernst nehmen, werden feststellen: Bahro macht von einem Recht Gebrauch, das in der Verfassung Ihres Staates selbst verankert ist.


Die Zahlen und Fakten zur Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik in den Jahren 1971 bis 1975, die als dickes Heft vor mir 1 liegen, belegen die «gleichmäßige, dynamische Weiterentwicklung» der sozio-ökonomischen Basis der Gesellschaft in der DDR. Das bedeutet nach Ihren eigenen Worten, daß «sich in unserem Land die Voraussetzungen zum allmählichen Übergang zum Kommunismus mehr und mehr herausbilden». 

Unsere Jungmarxisten wissen sehr! wohl, was das besagt. «Allmählicher Übergang zum Kommunismus», das bedeutet den sukzessiven Abbau des staatlichen Machtapparats zugunsten einer sich selbst verwaltenden Gesellschaft, «in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist». Bahros Buch ist geschrieben, um gegen einen selbstherrlich gewordenen Staatsapparat diese zweite Phase der Verwirklichung des Sozialismus/Kommunismus vorzubereiten. 

Daß er dabei den Status quo einer durchgreifenden Systemkritik unterzieht, ist nach Meinung junger westlicher Marxisten sein gutes Recht, ja seine Pflicht. Diese jungen Aktivisten wissen sehr wohl, was es kostet, ein Herrschaftssystem so frontal an seinen eigenen letzten Zielsetzungen zu messen. «Wohl uns, noch ist bei Freien üblich, ein leidenschaftlich freies Wort!» (G. Keller). Für dieses «leidenschaftlich freie Wort» wehrt sich unsere politisch wach gewordene Jugend. Sie erfährt am eigenen Leib, wie gefährlich dieses Wort in der Zeit der Berufsverbote vielerorts bei uns im Westen geworden ist. Darum horcht sie auf, wenn sie es von drüben her vernimmt. Bei Bahro wird es in exemplarischer Kraft laut.

Was ihn vor anderen mutigen Sprechern unserer Zeit auszeichnet, ist eine umfassende Kenntnis der Lehre der Väter des Marxismus, ein intimes Wissen um die internen Probleme der sozialistischen Länder, ein weiter, die global auf uns zukommenden Aufgaben umspannender Denkhorizont, eine durchsichtig klare, phrasenfreie, ebenso fein differenzierende wie treffsichere Sprache. Ich kenne nach langem Studium des zeitgenössischen Marxismus kein Werk, das dem seinen in dieser Hinsicht gleichkäme. Man muß, verehrter Herr Honecker, Ihrem Bildungssystem gratulieren, daß aus ihm solche Leute hervorwachsen können! Und man muß Ihr Regierungssystem beklagen, das solche Potenzen offenbar nicht erträgt!

Das ist die erste Frage, vor die der «Fall Bahro» unsere jungen Sozialisten hier stellt: Warum muß Ihr Staat jene seine Bürger kriminalisieren, die tapfer, ehrlich, kompetent genug sind, Artikel 21 Ihrer! Verfassung zu praktizieren: «Arbeite mit, plane mit, regiere mit!»? Die Anklage auf «Verdacht nachrichtendienstlicher Tätigkeit im Interesse I imperialistischer Mächte» glaubt Ihnen auch in kommunistischen Kreisen hier in der Schweiz wohl niemand.

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Jeder informierte Kommunist weiß heute, daß damit genau das Schema angewandt wird, nach dem Stalin seinerzeit die Kampfgenossen Lenins, darunter führende Theoretiker des Sowjetmarxismus unter Anklage stellte, um sie erbarmungslos zu liquidieren. Junge Freunde Ihres Staates kommen noch mehr als bisher mit sich selbst in Konflikt. Sie können sich vor sich selbst und ihren Kameraden noch weniger gegen die Behauptung wehren, eine hilflose DDR-Führung wehre sich mit veralteten Polizeimethoden gegen die Kräfte, denen die Zukunft gehört. Sie müssen darin den Mechanismus wiedererkennen, mit dem jeder etablierte Machtapparat auf die Kräfte zu reagieren pflegt, die seine Umgestaltung fordern.

Die Zukunft des Sozialismus, meine ich, die Zukunft der Weltgesellschaft selber hängt mit davon ab, daß dieser Mechanismus gesprengt wird. Muß es so sein — darauf läuft diese erste Frage hinaus —, daß sich der Machtapparat in den Ländern des «real existierenden Sozialismus» hierin reaktionärer verhält als in den kapitalistischen?

2. Die zweite Frage ergibt sich aus dem Inhalt von Bahros Buch. Was ihn betrifft, so kann ich Sie (bzw. die zuständige Stelle der Botschaft der DDR in der Schweiz) nur auf die einschlägigen Artikel im Vorwärts verweisen. In ihrem Pro und Kontra spiegelt sich der ideologische Gegensatz, der durch unsere kommunistische Partei geht.

Jean Vilain spricht für den Flügel der Partei, der sich mit der Tatsache abgefunden hat, daß der Sozialismus, «belastet mit dem gesamten schwierigen Erbe vorausgegangener Gesellschaftsformationen und konfrontiert mit einem noch immer ziemlich virulenten und gefährlichen imperialistischen Antagonisten», auch heute erst am Anfang seines Weges steht und darum Bahros 'Alternative' als 'Reise nach Utopia' [berneri] empfindet: «Mag sein, daß Bahro ein politischer Romantiker ist, der sich auf der Suche nach der roten Blume verrannt hat...».

'Vorwärts' vom 5. Januar, 23. Februar und 2. März 1978

Auf der anderen Seite spricht Hans-Jürg Buss für jene Parteigenossen, die energisch über den Status quo hinausdrängen: «Gewiß, Bahros Kritik des real existierenden Sozialismus und seiner Parteien erscheint sehr hart, und es ist ein Leichtes, ihn mit ein paar Schlagworten ... zu verdammen. Ist der Nestbeschmutzer so aus den eigenen Reihen ausgestoßen, braucht man sich mit seinen Argumenten auch nicht mehr auseinanderzusetzen. Mit einer solchen Reaktion wird man jedoch dem Werk Bahros in keiner Weise gerecht. Sie bewiese im Gegenteil, daß Bahro die Probleme an der Wurzel gepackt hat. Gerade die Radikalität von Bahros Kritik ist es, die jeden, der das Buch liest, berührt und zur Auseinandersetzung zwingt. Die Dominanz der staatlichen Struktur über die Gesellschaft, die Herrschaft der alten Arbeitsteilung, bürokratische Erscheinungen, der ideologische Charakter des Staates, die Verschmelzung von Staat und Partei - berühren diese Fragen nicht das

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aktuelle gesellschaftliche Leben in den sozialistischen Staaten? Eine Gesellschaft, welche die Befreiung des Menschen von jeglicher Unterdrückung anstrebt, benötigt die andauernde Auseinandersetzung über die Ziele, die sie anzustreben gedenkt, über die Wege, die auf ihrem weiteren Marsch einzuschlagen sind und über die gegenwärtigen Schranken, die zu überwinden sind. Bahros Buch stellt meines Erach-tens einen wichtigen, konstruktiven Beitrag zur Erarbeitung eines kollektiven Selbstverständnisses in den sozialistischen Staaten dar...» (Vorwärts vom 16. März 1978).

Es ist kein Zweifel, daß die weitere Diskussion in der Schweiz zwischen diesen beiden Polen spielen wird. Ich vermute, daß die jüngeren Parteigenossen überwiegend bei Hans-Jürg Buss stehen werden. Ich nehme weiter an, daß der zweite Flügel in dem Maß an Gewicht gewinnen wird, als die sich zuspitzende Weltkrise deutlich macht, daß die Frist, die uns zur Lösung der aktuellen Widersprüche bleibt, knapp wird: daß wir der drohenden Katastrophe nur entrinnen können, wenn wir einen kühnen Neuanfang wagen. Damit werden Bahros Thesen, so «utopisch» sie heute erscheinen, einen Realitätsernst gewinnen, an dem kein denkender Zeitgenosse vorbeikommt. Die «grimmigen Tat- I Sachen» (K. Marx) selber werden für sie sprechen. «Bei Strafe des 1 Untergangs» (F. Engels im Blick auf die dem imperialistischen Weltkrieg entgegentreibende Gesellschaft seiner Zeit) werden die Systeme und Mentalitäten hüben und drüben sich von Grund auf ändern müssen. Ich glaube, daß die nächsten Jahre und Jahrzehnte Bahros Grundthese bestätigen werden: «Die reale Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, wird zu einer Frage der praktischen Politik auf Leben und Tod.»

Aber wie immer die weitere Entwicklung verlaufe, Bahros Einsich- I ten und Vorschläge werden darin eine bedeutsame Rolle spielen. An ihnen werden sich in den kommunistischen Parteien des Westens und des Ostens die Geister scheiden. Im Sinn marxistischer Dialektik werden die Gegensätze ausgetragen, indem man sie aufeinanderplatzen läßt. «Die Partei braucht die sozialistische Wissenschaft, und diese kann nicht leben ohne Freiheit der Bewegung. Da muß man die Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, und man tut's am besten mit Anstand, ohne zu zucken» (F. Engels).

Das ist die zweite Frage, die sich hier jungen, unbefangen urteilenden Sozialisten aufdrängt: Warum läßt Ihre SED die Polizei entscheiden, wo es um wissenschaftliche Thesen geht, die nur in freier Diskussion geklärt und diskutiert werden können?

3. Was ich hier abschließend weitergebe, ist nicht die Stimme junger Marxisten in der Schweiz, sondern die Stimme von Christen in der DDR. Selber Glied der christlichen Gemeinde suche ich das Gespräch mit Christen in Ihrem Staat. Ich suche es darum, weil ich dort eine

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Haltung wahrnehme, die mir für das Verständnis des Christseins in der modernen Welt überhaupt wichtig erscheint. Zweierlei scheint mir im Zusammenhang dieses Briefes bemerkenswert:

Erstens die Tatsache, daß die Christen in der DDR, die ich kenne, anders von den Repräsentanten ihres Staates sprechen, als Bahro das tut. Sie sprechen von den Funktionären in Staat und Partei als von Menschen, denen man sich menschlich nahe weiß. Es kommt so etwas wie ein Mitgefühl ihnen gegenüber zum Ausdruck. «Sie haben es wahrhaftig auch nicht leicht», wird mir im Blick auf die Spitzenfunktionäre gesagt. Christen wissen aus einer langen Geschichte um die ungeheure Schwierigkeit, angesichts einer widerspenstigen Realität, angesichts der eigenen Trägheit und Bequemlichkeit dem Auftrag treu zu bleiben, dem man sich verpflichtet weiß. Sie wissen um den Widerspruch zwischen Wollen und Können, zwischen Zielsetzung und faktischem Tun. Sie wissen darum, daß die Widersprüche in der Institution, sei es Staat oder Kirche, sich in der persönlichen Existenz ihrer Repräsentanten reproduzieren und hier oft tragischen Charakter annehmen. Sie wissen um die Lebenslüge, mit der man sich über diese Widersprüche, weil man ihnen nicht ins Gesicht zu schauen wagt, hinwegzutäuschen pflegt. Von daher das Mitgefühl mit Ihnen und Ihren Mitarbeitern. Von daher die Unfähigkeit, sie kurzweg als Produkte des Apparats einzustufen, die Bereitschaft, sie als Menschen zu sehen, die vom tragischen Zwiespalt, an dem wir alle leiden, mitgezeichnet sind: als Menschen, denen ihr subjektiv ehrliches Wollen sich unter dem Zwang der Umstände ins Gegenteil verkehrt.

Ein Zweites weist in anderer Richtung. Kürzlich sagte mir in Ost-Berlin ein junger Christ, das Verhältnis zwischen den Kirchenleitungen und dem sozialistischen Staat habe sich in den letzten Jahren gebessert, hingegen sei es für den einzelnen Christen schwerer geworden, in diesem Staat offen zu seinem Glauben zu stehen und ihn bekennend zu leben. Das wurde nicht im Ton der Anklage gesagt, sondern der nüchternen Feststellung, als müsse es so sein. Es liegt anscheinend im Wesen christlichen Glaubens, daß seine Bekenner unter staatlichem Druck der Freiheit, die ihnen «in Gott» geschenkt ist, nur um so gewisser werden. Es ist die Freiheit an der Schuld, die die christlichen Kirchen in Zeiten ihrer eigenen Verquickung mit Macht- und Unterdrückungsapparaten auf sich geladen haben, mitzutragen und in der Gewißheit der «Vergebung» einen neuen Anfang zu machen: Zellen zu bilden, in denen man «die reale Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt», jetzt und hier, inmitten widriger Strukturen, zu praktizieren beginnt.

Ich klage als Christ meinerseits nicht an, sondern suche selber menschlich zu verstehen. Zugleich meine ich aber zu wissen, daß ein Staat, der seine besten Bürger, Sozialisten wie Bahro und Christen wie diese freien Bekenner, diskriminiert, auf die Dauer in die reine Geist-und Zukunf tslosigkeit absinken muß. Und ich möchte mein kleines Teil dazu beitragen, daß dieser Entwicklung gewehrt wird. Ich grüße Sie mit dem Ausdruck meiner Hochachtung

Ihr Eduard Buess

 

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Eduard Goldstücker: 

  «Man bleibt bei Charaktermord nicht stehen»  

 

 

Lieber K.,

elf Jahre lang, seit unserem letzten Zusammensein, habe ich weder geschrieben noch versucht, auf anderen Wegen mit Dir in Verbindung zu treten. Die Gründe für diese lange Pause wirst Du wohl kennen. Zum Teil hängen sie mit dem Charakter unserer Freundschaft zusammen. Die war bei unserer ersten Begegnung plötzlich da, unverkennbar, mit beiderseitiger freudiger Überraschung und dem Gefühl, als ob man einander seit langem gekannt hätte, und stark genug, um auf Korrespondenz so gut wie verzichten zu können. Jetzt sitze ich da im Exil, meinem zweiten, und denke an jene erste Begegnung, daran, wie weit in Zeit und Wandel sie zurückliegt, an alle, die dabei waren, auch an die seither Dahingeschiedenen, und es ist mir, als ob ich die inzwischen dahingeflossenen Wasser der Moldau und der Spree aus der Ferne hörte...

 

Ich möchte bei der Erinnerung einen kleinen Augenblick verweilen, um sie auch Dir zu vergegenwärtigen, doch die «praktische Vernunft» (Immanuel Kant wird mir diesen Euphemismus für Selbstzensur hoffentlich verzeihen) rät mir nachdrücklich davon ab und veranlaßt mich hinzuzufügen, daß auch andere als die zwei genannten Flüsse ab und zu in unsere Gespräche hineinrauschten.

Bei einem jeden Wort bin ich nämlich bedacht, Dich Unberufenen nicht kenntlich zu machen. Deshalb verschweige ich auch Deinen Namen, wähle einen beliebigen Anfangsbuchstaben (und erst jetzt fällt mir ein, ob das scheinbar spontan herausgegriffene K. doch nicht mit Dingen wie etwa dem «Prozeß» in tieferem Zusammenhang steht), erwarte trotzdem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, daß Dich diese Zeilen erreichen und von Dir als an Dich gerichtet gelesen weden.

Ich will Dir die Aufmerksamkeit jener Unberufenen ersparen. Denn die - von der Elbe bis nach Wladiwostok, ja noch darüber hinaus - haben mich mittlerweile (wieder einmal!) zu einer bete noire ihrer Greuelgeschichten gemacht; jeder Kontakt mit mir kann Unannehmlichkeiten nach sich ziehen, denen ich Dich nicht aussetzen möchte. Wenn ich nun mein langes Schweigen unterbreche, wirst Du wohl vermuten, daß ich einen mir wichtig genug scheinenden Anlaß dazu habe. Der Anlaß heißt Rudolf Bahro oder genauer das brutale Vorgehen der DDR-Behörden gegen diesen mir persönlich unbekannten Mann.

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Was mir an diesem Fall besonders ominös vorkommt, ist die Handlungsweise der Machthaber, der man ablesen kann, wie die seit zwei Jahrzehnten wiederholt verkündete Überwindung des stalinistischen sogenannten «Personenkults» noch immer eigentlich nur die Oberfläche gestreift hat. Vielleicht wirst Du - ich kann es mir gut vorstellen - diese Behauptung übertrieben finden. Ich will wie nur möglich objektiv urteilen und versuchen, meine Deutung der Anzeichen Dir vorzulegen. In der Schule, die wir beide mitgemacht haben, hat man uns die Fertigkeit beibringen wollen (oder auch nur vorgeschützt?), aus unbeträchtlichen Symptomen auf wichtige Vorgänge zu schließen. Überprüfe bitte, ob ich mich im Bereich des Annehmbaren bewege oder übers Ziel hinausschieße.

Da ist einer, der auf Grund seiner langen Erfahrungen und Erwägungen kritisiert. Man würde erwarten, daß sich nach den schrecklichen, vom machtschützenden Dogmatismus angerichteten Schäden, bei Leuten, die ständig auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Weltanschauung pochen, endlich die Ansicht durchsetzen wird, daß eine jede Kritik in erster Linie danach beurteilt werden muß, ob ihr Inhalt stimmt, das heißt, ob das Ausgesetzte der Wirklichkeit entspricht. Anstatt dessen wird da - wie immer wieder seit unvordenklichen Zeiten - die Aufmerksamkeit vorsätzlich von der Kritik auf den Kritiker abgelenkt. Er wird verleumdet, diskreditiert, schikaniert, um als unqualifiziert, suspekt und subversiv «entlarvt» zu werden. Wer aber seinen Sozialismus fortwährend zur Schau trägt und dabei Kritik mit Charaktermord beantwortet, der beweist bloß, daß er tief in Despotie steckt, in der uralten Herrscher-Untertanen-Situation, deren «real-beste-hend-sozialistische» Variante der Stalinismus darstellt.

Man bleibt aber bei Charaktermord nicht stehen. Die unbequeme Kritik muß ungeschehen gemacht oder im Keim erstickt werden. Parteidisziplin (in dieser Beziehung ein Bestandteil des Unterdrückungsapparats), Gesetze, Polizei, Gerichte verstellen ihr den Weg im Innern des Landes und drohen mit schlimmen Folgen, wenn sie sich jenseits der Grenzen hören läßt. «Despoten waren immer anfällig für Illusionen», meint Tschechow, und die Herrscher in Bahros Land (und dem Deinen, mein Freund) bestätigen die Richtigkeit dieser Behauptung, indem sie - Marxisten? — glauben oder zu glauben vorgeben, Äußerungen der Nichtübereinstimmung, des Unbehagens, der Unzufriedenheit mit repressiven Maßnahmen auf die Dauer niederhalten zu können. Diese Einstellung läßt darauf schließen, daß entweder den Herrschern wegen ihrer Machtvollkommenheit die Fähigkeit, aus der Erfahrung zu lernen, abhanden gekommen ist, oder aber daß sie sich hinter ihrem riesigen futurischen Wortwall de facto von der Maxime «Nach uns die Sintflut» leiten lassen.

Oder beides?

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Die Erfahrung, die Praxis ist für den Marxismus - ich wiederhole Wohlbekanntes, verarge mir es nicht -, das ständige Korrektiv der Theorie; das ist gleichsam das Triebwerk des Fortschritts, das die Anwesenheit des echten kritischen Geistes selbstverständlich voraussetzt. Die Unterdrückung der Kritik hat daher notwendigerweise die Entartung der Theorie zur Folge: auch weiterhin wird Vernunft und Wissenschaft gepredigt, aber Dogma und Willkür angewandt. Hier scheiden sich die Wege des «real bestehenden Sozialismus» und des gesellschaftlichen Fortschritts.

Was nun die Zukunftsperspektiven betrifft, da verhalten sich die Herrscher des «real bestehenden Sozialismus», als ob mit ihnen ein völliger Umbruch der Weltgeschichte eingetreten wäre, eine ganz neue Menschheitsepoche, in der nur das gefördert wird, was der Erhaltung oder Stärkung ihrer Macht dient, und nur das toleriert, was sie nicht schmälert. Der einzelne Staatsbürger, soweit er nicht dem machtausübenden Partei-plus Staatsapparat angehört und laut dessen Weisungen handelt, wird als Subjekt der Politik nicht anerkannt. Wenn er Meinungen äußert, die von den offiziell momentan gültigen abweichen, wird er in jedem Fall als ein Störenfried angesehen, als jemand, der sich dem jetzt schon klar vorgezeichneten Gang der Geschichte widersetzt und der, je nach der Tragweite seines Vergehens, zurechtgewiesen werden muß; daher die Behandlung des unbequemen Kritikers, der sich nicht rechtzeitig «sagen läßt», entweder als Psychopath oder als Verbrecher. Die Inquisition machte für ihre Tätigkeit, mutatis mutandis, eine auffallend ähnliche ideologische Rechtfertigung geltend.

Wie will man es aber fertigbringen, daß die Kluft zwischen Wort und Tat nicht bemerkt wird oder, wie jenes berühmte Fehlen der kaiserlichen Bekleidung, öffentlich nicht zur Sprache kommt? Die ungeteilte und unkontrollierte Macht glaubt - sie hat es sich seit uralten Zeiten immer wieder eingeredet -, auf Argumente nicht angewiesen zu sein, nach dem Grundsatz «Wer die Macht hat, hat das Recht = hat recht» handeln und ideologische Probleme mit anderen als ideologischen Mitteln lösen oder jedenfalls aus dem Weg schaffen zu können. Wenn Indoktrination zu wirken nachläßt, materielle Zugaben nicht genügen, Parteidisziplin nicht mehr ausreicht, dann greift man zu Einschüchterungs- und Unterdrückungsmaßnahmen, deren reiche Skala zur Verfügung steht: von der leisesten Andeutung des Mißfallens, über soziale Herabsetzung, Arbeitsverlust, Kerker bis zur «physischen Liquidierung» im innerstaatlichen und bis zum Krieg im internationalen Maßstab. (Ja, der Krieg ist eines der nichtideologischen Mittel, mit dessen Hilfe man ideologische Gegensätze, sollte es anders nicht gehen, zu erledigen hofft.)

Wo aber das Machtwort die Wahrheit ersetzt, dort gilt als wahr, was die neueste Propagandaverlautbarung so verkündet, während unsanktionierte Gedanken, selbständige Kritik, von den offiziellen abweichende Feststellungen und Alternativvorschläge samt ihren jeweiligen Trägern der Polizei überliefert werden - wie Rudolf Bahro.

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Daß man den Verfasser eines den Machthabern unangenehmen Buches im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts (zwei Jahre nach Helsinki!) und inmitten Europas diffamiert und ins Gefängnis wirft, ist an und für sich empörend genug, indem es ein beredtes Zeugnis davon ablegt, daß der «real bestehende Sozialismus» die für die Machtausübung belangreichen Ergebnisse der industriellen und demokratischen Umwälzungen in den meistentwickelten Teilen der Welt in sein politisches System so gut wie gar nicht einverleibt hat. Wir haben es daher mit einem präindustriellen, wesentlich aus feudal-despotischen Zeiten stammenden politischen System zu tun, das heute, besonders in Europa, und ganz besonders außerhalb Rußlands, einen krassen Anachronismus darstellt. Kein Wunder, daß, wenn man an Bahro denkt, berüchtigte Präzedenzfälle aus jenen Zeitläufen in den Sinn kommen, wie etwa der Fall Radischtschew oder der Fall Schubart, und die bange Frage sich aufdrängt, ob die vor der Französischen Revolution erschrockene Zarin Katharina oder der schwäbische Winkel-Despot Karl Eugen würdige Vorbilder für machtausübende Sozialisten abgeben.

 

Der unvoreingenommene Leser von Bahros <Alternative> (ich hoffe, Du hast sie schon oder wirst sie bald zu Gesicht bekommen) kann keinen Zweifel haben, daß dieser Verfasser aus sozialistischen Positionen kritisiert, daß er um die Erneuerung sozialistischer Ideen und Ideale bemüht ist und daß seine Erwägungen vom Leiden an jener Kluft zwischen den Worten und den Taten, zwischen den zur Schau getragenen edlen Grundsätzen und dem «Real-Bestehenden» gehegt wurden. Die zuständigen DDR-Instanzen wissen es ebensogut.

Trotzdem haben sie ihn verhaftet und der Spionage oder, wie das auf bürokratisch heißt, der «nachrichtendienstlichen Betätigung» bezichtigt, wodurch sie klar ihren Entschluß zu verstehen geben, diesen Kritiker, der viele ihrer Tabus durchbrochen hat, auf lange Jahre, wenn nicht für immer, mundtot zu machen. In keiner anderen mir bekannten Sprache finde ich solch einen fast makaber passenden Ausdruck wie dieses «mundtot machen». Denn diesen Mund, das heißt den Geist, dessen Gedanken er artikuliert, will man tatsächlich töten. Man ist da offensichtlich darauf aus, ein Exempel zu statuieren, so daß es niemand wagen soll, Bahros Ideen aufzugreifen oder ähnliche zu entwickeln. Um ihn nicht bloß physisch durch Kerkermauern, sondern auch psychologisch durch Abscheu von der Untertanenmasse zu isolieren, verlautbart man, er stehe im Verdacht der Spionage, greift also zu der vielleicht verächtlichsten Waffe aller Unterdrücker: den Unbequemen, den zu Beseitigenden als verräterischen Helfershelfer des jeweiligen Feindes hinzustellen. Stalin hat diese Waffe zwar nicht erfunden, jedoch immerzu mörderisch benutzt. 

Was hat sich in dieser Hinsicht seit seinem Abgang verändert? 

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In Prag erschien im Vorjahr die Charta 77; wie reagierten die dortigen von der Okkupationsmacht eingesetzten Alt-neu-Stalinisten? Mit der Schnelligkeit einer Reflexbewegung verkündeten sie, die Charta sei auf Geheiß «zionistischer und imperialistischer Zentralen» verfertigt worden. In Moskau werden Prozesse dieser Art vorbereitet. Und irgendwo in der DDR sitzt Rudolf Bahro hinter Gittern und erlebt gleichsam auf der eigenen Haut, einerseits wie notwendig eine prinzipielle, tiefgreifende Kritik des «real bestehenden Sozialismus» geworden ist, und andererseits, was jener «Sozialismus» unter ideologischen Auseinandersetzungen nur noch versteht. Überwindung des Stalinismus? Plus ca change, plus c'est la meme chose. Brechts Diktum kommt mir plötzlich in den Sinn: «Da es so ist, bleibt es nicht so.»

Über so manches könnte ich noch sprechen - im Gefängnis und im Exil ist das Vergangene mehr anwesend als sonst. Vielleicht ein anderes Mal und vielleicht sogar, da nichts ausgeschlossen ist, auch persönlich. Diesmal nur noch die Versicherung, daß ich mich mit diesen Zeilen in die endemische deutsch-deutsche Polemik nicht einzuschalten gedenke und daß ich mich von den antisozialistischen Gegnern der DDR entschieden distanzieren möchte.

Und zu guter Letzt das folgende Zitat zur Illustration dessen, was ich als die Kluft zwischen Worten und Taten im «real bestehenden Sozialismus» bezeichnet habe:

«Die Partei ist nach der Lehre Lenins unbesiegbar, wenn sie sich vor Kritik nicht fürchtet, wenn sie ihre Fehler nicht versteckt... Sie verliert an Autorität, wenn sie vor den Massen die zugelassenen Fehler verheimlicht, die strittigen Fragen vertuscht und Kritik und Selbstkritik nicht zuläßt.»

Weißt Du, wo das steht? In der letzten, 1977 in Moskau russisch veröffentlichten Version der offiziellen <Geschichte der KPdSU> (S. 769).

Ich grüße Dich und die Deinen (inzwischen bist Du ja höchstwahrscheinlich Großvater geworden) im Geiste unserer einstigen Freundschaft.

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Eduard Goldstücker 

 

 

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