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   Ken Coates: 

 

«Wir hatten Dich zum Russell-Tribunal eingeladen»  

 

 

 

April 1978,  Werter Genosse Bahro,

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nunmehr versuche ich Dir zum zweitenmal zu schreiben. Die Chancen, daß Du diesen Brief wirklich zu Gesicht bekommst, sind vermutlich weitaus größer als seinerzeit die Möglichkeit, daß man Dir mein letztes Schreiben aushändigen würde. Der erste Brief wurde an Dich per Adresse Innenministerium abgesandt, kurz nachdem wir von Deiner Verhaftung erfahren hatten. Der vorliegende Brief nun, der zur Veröffentlichung bestimmt ist, wird vielleicht eintreffen, nachdem der Innenminister gegangen ist oder seine Meinung geändert hat oder auch nur Scham zu empfinden beginnt über die Art und Weise, wie man Dich jetzt behandelt.

In meinem letzten Brief hatte ich Dich gefragt, ob Du bereit sein würdest, Dich dem Russell-Tribunal anzuschließen, das die Lage der Menschenrechte in der Bundesrepublik untersucht und sich insbesondere mit der Praxis der Berufsverbote beschäftigt. Etwa zum gleichen Zeitpunkt meines Schreibens richtete mein Kollege Chris Farley einen Appell an Willi Stoph, in dem er Deine Freilassung verlangte, um Dir gegebenenfalls die Teilnahme an dieser Arbeit zu ermöglichen. Später wurde mir berichtet, daß Le Monde über diese Initiative als eine Form von «schwarzem Humor» berichtet hatte. Sie war durchaus nicht in diesem Sinne beabsichtigt: Uns ist es mit dem Problem Deiner Inhaftierung ebenso bitter ernst wie mit dem andersgelagerten Problem der politischen Diskriminierung im Westen.

Weil einige Leute, die in England, Frankreich und Deutschland für die konservative Presse arbeiten, offenbar der Meinung sind, es sei unmöglich, den McCarthyismus in unseren Ländern zu bekämpfen, ohne gleichzeitig jeden Akt offizieller Repression im osteuropäischen Machtblock gutzuheißen, muß zunächst einmal gesagt werden, was Dir und jedem anderen Sachkundigen schon längst bekannt ist: daß wir Deine Einkerkerung nicht nur als einen Angriff auf die elementarsten Prinzipien der Demokratie betrachten, sondern auch als eine Verhöhnung der Idee des Sozialismus. Wir sind der Meinung, daß Demokraten allenthalben und besonders Sozialisten sich das Bemühen um Deine bedingungslose Freilassung zur Aufgabe machen und gleichzeitig darauf dringen müssen, daß Du einen Rechtsanspruch hast, unbehelligt zu leben und zu arbeiten, auch wenn Du Deine politische Forschungs- und Publikationstätigkeit fortsetzen solltest.


Wir hätten die Möglichkeiten dieses Gremiums in jedem Fall ausgeschöpft, auch wenn Deine politische Einstellung eine ganz andere gewesen wäre. Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erscheint es durchaus nicht mehr einleuchtend, daß ein fortschrittliches und zivilisiertes Land Mühe hat, ein breitgefächertes Spektrum unterschiedlicher politischer Meinungen zu tolerieren, zumal wir beobachten können, daß eine große Vielfalt derartiger Meinungen sich gegenwärtig in der Sowjetunion und einigen anderen osteuropäischen Staaten artikuliert, obwohl abweichende Meinungsäußerungen dort offiziell mißbilligt werden und mitunter gefährlich sind. 

Wir haben aber auch beobachtet, daß nach dem anfänglichen «Tauwetter», mit dem Nikita Chruschtschow den Prozeß der «Entstalinisierung» einleitete, sich in der UdSSR und den anderen mit ihr besonders eng verbundenen Nationen eine deutliche Verschlechterung im Hinblick auf das erlaubte Maß an Meinungsfreiheit abzeichnet. Selbst in der Deutschen Demokratischen Republik ist dies evident: Ich erinnere an den Briefwechsel zwischen Bertrand Russell und Walter Ulbricht, in dem es um die Frage der Freilassung von Heinz Brandt ging und der zu dem Beschluß führte, Herrn Brandt aus dem Gefängnis zu entlassen; heute dagegen werden Briefe, die Deinen eigenen Fall und andere betreffen, einfach ignoriert.

Leser von Russells Autobiographie finden in Band III (auf den Seiten 189 bis 191) einige wichtige Auszüge aus diesem bemerkenswerten Briefwechsel:

 

 

An Nikita Chruschtschow

4. Juli 1962 

Sehr geehrter Herr Chruschtschow,

ich gestatte mir, Ihnen die Kopie eines Briefes an die Moskauer Abrüstungskonferenz beizulegen, ein Schreiben, in dem ich mich mit dem Fall Heinz Brandt befasse. Ich hoffe, Sie werden meine Ansicht teilen, daß Milde in dieser Angelegenheit die Sache des Friedens fördern würde.

Wärmsten Dank für Ihren freundlichen Brief anläßlich meines 90. Geburtstages, ich war darüber sehr erfreut.

Hochachtungsvoll, Ihr Bertrand Russell

 

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An den Präsidenten der Moskauer Abrüstungskonfrenz

4. Juli 1962

Geehrter Herr,

ich möchte die Aufmerksamkeit dieser Konferenz auf den Fall des in Ostdeutschland zu dreizehn Jahren Zuchthaus verurteilten Heinz Brandt richten. Ich weiß nicht, wie die Anklage im einzelnen lautet. Anfänglich wurde ihm Spionage zum Vorwurf gemacht; als es dann zum Prozeß kam, wurde diese Anklage wieder fallengelassen. Sein ganzes Leben hindurch suchte Heinz Brandt der Sache des Friedens hingebungsvoll, aufopfernd und aktiv zu dienen, und er ist ein erklärter Gegner der Wiederbewaffnung Westdeutschlands. Unter dem Hitler- « Regime hat er elf Jahre in Gefängnissen und Konzentrationslagern verbracht, darunter in Auschwitz und Buchenwald. Brandts Festnahme und Verurteilung durch die ostdeutschen Behörden war für alle, die für den Frieden und gegen die Wiederaufrüstung Westdeutschlands sind, ein schwerer Schlag, während man damit zugleich den Militaristen in Westdeutschland neue Argumente lieferte und Ressentiments bestärkte. Ich hege keinerlei Zweifel, daß die Freilassung Heinz Brandts den Interessen der Abrüstung überaus dienlich wäre und damit den Interessen der Bemühungen dieses Kongresses. Eine Resolution des Kongresses zur Freilassung Heinz Brandts scheint mir aus solchen Gründen sehr wünschenswert.

Bertrand Russell

 

 

An Walter Ulbricht

12. August 1963

Sehr geehrter Herr Ulbricht,

Ihre Regierung erwies mir erst kürzlich die Ehre eines Friedenspreises im Namen Carl von Ossietzkys. Das Andenken Ossietzkys ist mir sehr teuer, und ich ehre die Ideale, für die er starb. Als leidenschaftlicher Gegner des Kalten Krieges und der Kalten Krieger hielt ich es für bedeutungsvoll, die mir verliehene Auszeichnung anzunehmen.

Sie werden also die Motive begreifen können, die mich noch einmal bestimmen, im Namen Heinz Brandts an Sie zu appellieren. Bisher wurde mir zu meinem großen Befremden nicht einmal mitgeteilt, ob man meine früheren Appelle zugunsten Brandts überhaupt erhalten hat. Er war einer jener politischen Gefangenen, die man zusammen mit Ossietzky in ein Lager gebracht hatte. Er hat lange Jahre der Haft erlitten, weil er zu seiner politischen Überzeugung stand. Ich habe nicht die Absicht, die Vorzüge und Mängel dieser seiner Überzeugung gegeneinander abzuwägen, doch ersuche ich Sie zu überlegen, wie sehr 

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die weiterhin andauernde Haft Brandts den Bemühungen um eine Verbesserung der Beziehungen Ihres Landes zum Westen und einer Milderung des Kalten Krieges abträglich ist. Noch einmal richte ich an Sie das Ersuchen, Heinz Brandt aus humanitären Gründen die Freiheit zu gewähren, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich wissen ließen, welche Absichten Sie mit ihm haben. Obwohl ich die Ossietzky-Medaille sehr schätze, befinde ich mich auf Grund der fortdauernden Haft Brandts in einer zwiespältigen Lage.

Hochachtungsvoll, Ihr Bertrand Russell

 

Am 30. Oktober antwortete der Sekretär des ostdeutschen Staatsrates und erklärte in aller Ausführlichkeit, der «wegen Verrats verurteilte Spion Brandt» habe die «gerechte Strafe» von dreizehn Jahren Zuchthaus erhalten, die im Juni 1974 zu Ende gehe. Brandt habe erst zwei Jahre seiner Strafe verbüßt; eine längere Strafhaft lasse sich aber nicht bedingt aussetzen, solange nicht wenigstens die Hälfte der Strafe verbüßt worden sei. «Eine Herabsetzung des Strafmaßes auf dem Gnadenwege» sei wegen der Schwere der Verbrechen nicht gerechtfertigt. Herrn Gotsches Brief schloß: «Ich darf annehmen, daß auch Sie, sehr geehrter Herr Russell, nach Kenntnis des Sachverhalts zur Einsicht gelangen ... daß in diesem Fall das Strafgesetz in voller Strenge zur Anwendung kommen muß ... im Interesse der Humanität.»

 

An Walter Ulbricht

7. Januar 1964 

Sehr geehrter Herr Ulbricht,

ich schreibe Ihnen, um Sie von meiner Entscheidung in Kenntnis zu setzen, Ihrer Regierung die Carl-von-Ossietzky-Friedensmedaille zurückzugeben. Dies geschieht nur widerstrebend und nach zweijährigen privaten Bemühungen zugunsten Heinz Brandts, dessen fortdauernde Einkerkerung sowohl der Koexistenz als auch der Verminderung der Spannungen und dem Verständnis zwischen Ost und West hinderlich ist.

Mein Vertreter, Herr Kinsey, sprach unlängst mit Funktionären Ihres Staatsrates in Ost-Berlin und überbrachte von mir eine Botschaft.

Ich bedaure, daß ich in dieser Frage nichts von Ihnen gehört habe. Ich hoffe dennoch, daß Sie eine Möglichkeit zur Freilassung Brandts durch eine Amnestie finden werden. Es wäre dies ein Gewinn für die Sache des Friedens wie auch im Interesse Ihres Landes.

Hochachtungsvoll, Ihr Bertrand Russell

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29. Mai 1964 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Ulbricht,

ich schreibe an Sie, um Ihnen mitzuteilen, wie froh ich über die Freilassung Heinz Brandts aus dem Gefängnis bin. Ich bin mir bewußt, daß Ihrer Regierung dieser Entschluß nicht leichtgefallen ist, aber ich bin durchaus überzeugt, daß es ein Entschluß im Interesse Ihres Landes war, der sowohl der Sache des Friedens wie auch den guten Beziehungen zwischen Ost und West förderlich sein wird.

Ich möchte hiermit angesichts dieses Gnadenerweises meine Hochachtung und Genugtuung zum Ausdruck bringen.

Hochachtungsvoll, Ihr Bertrand Russell

 

Heutzutage ist man dickfelliger geworden, und es ist gewiß viel schwieriger, von den Behörden der Deutschen Demokratischen Republik eine Antwort zu erhalten.

Viele Jahre lang haben wir in allen Kontinenten - von Indonesien bis Peru, von Portugal bis Iran und Malaysia - für das Wohl der politischen Gefangenen gearbeitet. Nachdem sich zahlreiche Proteste als fruchtlos erwiesen hatten, sahen wir uns gezwungen, eine öffentliche Kampagne mit Tagungen und Unterschriftensammlungen zugunsten sowjetischer und tschechoslowakischer Gefangener zu starten. Diese Kampagne wurde von über zehntausend Universitätslehrern, Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern und politischen Sprechern sozialistischer und kommunistischer Parteien unterstützt. Einige der Gefangenen sind inzwischen frei, obwohl viele damals in die Verbannung geschickt und ihrer Staatsbürgerschaft beraubt wurden, ohne daß ihnen ein Beschwerdeverfahren ©der auch nur der Schein eines Prozesses zugestanden wurde. 

Insoweit als dahinter Methode steckt, scheinen die sowjetischen Behörden, falls sie überhaupt reagieren, auf Kritiker aus dem sozialistischen Lager genauso feindselig zu reagieren wie auf andere: Von angesehenen Verbannten des rechten Flügels wurde zwar Solschenizyn seine Staatsbürgerschaft aberkannt; doch auf dem linken Flügel wurden Grigorenko und Schores Medwedjew in der gleichen Weise gemaßregelt. Von Mal zu Mal verbohrtere Einstellungen, immer unnachgiebigere Reaktionen auf humanitäre Anliegen sind Begleiterscheinungen einer wachsenden Isolierung von allen radikalen und sozialistischen Anschauungen in der übrigen Welt. Als Rostropowitsch zum nichtsowjetischen Bürger wurde, obwohl seine politische Einstellung bis zum heutigen Tage sein unveröffentlichtes Privatgeheimnis geblieben ist und das einzige, weswegen er bei den Behörden aktenkundig ist, die schöpferisch-kulturelle Freiheit betrifft, stand in dem Blatt der englischen Kommunisten, The Morning Star, zu lesen, daß dieser Schritt für die Linke und vor allem für die Kommunisten bei den

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französischen Wahlen in geradezu optimaler Weise nutzlos, ja abträglich sei. Sicher, die französischen Kommunisten haben deutlich zu verstehen gegeben, daß ihnen eine derartige repressive Politik verhaßt ist. Nicht nur der Eurokommunismus lehnt sich gegen diese Intoleranz auf: Gleichzeitig nimmt die Empörung darüber auch in der nichtkommunistischen Linken immer mehr zu, so daß die Popularität der Sowjets überall in Europa ihren Tiefpunkt erreicht hat.

Problematisch ist, daß all dies eine absteigende Spirale bildet, in der die sowjetischen Behörden um so herausfordernd unvernünftiger reagieren, je heftiger sie kritisiert werden (von den eigenen Verbündeten und Genossen im Westen nicht weniger als von Neutralen oder eingefleischten Kritikern). In der UdSSR wurde - eine fast unglaubliche Tatsache - das jüngste Gesuch von Frau Larina, der Witwe Bucharins, um erneute Überprüfung jenes monströsen Zerrbildes eines «Gerichtsprozesses», der vor vierzig Jahren zum Justizmord an ihrem Gatten geführt hatte, rundweg abgewiesen, obwohl in den erfreulicheren Zeiten unter Chruschtschow halboffizielle Andeutungen gemacht worden waren, daß die gegen Bucharin seinerzeit vorgebrachten strafrechtlich relevanten Anklagepunkte nicht mehr ernsthaft aufrechterhalten werden könnten.

Der Bucharin-Prozeß erreichte am 15. März 1938 seinen Höhepunkt; innerhalb von zwei Tagen waren die Hauptangeklagten hingerichtet worden. Man hatte sie einer Reihe hochverräterischer Handlungen, unter anderem im Dienste Hitlers, beschuldigt. Kein ernst zu nehmender Wissenschaftler wird heute die These verfechten, daß hinter diesen Anklagen irgend etwas anderes als eine politische Hexenjagd steckte. Bucharin ist nie richtig «rehabilitiert» worden. 1961 reichten vier Alt-Bolschewiki beim sowjetischen Politbüro ein Gesuch ein, in dem sie Bucharins vollständige Rehabilitierung forderten. Später äußerte Frau Larina die Bitte, die gegen ihren Gatten erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe fallenzulassen, ihr und ihrem Sohn zu erlauben, wieder in Moskau zu leben, und das Ansehen ihres Mannes in der Partei wiederherzustellen. Offensichtlich gab man ihr zu verstehen, daß man ihre beiden zuerst geäußerten Bitten erfüllen werde, während man die zuletzt vorgetragene Bitte prüfen wollte.

Seit dieser Zeit hat es nicht nur keinerlei Fortschritte gegeben, sondern ein Außenstehender gewinnt auch den Eindruck, daß die Uhr unversehens zurückgedreht wurde. Bucharin wurde politisch nie rehabilitiert; der Prozeß, der zu seiner Hinrichtung führte, wurde in der Öffentlichkeit nie einer erneuten Prüfung unterzogen; keines der anderen Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit Bucharins rechtswidriger Hinrichtung wurde jemals gewissenhaft revidiert, und noch heute werden in der amtlichen sowjetischen Presse zahlreiche verleumderische Behauptungen über Bucharin aufgestellt.

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Wir haben beschlossen, einen weltweiten Appell an die gesamte sozialistische und kommunistische Bewegung zu richten mit dem Ziel einer umfassenden Überprüfung des Bucharin-Prozesses sowie einer ebenso umfassenden Rehabilitierung seiner Opfer, wo diese als gerechtfertigt erscheint. Es gibt eine Reihe noch ungeklärter Fragen, die im Prozeß aufgeworfen wurden, in dessen Verlauf auch der Geheimpolizeichef Jagoda angeklagt worden war sowie andere, die an Verbrechen nicht so völlig unschuldig gewesen sein dürften wie die Hauptopfer.

Daß dieser lang zurückliegende Fall wieder aufgerollt werden muß ist klar: Trotz Bucharins angeblicher Rehabilitierung durch die Partei während der Chruschtschow-Ära erhielt Frau Larina 1977 von der Kontrollkommission des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion einen Telefonanruf, in dem ihr mitgeteilt wurde, daß das Gerichtsverfahren von 1938 aus offizieller Sicht nicht wiederaufgenommen worden sei. Daß Bucharins Witwe eine solche Behandlung zuteil wurde, daß man sie am Telefon mit Ausflüchten abspeiste, statt ihr den Sachverhalt in einem Brief unumwunden mitzuteilen, deutet darauf hin, wie sehr die sowjetischen Behörden glauben, sie seien über jedwedes Recht und jeden moralischen Tadel erhaben. Bezeichnend ist ferner, daß der Oberste Gerichtshof der UdSSR auf die Eingabe der Familienangehörigen Bucharins nicht einmal geantwortet hat.

Roy Medwedjew hat eine nachdrückliche Anklage gegen die Bucha-rin zuteil gewordene Behandlung verfaßt, eine Schrift, die demnächst in ganz Westeuropa erscheint. Zur gleichen Zeit hat Bucharins Sohn Juri Larin einen Appell an Enrico Berlinguer, den Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, gerichtet. Dieses bewegende Dokument hat folgenden Wortlaut:

 

«Werter Genosse Berlinguer,

ich schreibe Ihnen diesen Brief am Vorabend des Tages, an dem sich der tragische Tod meines Vaters Nikolaj Iwanowitsch Bucharin zum vierzigstenmal jährt. Damals war ich erst zwei Jahre alt und naturgemäß nicht in der Lage, mich an meinen Vater zu erinnern. Doch meine Mutter, die viele Jahre in Stalins Gefängnissen und Lagern zugebracht hatte, blieb wunderbarerweise am Leben und erzählte mir die Wahrheit über meinen Vater. Später wurde mir über ihn von G. M. Krschischanowsky, einem der engsten Freunde W. I. Lenins, und von Alt-Bolschewiki berichtet, die den Terror überlebt und Nikolaj Iwanowitsch bei der einen oder anderen Gelegenheit kennengelernt hatten. Außerdem las ich viele bolschewistische Bücher (die in unserem Land noch heute verboten sind und nur durch Zufall von einigen Alt-Bolschewiki aufbewahrt worden waren), darunter auch Bücher von Nikolaj Iwanowitsch selber, sowie die Werke ausländischer Forscher. Die Informatio-

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nen, die ich auf diese Weise erhielt, halfen mir, den Charakter sowie die gesellschaftliche und politische Tätigkeit meines Vaters richtig einzuschätzen. Ich begriff das Ungeheuerliche der Stalinschen Verbrechen, das Ausmaß, in dem er die Geschichte der Partei verfälscht hatte, die Unsinnigkeit und Dummheit der Anschuldigungen, die auf dem Plenum des Zentralkomitees im Februar/März 1937 gegen meinen Vater erhoben worden waren, und den Prozeß gegen den sogenannten <Rechtstrotzkistischen Block>. Auf Grund dieser unsinnigen Anklagepunkte (Spionage, Hochverrat, Sabotage undMord) wurde mein Vater jedoch aus dem Zentralkomitee und aus der Partei ausgeschlossen und zum Tode verurteilt.

Seit 1961 erörterten meine Mutter A. M. Larina und später auch ich selber mit den höchsten Partei- und Staatsorganen des Landes die Frage einer Zurücknahme der gegen N. I. Bucharin seinerzeit vorgebrachten ungeheuerlichen Anschuldigungen sowie die Wiederherstellung seiner Mitgliedschaft in der Partei. Diese Frage wurde bei der Parteiführung auch durch den Senior der Alt-Bolschewiki (unter Führung des früheren ZK-Sekretärs) der Partei, E. D. Stasewa, angeschnitten. Sie verstarben vor einiger Zeit, ohne eine Antwort erhalten zu haben. Erst im letzten Sommer (1977) erhielten wir endlich eine Antwort in Form eines Telefonanrufs. Ein Funktionär der Parteikontrollkommission des Zentralkomitees der KPdSU informierte uns telefonisch, daß die beim Prozeß gegen Bucharin erhobenen Anschuldigungen nicht zurückgezogen worden seien, da man die Überprüfung der Prozeßakten noch nicht abgeschlossen habe; das Problem der Wiederherstellung seiner Mitgliedschaft in der Partei könne daher noch nicht gelöst werden. Dies bedeutet, daß wir vierzig Jahre nach der Hinrichtung meines Vaters eine Antwort erhielten, durch die die monströsen Anschuldigungen Stalins im Grunde nur bekräftigt werden. Meine Eingaben an die Gerichte (den Obersten Gerichtshof der UdSSR) hatten keinen Erfolg; die schlichte Wahrheit ist, daß man mir einfach nicht antwortet.

In einem Land, wo der größere Teil der Bevölkerung nach dem verlogenen <Kurzgefaßten Lehrgang> erzogen wurde, gibt es viele, die meinen Vater noch immer als Verräter und Hitler-Söldling betrachten, obwohl er in Wahrheit ein hervorragender Kämpfer gegen den Faschismus war und in seinen letzten Lebensjahren all seine Kraft darauf verwandte, den Faschismus zu entlarven und vor der wachsenden faschistischen Bedrohung zu warnen.

Als mein Vater die Wohnung zum letztenmal verließ, um am ZK-Plenum vom Februar/März 1937 teilzunehmen (von dem er nie zurückkehren sollte), sagte er zu meiner Mutter: <Sei nicht verbittert; es gibt verhängnisvolle Irrtümer in der Geschichte. Ich möchte, daß mein Sohn als Bolschewik aufwächst.) Er betrachtete die Vorfälle, die sich ereignet hatten, als tragisch, aber vorübergehend; er glaubte an den Endsieg der Kräfte des Sozialismus.

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Ich bin kein Mitglied der Partei, doch für meinen Vater bedeutete das Wort <Bolschewik> zweifellos einen Kämpfer für soziale Gerechtigkeit. Und dabei sind wir nicht in der Lage, in unserem Lande solche Gerechtigkeit für einen Mann zu erlangen, den Lenin vor seinem Tode <einen Favoriten der ganzen Partei> nannte. Für meine Mutter, die die Schrecken der Stalinschen Lager überlebte und die viele von Lenins Waffengefährten kannte, Vertreter der alten Partei der Bolschewiki I Menschen, an die sie die glücklichsten Erinnerungen bewahrt und von denen sie stets mit Zärtlichkeit und Liebe spricht -, wird das Leben in einer solchen Situation immer unerträglicher. Es ist unvorstellbar, daß Menschen, die auf ihren Schultern noch immer die Last der Stalinschen Verbrechen tragen und sie nicht auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen haben, für hohe Ideale kämpfen können.

Ich wende mich an Sie, Genosse Berlinguer, nicht nur, weil Sie der Vorsitzende der größten kommunistischen Partei Westeuropas sind und die Bürde der Vergangenheit bereits abgeschüttelt haben, sondern auch, weil N. I. Bucharin ein internationalistischer Kommunist war, ein aktives Mitglied der Internationalen Arbeiterbewegung. Er war Kommunisten in vielen Ländern der Welt bekannt, die sich an ihn stets herzliche Erinnerungen bewahrten. Einige dieser Männer weilen noch unter uns und arbeiten in den Reihen der KPI. Ich denke besonders an den Genossen Umberto Terracini.

Ich wende mich an Sie mit der Bitte, sich an der Kampagne zur Rehabilitierung meines Vaters in jeder Ihnen zweckmäßig erscheinenden Form zu beteiligen.

Nicht lange vor seinem Tode schrieb Nikolaj Iwanowitsch einen Brief <an die künftige Generation von Parteiführern), in dem er sie beschwor, <das riesige Geflecht von Verbrechen zu entwirren>. Meine Mutter lernte den Wortlaut dieses Briefes in den düsteren Tagen ihres Lebens auswendig und übermittelte ihn nach ihrer Rehabilitierung dem Zentralkomitee der Partei. Dieser Brief endete mit den Worten:

WISSET, GENOSSEN, DASS AN DEM BANNER, DAS IHR AUF EUREM SIEGREICHEN WEG ZUM KOMMUNISMUS TRAGT, EIN TROPFEN MEINES BLUTES KLEBT.

Hochachtungsvoll, Juri Larin (Bucharin)»

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12. März 1978

Dies, werter Genosse Bahro, ist Geschichte und gehört der Vergangenheit an, doch gerade heute erfahren wir, daß auch Du damit rechnen mußt, vor irgendeine Art von Gericht geschleppt zu werden. Es bleibt abzuwarten, ob man es wagen wird, sich einer offenen Konfrontation in der Öffentlichkeit auszusetzen. Viele Leute sind der Meinung, daß das, was die ostdeutschen Behörden nach eigenem Dafürhalten unternehmen müßten, ihnen so peinlich sein dürfte, daß sie versuchen werden, Dich in einer nichtöffentlichen Gerichtsverhandlung, sozusagen in einem modernen Geheimverfahren a la Sternkammer*, abzuurteilen.

Du sollst wissen, daß sehr viele Menschen genau verfolgen, was mit Dir geschieht. Falls man versuchen sollte, Dich vor eine Art Scheingericht zu stellen, sind meines Erachtens Sozialisten und Kommunisten im Westen gleichermaßen verpflichtet, gemeinsam zu handeln und die Schikanen gegen Dich aufs schärfste zu verurteilen. Unterdessen fordern wir mit Nachdruck unablässig Deine Freilassung: Bald wird es Deinen Landsleuten unmöglich sein, in offizieller Mission ins Ausland zu reisen oder einem ausländischen Gremium beizutreten, ohne mit dieser Forderung konfrontiert zu werden.

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Mit aufrichtigen Grüßen und in brüderlicher Verbundenheit, Dein Ken Coates

Aus dem Englischen von Hans Eckbert

 

* Die Sternkammer war ein britischer Gerichtshof, der nur dem König verantwortlich war und als Strafkammer für Staatsverbrechen und Rechtsfälle ohne besondere Zuständigkeit fungierte. Sie entschied ohne Geschworene und ohne sich an das überlieferte Gesetz gebunden zu fühlen. 1641 wurde sie als ein Hauptangriffspunkt der englischen Revolution vom Parlament abgeschafft. Ihre Urteile waren wegen ihrer Härte und Willkür berüchtigt.

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