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Rudi Dutschke an Nico Hübner

 

"... und geistig Dir nicht den Rücken brechen läßt." 

    wikipedia  Rudi Dutschke *1940 

  wikipedia  Nico Hübner *1955

Lieber Nico Hübner

(1.5.1978)

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1. Schließen sich Christentum und Sozialismus aus?

Zuerst dachte ich, einen solchen <Brief der politischen Solidarität und theoretischen Auseinandersetzung mit Rudolf Bahro>, an Robert Havemann zu richten. Schließlich waren und sind wir mehr denn je politische Freunde. Wenn auch regelmäßig behindert vom Staatssicher­heitsdienst, diese unsere Freundschaft auszubauen. 

Dann wollte ich die mir unbekannten und sich im Gefängnis wie Du befindlichen Brüder Mainz ansprechen. Bald war mir bei allen drei eins sicher bzw. wahrscheinlich: der Robert wird trotz alldem ... die Bücher von Rudolf Bahro schon gelesen und studiert haben. Um den theoretisch-politischen Sprengstoff mit seinen Widersprüchen eventuell richtig einschätzen zu können. 

Die Brüder Mainz wiederum, jedenfalls ist es meine Annahme und Hoffnung, werden sich bei der ersten Gelegenheit an die Kritik der Verhältnisse in Rußland-Sowjetunion und DDR durch Bahro aus innerem Bedürfnis heranmachen. Schließlich ist einer von ihnen auch seines eurokommunistischen Denkens wegen verurteilt worden.

Doch wie wird es mit Dir sein? 

Wird ein junger 22jähriger Christ, der sich auf den Berlin-Status der Siegermächte beruft und den Armeedienst verweigert, wird er, wenn er endlich mal wieder das Gefängnis hinter sich hat, neben vielen anderen Interessen und Bedürfnissen etwas Zeit und Bedürfnis aufbringen für die Bahro-Bücher? 

Für Menschen, die gerade wegen der Erniedrigung, Beleidigung und Ausbeutung der Menschen in der verschiedensten Form und in zu unterscheidenden Produktionsweisen erst recht sagen — in der Linie von Rosa Luxemburg: Es gibt keinen Sozialismus ohne Demokratie, es gibt keine Demokratie ohne Sozialismus? 

Du kennst mich nicht, wie umgekehrt. Wer weiß, wann wir uns unter welchen Situationen irgendwo treffen werden. Trotz alldem, wir haben nicht unwesentliche Gemeinsamkeiten. Ob es Dir (oder mir) gefällt, sei dahingestellt. Aus diesen Gemeinsamkeiten nehme ich mir allein das Recht und die Pflicht, Dich so anzusprechen, Dir einen Brief zukommen zu lassen, den Du mit Sicherheit im Gefängnis nicht zu sehen bekommst. Worin bestehen nun die Gemeinsamkeiten? Auch wenn die Differenzen in den Generations­erfahrungen nicht weggewischt werden dürfen?


Du bist als Ost-Berliner Kriegsdienstverweigerer im DDR-Gefängnis gelandet. Ich wiederum durfte als Luckenwalder Armeedienstverweigerer am Ende der fünfziger Jahre zuerst in die Textilfabrik nach dem Abitur — der Zugang zur Journalistenausbildung in Leipzig war mir «verweigert». Schließlich landete ich kurz vor dem Mauerbau in West-Berlin. Die «Volksarmee»-Offiziere hatten nicht nachgelassen, mich zu «bewerben», wie ich nicht nachließ, zu meiner Überzeugung zu stehen. Im Knast zu landen oder abzuhauen, dann noch zwei Tage vor der Mauer, dieser Unterschied ist nicht zu übersehen. 

 

Allerdings gab es für mich nie jene «linke» oder «rechte» Einäugigkeit, die die Wehrdienstverweigerung im Westen für richtig hält und die im Osten ablehnt. Oder wie umgekehrt <Die Welt>, <Bild-Zeitung> und <Bayernkurier>, die sich zur Zeit für Dich aus eigenen Interessen engagieren und die Kriegsdienst­verweigerung in der Bundesrepublik mit allen Mitteln bekämpfen. Natürlich die Existenz von Berufsverboten in der Bundesrepublik bestreiten, die Kommunisten Havemann, Bahro usw. so gut wie nur möglich übersehen. 

Bei den Denunzianten gegen andere und mich standen die in den sechziger Jahren an der Spitze. Neben der Gemeinsamkeit der Ablehnungen des Armeedienstes ist zwischen uns beiden da noch die «Junge Gemeinde» — Glaube, Hoffnung und Erfahrung unter verschiedenen Umständen. In bäuerlicher Tradition der Familie und über den Krieg war ich Christ geworden. Die Erkenntnis im jungen Alter, daß der Krieg und die deutschen KZ — von den russischen erfuhr ich später — nicht aus dem Himmel gekommen sein können, verwies auf den Kapitalismus. Als Alternative konnte ich mir in den fünfziger Jahren immer den Sozialismus denken.

 

Alltagserfahrungen in der DDR warfen zunehmend Fragen auf: ist das die Alternative zum Kapitalismus oder bleibt nicht eine solche Gesellschaft hinter ihm zurück? Ist aber das Urteil über den Sozialismus schon gesprochen, wenn eine herrschende bürokratische Maschine täglich, stündlich, jede Minute vom «realen Sozialismus» reden und nicht nur die Menschen in Workuta und Bautzen darunter nur noch Arbeiten und noch einmal Arbeiten, Demokratie- und Rechtslosigkeit, Streikverbot und vieles andere mehr vorstellen können? 

Wer tut nicht alles, den Sozialismus an seine Fahne zu nehmen, um die eigenen Herrschafts- und Produktionsverhältnisse zu legitimieren, die große Hoffnung des Jahrhunderts immer wieder zu zerschlagen? 1956 konnte ich noch beten für die aufständischen Arbeiter, Bauern, Studenten und Intellektuellen in Ungarn, die rot getünchten Okkupanten innerlich verachten. Nach der Okkupation der CSSR wurden die Fragen radikaler und die Analyse notwendiger. Unerläßlicher, um sich und anderen gegenüber überhaupt glaubwürdig zu sein. 

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Was für eine Produktionsweise steckt hinter diesen kontinuierlichen antidemokratischen, antisozialistischen, antikommunistischen Produktionsverhältnissen?

So entstand mein Buch <Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen ...>(1974), ein Versuch, die russische Geschichte des asiatischen Despotismus neu im Marxschen Sinne aufzuarbeiten. Ich stieß bis zum «halbasiatischen Staatssozialismus» vor, meine damalige radikale Kritik einer Staatsstruktur, die die Gesellschaft nicht zu ihrem Recht kommen läßt, fand darin ihren Ausdruck. Es mangelte nicht an Denunziationen in der Zeitschrift für Philosophie (DDR), in linken und rechten Ecken in der Bundesrepublik. Die verdinglichten Positionen waren angeknackt worden, wer fühlt sich dabei schon wohl? Das über meine Spezialstudie Lenin Lukács hinausragende Buch des R. Bahro war 1974 leider noch nicht heraus. Er hat aber viele Teile seines Werkes, so schreibt er, «zu genau der gleichen Zeit geschrieben». Gleichzeitig und Ungleichzeitig liegen hier eng nebeneinander.

Du bist, wenn die Informationen richtig sind, mit sechzehn aus der FDJ ausgetreten, und Deine Eltern sollen Mitglieder der SED sein. Es stehen sich hier der gläubige Christ, glaubwürdige Kriegsdienstverweigerer und der vielleicht glaubwürdige, aufrechtgehende Sozialist gegenüber. Schließt sich das für Dich nach Deinen früheren DDR-Erfahrungen aus? Wie wird es nach der Knasterfahrung sein?

Was sagt R. Bahro zum gleichen Problem? 

Er meint: «Beispielsweise müssen die Kommunisten in dieser Frage» des «große(n) Bündnisses aller Kräfte und Strömungen» gegen die «selbstgeschaffenen Sachzwänge» «unbedingt mit den neuen Entwicklungen in der christlichen Bewegung rechnen». Da ist seiner (und meiner) Meinung noch Umfassenderes drin: «Es wird mehr und mehr zum Allgemeingut aller denkenden Christen, daß der historische Materialismus von Marx ein unentbehrliches Instrument ist, um den tiefen Umbruch der Verhaltensweisen real zu ermöglichen. Die Marxisten ihrerseits werden die aktuelle Bedeutung jenes ethischen Provokationsprinzips begreifen, das in der Bergpredigt Jesu Christi liegt.» 

Ernst Bloch, über die Bergpredigt schreibend: sie «mit ihrer Seligpreisung der Sanftmütigen, der Friedfertigen ist aber nicht auf die Tage des Kampfes, sondern auf das Ende der Tage bezogen», auf die Zeit des «Reichs der Freiheit». Die Liebe ist für Jesus Band und Maßstab, schließt aber den Kampf nicht aus, der notwendig ist, um die Liebe zu ihrem Recht kommen zu lassen: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert» (Matth.). In der Spannung von Liebe und Zorn, nicht Haß, wird in der Bibel gedacht und gelebt.

Wie Du seit dem sechzehnten Lebensjahr, wenn die Informationen korrekt sind, dieses Spannungsverhältnis von Liebe und Zorn in der «Jungen Gemeinde» Ost-Berlins gelebt hast, kann ich nur vage ahnen. Etwas besser kenne ich den Weg des Rudolf Bahro, genauer, seines Hauptbuches Die Alternative, seines kritisch-materialistischen Zorns und seiner sozialistischen Perspektiv-Vorstellungen.

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2. Die Zirkulation eines Buches im Mittelpunkt von Europa

 

Ein gutes Jahr vor der Veröffentlichung, eventuell noch früher, zirkulierte das Bahro-Buch schon in Ost-Berlin bei bestimmten kleineren Freundesgruppen, nicht den bekanntesten... Das Buch wurde bewegt, aber der Autor blieb fern. Die Freunde, wo wir es zu Gesicht bekamen, drin rumlasen, angeregt, erregt schnüffelten und mißtrauisch überlegten, wer da wohl seine Finger im Spiel habe, konnten uns desgleichen oder durften uns keinen Namen nennen. Der Ost-Berliner Freund, der meinen (Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen .. .> schon 1974 in die Hand bekommen hatte, verwies mich auf die Leninschen Aussagen von der «halbasiatischen Kulturlosigkeit» des Landes, der russischen Verhältnisse.

Ob nun diese Aussage von 1922 wie viele andere, die gleichermaßen bei mir für die Kritik der asiatischen Knechtschaftsverhältnisse eine Rolle spielten, befanden sich in diesem neuen «Licht aus dem Osten». Ein Buch voller undurchschaubarer Zwielichtigkeit jedenfalls damals. In seinem Selbstinterview sagt er zu unseren beiden Büchern unter anderem: «Besonders mein drittes und viertes Kapitel beziehen sich auf die gleichen Quellen, bei Lenin sogar auf die gleichen Zitate, teilweise.»

1976 vermochten wir noch nicht zu ahnen, daß der uns unbekannte Autor dieses ominösen Buches im Herbst des nächsten Jahres verhaftet werden würde. Ganz anders wurde da von uns und den anderen gesponnen: «Was für einen neuen Trick hat sich da der Staatssicherheitsdienst ausgedacht?» war die erste Frage, im Grunde hielten wir und die Freunde es für äußerst unwahrscheinlich, da eine autonome Gruppe in Existenz annehmen zu dürfen. Bis zu diesem spannenden und ominösen Text glaubte man in etwa zu wissen, wer die sozialistisch-kommunistische Opposition ist und was sie denkt. 

Diese Oppositionellen schätzen mich aus politischen und persönlichen Gründen, waren aber mit meiner radikalen Lenin-Kritik, erst recht mit der für sie völlig neuen und unakzeptablen sozialökonomischen und kulturellen Trennung zwischen dem und der halbasiatischen Weglosigkeit der «allgemeinen Staatssklaverei» (Marx) des russischen Despotismus nicht einverstanden. Hatten die schließlich in alter Kominter- und Kominformtradition bzw. unbegründeten trotzkistischen Thesen gelernt, eine gewisse Unteren twickeltheit des russischen Kapitalismus vor 1917 zuzugeben, doch auf die hohe Kapitalkonzentration in Petersburg zu verweisen, erst recht die Gleichheit des europäischen und russischen «Feudalismus» zu betonen.

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Verständlicherweise war ich wegen der getippten Alternative äußerlich erschrocken, innerlich erregt. Die Erregung nahm zu, als Ende 1976 Namenlose Die Alternative in den West-Berliner Verlag Wagenbach bringen ließen und mir von Unbekannten der Auftrag und die Bitte übermittelt wurde, die Einleitung zu schreiben. Und weiter sollte der Autor mir unbekannt bleiben. Ich sagte zu, fügte unzweideutig hinzu: da ich den Autor oder die Autoren nicht kenne, Stasi-Sauereien nie auszuschließen sind, ich weiter zu den Freunden und Genossen fahren will, bin ich nur bereit, unter Pseudonym die Einleitung zu schreiben. Das wiederum schien der anderen Seite nicht zu gefallen, jedenfalls fielen Krach im Wagenbach Verlag und plötzliche Zurücknahme des Veröffentlichungs­angebots zusammen.

R. Bahro hat hierbei, er wird es uns später... bestätigen (oder nicht), meiner Meinung nach nicht mitgemischt. Jedenfalls sagt er in der Einleitung der sechs Vorträge über sein Buch: «Ich war übrigens von vornherein entschlossen, unter meinem Namen aufzutreten.» Genossen sagten zu mir: «Warum hast du diese große Chance der Veröffentlichung mit Bahro zusammen nicht besser genutzt?» Hatten wie üblich dessen Aussagen zu dieser Sache nicht einmal gelesen. Der Stasi jedenfalls, dieser festen Überzeugung bin ich, hätte durch eine Geheimveröffentlichung mit Einleitung von mir es als eine Sache von außen, von anderen und von mir abschieben und denunzieren können. Schließlich sind da zwischen Bahro und meinem (Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen .. .> wesentliche Gemeinsamkeiten in der radikalen Kritik der russischen Verhältnisse, trotz der nicht zu übersehenden Differenzen.

Lieber Nico Hübner, Du bist im Gefängnis wegen Armeedienstverweigerung in Ost-Berlin, Rudolf Bahro wegen eines Buches. 
Was sind zentrale Punkte bei ihm für mich?

 

3. Kann ein Sozialismus real existent sein, wenn ihm die Voraussetzungen fehlen?

 

In den wenigenzur Verfügung stehenden Seiten das Hauptbuch und die Vorlesungen etc. angemessen wiederzugeben, ist unmöglich. Darum verweise ich primär auf seine pädagogischen Vorträge, die es demjenigen, der nicht täglich die Qual oder den Genuß hat, die «Klassiker» zu studieren, erleichtern sollen, seinem Gedankengang zu folgen.

Wie bei anderen und mir, so war für ihn, vielen Sozialisten und Kommunisten die Okkupation der CSSR durch die Länder des Warschauer Pakts ein elementarer Wendepunkt. Mit durchaus verschiedenen Ausgangspunkten, Erfahrungen und theoretisch-politischen Konsequenzen vollzog sich das: «In den ersten Stunden und Tagen nach der

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Intervention hat sich für immer etwas in mir verändert. Jedenfalls wollte ich ihnen nun eine Antwort liefern, gegen die sie ideell so ohnmächtig sein sollten, wie wir es waren gegen ihre Panzer. Es ist meine Überzeugung, daß diese ideologische Ohnmacht verhängnisvoller ist als die materielle.» Ja, ganz sicher, seiner analytisch-emanzipatonschen Waffen beraubt zu sein, sich der Beraubung nicht einmal bewußt zu sein, was gibt es Regressiveres?

Du, lieber Nico Hübner, warst damals zwölf Jahre alt. Ich kann mir nicht recht vorstellen, wie eine SED-Familie ihrem vielleicht fragenden Söhn in diesen Tagen der neuen Kenntlichwerdung des Warschauer Pakts eine Antwort gegeben hat. Als Du 1972 als Sechzehnjähriger in die «Junge Gemeinde» gingest und die FDJ verließest, machtest Du mit Sicherheit keinen Rückschritt, sondern Du versuchtest allein neu anzufangen. Rudolf Bahro und ich gingen den für uns unerläßlichen anderen Weg, keiner wußte von der Arbeit des anderen. Erneut hatte sich anläßlich der Okkupation der CSSR durch die Länder des Warschauer Pakts das als grauenhafte Wahrheit erwiesen, was Lenin in einem selbstkritischen Augenblick nach der Niederlage der rot getünchten Armee dem polnischen Volk gegenüber in Moskau sagte: « Wir haben die Seele eines Volkes beleidigt.» Wieviel beleidigte Völker sind es inzwischen schon geworden? Völkern, deren geschichtliche Kontinuität von gesammelten Erfahrungen, Bedürfnissen und Hoffnungen immer wieder zerstört wurde.

Rudolf Bahro, andere und ich mußten sich unvermeidlicherweise neu an die bedrückende Rußlandfrage heranmachen. Über den kapitalistischen Imperialismus zu studieren, zu reden und zu schreiben ist notwendig. Ist es aber nicht gleichermaßen, noch mehr notwendig, keinerlei politisch-analytische Unklarheit zu haben in der Sache der Weltzonen, die mit der Flagge des «Sozialismus» herrschen oder Völker okkupieren?

Sozialistische und kommunistische Wissenschaftler mußten sich unvermeidlicherweise neu an die Wurzeln der russischen Geschichte heranzutasten versuchen. Schließlich sollen ja 1917 in dieser Zone Vorgänge sich abgespielt haben, «die die Welt erschütterten», soll schließlich dort der «Sozialismus» sich durchgesetzt haben.

Bei R. Bahro heißt die erste Frage: «Wie kommt es zum real existierenden Sozialismus?» Obwohl er die «Differenz zwischen der vorgeblich festgehaltenen sozialistischen Überlieferung und der Wirklichkeit der neuen Gesellschaft» als Ausgangspunkt der Kritik der realen Verhältnisse betont, setzt er seiner Analyse damit durchaus von vornherein eine nicht unproblematische Schranke.

Der kritische Materialist akzeptiert doch nicht die Begriffswelt der Herrschenden, welchen Namen die immer tragen mögen, versucht vielmehr die herrschenden Produktionsverhältnisse, die herrschende

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Sprache der Legitimationskategorien aus der je spezifischen Produktionsweise abzuleiten. Der werdende Eurokommunist Bahro stand in Konflikt mit dem daseienden SED-Mitglied des Apparats, der Widerspruch zwischen dem kritisch-materialistischen «Marxisten» und dem mit der realen Geschichte nicht gut auf dem Fuße stehenden «Leninisten» ist offenkundig. Die eigene FDJ- und SED-Geschichte bleibt darum unreflektiert genug.

Klar wie kein anderer in den COMECON-Ländern sieht er die politisch-ökonomische, soziologisch-kulturelle Struktur Rußlands vor 1917, in echter Tradition von Marx und Engels: dieses Land war «halbasiatisch, und das war keine geographische», sondern eine politisch-ökonomische Definition der zaristischen Staatlichkeit, die Dominanz des Staatseigentums, der Staatsmaschine über die Gesellschaft. Die «allgemeine Staatssklaverei», diese absolute Negation der «allgemeinen Emanzipation» (R. Bahro) spielt bei Bahro als kategorielle Definition der Klassenlage in der asiatisch-orientalischen, halbasiatischen-halborientalischen Produktions- und Herrschaftsverhältnisse keine Rolle. Die halbasiatische Form, jener russische Ausdruck der asiatischen Produktionsweise, kennt in sich nach der Mongoleneroberung keine antike und feudale Tradition des Denkens und der gesellschaftlichen Struktur, ganz zu schweigen von der bürgerlich-kapitalistischen. Unter der asiatischen Knute, der Knechtschaft des Despotismus, konnten sich, um mit Hegel zu sprechen, die Freiheit, Subjektivität, Individualität, die «Substanz» nicht festigen. Mit Marx gesprochen: das Privateigentum konnte sich nicht festigen. Bei ca. 2 Millionen Bürokraten, etwa 800.000 Industriearbeitern, davon die Hälfte aus Letten, Finnen usw. sich zusammensetzend, und den über 200 Millionen Bauern verständlich.

Äußerst wichtig, wenn auch widersprüchlich, meint R. Bahro dazu: «Für Rußland konnte die Aufhebung des kapitalistischen Privateigentums einfach deshalb keine große positive Bedeutung haben, weil es dort nur wenig kapitalistisches Privateigentum gab und weil das ökonomische Leben erst punktuell davon berührt war.» Wenn da nun keine «große positive Bedeutung» des Privateigentums gegeben war, kann sich dann überhaupt eine dialektische «Aufhebung» desselben vollzogen haben im Oktober etc.?

Auffallend in den beiden Büchern von R. Bahro ist die problemlose Mißachtung des Nachdenkens über die Vorgänge im Februar und Oktober 1917 in Rußland, jedenfalls was die politisch-ökonomischen Auswirkungen betrifft. Im Februar bewegten sich die verschiedensten Fraktionen der Klassen und des Volkes, die sich vom Zarismus freimachten, halt mit Hilfe des endlich zu Ende gehenden Krieges. Wer bewegte sich denn noch im Oktober? Es war so bewegungslos in «den Tagen, die die Welt erschütterten», daß am Tage des Oktoberputsches schon mystifiziert werden mußte, um sich zu legitimieren.

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Die Fragen sind dann anders zu stellen: Erfolgte nicht vielmehr mit dem Oktoberputsch der Bolschewiki eine regressive Liquidierung des Februar und nicht eine «Aufhebung des Privateigentums»? Man könnte dann mit Marx sagen: Reproduktion der «alten Scheiße». Doch die NEP, das Resultat der Bauernaufstände, des Kronstädter Aufstands der Arbeiter, Bauern und Matrosen erzwang neue Möglichkeiten zur Erweiterung des bäuerlichen Privateigentums. Lenin war wegen der NEP und nicht wegen des Oktober bei den Bauern weitgehend anerkannt.

In der Einschätzung der zwanziger Jahre in der SU verbleibt Rudolf Bahro noch stark auf der KI-, Kominform-, SED-Linie, eine Linie, die voll bis zu den Mitgliedern der 4. Internationale, den sogenannten «Trotzkisten» reicht: «Die Kulaken gingen zur Erpressung der Sowjetmacht über, indem sie das Getreide für die Versorgung der Städte zurückhielten.» Die «asiatische Restauration» (Plechanow) nach politischen Revolutionen und Putschen in der asiatischen Sackgasse, wenn sie nicht verbunden sind mit erfolgreichen proletarischen Revolutionen in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern, ist ihm fremd. Die Notwendigkeit der herrschenden Bürokratie am Ende der zwanziger Jahre, die asiatische Arbeiter- und Bauernlegung — «Industrialisierung» und «Kollektivierung» genannt — durchzuführen, galt der Erhaltung bzw. neuen Festigung als herrschender bürokratischer Klasse. Es ging um den Übergang von der asiatischen Agrarbürokratie zur asiatischen Industriebürokratie, die «allgemeine Staatssklaverei» ging dabei nicht abhanden, wie sollte denn? Richtig spricht R. Bahro von der «Überlebensfrage der nichtkapitalistischen Ordnung», nicht von der Überlebensfrage einer sozialistischen Ordnung. Darin unterscheidet er sich wesentlich von der offiziellen Vernebelungslinie der angeführten Strömungen.

Wie ich 1974 ordnet er aber den «nichtkapitalistischen Ländern», denen der asiatischen Produktionszone, eine übermäßige Rolle zu. Zwar sagt er wie keiner vorher, daß die jeweils sich politisch durchsetzende «neue Ordnung» «nicht Übergangsperiode von Kapitalismus zum Kommunismus sein kann». «Freiheit und Gleichheit» sind in der «nichtkapitalistischen Ordnung» nicht zu Hause. Aber er hofft für diese, den «Idealfall» der «neuen Ordnung» zu erreichen: «gerade am Kapitalismus vorbei» marschieren zu können zum Fortschritt.

Eine konstitutive Seite der in einzelnen Gebieten der Welt vorhandenen objektiven Möglichkeiten am Kapitalismus vorbeizukommen, nicht die Qual und den «Genuß» mitmachen zu müssen, war für Marx nur denkbar — ist es heute mehr denn je, wenn sozialistische Umwandlungen in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern dabei sind. Und zwar erfolgreiche. Der Grund für die theoretisch-politische Einäu-

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gigkeit in dieser Frage bei Bahro scheint mir darin zu liegen, daß das Verhältnis zwischen den «nichtkapitalistischen Ländern» und dem kapitalistischen Weltmarkt nicht geklärt ist. Es ist nämlich meiner Meinung nach nicht «ein ungeheures Mißverständnis», daß die «politisch neuen Regierungen» sich «sozialistisch» oder «kommunistisch» nennen. Es dient vielmehr schier allein der Legitimation der «neuen» herrschenden Bürokratie, der Verschleierung der Kontinuität «allgemeiner Staatssklaverei», realen Knechtschaftsverhältnissen. Die Namen und Begriffe der Ideologie wandeln sich in solchen Zonen schnell, die Auflösung der asiatischen Sackgasse vollzieht sich ungeheuer langsam. Die neue Flagge und die historische Weltsituation verlangen mit Hilfe der asiatischen Peitsche den Übergang von der agrarischen zur industriellen Bürokratie, sind eine Negation von Sozialismus. Dort ist alles real, bloß nicht Sozialismus und Demokratie.

R. Bahro läßt an vielen Stellen der Bücher anklingen, daß der «nichtkapitalistische Weg zu wenig autonom ist». Richtig, aber verkürzt. Die Abhängigkeit der «nichtkapitalistischen Länder» vom Weltmarkt ist unvermeidlich, trägt in sich progressive Elemente. Wie würden sie sich sonst überhaupt entwickeln können? Es sei denn, man romantisiert die Länder der «allgemeinen Staatssklaverei». Marx gehörte nie dazu. Redet er doch nicht umsonst von der «ersten sozialen Revolution» in der asiatischen Zone, als der englische Imperialismus die asiatischen Produktionsverhältnisse und die denen zugrunde liegende Produktionsweise schwer anknackt in einem langen Prozeß. Ist Marx ein Imperialismusanhänger oder ein kritisch-materialistischer Sozialismus-Kommunist, der die realen Prozesse der Kapitalbewegung und des Weltmarktes genauestens zu verfolgen sucht? Jede revolutionäre Bewegung unterstützten er und Engels, so die der russischen Narodniki. Aber, wie die Briefe von Marx an die Vera Sassulitsch beweisen, die nichtkapitalistischen Zonen wurden nicht mystifiziert, sondern immer in die Kämpfe der Arbeiterklasse in den hochentwickelten Ländern eingeordnet.

Beide verwiesen zum Beispiel gleichermaßen in der russischen Geschichte auf den Doppelcharakter des Weltmarktes für den Zarismus. Sie betonen die Abhängigkeit\om kapitalistischen Weltmarkt, mißachten aber nicht die Fähigkeit der herrschenden Agrarbürokratie und der despotischen Führung den Weltmarkt als « Werkzeug» zu gebrauchen, um die innere Absicherung und potentielle Aggression nach außen zu ermöglichen. Das vollzieht sich seit Jahrhunderten. Marx verwies darauf, daß in den Verhältnissen der «allgemeinen Staatssklaverei» die «technischen Einrichtungen» des Westens übernommen werden — «ohne sie doch mit deren Ideen zu erfüllen». Hat sich diese Grundstruktur der Formationsgeschichte in Rußland nach dem Oktoberputsch verändert?

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Vom Ende der zwanziger Jahre an wurden erneut von der «neuen Ordnung» westliche Fabriksysteme aufgekauft, westliche Firmen führten die Konstruktion durch. Rußland-Sowjetunion kann unter solchen Herrschaftsverhältnissen der «allgemeinen Staatssklaverei», nun mit «neuer» ideologischer Flagge, nur hinter dem Westen herhinken. Von Autonomie, Selbständigkeit, «eigenem sozialistischen Markt» der SU kann keine Rede sein. V. Spohn sagt: «1964 war der Wert der sowjetischen Werkzeugmaschinenproduktion Dreiviertel derjenigen der USA. Trotzdem waren und sind massive Importe in diesem Sektor zu verzeichnen. Die Antwort auf dieses Paradoxon liegt darin, daß die SU immer wieder einige Prototypen kopiert, standardisiert und dann massenhaft produziert, aber indogene Entwicklungen, die der Vielfalt der industriellen Produktion angemessen wären, nicht aufzuweisen hat und deshalb immer wieder die neuesten Verfahren und Produkte auf dem kapitalistischen Weltmarkt aufkaufen muß.» Wie gesagt, um sich zu halten, muß das russische System immer mehr kapitalistische Elemente aufnehmen — ohne dabei kapitalistisch zu werden. Die ungeheuerliche Breite des Landes, wo die Quantität schon eine Qualität ist, verdaut, ohne mit den Wimpern zu zucken, riesige Investitionen und Kooperationsverträge. Hat die Reise des Vorsitzenden der halbasiatischen ZK-Bürokratie in die Bundesrepublik überhaupt einen anderen Sinn?

R. Bahro schreibt von den «ererbten halbasiatischen Mentalitätsrückstände (n)» und der geringeren Anpassungsfähigkeit der Bürokraten den neuen Spezialisten, Technikern und Wissenschaftlern gegenüber. Bin mir da nicht sicher. Die alten Knechtschaftsverhältnisse, R. Bahro sagt «altes Prinzip», werden bisher gerade und immer mehr über positivistische Wissenschaftsmethoden der Ausbeutung und Repression sichergestellt. Der Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen mag erkennbar sein in einem allgemeinen Sinne, aber nicht im geringsten die Kräfte, die die «allgemeine Staatssklaverei» sprengen. An einen «russischenDubcek» zu denken ist absurd, gerade weil die «Europäisierung» Rußlands wieder erst einmal am Anfang (!) steht. Wird Sibirien, wird Workuta jemals «europäisiert» werden können, dürfen — für die herrschende Klasse?

Lieber Nico Hübner, hier muß ich mit dem Rußland-Problem erst einmal aufhören. Wenn Du da irgendwann, endlich wieder frei, mehr Interesse haben solltest, würde ich Dir die Analyse von Bahro an der Literatur von Solschenizyn und vielen anderen empfehlen. Es war für mich ein Genuß, zu lesen, wie er die positivistischen Dienst-«Kommunisten» der Soziologie über die Literatur entlarvt. Zum Schluß will ich Gedanken von R. Bahro in Sachen Ost- und Westeuropa aufgreifen und problematisieren.

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4. Das Problem der «Grenzscheide» (Marx)

 

Ein alter Spanienkämpfer und ehemaliges Mitglied der KPD der dreißiger Jahre, Mitarbeiter von Münzenberg in Paris, Günter Berkhahn, hatte mich auf die Kategorie der «Grenzscheide» von Marx verwiesen. Es handelt sich dabei im besonderen um die genaue Trennung zwischen der europäischen Produktions-, Kultur- und Klassenkampfgeschichte und der halbasiatischen Produktions-, Kultur- und Klassenkampfschwäche. Polen ist da für Marx, bis hin zu Rosa Luxemburg, die Scheide gewesen. Ist es dieses Land nicht noch heute?

R. Bahro sagt etwas in seinem Buch wie in den Vorlesungen, wozu sich linke Geister bzw. Armutsgeister nie hingegeben hätten. Nur den Vorwurf des «Antikommunismus» durch Sympathisanten der Weltmacht hätten die im Kopf gehabt und darum geschwiegen. Der nun im Gefängnis sich befindliche Eurokommunist schreibt: «Wie jeder weiß, ist die Form des politischen Überbaus, mit dem die antikapitalistischen Umgestaltungen in Osteuropa durchgeführt wurden, den Völkern dieser Region oktroyiert worden.» Von den Auswirkungen und Abläufen des Zweiten Weltkriegs nicht zu trennen. Der deutsche Faschismus versuchte nicht nur Völker zu zerstören, er half mit, daß andere Völker nach der endlichen Niederlage desselben in eine neue Knechtschaft gerieten.

Wenn Völker und Gebiete erobert werden, so gibt es nach Marx drei Möglichkeiten: 1. der Sieger zwingt dem Besiegten seine Produktionsweise auf, 2. der Sieger verlangt Tribut, aber die alte Produktionsweise lebt weiter, 3. der Sieger und Besiegte vermischen ihre Produktionsund Konsumtionsweise.

Wie sah es 1945 ip der Mitte von Mitteleuropa aus? Die Westzone begann bald wieder in die alte Produktionsweise zurückzukehren, den historischen Bedingungen und Kräfteverhältnissen gemäß. Die Monopolbourgeoisie konnte sich erneut einnisten. In der Ostzone war diese beseitigt worden, und die russische Monopolbürokratie ging bald dazu über, das «sowjetische Modell», Schwer- und Rüstungsindustrie, Staats- und Parteibürokratie, die des Geheimdienstes usw. zu sichern und Mehrprodukt zu ergattern.

R. Bahro sagt, die DDR und die CSSR, Polen etc. sind in «diesen nichtkapitalistischen Weg», der für diese «natürlich nicht charakteristisch» ist, hineingerissen worden. Der Widerspruch zwischen der europäischen Tradition der Völker und der Arbeiterklasse mit der herrschenden Staats- und Parteibürokratie, die ihre Abhängigkeitsrolle von der Sowjetunion nicht aufzusprengen vermochte, aus eigener Interessenlage und Gebundenheit nicht wollte, ist unübersehbar. R. Bahro sagt provokativ: «Der zunehmende Nationalismus — und das heißt konkret <Antisowjetismus> — in den osteuropäischen Ländern hat so

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weit eine progressive Funktion, wie er sich gegen die Fesseln richtet, die die Hegemonie des moskowitischen Apparats ihrer inneren gesellschaftlichen Entwicklung anlegt.» Wie in Westeuropa der Hegemonialanspruch der Amerikaner ins Schwanken gerät. Es sind wieder die europäischen Völker hinter der «Grenzscheide», die dabei sind, sich neu zu entdecken, national und kontinental. Er sagt unzweideutig, daß die falsche Hoffnung von Nationalkommunisten in Osteuropa, in der «Stunde sowjetischer Schwäche» ausspringen zu können, nicht nur defensiv, sondern gefährlich wäre «für den europäischen Frieden».

Seine Alternative dazu ist die noch wenig ausgearbeitete Hoffnung auf die notwendige «Umkehr des Einflußgefälles». Das heißt der «sowjetischen Führungsschicht von der entwickelteren, fortgeschritteneren Peripherie außerhalb und innerhalb ihrer Grenzen her aktiv solche Probleme zu stellen, die sie zwingen, grundlegende innenpolitische Umgestaltungen im eigenen Lande vorzunehmen». Wer die tragenden Fraktionen — trotz Fraktionsverbot — sein werden, von wem sie wirklich getragen werden, bleibt noch undurchschaubar. Wobei er ziemlich romantisch von der «sozialistischen Offensive in Westeuropa» träumt. Den sozialistischen Traum habe ich desgleichen, doch ich hielte es für eine Träumerei und nicht «konkrete Utopie», wenn nicht auf beiden Seiten, in Westeuropa und Osteuropa, die neue Demokratisierungsund Sozialisierungswelle sich politisch in Bewegung setzt. Und zwar geschichtlich gleichzeitig! Denn gerade die Ungleichzeitigkeit ermöglicht es den Herrschenden immer wieder, sich davonzustehlen, ob nun in West oder Ost. Man denke nur an den Pariser Mai und den Prager August.

R. Bahro meint: «Sobald es praktisch einen westeuropäischen Weg zum Sozialismus gibt, wird der politische Prozeß in den osteuropäischen Ländern nicht nur verstärkt auf eine unabhängige Außenpolitik, sondern vor allem auf die bisher unterdrückte institutionelle Reform zusteuern.» Diese These beruht auf fast unabhängig voneinander sich vollziehenden Prozessen der Negation der kapitalistischen Formation und Sprengung der nichtkapitalistischen Formation Osteuropas. Die eine von der anderen mechanisch zu separieren oder undialektisch gleichzusetzen, muß abgelehnt werden. Die ganze Entspannungspolitik der beiden Systeme zeigt in aller Schärfe, wie die scheinbar alternativen Produktionsverhältnisse einander bedingen (!) und sozialistische Aufklärung extrem erschweren. Die positive Seite der Entspannung liegt ohne Zweifel in der Freiwerdung des Eurokommunismus, und diesen Standpunkt nimmt R. Bahro für Osteuropa ein. Vielleicht viel stärker muß die Wiederentdeckung der «Menschenrechte» beachtet werden. Wie lange hat es gedauert, bis ein nicht unwesentlicher Teil der Linken endlich sich nicht mehr schämte, von «Menschenrechten» zusprechen. Es wäre wohl sinnvoller gewesen, sich zu schämen, jahrzehntelang davon zu schweigen und dennoch im Lied der Ausgebeuteten und Beleidigten zu singen: «Die Internationale erkämpft das Menschenrecht».

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Beide Systemvertreter von Ost und West sprachen in Helsinki von diesen «Menschenrechten», in Belgrad war davon keine Rede mehr. Wie wird es in Madrid sein? Die Herrschenden gingen schnellstens zur Tagesordnung über, man entspannte sich politisch-ökonomisch. Inzwischen haben wir einen Husak- und Breschnew-Besuch schon hinter uns, die SPD/FDP-Regierung geht ihren Weg — wohin? Strauß wurde von Husak als «demokratischer Politiker» gewürdigt, derselbe Strauß kam gerade wenige Monate vorher von Pinochet zurück. Der Außenminister der DDR entschuldigt sich in Teheran für einen Protest von Persern in der Ost-Berliner Botschaft, der Bundespräsident und viele andere mehr besuchen ungeniert den orientalischen Despoten. Warum auch nicht — schließlich war er von Husak vor nicht allzu langer Zeit in der Prager Universität «gewürdigt» worden. 

Das deutsche Volk kennt da einen treffenden Satz: «Pack schlägt sich, Pack verträgt sich», handfeste ökonomische Interessengruppen stehen zur Debatte, die Freiheit, die Demokratie und der Sozialismus wird von denen nicht realisiert werden, sie geben sich nicht von allein auf. Die von der CDU/CSU, die für Dich, Nico Hübner, oft den Mund aufmachen werden, noch mehr als die Jetzigen ihn schließen, wenn sie erneut voll zur Macht gekommen sind. Die SPD/FDP-Regierung leistet dafür so manche Vorarbeit. Den politischen und sozialökonomischen Menschenrechten kann es unter solchen Tendenzbedingungen der schleichenden Krise in West und Ost nicht gut ergehen. R. Bahro sagt in seinem Selbstinterview: «Das Menschenrecht auf Arbeit wird gegenwärtig in der DDR-offiziellen Propaganda stark hervorgehoben. Ich werde also zusehen, wie weit es für mich gilt.» Rechtlosigkeit und Gefängnis stehen besonders dicht beieinander.

Freiheit, Demokratie, Menschenrecht sind begründende und haltende Glieder einer sozialistischen Perspektive — jener Negation der «allgemeinen Staatssklaverei» und des kapitalistischen Wertgesetzes. Die Kämpfe der Chartisten in der CSSR etc. um Menschenrechte, die Kämpfe der Bürgerinitiativen gegen ökologische Katastrophen und anderes mehr, sind verschiedene Formen des Kampfes um das Recht des Menschen zu leben, sich entfalten zu können.

 

Lieber Nico Hübner, ich muß hier dem Brief ein Ende bereiten. Wenn ich die ungeheure Breite der Bücher von R. Bahro mit meinen wenigen Seiten vor mir vergleiche, habe ich sehr wenig wiedergegeben, mich allein auf bestimmte Problemkomplexe konzentriert. Vielleicht ist es für Dich die eine oder andere Anregung für die Zeit nach Deiner Entlassung aus dem Gefängnis.

Zum Schluß möchte ich eine großartige Stelle von R. Bahro zitieren, sie berührt ihn, Dich, mich und viele andere mehr: «Warum gibt es Kinder, die die Anforderungen der Schule — wie unrational sie auch immer sein mögen — dennoch spielend bewältigen? Weil in ihrer Entwicklung von früh auf alles das, was Lust am Leben, Vertrauen in die Umwelt, Eingreifen in die Kommunikation fördert, die Unlusterfahrungen entscheidend überwog. Weil sie in der Zuwendung psychisch intakter Eltern gesichert und um keine Freude betrogen waren. Weil sie nicht lästig waren, nicht herumgeschoben wurden. Weil sie keine brutale oder spöttische Herabsetzung erfuhren und sich ihre Befriedigungen nicht ertrotzen, erschleichen, erkaufen oder stehlen mußten. Wer so aufwächst, wächst mit Lust zur Erkenntnis, zu Arbeit, Freundschaft und Liebe auf, und er kann durch die Erziehung zu Disziplin und Leistung, zur Anstrengung aller Wesenskräfte nur gewinnen. Der Wille braucht einen Widerstand, an dem er sich härten kann.» 

Schon längst bist Du, sind wir keine Kinder mehr, aber Wille/Widerstand werden wir hoffentlich aufrechterhalten und weiterentwickeln.

 

Ich kann Dir nur wünschen, daß Du trotz alldem die Qual dieser Zeit durchstehst und geistig Dir nicht den Rücken brechen läßt.
In Solidarität für Dich, für Rudolf Bahro, dessentwegen ich Dir diesen Brief schreibe,
Rudi Dutschke

98-99

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