Karl Ludwig
An die UZ (Unsere Zeit)
«Ihr lebt in einer anderen Welt»
unten Freimut.Duve
wikipedia Unsere_Zeit *1969
unsere-zeit.de "Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP", 6000 Auflage
Vorbemerkung des Herausgebers
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Im Gegensatz zu den übrigen Briefen dieses Bandes hat der folgende Brief seinen Adressaten tatsächlich erreicht: Ein Mitglied der DKP-Betriebsgruppe Thyssen/Henschel Kassel hat ihn am 12. Februar 1978 an die Redaktion der Parteizeitung <Unsere Zeit> gerichtet. Vier Monate seit dem Erscheinen der <Alternative> hatte das Blatt benötigt, bis es sich zu einer inhaltlichen Ausein¬andersetzung mit Bahro entschließen konnte.
Karl Ludwig, Gewerkschafter, Vertrauensmann, Obmann, KPD-Mitglied seit 21 Jahren und Gründungsmitglied der DKP, hatte schon nach der ersten Notiz der UZ zum Fall Bahro im August 1978 («Bahro — ein neuer Fall mit alter Masche?») in einem Brief an deren Chefredakteur eine offene Diskussion über Bahro gefordert.
«Handelst Du da nicht selbst nach alter Masche? Weißt Du, um was es hier geht? Warum reagiert Ihr immer so allergisch, wenn es um Kritik über den realen Sozialismus geht?», hatte er gefragt und dagegen seine Meinung gesetzt: « Wir müssen alles erklären, nicht nur das Gute, das Bessere, und das andere den Antikommunisten überlassen. Als Kommunist bin ich geradezu verpflichtet, das ganze Leben im realen Sozialismus zu sehen und nicht nur das, was mir gerade in den Kram paßt. Sonst fange ich an, die Arbeiter zu bevormunden, das aber merken die sich schneller, als mir lieb ist.»
Tatsächlich mußte sich die <UZ> schneller, als ihr lieb war, dem Problem Bahro stellen. Am 2. Dezember 1977 erschien eine fünf spaltige Kritik von Heinz Schäfer: «Die konterrevolutionäre <Alternative> Rudolf Bahros» mit der Oberzeile: «Eine generalstabsmäßig vorbereitete Publikation gegen den Sozialismus.» Schäfer wirft Bahro eine «Diffamierung unserer Arbeiterklasse, ihrer Forderungen und Kämpfe» vor. Alle Register der Parteikanonik werden gezogen: Bahros Buch sei «sektiererisch», «nur eines von vielen antikommunistischen Machwerken», «maoistischen Beispielen folgend». Es solle «nicht dazu führen, den Sozialismus zu verbessern, sondern die Konterrevolution zu organisieren». Schäfers Verdikt: «Von marxistischer Analyse kann keine Rede sein.»
Karl Ludwig gibt sich mit der bürokratischen Formelhaftigkeit dieser Bewertung nicht zufrieden. Seine Antwort an die UZ, auf zehn Seiten handgeschrieben, ist das genaue Gegenteil: Direkt, voller kritischer Fragen, ihre Subjektivität nicht verbergend. Darin spiegelt sie getreu die Reaktionsmöglichkeiten für Mitglieder einer KP, die — anders als ihre westeuropäischen Schwesterparteien — die von Bahro und anderen aufgeworfenen Probleme totzuschweigen versucht.
Die Redaktion der UZ hat diese Fragen eines lesenden Arbeiters nicht veröffentlicht, aber unter dem 24. Februar 1978 auf drei Schreibmaschinenseiten beantwortet. Sie weist darin «jede Deiner abfälligen Bemerkungen über den Genossen Schäfer und seine Arbeit zurück» und nennt es «unverständlich, daß von Dir als Mitglied der DKP in Deiner Zuschrift Standpunkte eingenommen werden, die diese Errungenschaften (des <realen Sozialismus>) ignorieren, als minderwertig betrachten und die Ideen eines Bahro verteidigen, mit dem das Erreichte wieder aufs Spiel gesetzt würde». Dem Genossen Ludwig wird eine «mündliche Diskussion» mit den «Genossen Deiner Parteigruppe» empfohlen: «Diese Diskussion wird sicher zur Klärung beitragen können, was ein Antwortbrief von unserer Seite allein nicht ersetzen kann. Wir empfehlen Dir auch das Studium des Programmentwurfs unserer Partei. Dort findest Du auch Antwort auf die Frage am Schluß Deines Briefes, nämlich welchen Sozialismus wir als DKP wollen.»
So einfach ist das.
Ist es so einfach?
Hannes Schwenger
An die Redaktion der UZ, Zeitung der Deutschen Kommunistischen Partei
In ihrer Ausgabe vom 2.12.1977 hat die UZ den Artikel von Heinz Schäfer «Die konterrevolutionäre <Alternative> Rudolf Bahros» veröffentlicht. Dieser Artikel setzt sich in Wirklichkeit nur oberflächlich mit der <Alternative> auseinander, um sie abzuqualifizieren. Schäfer unterstellt Bahro, er betriebe die Konterrevolution; das ist eine üble Unterstellung, aber es beleuchtet den Standort Schäfers.
Ein simples Beispiel: Wer dafür eintritt, daß der Arbeiter dasselbe Recht hat wie der Offizier, der ist laut Schäfer für die Konterrevolution. Hier zeigt sich, daß Bahro viel mehr für die Rechte der Arbeiter (aller Menschen) eintritt als Schäfer, und gerade er bestätigt, daß es im realen Sozialismus viele unsozialistische Ungereimtheiten gibt, welche Schäfer erhalten will.
Gerade das Ausbildungs- und Schulsystem der DDR legt doch von oben her fest (Plan), wer und wie viele studieren können und wer und wie viele die manuelle Arbeit machen müssen; das deckt Bahro auf, daß die Pläne schon über 1990 dafür fix und fertig sind. Hier kann doch von Chancengleichkeit keine Rede sein, was ist da anders als bei uns hier? Intelligente Arbeiterkinder haben drüben mehr Chancen, aber die große Mehrheit?
Bahro weist einen Ausweg: allen eine Universitätsausbildung und alle an der manuellen Arbeit beteiligen. Ich halte das für gut. Wie stellt sich Schäfer eigentlich in der Automation die Verteilung der Arbeit vor? Hat er Angst, daß er sechs bis zehn Wochen im Jahr die Schubkarre schieben muß?
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Was er tut, ist unwissenschaftlich, und leider ist das sogar die Linie unserer Partei! Er versucht die Arbeiter gegen Bahro aufzubringen, indem er herausstreicht «Der Arbeiter weiß nichts und läßt sich leicht täuschen». Wo lebt eigentlich Schäfer, muß man doch fragen, in einer ganz anderen Welt? Genosse Schäfer, beantworte mal die Frage klar und deutlich, weshalb wählt wohl fast die Hälfte unserer Arbeiter CDU/CSU? Weil sie sich nicht täuschen lassen, etwa? Oder weil sie hochpolitisch sind und davon viel verstehen? Also, wer versteht nichts, das kann doch nur der Genosse Schäfer sein.
Aber so, mit dem Stil des Genossen Schäfer, kommen wir nicht weiter, so geht es nicht. Seit dem halben Jahr nach Erscheinen von Bahros (Alternative* hat sich doch gezeigt, der Klassengegner schweigt über die <Alternative>. Warum wohl? Weil sie ganz oder gar nicht in sein Konzept paßt; im Gegenteil, hier wird eventuell ein Weg gezeigt, welcher den Sozialismus auch für die CDU/CSU-Wähler attrakiv macht. Genau aus dem Grunde winkte nämlich die Welt der Arbeit ab.
Bahros <Alternative> soll ja kein Programm für unsere Gewerkschaften sein, er erkennt nur klarer als Schäfer, wo der Weg hingeht, eventuell hingehen kann. Schäfer handelt nach uralter Masche, er lenkt mit seiner Polemik von der wirklichen Tatsache ab, daß Bahro eine sehr scharfe Kritik vom real existierenden Sozialismus gibt; das ist bei ihm konterrevolutionär! Die Schlußfolgerung daraus ist — immer nach der Schäferschen Methode: Der reale Sozialismus darf nicht kritisiert werden, höchstens nur durch ein paar dafür Berufene. Wer sie kritisiert, begeht also die Todsünde der Konterrevolution. Somit bezichtigt er auch Marx und Lenin der Konterrevolution, oder glaubt er etwa, wenn beide heute leben würden, daß sie den realen Sozialismus nicht auf das schärfste kritisieren würden? Was glaubt der Genosse Schäfer, von wem ich, ein Arbeiter, Volksschule/, das Kritisieren gelernt habe? Gerade von den beiden.
Ich weiß: Welche Anmaßung von mir, es denen gleichzutun, vielleicht bilde ich mir auch noch ein, den beiden, Marx und Lenin, ebenbürtig zu sein? So und mit ähnlichen Maschen versuchen die Dogmatiker von den wahren Tatsachen abzulenken; das ist die Methode von Pfaffen.
Bahro deckt kritisch Schwächen des real existierenden Sozialismus auf; dafür sollten ihm alle Sozialisten und Kommunisten dankbar sein. Er glaubt und versucht zu beweisen, daß die augenblickliche Parteien- und Machtstruktur so ist, daß es von dieser Seite keine Änderung geben könnte. Die Zukunft wird das beweisen, oder ist es in der Sowjetunion nicht schon bewiesen? Sechzig Jahre? Über solches muß man doch diskutieren können. Hei, das wäre ein Thema für Rosa Luxemburg gewesen! Nur Dogmatiker können das als «Konterrevolution» ansehen; so, genauso hindern sie nämlich den Fortschritt.
Der Sozialismus ist doch keine Geheimwissenschaft, er ist für alle Menschen da, und alles, was es im real existierenden Sozialismus gibt und was man
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da täglich tut, muß auch von allen Menschen in aller Offenheit kritisiert werden dürfen.
Gerade wir Kommunisten in den kapitalistischen Ländern müssen dies täglich tun in aller Offenheit, das ist unsere sozialistische Pflicht der Arbeiterklasse und der gesamten Menschheit gegenüber. Wer muß eigentlich diese Kritik fürchten? Dieses Recht und diese Pflicht zur offenen Kritik als konterrevolutionär hinzustellen, zeugt vielmehr von einer konterrevolutionären Gesinnung dem Sozialismus und der Arbeiterklasse gegenüber, ja, diese Dogmatiker sind unbewußt die Totengräber für den Sozialismus.
Eine nicht wegzuleugnende Tatsache ist doch, daß ich als Arbeiter, hüben wie drüben, meine Arbeitskraft als «Ware» anbieten muß, daran haben doch die Besitzverhältnisse, so wie sie jetzt sind, nichts geändert. Genosse Schäfer, beweise das Gegenteil, widerlege Bahro! Da gibt es nichts zu überlegen, davon verstehe ich eine ganze Menge, wahrscheinlich mehr als Du. Es gibt bei uns Stücklohn (Akkord) und drüben auch (Leistungslohn), das ist so, da helfen keine Spitzfindigkeiten, hier eignet sich den Mehrwert der Kapitalist an und drüben der Staat. Nun geh doch mal rüber unter die Arbeiter und studiere mal, ob sie das Gefühl haben, daß sie (die Arbeiter) der Staat sind? Die meisten sagen wohl, es ist unser Staat, das aber ist der Unterschied. Der Funktionär einer gewissen Ebene wird sagen, ich bin der Staat, aber auch noch lange nicht alle. Aber die Arbeiter? Bahro zeigt da eine Alternative, er sagt aber nicht, daß sie der Weisheit letzter Schluß sei. Er deckt auf, daß es drüben keine Versuche gibt, dieses zu ändern, das ist doch nicht konterrevolutionär! Das stimmt doch. Der Staat hat eine Bedeutung gewonnen, welche ihm nicht zusteht im Sozialismus; er ist dabei, den kritischen Geist zu unterdrücken. Man scheint im realen Sozialismus zu glauben, ohne ein reales Feindbild nicht auszukommen, genau wie bei uns hier; das Schema ist dasselbe. Das sind doch Tatsachen, solches muß man doch sagen dürfen, auch drüben, dort gerade erst recht.
Aber die Wirklichkeit ist total verdreht. Warum wohl? Wer, wen? Havemann, Bahro und andere sollen die Konterrevolution sein? Perverser geht es nicht mehr. Mit der Feindlage wird alles entschuldigt und gerechtfertigt. Das tat die Masse unseres Volkes schon einmal im Zweiten Weltkrieg.
Ich selbst habe gerade in den letzten zweieinhalb Jahren durch kritische Analyse der DDR viel ähnliches «Falsches» entdeckt, das finde ich bei Bahro wieder. Ich bin darauf gekommen, als ich anfing nachzudenken, wie es möglich war und ist, daß der Kapitalismus, die CDU/CSU solchen Einfluß auf unsere Bevölkerung gewonnen hat.
Nach der Schäferschen Methode müßte ich sagen: Durch mein sehr erfolgreiches gewerkschaftliches Engagement (Laufdauer der Tarifverträge von zwei Jahre auf ein Jahr, Lohnforderungen, Herabsetzung des Rentenalters usw.) habe ich doch mit beigetragen, daß die Bundesrepu-
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blik sozial und lebensstandardmäßig so gut in der Welt dasteht.
Ich habe somit, mit meiner erfolgreichen Arbeiterpolitik, zur Attraktivität des Kapitalismus beigetragen. Eigentlich war diese, meine Tätigkeit, konterrevolutionär, eben weil durch diese Attraktivität der Bundesrepublik fast die Hälfte der Arbeiter CDU/CSU wählen. Das ist doch die Schäfersche Logik! Bis jetzt hat doch der Kapitalismus die Bedürfnisse der Arbeiterklasse bei uns besser befriedigt als der Sozialismus in der DDR; deshalb wählt die Hälfte unserer Arbeiter CDU/CSU, das ist doch eine Tatsache, um welche sich Schäfer drückt. Er tut so, als gäbe es so etwas nicht. Wenn Bahro den Wettlauf zwischen den beiden Systemen auf dieser Basis vergleicht, mit dem Wettlauf zwischen dem sozialistischen Hasen und dem kapitalistischen Igel, so stimmt das doch ganz genau, auch noch in naher Zukunft wird das stimmen. Aus diesem verhängnisvollen Wettlauf möchte Bahro heraus, da gebe ich ihm recht. Der Sozialismus kann seine Überlegenheit gegenüber dem Kapitalismus nur im menschlich Humanen beweisen, aber nicht durch einen «Überstaat». Gerade die neue technische Revolution bietet dem Sozialismus die besten Chancen. In dem materiellen Güterangebot bleibt der Kapitalismus vorläufig überlegen, weil er die Arbeitsproduktivität (ohne humane Gefühlsduselei, um es mal überdeutlich zu sagen) besser, schneller und mehr steigern kann als das jetzige System des Sozialismus. Das deckt Bahro auf, und das stimmt; deshalb will er den Wettbewerb auf eine andere, höhere Ebene verlagern, wo der Kapitalismus nicht mehr den Rhythmus bestimmt. Schäfer macht daraus eine Verschlechterung des Lebensstandards der Arbeiterschaft.
Bahro stellt fest, daß die materiellen Bedürfnisse der Arbeiterschaft zum Beispiel in der DDR der Kapitalismus aufstellt, weckt und entwickelt. Das stimmt doch, aber davon lenkt Schäfer plump ab, indem er Bahro unterschiebt, er sei gegen die Verbesserung des Lebensstandards. Bahro analysiert und zeigt deutlich auf, daß dieser materielle Wettlauf für die nachfolgenden Generationen verhängnisvoll sein kann, allein schon durch die Rohstoff-Frage — ist das arbeiterfeindlich?
Schäfer nennt die Bahrosche Kritik diffamierend — bisher die erfolgreichste Methode, jegliche Kritik am realen Sozialismus zu verhindern. Schon allein, daß Bahro in den Untergrund gehen mußte, ja sogar damit in den teuflischen Westen zu gehen, das ist «Verräterei»! Aber sind nicht die Umstände verräterisch, welche Bahro zwangen, solches zu tun? Warum sind die Umstände nun so in der DDR? Weil es konterrevolutionär ist, die DDR zu kritisieren?
Hier tritt das Überhebliche der Dogmatiker zutage. Mit solchen Methoden soll die Arbeiterklasse entmündigt werden? Schon allein, wenn die Kapitalisten sagen, das ist ein kritischer Kommunist, soll also bewiesen sein, daß man für den Kapitalismus arbeitet? Primitiver geht es nicht mehr.
Selbst Schäfer gibt ja ungewollt zu, daß es drüben
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Probleme gibt, welche diskussionswürdig sind, welche man ernsthaft und konstruktiv behandeln müsse.
Genau das tut doch Bahro. Nur gerade diese «ernsthafte» Diskussion — über «diese Verhältnisse drüben» — vermißt man bei Schäfer, auch in unserer Partei. Auch für Bahro ist das Verhältnis zum Eigentum keine Nebensache. Bahro stellt in der theoretischen Analyse fest: Bei der «Ware» Arbeitskraft und der Aneignung des Mehrwerts sind die Besitzverhältnisse sekundär, im Augenblick, das stimmt doch. Aber Schäfer, in seinem Eifer den Konterrevolutionär zu suchen, verschweigt das geflissentlich, oder sollte er das auch nicht verstehen? Er wirft alles durcheinander: Was Bahro für die Zukunft vorschlägt, das projiziert er in das Jetzt. Ich rate ihm, doch mal hier bei uns unter den Arbeitern nachzuforschen, was sie davon halten (was Bahro für einen Zeitpunkt vorschlägt, in dem alle Universitätsausbildung haben und die Automation viel weiter ist als heute), daß alle, vom Minister — also Honecker und Stoph und Axen usw., Scheel, Schmidt und Strauß usw. — im Jahr vier bis sechs Wochen in einer Fabrik arbeiten müßten, so wie die Masse der Arbeiter auch. Da sind sogar die meisten Arbeiter, welche CDU/CSU wählen, auch dafür. Nur die Schmidts und Honeckers werden dagegen sein, aber die soll die Arbeiterklasse vorher fragen, meint Schäfer. Natürlich werden die Betroffenen dagegen sein, jedenfalls der größte Teil heute.
Hier sieht man deutlich, wie weit Schäfer vom wirklichen Denken der Arbeiterklasse entfernt ist und um wieviel näher gerade Bahro ihr ist! Bahros <Alternative> als antikommunistisches Machwerk hinstellen zu wollen, ist eine Diffamierung der Arbeiterklasse. Die <Alternative> ist weder arbeiter- noch gewerkschaftsfeindlich. Es ist eine ziemlich verständliche Beschreibung darüber, wo der «Mehrwert» hingeht, es ist der sozialistische Versuch, die Menschheit weiterzutreiben in eine bessere Zukunft, wo der Mensch auch Mensch sein kann. Gerade dieses arbeitet Bahro deutlich heraus. Er möchte den Sozialismus auf den Weg bringen, daß in Zukunft die letzte Putzfrau den Staat regieren kann. Das soll antikommunistisch und konterrevolutionär sein?
Schäfer nennt das «Gleichmacherei» nach dem Beispiel des Maoismus. Bahro will den Leistungslohn und die Arbeitsnormung abschaffen, die Renten will er auf das Durchschnittseinkommen erhöhen, ohne auch nur zu fragen, wie diese enormen Kosten aufgebracht werden können — schreibt Schäfer. Ja, hat denn Schäfer noch gar nicht gemerkt, daß unsere Gewerkschaften (DGB) gerade dieses Ziel auch anstreben? Vom Stücklohn (Akkord, Leistungslohn) herunterzukommen zum garantierten festen Monatslohn/Jahreslohn? Nun schlägt Bahro für den realen Sozialismus dasselbe vor, da ist das angeblich verkehrt. Schäfer möge doch mal unsere Setzer fragen, deren Leistung der Computer übernimmt, was die wollen: Stücklohn oder garantierten Lohn?
Bahro zeigt auch, wo das «Mehr-Geld» herkommen soll: Begrenzung der
Gehälter auf 2000 DM, natürlich drüben, bei dem jetzigen Stand; auch daß man parasitäre Verwaltungen abbaut. Ich füge hinzu, das Wachregiment in Berlin soll arbeiten gehen, auch die Staatsschützer, welche Bahro, Havemann und andere überwachen; dieses und vieles Unnötige müssen die Arbeiter drüben miternähren, und diesen Leuten geht es teilweise besser als denen, welche sie ernähren und kleiden. Die Arbeiter und Bauern brauchen keine Schnüffler und auch keinen Parademarsch und Stechschritt, und so gäbe es noch allerhand unnötigen Ballast.Bahro deutet manches nur an, das übersieht Schäfer großzügig. Schäfers Untertitel — «Von marxistischer Analyse kann keine Rede sein» — stimmt genau: Auf das Pamphlet von Schäfer. Bahro versucht einen Ausweg zu finden. Er zeigt, wie man eventuell den Imperialismus überwinden kann. Nicht so wie heute jedenfalls, mit dem Gleichgewicht des Schreckens, das zeigen doch die letzten 30 Jahre. Wieder wird klar, wo die Dogmatiker stehen. Noch ist es Zeit zur Umkehr. Wollen wir nun den Sozialismus für alle Menschen, auch für die letzte Putzfrau, oder wollen wir einen privilegierten Sozialismus, wo die Putzfrau Putzfrau bleiben muß, weil immer Putzfrauen gebraucht werden? Oder, daß auch mal die Frau Ministerin oder Frau Direktorin im Jahr mal vier bis sechs Wochen die Putzfrau machen müssen und in der Zeit die Putzfrau mal eben Ministerin oder Direktorin macht?
Das muß unsere Partei entscheiden, welchen Sozialismus wir als DKP wollen. Ist das nun das Ziel des Sozialismus und Kommunismus oder nicht?
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Freimut Duve
«Mein Kampf für Ihre Rechte ist Grundlage meines Kampfes gegen Ihre Ziele»
An
Herbert Mies
DKP-Vorsitzender
(1973-1990)
wikipedia Herbert_Mies (1929-2017)
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Hamburg, den 1. Mai 1978, Sehr geehrter Herr Mies,
seit einigen Monaten sitzt in einem Gefängnis der DDR der Autor Rudolf Bahro in Untersuchungshaft. Er ist wegen seines Buches <Die Alternative> eingesperrt worden. Dies jedenfalls läßt die relative Gleichzeitigkeit des Erscheinens dieses Buches mit seiner Inhaftierung vermuten.
Der Spionageverdacht ist nach allem, was wir vom Vorgehen der DDR-Behörden in solchen Fällen wissen, eine Schutzbehauptung — auf der dann die Anklagepunkte aufgebaut werden sollen. Auch ein moderner, der Diktatur des Proletariats unterworfener Staat kann sich nicht leisten, was im Falle Thomas Morus selbstverständlich schien: Wegen Irrlehren ins Gefängnis.
Warum schreibe ich das an Sie?
Sie sind der Vorsitzende einer recht kleinen Partei in der Bundesrepublik, sie ist in keinem Bundes- oder Landtag vertreten. Allerdings haben Sie als Vorsitzender dieser Partei eine besondere Bedeutung, weil diese Partei sehr enge Beziehungen zur DDR unterhält — und die DDR ist nun einmal der wichtigste Nachbarstaat der Bundesrepublik Deutschland. Ich schreibe Ihnen zum Fall Bahro gewiß nicht, weil ich annehme, sie könnten oder würden unmittelbar etwas für den zu Unrecht inhaftierten Rudolf Bahro tun. Wie könnte ich auch eine solche Hoffnung hegen.
Ihre Zeitung — die Sie zu Recht, entsprechend der kleinen Zahl Ihrer Anhänger, «unsere Zeitung» nennen — hat sich ja sehr deutlich gegen Bahro und für die Maßnahmen der DDR-Behörden ausgesprochen. Zwar lese ich nicht täglich diese Zeitung, aber ein gelegentlicher Blick zeigt doch, daß kein Beamter der DDR Angst haben müßte, von Ihnen angegriffen zu werden — wegen Willkür und Ämterhochmut gegenüber Bürgern. Insofern ist Ihre Zeitung staatstragend.
Als sich vor zehn Jahren eine Reihe von Professoren für die Wiederzulassung der KPD auch in der Reihe rororo-aktuell einsetzten, taten sie dies in der Überzeugung, daß das Parteiverbot dem Geiste unserer Verfassung auch dann widerspricht, wenn das Verfassungsgericht entsprechend geurteilt hatte.
Inzwischen gibt es die Deutsche Kommunistische Partei — die Zahl ihrer Mitglieder stagniert, die Zahl ihrer Anhänger schwankt. Ich bekämpfe politisch die Zielsetzungen der DKP. Zugleich kämpfe ich j edoch dafür, daß Bundesbürger, die sich der DKP zugehörig fühlen, in keiner Weise benachteiligt werden dürfen.
Ich habe meinen Kampf für
Ihre Rechte stets als Grundlage meines Kampfes gegen Ihre Ziele angesehen. Aus vielen Gesprächen mit jungen DKP-Mitgliedern weiß ich, daß sie in meiner Haltung eine gewisse Schizophrenie sehen, weil sie meinen, links müsse mit links zusammenhalten. Wenn ich mir das breite Spektrum der kommunistischen Linken ansehe, eine in der politischen Realität nirgends bestätigte Meinung.Nein, für linke Sozialdemokraten ist eine gemeinsame Arbeit mit Ihrer Partei nicht nur aus strategischen, sondern auch aus konkreten inhaltlichen Positionen völlig unmöglich.
Ich schreibe Ihnen, weil mich der Fall Bahro weit über den einzelnen Rudolf Bahro hinaus beschäftigt.
Dieser DDR-Bürger Rudolf Bahro sitzt in seinem Staat im Gefängnis. Er unterliegt wohl heute schon einer Verfügung, die wir hier in der Bundesrepublik sehr engagiert bekämpfen: Berufsverbot. In der DDR und in der CSSR sind Berufsverbote ja keineswegs neu, sondern eine breite, tausendfach erprobte Praxis — trotz des in der Verfassung garantierten «Rechts auf Arbeit». Wie Sie wissen, einer der Gründe, die es uns unmöglich machen, mit DKP-Mitgliedern in den gleichen Komitees gegen den Radikalenbeschluß zu kämpfen. Aber über das Berufsverbot hinaus ist zu befürchten, daß Rudolf Bahro eine Gefängnisstrafe absitzen muß — oder daß er zum Berufsverbot Heimatverbot auferlegt bekommt. In der spezifisch deutschen Situation mag Heimatverbot — also die Ausweisung — für Rudolf Bahro persönlich das kleinere Übel sein. Für mich ist jedoch das Heimatverbot, die Ausweisung, die Verbannung eine Bestrafungsform, die weit über die üblichen Gefängnisstrafen hinausgeht.
Ihre Zeitung hat ja die Ausweisung Wolf Biermanns im Grundsatz gutgeheißen, übrigens auch vor Jahren die Ausweisung Solchenizyns. In einem Streitgespräch mit Peter Schutt, Ihrem Vorstandskollegen aus Hamburg, das wir vor einiger Zeit in Konkret veröffentlichten, vertrat auch er grundsätzlich die Ansicht, der sozialistische Staat habe in bestimmten Fällen das Recht, einzelne Mitbürger auszuweisen. Da ich selten auf prinzipielle Meinungsunterschiede bei führenden DKP-Funktionären gestoßen bin (bei einfachen Mitgliedern ist das inzwischen schon sehr viel differenzierter), nehme ich an, daß auch Sie dieses grundsätzliche Recht auf Ausweisung akzeptieren. Peter Schutt antwortete seinerzeit auf meine Frage, was er denn im Falle der Regierungsgewalt der DKP machen würde, er hätte etwa Faschisten wie Kappler ausgewiesen. Für Wolf Biermann und andere ein sicher makabrer Vergleich.
Warum sehe ich in der Anerkennung des staatlichen Ausweisungsrechts eine so schwerwiegende Verletzung humanistischer Grundsätze? Beim Heimatverbot vertreibt der Staat einen seiner Bürger aus seiner Obhut, ohne je garantieren zu können, daß dieser Mitbürger woanders den gleichen Rechtsnormen unterliegt wie bei sich selbst.
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Natürlich ist dies eine recht abstrakte Argumentation, da ja in den meisten Staaten dieser Erde inzwischen Willkür herrscht, und da die Zahl der demokratischen Staaten, in denen die Menschenrechtscharta voll akzeptiert wird, und in denen die Bürgerrechte voll genutzt werden können, immer geringer wird. Viele Menschen sind heute froh, wenn sie der Folterkammer Lateinamerikas durch die Ausreisegenehmigung entfliehen konnten. Und auch Solschenizyn wird sich inzwischen in seiner neuen amerikanischen Heimat besser fühlen als unter den schwierigen Lebensbedingungen, denen er sich in seiner sowjetischen Heimat ausgesetzt sah. Das ändert aber nichts an der prinzipiellen Bedeutung, die dieses Heimatverbot gerade heute hat. Nach meiner Überzeugung darf kein moderner Verfassungsstaat auch nur einen seiner Bürger aus den Rechten und Pflichten seines Staatsverbandes ausgliedern. DDR und UdSSR — die sich dabei vielleicht sogar ganz human vorkommen, praktizieren hier ein Verfahren, das im Altertum die Qualität der Todesstrafe hatte.
Die Ausweisung, das heißt die Aberkennung der Staatsangehörigkeit, ist die Wiederbelebung der uralten «Verbannung», die den Verurteilten (oft an Stelle der bereits ausgesprochenen Todesstrafe) aus dem heimatlichen Territorium auswies. Verbannung und Todesstrafe stehen strafgeschichtlich, aber auch psychologisch eng beieinander. In archaischen Gesellschaften mußte den radikalen Abweichler, den Dissidenten die Verbannung ebenso treffen wie der Tod, denn die archaischen Nachbargesellschaften hatten kaum Möglichkeiten, den Fremden als Exilierten im modernen Sinne zu «integrieren».
Heute noch nehmen die Führer der «sozialistischen Gesellschaft» für sich in Anspruch, bestimmte unpassende Mitglieder der Gesellschaft auszuweisen. Früher gab es dafür die Ausweisung nach Sibirien, später in das ferne unbekannte Land Gulag, von des Bezirk der Wanderer, wenn überhaupt, nur stumm wiederkehrt. Heute gibt es den Abtransport der Prominenten in den Westen. Im voraus gibt es stets den inneren Abtransport des Dissidenten. Die Herstellung einer Situation, in der ihm die soziale und oft auch wirtschaftliche Luft zum Atmen abgeschnürt wird. Bei Havemann ist es die Halbhaft im eigenen Haus, bei Bahro ist es die Gefängnishaft — bei anderen ist es die Ausladung vom Schriftstellerkongreß 1978.
Westliche auf den bürgerlichen Freiheitsrechten beruhende Traditionen haben die Ausbürgerung grundsätzlich abgeschafft. Das vom Westen geprägte Völkerrecht geht davon aus, daß dem eigenen Bürger im Ausland auch der Schutz durch die konsularischen Vertretungen zuteil wird. Allerdings ist diese Vorstellung, daß einer, der «zu uns gehört», schutzwürdig ist, was immer er denkt, historisch jung. Der soziale Abweichler, der Aufrührer, der Ketzer und Andersartige, der Andersgeratene — sie alle mußten in archaischen Gesellschaften die
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Vertreibung, die unfreiwillige Exilierung befürchten. Die nur etwas mildere Zwischenform war wohl die Verbannung — zu der die (schwache) Hoffnung auf Rückkehr gehörte. Die mittelalterlichen Städte kannten die «Stadtverweisung», Feudalstaaten die «Landesverweisung». Das zaristische wie das sowjetische Strafrecht haben die «Ssylka», die Verbannung nach Sibirien — oder nach «Gulag» oder eben ins Ausland bis heute nicht aufgegeben. Das sind Traditionen, die mit der bürgerlichen Verfassungsgeschichte Westeuropas nichts zu tun haben. Warum machen DDR-Politiker diese zaristisch-sowjetische Praxis so rasch (und mit leichter Hand) nach? Warum sind DKP-Politiker und DKP-Zeitungen ebenfalls so rasch bei der Hand, wenn es gilt, solche Praktiken zu rechtfertigen?
Sehen Sie nicht, daß, wird dieses Heimatverbot wieder als legale Maßnahme des Staates akzeptiert (und das tut ja Ihr Parteiorgan UZ bei jedem Ausweisungsfall), dann alle Grundrechtsdiskussionen ins Schwimmen — und alle Grundrechtsbeteuerungen der DKP ins Wanken kommen? Die Verbannung heißt doch, daß die Regierung erklärt: «Dieser Bürger ist in unsere Gesellschaft nicht integrierbar. Wir können mit ihm nichts anfangen.»
Er wird nicht liquidiert — was ja doch das Schicksal der Kulaken war. Er wird ausgewiesen, weil darauf gehofft wird, daß es draußen gnädige Auffangstaaten gibt, die gerade dem Dissidenten eine besondere Integrationshilfe zuteil werden lassen. Daran knüpfen sich zwei Fragen. Erstens: in der Regel werden nur die Prominenten ausgewiesen, also diejenigen, deren Ruhm ihnen bereits eine Vorausheimat geschaffen haben könnte. Für die anderen nicht Integrierbaren gilt in der UdSSR wohl nach wie vor Verbannung in das, was vom Gulag übriggeblieben ist oder aber die Einweisung in die psychiatrische Klinik, wo sozusagen die Nichtintegrierbarkeit klinisch festgestellt werden soll — womöglich mit dem Ziel der Heilung, das heißt, mit dem Ziel einer psychischen Veränderung des einzelnen, die ihn dann integrierbar macht.
Prinzipiell ist kein Unterschied zwischen der Ausweisung in den Westen und der Einweisung in die Psychiatrische Klinik. Die zweite Frage betrifft das erklärte Ziel der kommunistischen Bewegung, eines Tages möge die ganze Welt kommunistisch sein. Wohin dann mit den nicht Integrierbaren? Ins Meer? Nach Sibirien?
Wie man es auch dreht, wer in auch nur einem Fall die Ausweisung akzeptiert, muß sich die ganze grausame Geschichte der stalinistischen Epoche vor Augen halten lassen. Denn was macht die große (keineswegs nur von der Bild-Zeitung geschürte) reale Furcht der Menschen vor dem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der UdSSR, der CSSR und der DDR in Westeuropa denn aus? Doch wohl die Frage, was machen die mit mir, wenn ich nicht integrierbar bin? Wo ist mein Platz in der Gesellschaft des «Neuen Menschen», wenn ich kein neuer
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Mensch bin, sein will oder auch nicht sein kann? Die DDR ist heute kein stalinistischer Staat. Zwischen den Massenmorden der dreißiger Jahre und der Behandlung der Dissidenten heute, 1978, liegen Welten — die gewiß auch anerkannt werden. Aber die grundsätzliche Frage bleibt: Was machen die Mächtigen mit jenen, die nicht in das System integrierbar sind? Für diese Fragen haben kommunistische Parteien bis vor kurzem keine Antworten gefunden. Die italienischen und die spanischen Kommunisten geben sich die größte Mühe, in dieser entscheidenden Frage selbst Klarheit zu erlangen und Klarheit zu verbreiten. Sie bedeutet: Abschied von der Diktatur des Proletariats, sie bedeutet Entwicklung von demokratischen Verfahren, die die eigene Position immer wieder unter das Prinzip der Toleranz und damit allerdings auch der Relativierbarkeit stellt. Also Abschied von den Grunddogmen der kommunistischen Parteien Moskauer Prägung.
Rudolf Bahro selbst hat sich in seinem Buch leider zu der Frage der Staatsangehörigkeit, also der «Staatsbürgerschaft» kaum geäußert. Auch er geht an die Analyse und an die fundamentale Kritik der Gesellschaft der DDR soziologisch heran, das heißt, er untersucht die Gesellschaft und ihre Institutionen. Hinzukommen müßte eine historische Deutung der Entwicklung des Nationalstaates und der bürgerlichen Freiheitsrechte. Denn die Mitglieder der «realen» sozialistischen Gesellschaft zwischen Elbe und Oder sind ja auch Bürger der DDR. Und zu den Rechten der Bürger gehört ihre prinzipielle Integrierbarkeit in jene demokratischen Verfahren, die die gesellschaftlichen und ökonomischen Belange regeln sollen. Für die Nichtintegrierbarkeit gibt es das Strafrecht — das dem Angeklagten und dem Verurteilten grundsätzlich weiterhin Schutz gewährt. Im Rechtsstaat ist auch der Gefängnisinsasse nicht vogelfrei. Der Verbannte ist für das verbannende Rechtssystem vogelfrei.
Dies alles wird hier nicht an Sie geschrieben, weil ich die Welt für eine Hölle-Paradies-Einrichtung halte. Nach dem Motto: bei uns ist alles gelöst, dort ist alles grausam. Im Gegenteil, ich schreibe dies, weil natürlich auch (und in den letzten Jahren verstärkt) bei uns in der Bundesrepublik Tendenzen zur Ausklammerung der Nichtintegrierbarkeiten spürbar sind.
Wenn auch bei uns das Prinzip der Verbannung abgeschafft ist, so ist es doch noch lange nicht allgemein akzeptiert. Gerade Sie als Vorsitzender einer kommunistischen Partei werden gewiß ein Lied davon singen können, wie wenige Bundesbürger bereit sind, «mit Kommunisten» zu leben, also ihre grundsätzliche Staatsangehörigkeit zu akzeptieren. In der Bundesrepublik findet die behördliche Ausweisung der Bürger nicht statt. Wie eh und je gibt es aber die heimliche innere Ausbürgerung vieler Bundesbürger, die nicht ins politische Konformatitätsbild passen. Der Kommunist, der nicht in den Staatsdienst darf, ist auch schon ein bißchen ausgebürgert.
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Die Firmen, die nach Beratung durch den Verfassungsschutz den einen oder anderen nicht einstellen, sie bürgern auch schon ein klein bißchen aus; nicht durch Paßentzug. Keine Verbannung, keine äußere Schmälerung der Freizügigkeit, aber eine innere Bereitschaft zur Abschiebung läßt sich auch bei uns beobachten, ja bei Beamten selbst die Bereitschaft, den Schutz der Staatsbürger im Ausland zu vernachlässigen. Zu den tiefsten Erschütterungen meines Vertrauens in meinen Staat Bundesrepublik gehört die anfängliche Nachlässigkeit, mit der deutsche Diplomaten in Buenos Aires auf das Verschwinden von jungen Deutschen reagiert haben.
Am verachtenswertesten empfinde ich den bundesdeutschen Diplomaten, der seine Pflichten dadurch gröblich vernachlässigt, daß er seine Sympathie für ein herrschendes Regime höher einschätzt als die leidenschaftliche Pflichtauffassung, mit der er jedem seiner in Not geratenen Landsleute zu Hilfe kommen muß. Ich weiß, daß eine solche auf das Individuum abzielende Betrachtung nicht unproblematisch ist — habe ich doch allzu oft miterleben müssen, wie schutzlos der Bürger eines fernen, kleinen, schwachen und armen Staates ist und wie schutzversorgt etwa der amerikanische Staatsbürger reist.
Sehr geehrter Herr Mies, Sie erwarten von Ihren linken und liberalen Mitbürgern ein starkes Engagement, wenn es um die Bürgerrechte Ihrer Mitglieder und Anhänger geht; Sie lassen dies übrigens Ihrerseits oft vermissen, wenn es um Kommunisten geht, die nicht Ihrer Richtung zugehören. Mit meinem häufig wiederholten Satz «Wir müssen auch dann um die Bürgerrechte von Kommunisten kämpfen, wenn wir ihre Ziele bekämpfen», bin ich oft angeeckt. Hätte in Ihrer Zeitung einmal der Satz gestanden: «Wir müssen um die Menschenrechte von Wolf Biermann, Jürgen Fuchs und Rudolf Bahro auch dann kämpfen, wenn wir ihre Ideen bekämpfen», dann würde mir mein Eintreten für Ihre Mitglieder leichter.
Die DKP ist seit ihrer Gründung äußerst fahrlässig mit den Grund- und Menschenrechten umgegangen, sie hat den Einmarsch in die CSSR begrüßt, sie hat die Ausweisung Solschenizyns gutgeheißen, sie hat zu Biermann und Jürgen Fuchs nicht geschwiegen, sondern die DDR noch gelobt. Die DKP hat den ungeheuerlichen Vorgang, daß ein Bürger wegen eines Buches im Gefängnis sitzt, gutgeheißen.
Im September dieses Jahres wird Ihre Partei zehn Jahre alt sein — wenige Wochen nach dem zehnten Jahrestag des Einmarsches in die CSSR. Wir wissen nicht, was bis zu diesen zwei so ungleichen Jubiläen mit Rudolf Bahro geschehen wird. Ich vermute, auch für ihn Heimatverbot. Ich vermute, daß Ihre Partei auch das dann wieder begrüßen wird.
Der Fall Bahro zeigt deutlich, warum wir so wachsam gegenüber der Bürgerrechtspraxis der DDR und der Bürgerrechtstheorie der DKP sein müssen. Er sollte aber auch allen Bundesbürgern (also auch Ihnen, Herr Mies) klarmachen, warum wir so wachsam gegenüber allen verinnerlichten Ausbürgerungstendenzen hierzulande auftreten müssen.
Solidarität mit Rudolf Bahro heißt Kampf für die demokratischen Grundrechte aller Bundes- und DDR-Bürger — heißt zugleich also auch politischer Kampf gegen Ihre Partei.
Weder unsere rechten noch unsere kommunistischen Gegner (eurokommunistische haben wir ja hierzulande noch nicht) können dieses Paradoxon heute verstehen — für uns, und, wie ich hoffe, für Rudolf Bahro, ist es der Grundgedanke des demokratischen Sozialismus.
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