Start    Autoren

   Teil 3. Der Häftling - Briefe zu Bahros Haft  

 

Otto Schily an Bahros Verteidiger Gregor Gysi:

   «Wenden Sie sich an die Öffentlichkeit»   

 

 

 

Sehr geehrter Herr Kollege!

117

Eine Erfahrung ist wohl den meisten Juristen gemeinsam: Von den guten Vorsätzen der Staatsgewalt, die in den jeweiligen Verfassungsurkunden protokolliert sind, bleibt leider häufig in der justiziellen Alltagspraxis nicht allzuviel übrig. Aufgabe des Verteidigers ist es, diesen Widerspruch zwischen Verfassungs­anspruch und Verfassungswirklichkeit, wenn er auftritt, sichtbar zu machen und zu dessen Überwindung beizutragen.

Es war eine ebenso kurzsichtige wie brutale Entscheidung, mit der im vergangenen Jahr die Verhaftung Rudolf Bahros angeordnet wurde. Den Arzt einzusperren, der eine Krankheit diagnostiziert, ist keine sehr erfolgversprechende Methode, die Krankheit loszuwerden. Der «Geist der Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschlichkeit», der nach Artikel 86 der DDR-Verfassung für deren Einhaltung und Verwirklichung bestimmend sein soll, hat die für die Inhaftierung Bahros verantwortlichen Amtsträger der DDR jedenfalls bei dieser Entscheidung im Stich gelassen. Der Verteidiger Bahros sollte nicht mit der Mahnung an die staatlichen Instanzen zögern, zu diesen Grundsätzen der Verfassung zurückzukehren.

«Da ich selbst der Sohn eines Advokaten», schrieb Karl Marx an Justizrat Weber, «so weiß ich, wie wichtig es für einen gewissenhaften Rechtsanwalt ist, über den Charakter seines Klienten ganz klar zu sein.» 

An Gewissenhaftigkeit wird es Ihnen nicht mangeln, und Sie werden sich daher längst davon überzeugt haben, daß Rudolf Bahro kein anderes «Verbrechen» zur Last gelegt werden kann als der Versuch, die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR frei von staatlich verordneten Vorurteilen zu analysieren und Perspektiven für eine positive Veränderung zu entwickeln. Das schließt ein, daß Sie sich nicht von der von den Strafverfolgungsorganen der DDR ausgegebenen Parole, Bahro sei nachrichtendienstlicher Tätigkeit verdächtig, irreführen lassen.

Nachem Bahro seit mehr als acht Monaten in Haft ist, reicht es aber nicht aus, daß sich die Verteidigung insgeheim ihre Überzeugung bildet, sondern sie muß ihren Standpunkt gegenüber der Öffentlichkeit diesseits und jenseits der Grenzen der DDR deutlich aussprechen. Das gehört zu dem Recht auf Verteidigung, das nach Artikel 102 der DDR-Verfassung während der Dauer des gesamten Strafverfahrens gewährleistet sein soll. 

Es mag ein für Sie riskantes und angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse in der DDR ungewöhnliches Unterfangen sein. Verteidigung ist stets riskant, wenn sie der Staatsräson oder dem, was die Inhaber der Regierungsgewalt dafür halten, in die Quere kommt. Ich hoffe, Sie zu ermutigen, diesem Wagnis nicht auszuweichen, wenn Sie es mit dem «Geist der Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschlichkeit» und dem wahren Sozialismus ernst meinen.

Mit freundlichen, kollegialen Grüßen, Otto Schily 

118


Tomas Kosta

Brief seines Verlegers

Köln, Ende April 1978 

Lieber Rudolf Bahro,

es fällt mir nicht leicht, Ihnen diesen Brief zu schreiben. Einen Brief, gerichtet an einen Autor, der im Gefängnis sitzt. Der für ein Buch verhaftet wurde, das in unserem Verlag erschienen ist. Ein kritisches Buch, gewiß, aber ebenso gewiß eines, das nach kritischer Auseinandersetzung verlangt. «Es führt kein Weg mehr vorbei an Rudolf Bahro», so hat es Erich Fried in einem Ihnen und Ihrem Buch gewidmeten Gedicht formuliert. Mag Ihr Weg auch zunächst in eine Zelle geführt haben, die Verbreitung Ihrer Gedanken ließ sich damit nicht verhindern. Ganz im Gegenteil. Gerade durch diesen spektakulären Schritt wurde Ihnen und Ihrem Buch ein Maß an Beachtung und — Erfolg zuteil, wie es bei einem wissenschaftlichen Werk nicht eben an der Tagesordnung ist.

Ich will versuchen, Ihnen jetzt schriftlich das zu sagen, was unter normalen Umständen im Gespräch zwischen Autor und Verleger erörtert wird. Da wir uns bisher leider nie persönlich begegnet sind, muß ich mich an dem Bild orientieren, das ich mir von Ihnen gemacht habe. Nach Ihrem Buch, nach den Fernsehinterviews — den einzigen Gelegenheiten, Rudolf Bahro kennenzulernen. Der Eindruck, den mir bereits die Lektüre Ihres Buches vermittelt hatte, wurde durch die Wirkung Ihres Bildschirmauftritts nur noch bestärkt. Daher glaube ich, Ihnen und Ihren Intentionen am besten zu entsprechen, wenn ich Ihnen hier eine Art Rechenschaftsbericht ablege über das, was seit dem 23. August 1977, dem Tag Ihrer Verhaftung, geschehen ist.

Doch lassen Sie mich erst noch kurz auf die Vorgeschichte eingehen. Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem Ihr Manuskript bei uns eintraf. Ich nahm es mit nach Hause und habe es in einer Nacht gelesen. In den vielen Jahren, die ich diesen Beruf ausübe, ist es mir selten passiert, daß ich ein nicht nur formal, sondern vor allem gedanklich so sorgfältig gearbeitetes Manuskript in die Hand bekommen habe. Eine kritische wissenschaftliche Analyse, brillant, doch zugleich lesbar geschrieben und damit auch für den Laien verständlich. Ein praktisch druckreifes Werk, für das es nur einen neuen Haupttitel zu finden galt. Die Alternative wie wir es schließlich — und hoffentlich in Ihrem Sinne — nannten, ist inzwischen zum festen Begriff geworden.

119


Daß wir Ihr Manuskript veröffentlichen wollten, stand für mich vom ersten Augenblick an fest. Ebenso klar war uns allen von Anfang an, welche große Verantwortung Ihnen gegenüber wir durch diesen Entschluß übernommen haben. Zwar vermuteten wir wohl nicht zu Unrecht, daß Sie sich bei der Wahl eines Verlages bewußt für die Europäische Verlags-Anstalt entschieden haben. Einen gemeinnützigen Verlag, der ganz in der Tradition der Arbeiterbewegung steht und sich dem demokratischen Sozialismus verpflichtet fühlt; der Werke von Karl Marx, Rosa Luxemburg, Karl Korsch, Oskar Lange veröffentlich hat; für dessen klare antifaschistische Position Bücher zeugen wie Der SS-Staat von Eugen Kogon, Franz Neumanns Behemoth, Ernst Fraenkels Der Doppelstaat, um nur einige zu nennen. Ein solcher Verlag dürfte auch aus Ihrer Sicht eine akzeptable Alternativlösung für die Veröffentlichung Ihres Buches darstellen.

Daß diese Veröffentlichung zur Sensation gediehen ist, daß der «Fall Rudolf Bahro» weltweites Aufsehen erregt hat, liegt nicht an uns und einer «konzertierten Aktion kapitalistischer Werbemethoden», wie sie die einschlägigen Zeitungen unserer von Liselotte Julius geleiteten Pressestelle zuschreiben, sondern einzig und allein an der Reaktion der DDR-Behörden.

Am 22. August 1977 brachte Der Spiegel einen Artikel über Sie zusammen mit einem Auszug aus dem Buch, am 23. August strahlten beide Fernseh­programme Interviews mit Ihnen aus, die Sie freilich nicht mehr sehen konnten, da Sie am gleichen Tag verhaftet wurden. Doch davon erfuhren wir erst am 24. August. Wäre es nicht zu dieser Maßnahme gekommen, sondern bei den erwähnten Auftritten in westdeutschen Medien geblieben, hätte es mit Sicherheit niemals einen «Fall Bahro» gegeben. Vielmehr wäre das eingetreten, was Sie und wir mit Ihnen erhofft haben: Man hätte Ihr Buch als das genommen, was es sein wollte und sollte — als konstruktiven Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion, der seine Kritik auf den von Karl Marx erarbeiteten theoretischen Grundlagen entwickelt und aus dieser fundierten Analyse Wege vom «real existierenden» zum wirklichen Sozialismus ableitet.

Durch Ihre Verhaftung aber wurden Sie und Die Alternative zum Politikum. Wochenlang standen die Telefone in unserem Verlag nicht still — ein wahrer «Bahro-Boom» war ausgebrochen. Zeitungs-, Rundfunk- und Fernsehredaktionen im In- und Ausland erbaten Rezensionsexemplare und nähere Auskünfte über den Autor und sein Buch. Buchhandlungen und Grossisten bestürmten unseren Vertrieb mit ständigen Nachbestellungen; die mit 10.000 Stück für ein wissenschaftlich-theoretisches Werk vergleichsweise hoch angesetzte erste Auflage war noch vor der Auslieferung vergriffen, so daß wir im Eiltempo nachdrucken mußten. Ausländische Verlage rissen sich um Optionen.

Konkret sieht die Bilanz knapp acht Monate nach Erscheinen des Buches so aus: Die Auflage beträgt jetzt 80.000; Auslandsrechte wurden bisher vergeben für Amerika, England, Frankreich, Italien, Spanien, Dänemark und Schweden; für Japan läuft eine Option. Sämtliche fremdsprachigen Ausgaben werden auf der kommenden Frankfurter Buchmesse, also genau ein Jahr nach Erscheinen der deutschen, vorliegen.

120


Was nun die publizistische Resonanz angeht, so füllen die Presseausschnitte und die Sendemanuskripte von Funk und Fernsehen bisher neun große Leitzordner. Hier ist zu unterscheiden zwischen Berichten und Kommentaren zum politischen Fall Bahro und Äußerungen über Die Alternative. Die Zahl der Kritiken beläuft sich inzwischen auf rund zweihundert; sämtliche großen Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehanstalten der Bundesrepublik haben sich ausführlich mit Ihrem Buch befaßt, ebenso die Provinzpresse. Das gleiche gilt für das deutschsprachige Ausland sowie für Frankreich, Italien, Spanien, England, Schweden, Dänemark und die Niederlande. Insgesamt haben wir bis jetzt zwei große Leitzordner mit Rezensionen und einen weiteren mit Auszügen aus dem Buch, aus den Vorträgen sowie Nachdrucken der Interviews, die ebenfalls von zahlreichen ausländischen Medien übernommen wurden.

Der Erfolg Ihres Buches zeigt sich darüber hinaus in den verschiedenen «Bestseller-Listen». Bereits im Oktober 1977 wurde Die Alternative in mehreren Städten der Bundesrepublik zum «Buch des Monats». Seit dem 23. September 1977 behauptete sie monatelang den ersten Platz auf der Sellerliste der Deutschen Zeitung, und bis heute rangiert sie unter den ersten zehn Titeln der vom Allensbacher Institut für Demoskopie ermittelten Bestseller. In der vom Spiegel veröffentlichten Bestseller-Liste stand Die Alternative seit dem 19. September 1977, also rund drei Wochen nach Erscheinen, wochenlang unter den ersten zehn Titeln und hat bis heute ihren Platz unter den ersten zwanzig Sachbüchern. Das Fachorgan Buchhändler heute bezeichnete Die Alternative im Oktober 1977 als «eines der aktuellsten Bücher des Herbstes». Der Bayerische Rundfunk veröffentlicht in seiner Fernsehsendung Bücher beim Wort genommen — Politik neuerdings eine Liste der wichtigsten politischen Bücher, die durch Umfragen bei achtzehn namhaften Journalisten nach einem Punktsystem zustande kommt. Die erste Liste vom März 1978 führt Ihr Buch an, und zwar mit 76 Punkten. Auf der Bestenliste des Südwestfunks Baden-Baden wurde Die Alternative zum «Sachbuch des Monats März» gewählt.

Daß Ihr Buch nicht nur gekauft, sondern auch gelesen wird, beweisen zahlreiche Seminare, die an fast allen Universitäten der Bundesrepublik und West-Berlins stattfinden. Ebenso beschäftigen sich viele politische Organisationen, Jugendverbände, Schülerzirkel und Gewerkschaftsinstitutionen intensiv mit Ihren Thesen. Auch im Ausland gibt es bereits solche Diskussionskreise, die sich allerdings bis zum Vorliegen der Übersetzung noch auf die germanistischen Fakultäten beschränken — so in Frankreich, England und neuerdings auch in den Vereinigten Staaten.

121


Das publizistische Echo zum politischen Fall Bahro ist noch weit umfänglicher; allein die Presseausschnitte für die Zeit vom 23. August bis einschließlich 4. September 1977 erfordern drei große Leitzordner. Darunter finden sich viele ausführliche Artikel in bedeutenden ausländischen Organen; ich nenne als Beispiele die Londoner Times, Economist, Newsweek, Neue Zürcher Zeitung, Basler Zeitung, Salzburger Nachrichten, la Repubblica, Corriere della Sera, Le Monde, Il Messagero, Avanti!, Stampa, l'Unita und l'Humanite, in der es unter anderem heißt: «Dieses Buch ist ein bedeutendes Werk, das Aufmerksamkeit verdient, weil es uns entscheidende Fragen stellt, denen man nicht ausweichen sollte. Und in jedem Fall können wir nur feststellen, daß wir mit der Antwort, die man ihm gegeben hat, in gar keiner Weise übereinstimmen, das heißt der Inhaftierung unter dem offiziellen Vorwand <nachrichtendienstlicher Tätigkeit>.»

Diese ungeheure Breitenwirkung Ihres Falles hat eine starke Solidaritätsbewegung im In- und Ausland ausgelöst. Sie begann mit einem Offenen Brief an den Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, vom 8. Oktober 1977. Er wurde auf einer Tagung in Recklinghausen verabschiedet, die von den Heraus­gebern der bei uns erscheinenden Zeitschrift L 76 — Demokratie und Sozialismus, Heinrich Böll, Günter Grass und Carola Stern, initiiert wurde und die unter dem Gesamtthema «Was ist heute links?» stand. An der Podiumsdiskussion nahmen unter anderen teil: Carl Amery, Heinrich Böll, Rudi Dutschke, Freimut Duve, Horst Ehmke, Günter Grass, Walter Grasskamp, Diether Hoffmann, Lucio Lombardo Radice, Heinz Markmann, Claudio Martelli, Carola Stern, Johano Strasser, Heinz Timmermann, Fritz Vilmar, Heinrich Vormweg. Die etwa dreihundert Teilnehmer der Tagung stimmten dem Brief zu, dessen Schlußsatz lautet: «Die in Recklinghausen ... zu einer mehrtägigen Diskussion versammelten Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten appellieren an Sie, Herr Staatsratsvorsitzender, Rudolf Bahro aus der Haft zu entlassen.»

Am 19. November 1977 forderten die Teilnehmer eines Kongresses, der Demokraten, Sozialisten und Kommunisten aus West- und Osteuropa in Venedig zusammenführte, «die internationale öffentliche Meinung auf, bei der Regierung der DDR für die Freilassung Rudolf Bahros zu intervenieren, der unter der Falschanklage der Spionage eingekerkert wurde, in Wirklichkeit aber eine marxistische Kritik der politischen Ordnung und Klassenherrschaft in der DDR und den anderen Ländern Osteuropas geleistet hat». Diese Erklärung wurde namentlich eingebracht von Elio Giovannini (CG/L), Alfonso Comin (PCE), Louis Althusser (PCF), Lucio Lombardo Radice (PCI), Bruno Trentin (FLM), Rossana Rossanda (Manifeste), Leonid Pljutsch, Boris Weil und anderen.

122


Im Dezember 1977 richtete die DGB-Jugendkonferenz eine Solidaritätsadresse an die Ständige Vertretung der DDR in Bonn, in der Ihre sofortige Haft­entlassung gefordert wird. Am 1. Februar 1978 wurde in der Londoner Times ein Brief veröffentlicht, in dem Heinrich Böll, Günter Grass, Arthur Miller, Graham Greene, Carola Stern und Mikis Theodorakis die Öffentlichkeit aufrufen, sich für Ihre Freilassung einzusetzen. In der gleichen Ausgabe erschien ein Artikel, der sich nochmals eingehend mit Ihrem Fall beschäftigte. Dieser Appell in der Times fand in der Bundesrepublik und international besonders große Resonanz; Hunderte von Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten brachten ihn entweder im Wortlaut oder berichteten ausführlich darüber. Er bildet ferner die Grundlage einer breitgestreuten Unterschriftenaktion, in der sich bisher bereits 10.000 Unterzeichner mit dem Aufruf solidarisierten und «Freiheit für Rudolf Bahro» forderten.

Im Januar und Februar 1978 fanden in Berlin Solidaritätsveranstaltungen statt, und zwar in der Freien und in der Technischen Universität, die mehrere tausend Besucher zählten und ebenfalls von den Medien stark beachtet wurden. Für den 31. Mai ist in Paris eine weitere große Veranstaltung geplant, bei der mit einem breiten internationalen Echo zu rechnen sein dürfte. Im Februar richteten 110 bekannte Wissenschaftler der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main einen Brief an den Innenminister der DDR, in dem sie Ihre unverzügliche Freilassung fordern. Ferner beantragten sie unter Berufung auf eine Zusage, die das Ministerium am 13. Oktober 1977 einer Frankfurter GEW-Delegation gegeben hatte, die Erteilung einer Besuchsgenehmigung für «drei unserer Kollegen, um sich und damit auch uns über die Haftbedingungen von Rudolf Bahro zu informieren, von dem es seit seiner Verhaftung im August letzten Jahres keine Nachricht gibt». Diesen drei Vertretern wurde Ende März die Einreise in die DDR verweigert.

Anträge auf Besuchsgenehmigung wurden außerdem von verschiedenen Institutionen und Einzelpersonen gestellt, so unter anderem von Kollegen der IG Metall, der GEW, verschiedenen Juso-Verbänden und von unserem Verlag. Sie blieben jedoch sämtlich unbeantwortet oder die Delegierten wurden an der Grenze zurückgewiesen.

Von den zahlreichen Einzelaktionen, die für Sie unternommen wurden, nenne ich hier nur einige Beispiele: Mehrere Zentren des Internationalen PEN-Clubs haben Protestbriefe an Erich Honecker, Willi Stoph und Michael Kohl sowie an die Botschafter der DDR in London und Washington gerichtet, desgleichen das «Writers-in-Prison-Com-mittee» des PEN-Clubs und Professor Charles Taylor von der Universität Oxford, ein Mitglied dieses Komitees. Maurice Cranston, Präsi-

123


dent des Institut International de Philosophie Politique, hat im Namen zahlreicher Politikwissenschaftler westlicher Universitäten ihre fortdauernde Inhaftierung verurteilt. Im April hat der niedersächsische SPD-Landesvorsitzende Peter von Oertzen eine Kampagne für Ihre Freilassung gestartet. Komitees für ihre Freilassung gibt es in Berlin, Paris und London, Kampagnen für Sie in fast allen westeuropäischen Ländern.

Der 23. Februar 1978, an dem sechs Monate seit Ihrer Verhaftung verstrichen waren, bot Anlaß für weitere publizistische Aufmerksamkeit. Hervorzuheben wäre hierbei die ZDF-Sendung Kennzeichen D, in der unter anderen der spanische KP-Führer Santiago Carrillo zu Wort kam. Seine Äußerungen wurden immer wieder zitiert, vor allem die folgenden Sätze: «Es scheint mir jedenfalls widersinnig, daß ein Spion öffentlich gegen das Land Stellung nehmen sollte, in dem er spioniert. Also, die Anklage gegen ihn ist nicht glaubhaft... Bahro muß seine Meinung äußern dürfen, wo auch immer, und natürlich vor allem in seinem Heimatland, der DDR.»

Es bleibt noch zu erwähnen, daß Ihnen die Liga für Menschenrechte die «Carl-von-Ossietzky-Medaille» für das Jahr 1978 verliehen hat, eine Auszeichnung, die mich und sicher auch Sie ganz besonders freut. Als ich davon erfuhr, blätterte ich in dem vom Aufbau-Verlag Berlin-Weimar 1970 veröffentlichten Ossietzky-Band <Rechenschaft> und stieß in seinem vorletzten in der Weltbühne erschienenen Artikel Deutschland wartet vom 14. Februar 1933, also zwei Wochen nach Hitlers Machtergreifung und zwei Wochen vor Ossietzkys Verhaftung, auf den Schlußsatz, der mich sehr berührt hat: «Wenn die Menschen nicht mehr fragen dürfen, dann werden die Dinge fragen.»

Lassen Sie mich schließen mit einem anderen Zitat. Es stammt von Jean Elleinstein, der auf der Solidaritätsveranstaltung in der Technischen Universität Berlin sagte: «Das Buch <Die Alternative) gehört in die öffentliche Debatte und sein Autor nicht ins Gefängnis.»

Ich hoffe und wünsche, lieber Rudolf Bahro, daß sich die darin enthaltene Forderung bald für Sie erfüllen möge.

Ihr
Tomas Kosta

 

124


 

Erich Frister

Der Fortschritt braucht Bewegungsfreiheit

 

Sehr geehrter Herr Bahro,

es ist nicht ungewöhnlich, jemandem zu schreiben, den man nicht persönlich kennt. Ihre Arbeit und Ihr Schicksal sind Anlaß genug, Ihnen Anerkennung auszusprechen und Mitgefühl auszudrücken, ohne über die Grundlage einer persönlichen Bekanntschaft zu verfügen. Ungewöhnlicher ist es schon, einen Brief zu schreiben, von dem man annehmen muß, daß er den Empfänger nicht — oder doch erst zu einem Zeitpunkt erreicht, an dem er seine mögliche helfende Funktion eingebüßt hat. Ganz und gar ungewöhnlich ist es aber, einen Brief zu schreiben, der zwar die Öffentlichkeit, aber nicht den Adressaten erreichen wird. Dies also ist ein offener Brief, der für Sie verschlossen bleibt.

Ich bin nicht gewiß, daß dieser Versuch einer Äußerung gegenüber der Öffentlichkeit über Sie Ihnen in Ihrer gegenwärtigen Lage hilfreich sein kann. Dazu müßte man mehr von den Überlegungen Ihrer Kerkermeister kennen und müßte man schon hellseherisch die verschwiegenen Diskussionen vorwegnehmen können, die um Sie und über Sie in den Zirkeln der Macht in der DDR — vielleicht sogar in der Sowjetunion — geführt werden. Ich weiß also nicht, ob ich Ihren Interessen diene, wenn ich diesen ungewöhnlichen Brief schreibe.

Was sind Ihre Interessen? Dies ist zu prüfen. Ihre Schriften und Interviewäußerungen scheinen mir zu vernünftig, um anzunehmen, Sie gefielen sich in der Rolle des Helden und/oder Märtyrers. Also dürfte Ihr erstes Interesse sein, so schnell wie möglich aus dem Gefängnis herauszukommen. Dies zu gewähren, liegt in der Hand der Machthaber der DDR. Instrumente dafür gibt es von der Einstellung des Verfahrens über eine geringfügige Freiheitsstrafe mit Anrechnung der Untersuchungshaft und bis zur Verurteilung mit Bewährungsauflagen. Ihr erstes Interesse dürfte also die Hoffnung sein, das Regime möge mit Ihnen glimpflich verfahren. Manch einer, der große Worte und edle Taten liebt, wird dies als kleinmütige Definition Ihres Interesses empfinden. Ich maße mir nicht an zu vermuten, wie Sie dies sehen. Aber von Schaden kann es wohl für Sie und Ihre Ideen nicht sein, wenn Sie sobald wie möglich das Zellenviereck und den Anstaltszwang hinter sich lassen können. Nach aller Erfahrung kann eine möglichst breite öffentliche Diskussion außerhalb der DDR der Erreichung dieses Ziels nur nützlich sein. Darum schreibe ich diesen Brief.

125


In den Ländern des «realen Sozialismus» geschieht es seit kurzem häufiger, daß prominent — und daher bedeutsam — gewordene Kritiker des politischen Systems außer Landes gebracht werden. Sie werden ausgebürgert. Verfolgt man die Entwicklung des «realen Sozialismus» rückwärts, so zeichnet sich vom Mord in den Kellern der Geheimpolizei über den Totschlag in den Zwangsarbeitslagern und die Verbannung in Gefängnisse oder Irrenanstalten damit sicher eine Fortschrittslinie von der Bestialität hin zur eingeschränkten Menschlichkeit ab. Ihr Interesse ist es, wenn ich Ihre Äußerungen richtig werte, allerdings nicht, dieses Fortschritts der Ausbürgerung teilhaftig zu werden. Sie wollen in Ihrem Land, in einem Land des «realen Sozialismus», frei denken, reden, schreiben und arbeiten dürfen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden öffentliche Briefe wie dieser diesem Ziel kaum dienen. Es ist zu vermuten, daß die Alternativen Ihres persönlichen Schicksals nur noch zwischen dem Verbleiben in Gefängnismauern und dem Verlassen der DDR liegen. Doch bei der Redlichkeit Ihres Buches Die Alternative ist Ihnen sicher auch selbst klar (geworden), daß die Vorstellung vom freien Denken, Reden, Schreiben und Arbeiten in einem Lande des «realen Sozialismus» eine Illusion ist. Es kommt wohl auch nicht mehr darauf an, ob Sie in Ihrer Person in der DDR wirken dürfen. Wichtig ist, daß Ihr Beispiel und Ihre Ideen am Leben bleiben und Frucht tragen. Darum, so glaube ich, müssen auch Sie das Risiko der Ausbürgerung, so wie die Dinge nun einmal liegen, bewußt in Kauf nehmen.

Über Sie und Ihre Gedanken ist hier in der Bundesrepublik Deutschland viel gesprochen und geschrieben, gedruckt und gesendet worden. Es ist kaum möglich, den vordergründigen und auch den tiefsinnig klugen Betrachtungen noch Eigenständiges hinzuzufügen. Ich will mich daher auf ganz persönliche Anmutungen beschränken. Mich hat Ihre ungewöhnliche Fähigkeit beeindruckt, den einmal eingeschlagenen Weg zu verlassen, den zu beschreiten in den Augen der Herrschenden wohlgefällig und mit Belohnungen verknüpft war. Für die meisten Menschen ist es schon schwierig, einen Pfad des herrscherlichen Wohlgefallens als Holzweg auszumachen. Aber nur ganz wenige wagen es, ihre Erkenntnis anderen mitzuteilen, von der Bahn zu weichen und sich auf eigene Faust seitwärts in die Büsche zu schlagen — eigenbestimmten Zielen folgend. Sie sind nicht der erste, der die Verhältnisse in den Ländern des «realen Sozialismus» entlarvt und sich von Menschen, Ideen und Träumen verabschiedet. Sie haben dies aber im Gegensatz zu all den anderen sozusagen freiwillig getan, ohne durch Maßnahmen der verehrten Götter wie Folter, Haft oder Verbannung gewissermaßen in Freiheit gesetzt worden zu sein.

Ihr Leiden und Ihre Gewissensqualen werden allerdings kaum geringer gewesen sein, und mit dem zumindest vorübergehenden Verlust der «bürgerlichen Existenz» — wie heißt dies eigentlich im «realen Sozialismus»? — und der Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit,

126


wenn nicht gar der Unversehrtheit, müssen Sie nun nachträglich bezahlen. Ich frage mich, ob Sie mit dieser brutalen Reaktion des Regimes gerechnet haben. Berücksichtigt man Ihre Erfahrungen, Ihre Kenntnisse und Ihren Scharfsinn, so muß man diese Frage bejahen. Darf man also annehmen, daß Sie Ihr Leiden mit einsetzen, um Ihre Ideen zu transportieren? Wenn dies so ist, dann schmelzen vor der lauteren Einheit von Person und Idee die Einwände. Ich bin kein Sozialist. Zumindest werden Sie einen preußischen Sozialdemokraten, einen Reformisten, der — und auch dies häufig ohne Erfolg — sich mit kleinen Schritten und kleinen Brötchen begnügt, nicht als einen solchen gelten lassen. Sie werden Ihre politische Arbeit wie ich die meine sicher (auch) mit dem Ziel, das größte Glück der größten Zahl herbeizuführen, beschreiben. Sie haben mir voraus, dieser Arbeit das Leiden hinzuzufügen, angesichts dessen es schwerfällt, Gegnerisches zu formulieren. Aber es gehört zu den persönlichen Anmutungen Ihres Buches und Ihres Schicksals, über die Vernunft des eigenen Weges und des eigenen Handelns nachdenken zu müssen.

Für viele von uns hier in der Bundesrepublik liegt die Verlockung Ihres Werkes darin, sich schlicht in der Einschätzung der DDR und der anderen Länder des «realen Sozialismus» bestätigt zu fühlen. Ich halte es aber für falsch, Ihre Schriften zu den übrigen zu legen, die den Charakter des «realen Sozialismus» als illusionär und gefährlich für die menschenwürdige Existenz von einzelnen und Gesellschaften darlegen. Die Ziele, die Sie als Herausforderungen für das Regime formuliert haben, das Sie eingesperrt hält, sind auch Herausforderungen für uns in den freien westlichen Ländern, wenn Sie so wollen, in den kapitalistischen Gesellschaften. Der Plünderung des Planeten Einhalt gebieten, die Verschwendung ausrotten, Hunger und Armut auf dem ganzen Erdball tilgen, Selbstsucht und Eigennutz zügeln, Unwissenheit und Unmündigkeit aufheben, Kultur, Bildung und schöpferische Entfaltung aller für alle gewährleisten, dies — Sie oder andere mögen treffender und umfassender formulieren — sind die Herausforderungen, vor denen wir immer und nach wie vor stehen. Allerdings bedarf es immer wieder der Anstöße und der nachhaltigen Erinnerung für uns sanft Gelagerte. Ihr Buch und Ihr Schicksal sind solch nachhaltige Anstöße für ein Denken, das nicht nur nach Rechtfertigungen und Entschuldigungen sucht, hoffentlich auch für ein Handeln, das den Zielen dient, für die Sie so herausfordernd stehen.

Ich will weder darüber urteilen noch gar spekulieren, ob man im Lager des «realen Sozialismus» willens oder überhaupt noch fähig ist, Ihre Herausforderungen aufzunehmen. Ich lasse es dahingestellt, ob das von Ihnen beschriebene politische System in der Lage ist, die Kurskorrektur vorzunehmen, die Sie bewirken wollen. Das gemeinsame, über Mauer, Stacheldraht und Selbstschußanlagen hinausgreifende

127


Interesse an der Sicherung des Friedens gebietet meines Erachtens, die ideologische Auseinandersetzung mit Hilfe der Anstrengung im eigenen Lager und nicht mit der Herabsetzung der Positionen des politischen Gegners zu betreiben. 

So sehr ich mich allen Anhängern, Befürwortern und Wegbereitern des «realen Sozialismus» politisch in den Weg stelle, so sehr engagiere ich mich aber auch dafür, daß wir ihnen die Überlegenheit unseres freiheitlichen Weges zu einer sozial-gerechten Gesellschaft nicht einbleuen, sondern durch Beispiel und Anstrengung immer wieder beweisen. Die Bedingungen dafür in unseren Ländern, beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland, günstig zu halten, ist angesichts allgemeiner Vorliebe für gerade Fronten und klare Feindbilder nicht einfach. Macht einzugrenzen, ihren Mißbrauch zu verhindern, sie zu kontrollieren, ihre Verteilung verändern zu können, sie zumindest in Teilen aufzuheben, dies erfordert auch bei uns Klarheit und Mut im Denken, Reden, Schreiben und Arbeiten. 

Wer sich für Veränderungen einsetzt, muß immer und überall auch mit Widerstand, mit übler Gegenwehr rechnen. Ihre Ziele, die ich billige, sind utopisch, aber sie sind Wegweiser. Den Weg offenzuhalten und die Bewegungsfreiheit derer, die den Fortschritt wollen, zu sichern, dies sind Aufgaben, an die Sie mich nachdrücklich erinnert haben. Wenn Sie wieder — hoffentlich sehr, sehr bald — die Bewegungsfreiheit gewonnen haben, so werden wir uns sicher darüber streiten müssen, was denn eigentlich Fortschritt ist. Über die Bedürfnisse der vielen Millionen einzelnen läßt sich schwer vom Schreibtisch richten, und das Glück der Intellektuellen muß nicht das Glück ihrer Mitmenschen sein. Intellektuelle sind auch nicht — von wem sollten sie auch — dazu ausersehen, den vielen Millionen einzelnen die Maßstäbe des Glücks und die Richtung ihrer Interessen vorzuschreiben. 

Der buchgelehrsame Entwurf einer neuen Gesellschaft des neuen Menschen bedarf immer der Versöhnung mit der Wirklichkeit, wenn er nicht zur Legitimation der Unmenschlichkeit als Mittel zur Erreichung des paradiesischen Ziels verkommen soll. Andererseits erhält die Wirklichkeit gräßliche Vernichtungskraft, wie uns Atomrüstung, Umweltzerstörung und Hunger in den Entwicklungsländern zeigen, wenn sie ihrer nur vordergründig logischen eigenen Entwicklung überlassen und ohne wirksame Verknüpfung mit einer herausfordernden und engagierenden Menschheitsutopie bleibt. 

Ich bin optimistisch genug, um auf den Bestand an schöpferischen Kräften zu vertrauen, die bedrängt und auch bekämpft, aber doch nicht eingesperrt und mundtot gemacht werden.

Ich wünsche Ihnen von Herzen, daß die Regenten des «realen Sozialismus» in der DDR dies alsbald für Sie und auch für andere gelten lassen.

 

Mit großer Hochachtung grüßt Sie 
Erich Frister

128


 

Erich Fried

«Ich kann keine Briefe an Menschen hinter Gittern schreiben»

 

Lieber Hannes Schwenger,

ich kann keine Briefe an Menschen hinter Gittern schreiben, die diese Briefe nicht oder erst nach Jahren bekommen werden.

Ich kann auch keine Briefe an die schreiben, die diese Menschen ihrer Freiheit berauben und die ich nicht kenne oder zu gut kenne und die meine Sprache nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Es werden schon genug Briefe geschrieben, die keine Briefe sind.

Als ich Rudolf Bahros Buch Die Alternative und seine Vorträge las und bei Freunden, die ihn gekannt hatten, nach ihm fragte, der mittlerweile schon unter unsinnigen Anschuldigungen verhaftet war, schrieb ich ein langes Gedicht, in dem ich mich zu dem Sozialismus, für den er eintritt, bekannte und gegen seine Einkerkerung protestierte.

Seither habe ich, wo ich konnte, von ihm und für ihn gesprochen. Aber ich finde in den westlichen Demokratien, vor allem aber in der Bundesrepublik, zwar viel Sympathie für ihn, aber wenig Sinn für Dringlichkeit, besonders bei denen, die vielleicht Einfluß oder sogar Macht genug hätten, etwas für ihn zu tun. Angesichts des allgemeinen moralischen Niveaus unserer Demokratien wundert mich das nicht, aber es deprimiert mich.

Besonders bemerkenswert finde ich das Gerede, man müsse in solchen Sachen einen langen Atem haben, und auch jene Dissidenten, die östlich der Grenze für einen humanen Sozialismus sind, sollten sich einen langen Atem wahren.

Ich habe, inspiriert von diesen guten Ratschlägen, einen Vierzeiler geschrieben:

DER LANGE ATEM 
für Rudolf Bahro

Dem man den Hals zuschnürt 
rufen die Freunde von draußen 
lauthals zu: «Bewahr dir den langen Atem!»

Alles andere, was ich hier sagen könnte, ist in diesen Briefzeilen und Verszeilen schon enthalten.

 

Erich Fried

129


 

Luise Rinser

«Euer Vater sprach aus, was Millionen in der DDR denken»

An Rudolf Bahros Kinder

 

Dieser Brief richtet sich an Euch drei, die Kinder eines politischen Gefangenen, aber auch an Eure ganze Generation, an die in der DDR so gut wie an die im Westen. Euer Vater ist eine Gestalt, die uns alle angeht, und sein Buch ist ein Buch, das wir alle brauchen.

Von Euch dreien weiß ich fast nichts, außer daß Ihr etwa 21,16 und 14 Jahre alt seid und daß Eure Eltern seit fünf Jahren getrennt leben. Aus diesen wenigen Daten kann ich einiges entnehmen, einmal, daß die zwei Jüngeren von Euch in einem ohnehin schwierigen Alter nun zusätzlich die Belastung durch die Verhaftung des Vaters zu tragen haben, zum anderen, daß Ihr drei vermutlich den Vater kaum gekannt habt. Er sagt selbst in einem Interview, daß es Zeiten gebe, in denen es besser sei, allein zu leben. Vielleicht habt Ihr ihn für einen linientreuen ehrgeizigen Funktionär gehalten, der, besessen von Arbeit, keinen Sinn für menschliche Beziehungen hatte. Vielleicht hat Euch das erbittert gegen ihn und zugleich gegen den Staat, die Partei, die Ideologie, die Euch den Vater entfremdete. 

Vielleicht habt Ihr gelitten darunter, daß Euer Vater sich mit einem Regime identifizierte, daß Ihr selber mit den kritischen Augen der jungen Generation betrachtet und es für überfällig, verholzt, zukunftslos haltet. Vielleicht habt Ihr jede Lust verloren, für so ein Regime zu arbeiten, das Euch jede private Initiative nimmt und für das jede noch so positive Kritik nichts ist als ein gefährliches Abweichen vom ausgetretenen, eng abgesteckten Parteiweg. Vielleicht konntet Ihr Euern Vater weder begreifen noch schätzen. Er hat vermutlich nie mit Euch darüber gesprochen, womit er sich beschäftigt. In aller Stille hat er gearbeitet, zehn Jahre lang in einer ungeheuren Einsamkeit und Bedrohtheit. Vielleicht hätte er gern mit Euch darüber gesprochen, vielleicht sehnte er sich nach dem Verständnis zumindest des ältesten seiner Kinder. Er mußte — vielleicht — schweigen.

Und nun legt dieser schweigsame Vater plötzlich ein Buch vor, das ihn zugleich weltberühmt und zum DDR-Staatsfeind und zum politischen Gefangenen macht. Wie ist Eure Reaktion? Ich versuche die möglichen Reaktionen durchzuspielen.

Vielleicht kennt Ihr das Ereignis nur aus den Medien Eures Staates. (Das glaube ich nicht.) Vielleicht seid Ihr aus allen Wolken gefallen, daß der linientreue parteigeschätzte Funktionär sich plötzlich als «Revolutionär» erweist. Vielleicht kennt Ihr das Buch gar nicht und man sagt Euch vor, es sei Wasser auf die Mühle westlicher Konterrevolutio-

130


näre, Antikommunisten, ja Faschisten, die sich nun dieses Buches bedienen werden als Argument ersten Ranges gegen jede Art von radikalem Sozialismus. Vielleicht erscheint Euch Euer Vater als Verräter an der Idee des Kommunismus. Vielleicht erscheint Euch, was er sagt, als eurokommunistische Verfälschung des wahren Kommunismus. Oder habt Ihr begriffen, daß es gerade die strenge Reinheit seiner Auffassung von Sozialismus ist, was ihn zur Kritik am «real existierenden Sozialismus» trieb, also zum Aufdecken der Verfälschung der ursprünglichen Idee?

Habt Ihr begriffen, daß Euer Vater das aussprach, was Millionen von DDR-Bürgern (und Bürgern anderer kommunistischer Länder) denken? «Es denkt in der DDR», schrieb Euer Vater, der sich, von seinem intellektuellen und sozialen Gewissen getrieben, zum Wortführer der verschreckten, verstummten, resignierenden und (ein Wort Eures Vaters) «subaltern gewordenen» Bürger Eures Landes machte?

Habt Ihr begriffen, welchen Dienst er uns westlichen Sozialisten tat? Er hat die verhärtete antikommunistische Front im Westen aufgesprengt, indem er genau das kritisiert, was uns westlichen Sozialisten die Arbeit so erschwert: den — von Antisozialisten unablässig denunzierten — faktischen Mißbrauch der Idee in der DDR, die Deformierung des Menschen, die systematische Unterdrückung jeder Entwicklung. Euer Vater zeigt auf, daß es nicht die Idee des Kommunismus ist, die wir zu fürchten und zu bekämpfen haben, sondern die Verfälschung dieser Idee durch einige Machthaber, durch einen bürokratischen Apparat, der das Volk — das doch, nach Marx und Lenin, Träger des Sozialismus sein soll — tatsächlich ausschließt, entmündigt, einschüchtert. Indem Euer Vater den Mißbrauch einer großen Idee kritisiert, zeigt er die Idee selbst in neuem Licht, und zugleich öffnete er die Tore für eine zeitgemäße, eine menschengemäße Entwicklung des Sozialismus auch in den westlichen Ländern. Ob Ihr wohl begreifen könnt, wie befreiend das für uns ist?

Vielleicht habt Ihr keine Möglichkeit, das Buch Eures Vaters zu lesen. Vielleicht seid Ihr überwacht. Vielleicht aber möchtet Ihr das Buch gar nicht lesen, vielleicht stimmt Ihr in der Sache gar nicht mit ihm überein. Vielleicht würde Euch, wenn Ihr es lest, der Rück- oder Vorgriff Eures Vaters auf das Christentum der Bergpredigt und auf die große geistige Zukunftsvision des katholischen Theologen Teilhard de Chardin erheblich verwirren oder verärgern, vielleicht erschiene Euch Euer Vater als ein Reaktionär. (Er ist es nicht. Er ist, im Gegenteil, den meisten Politikern in Ost und West weit voraus.) Wie auch immer Ihr zum Inhalt des Buches stehen mögt, eines ist doch wohl sicher: Ihr könnt stolz sein auf diesen Vater, der, um den wahren Sozialismus zu retten, sich selber riskiert hat. Er hat keine spektakuläre, an die Emotionen des Volks appellierende Geste gemacht: er hat sich nicht selbst verbrannt. Er hat eine systematische, trockene, wissenschaftliche Arbeit geleistet und ist dafür ins Gefängnis gegangen.

131


Das ist schlechthin imponierend.

Die Euch das schreibt, gehört nicht zu denen, die nach der Lektüre der <Alternative> oder auch nur nach dem Lesen der Rezensionen schadenfroh rufen: «Der Bahro hat's der DDR gegeben. So ist's recht. Jetzt sieht man, wohin der Kommunismus führt. Er kann sich auf die Dauer nirgendwo mehr halten.» Ich sage vielmehr: «Wie schrecklich, daß eine große Utopie so kleinbürgerlich entarten konnte.» Ich sage auch: «Wie gut, daß wir alle zum Neuüberdenken der Wirklichkeit hier wie dort gezwungen werden.» Ich denke auch dies: Das Buch Eures Vaters kann dazu beitragen (es muß dazu beitragen!), daß der Sozialismus der DDR reformiert wird auf eine Weise und mit einem Ergebnis, das dem westlichen Deutschland neue Impulse gibt, und, wenn er ein menschliches Antlitz zeigt, dort im Westen die alte Angst vor einem Kommunismus abbaut, der eben dieses menschliche Antlitz nicht trägt. Als ich das Buch Eures Vaters las, überkam mich plötzlich ein freudiger Schrecken, und nach vielen Jahren erlaubte ich mir, an eine «Wiedervereinigung» zu denken, freilich nur eine im Sinne der entspannten Zusammenarbeit und, politisch gesehen, einer Konföderation. Doch ich greife weit vor. Jedoch: brauchen wir nicht Utopien? Und sind Utopien noch Nur-Utopien, wenn sie theoretisch so untermauert sind wie durch das Buch Eures Vaters?

Was aber wird Euer Staat mit ihm tun? Womit wird er seine Liebe zum echten Sozialismus bestrafen? Habt Ihr Angst um ihn?

Was immer mit ihm geschieht: er hat sein Werk getan. Er hat die völlige Identität von Person, Existenz und Werk erreicht. Er hat die Angst um sein Ich überwunden. Und was er schrieb, das bleibt. Aber Ihr? Habt Ihr Angst um'Euch selbst? Vielleicht habt Ihr jetzt erhebliche Schwierigkeiten in der Schule oder am Arbeitsplatz. Ertragt sie! Es ist EUER Tribut an die Änderung von Bewußtsein und Verhältnissen. Und wie immer Ihr früher zu Eurem Vater gestanden habt, menschlich oder politisch: zeigt Euch jetzt solidarisch mit ihm.

Die das schreibt, war unter Hitler im Widerstand, auch ihr Mann war's, er starb dafür, ich war nur eingesperrt. Meine beiden Söhne waren damals noch sehr klein. Dennoch begriffen sie nach und nach, was da vor sich ging. Jahrzehnte später sagten sie mir eines Tages: «Es wäre uns unerträglich zu denken, daß du oder unser Vater Nazis, wenn auch nur Mitläufer, gewesen wärt. So können wir stolz auf euch sein.»

 

*

132


 

Walter Fabian

  «Bahros Freiheit — Freiheit des Andersdenkenden»  

 

 

In meinem «Pflichtenheft» für April/Mai 1978 finde ich unter anderem folgende Eintragungen:

Zwischen diesen «Pflichten» sind termingerecht zu schreiben: Ein Aufsatz zum zehnten Todestag von Fritz Bauer für Vorgänge; ein Aufsatz zum vierzigsten Todestag von Carl von Ossietzky für die antifaschistische Wochenzeitung Die Tat; ein Aufsatz über Bürgerinitiativen für das DGB-Handbuch werden; Appell für die Aufhebung des Einreiseverbots für Ernest Mandel; ein Beitrag für das Bahro-Solidaritäts-buch...

Wozu diese Notizen an dieser Stelle? 

Ich habe dafür mehrere Gründe. Zunächst sollen sie erklären, daß es mir unmöglich ist, zwischen diesen notwendigen Aktivitäten eine theoretische Auseinandersetzung mit Rudolf Bahros Buch Die Alternative zu versuchen. Ich muß mich mit der Feststellung begnügen, daß ich das Buch für sehr wichtig halte und daß es eine gründliche, unvoreingenommene und kritische Diskussion verdient. Ich unterstütze den Vorschlag von Böll und Gollwitzer, der DGB (oder ein anderes Gremium — füge ich hinzu) solle eine Internationale Wissenschaftliche Tagung einberufen, auf der Bahros Analysen und Thesen diskutiert werden. 

Dort würde sich gewiß ergeben, daß bei weitem nicht alle Theorieansätze und Strategievorschläge Bahros die Zustimmung progressiver Gewerkschafter und Sozialisten finden können — aber unsere Solidarität im Rahmen der internationalen Kampagne «Freiheit für Bahro» gilt uneingeschränkt.

Sodann soll der Hinweis auf meine «Aktivitäten» deutlich machen, daß von meinem Standort aus diese Kampagne «Freiheit für Bahro» nicht als feindlicher Akt gegen die DDR mißverstanden und mißbraucht werden darf. 

133


Unsere Solidarisierung mit dem Recht Bahros, seine Ansichten als freier Mann innerhalb seines Vaterlandes, der DDR, vertreten zu können, entspricht dem wohlverstandenen Interesse der DDR selbst, denn nichts schadet ihrem internationalen Ansehen mehr als die Inhaftierung, die sinnlose und schändliche Spionagebeschuldigung oder gar eine Verurteilung des Kommunisten Rudolf Bahro.

Und warum das alles? Das Regime ist stark genug, sich in geistiger Auseinandersetzung mit Bahro zu messen. Genau für einen solchen «Fall» interner Diskussion unter Kommunisten und Sozialisten hat Rosa Luxemburg ihren so oft zitierten, meist aus dem Zusammenhang gerissenen Satz geschrieben, der in ihrer Schrift Die russische Revolution steht: 

«Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei — mögen sie noch so zahlreich sein — ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der <Gerechtigkeit>, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die <Freiheit> zum Privilegium wird.»

Mit unserem leidenschaftlichen Ruf «Freiheit für Bahro!» stehen wir also nicht an der Seite der Kalten Krieger, sondern in der Nachfolge der glühenden Revolutionärin Rosa Luxemburg. Es ist sehr schwierig, diese unsere Position ganz klarzustellen und sie konsequent durchzuhalten. Sehr treffend hat Heinz Brandt in seinem großen Aufsatz über Bahro (Frankfurter Rundschau vom 18. Februar 1978) die Situation beschrieben: 

«Lebte Bahro in Brüssel, so wäre er — wie Ernest Mandel — ein angesehener Dozent an der Universität und hätte Einreiseverbot in beide deutsche Staaten. Seine Bücher wären drüben verboten und bei uns kaum bekannt. Lebte er bei uns, so hätte er Berufsverbot, dürftige Auflagen, kümmerlichen Unterhalt. Doch da er in der DDR lebt, sitzt er dort in der Einzelhaft und steht bei uns auf der Bestsellerliste.»

Und Heinz Brandt fährt fort: «Bahro weiß, worauf er sich eingelassen hat: Das macht ihn zum Symbol des politischen Gefangenen unserer Ära.»

«Symbol des politischen Gefangenen» — das war in der Weimarer Republik, in der er 1931 wegen Landesverrats verurteilt und eingekerkert wurde, und dann im Dritten Reich Carl von Ossietzky. Und so scheint es mir einen inneren Sinn zu haben, wenn ich mich in diesen Wochen «gleichzeitig» mit dem Kampf gegen den Neonazismus und die reaktionäre Gefahr, mit der Erinnerung an Fritz Bauer und Carl von Ossietzky und mit den Verfolgungen «beschäftige», denen Ernest Mandel und Rudolf Bahro ausgesetzt sind. Ich vergleiche dabei nicht die Verfolger und ihre sehr unterschiedlichen Methoden — wohl aber die Haltung Bahros mit der Haltung Ossietzkys. 

Ossietzky konnte fliehen, 1931, 1932 und auch noch 1933 — er war gewarnt und hätte Hilfe gefunden, aber es schien ihm richtiger, wirkungsvoller und konsequenter zu bleiben. Bahro wußte, was ihm drohte, als er sein Buch schrieb und veröffentlichte; er hat mit offenem Visier und im vollen Bewußtsein des persönlichen Risikos gehandelt — nicht weil er Märtyrer werden, sondern weil er wirken wollte, wirken für einen Kommunismus mit menschlichem Antlitz. 

Wir Schriftsteller und Wissenschaftler, Sozialisten und Gewerkschafter in allen Ländern der Erde — wir dürfen ihn nicht allein lassen. 

Und unsere Solidarität muß Schwung und Ausdauer haben, bis Bahro frei ist.

134-135

 

 

 

Ende

 ^^^^


www.detopia.de    https://detopia.de