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3.4  Das Institut für Sozialökologie

     

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Das Institut war von Anfang an eine »Orchidee« — das heißt, es war in der deutschen Wissenschafts­land­schaft ein Unikum, etwas Einzigartiges und Sonderbares. Daß es überhaupt entstand, hatte mit Bahros exponierter Stellung zu tun, und daß ihm eine Professur zustand, war ihm und anderen klar. Er war habilitiert, sehr berühmt, und die DDR hatte etwas an ihm gutzumachen — ihn zu re-habilitieren. 

Daher wurde er mit dem neuen Rektor der Humboldt-Universität, dem Theologen Heinrich Fink, auch inhaltlich schnell einig. Den »Rest« sollte die Verwaltung besorgen (die zu dieser Zeit notorisch überfordert war). So gründete Bahro sein Institut vorläufig schon mal selbst — in seiner provisorischen Berliner Wohnung in der Gleimstraße 10, wo auch die ersten Besprechungen stattfanden. Bald darauf begann die Suche nach Räumen. Da die Universität ihm nichts zur Verfügung stellen konnte, wurde das Büro in Thieles neuer Wohnung in der Gethsemanestraße errichtet, hier stand — eine Hilfeleistung von Bahros Sohn Andrej aus Bremen — der Kopierer, in einer weiteren Wohnung befand sich — ein Geschenk der Schweisfurth-Stiftung15) — der Computer.

Die erste Vorlesung hielt Bahro bereits am 10.01.1990 zum Thema <Bewußtseinspolitik>, dann trat eine kurze Pause ein, Anfang März folgten vier Vorles­ungen zum Stalinismus — diesmal schon im Audimax der Humboldt-Universität. Wie gesagt: Es gab keinen Beschluß der Universität, er war nicht zum Professor berufen — das Institut war nichts als ein work in progress. Doch das kümmerte ihn wenig. Wichtig war für ihn das Konzeptionelle.

Ende Februar schilderte er in der Zeitung <Humboldt-Universität Nr. 24-26> sein Konzept Grundlagen ökologischer Politik und geht mit den Universitäten kritisch ins Gericht: Daß

»das ganze Kulturprojekt, dem die Universität seit Anfang dient, auf Krieg mit der Natur hinausläuft, auf gattungsegoistische Ausbeutung der Erde, des Lebens, der <unterentwickelten> Menschenmehrheit, des weiblichen Elements«. 

Von der Universität erwarte er deshalb, daß sie »in sich gehen« müsse, und dazu biete sich als ein Weg die Schaffung eines »Zentrums für Sozialökologie« an, das aus Enthusiasten und Idealisten bestehen solle, um die herum sich »eine interdisziplinäre scientific community neuen Typs einwohnen« werde.

Und er fragt: Sollte es nicht bereits in jeder Fachrichtung »ahnungsvolle Engel geben, die es im Grunde schon wissen und dieses Wissen reflektieren, ja danach arbeiten und leben wollen? Sollte es irgendeinen Wissenschaftler, gar irgendeine Wissenschaftlerin an dieser Universität geben, der oder die nichts ahnt?« 

Dann wird er noch deutlicher:

»Ich setze auf junge Leute, die Idealismus haben, z.B. einmal an den Sozialismus geglaubt und dann etwas gegen die Konter­revolution an der Macht, die das ja in Wirklichkeit war, riskiert haben. Und in der Mitte des Lebens geschieht, falls man nicht eigentlich schon gestorben ist, eine Befreiung, eine Art zweiter Geburt, die Carl Gustav Jung <Individuation> genannt hat.« 

Schließlich wirbt er mit seiner Vorstellung, statt einer bürokratischen Universitätsinstitution eine Akademie im »alten« (also platonischen) Sinne zu schaffen, »d.h. auch einen Lebenszusammenhang, Augenblicke von Gemeinschaft«.

Einer von denen, die das Interview lasen und sich sofort angesprochen fühlten, sich bei ihm meldeten und an diesem Projekt unter seiner Leitung mitarbeiten wollten, ist Maik Hosang, sein späterer Assistent und der Gründer des (provisorischen) Bahro-Archivs. Kurz zu seiner Biographie: Geboren 1961 in Bautzen, dort zur Schule gegangen, also in unmittelbarer Nähe der Haftanstalt, in der Bahro saß, dann studierte er von 1983 bis 1989 in Berlin Philosophie, die letzte Zeit als Forschungsstudent mit dem Ziel der Promotion, die er Mitte 1990 mit der Verteidigung seiner Dissertation auch erwarb, sein Erstgutachter war Prof. Michael Brie. Ab 1990 wurde er Bahros erster Assistent, indem er sich — als das Institut noch gar nicht existierte — diese Stelle selbst als Arbeits­beschaffungs­maßnahme organisierte. Von 1992 bis 1998 hatte er sie dann auch regulär inne.

Hosang, der vor dem Lesen des Interviews noch nichts von Bahro gekannt hatte, war bei ihrem ersten Treffen sofort menschlich beeindruckt von dessen Ausstrahlung und Wissen. Sie sprachen unter anderem darüber, ob es Sinn hat, eine neue Disziplin zu initiieren, welche Chancen das an der Humboldt-Universität habe, wo man neue Räume herbekommen könne. So kamen sie sich näher.

  Maik Hosang auf detopia

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Ende März bat Prorektor Klein den gerade noch amtierenden Minister für Bildung, Prof. Hans-Heinz Emons, Bahro als außerordentlichen Professor zu berufen. Wenige Tage später kam bereits die erfreuliche Antwort: Der Minister sei »grundsätzlich bereit, eine Berufung schnell und vorfristig zu prüfen«, hierzu bedürfe es eines Antrags des Rektors usw. Inzwischen konnte die Universität Bahro wenigstens als Oberassistenten einstellen — es war seine erste feste Stelle seit März 1983.

Im April entwarf Bahro die erste, noch interne <Konzeption eines Instituts für Sozialökologie>. Nach einem Blick auf die ökologische Krise heißt es zur Aufgabenstellung: 

»Das Institut für Sozialökologie soll sich in diesem Sinne auf die Grundlagen ökologischer Politik konzentrieren, um sich von da aus an ein Projekt der ökologischen Umkehr (von der Umstimmung der Subjektivität über die Umgestaltung der Lebensweise und der Institutionen bis zum Umbau der materiellen Fundamente) heranzuwagen und das Gefundene möglichst in der ganzen Universität und darüber hinaus einzubringen.« 

An Themen schlägt er mehr als zehn vor, die in Forschung, Lehre und sozialem Experiment bearbeitet werden können — es sind Fragen wie »Wo liegt anthropologisch der Antrieb für die Expansion gegen die Grenzen der Erde, wo liegt die Ursache ihrer Schrankenlosigkeit?« oder »Was sind die psychischen, sozialen und politischen Voraussetzungen, was die Prinzipien einer Rettungspolitik?«.

Gedacht war von Anfang an an ein interdisziplinäres Zusammenwirken mit Naturwissenschaftlern, Psychologen und anderen. In der Lehre, heißt es weiter, »soll sich das Institut auf das Studium-generale konzentrieren, daraufhin auch mit sympathisierenden Vertretern der verschiedensten Fachrichtungen zusammen­arbeiten sowie Vor- und Querdenker von außerhalb einbeziehen« — in diesem wichtigen Punkt hat Bahro bis zum Ende seiner Tätigkeit eine unglaubliche Weitsicht gezeigt (wie im Kapitel über die Vorlesungen aufgezeigt wird).

Weiter heißt es: 

»Demgemäß muß auch der Arbeits- und Lebensstil des Instituts experimentell sein, kommunitäre Momente einbeziehen. Was nicht gelebt wird, kann nicht wirklich gelehrt werden. [...] Wenn nicht etwas erneut Technokratisches, diesmal mit dem Präfix <Öko-> herauskommen soll, müssen die Projektantinnen mit ihrem eigenen Umdenken und -fühlen den Anfang machen. Und es muß das weibliche Element und Prinzip von Grund auf gleichgewichtig die ganze Lebensform von der Räumlichkeit bis in die Theorie mitprägen.« 

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Skizziert wird ein bescheidener Stellenplan (eine Professur, eine Dozentur, ein Oberassistent, drei Assistenten sowie drei technische Mitarbeiter), schließlich heißt es zur räumlichen Ausstattung: »Wünschenswert wäre die Unterbringung in einem selbständigen Gebäude, auf dessen räumliche Aufteilung und Gestaltung das Institut Einfluß nehmen kann.« Was das Institut beisteuern könnte, wäre die von der Schweisfurth-Stiftung zu finanzierende technische Ausstattung und der Grundstock für eine Bibliothek.

Zu diesem Papier lud er Interessierte zu einem — wie er betonen muß (denn es gibt noch kein Institut) — informellen Treffen in die Akademie der Künste, um sich in die Konzeption hineinzudenken und -zufühlen, und um damit »auch den Prozeß ihrer Präzisierung, Konkretisierung, Ergänzung und Kritik« einzuleiten. Hier und bei späteren Treffen sollte es auch schon um Stellenbewerbungen gehen: Rektor Fink wollte Mitarbeiter aus den aufgelösten Abteilungen für das marxistisch-leninistische Grundstudium bei Bahro unterbringen, dieser sah sich die Leute an und stellte sie dem »Mittwochskreis« vor, diese Runde sollte entscheiden — letztlich ist niemand in den Kreis des Instituts gekommen.

 

Aus vielem Nachdenken und Diskutieren entstand dann eine elaborierte Konzeption für das Institut mit deutlich gewachsenen Vorstellungen zum Aufgaben­bereich, auch zur Personalgröße und zum Raumbedarf. Der Ton wird ebenfalls kritischer, drängender und radikaler. So heißt es gleich im ersten Absatz: 

»Konventionelle <Verantwortungsethik>, wie auch immer modernisiert oder postmodernisiert, verfehlt stets die Tiefe unserer Verhaftung an den Fortschritt auf der Todesspirale. Die erforderliche Neubegründung von Gesellschaft und Politik, Wissenschaft und Technik setzt eine Umstimmung unserer ganzen psychischen Existenz voraus. Auf diesen <heißen> Stoff soll sich das Institut konzentrieren.«

Seine Vorstellung besteht in der Vernetzung der Sozialökologie mit vielen Fächern der gesamten Universität: Zivilisations-, Friedens- und Konfliktforschung, Soziologie und Politikwissenschaft, Philosophie, Theologie, Psychologie und Kulturwissenschaften, Jurisprudenz und Ökonomie, Biologie und Medizin sollten zusammenkommen, um das Wesen und die Ursachen der ökologischen Krise zu erforschen. Der günstigste Kontext für das Institut wäre inmitten des Fachbereichs Sozialwissenschaften.

Der Aufgabenkatalog wurde beträchtlich erweitert: In vier Themenkreisen wurden insgesamt 17 Frage­stellungen entwickelt, von denen man annehmen muß, daß sie der ökologischen Krise bis auf den Grund gehen.

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Darüber hinaus heißt es: »In seinen Projekten soll das Institut auch durch eigenes Beispiel gangbare Wege der ökologischen Umkehr [...] untersuchen, verfolgen, erproben. Praxisverbindungen werden sich diesbezüglich auf Natur- und Landschaftsschutz, ökologischen Landbau, genossenschaftliches Arbeiten und kommunitäre Lebensformen orientieren. Schwerpunkt, vor allem auch Ausgangspunkt, wird dabei stets die letzte und mächtigste Ursache des kulturellen Geschehens auf dem Planeten, nämlich der Mensch selbst, und wird die Problematik seines <Herzens>, seiner Antriebe und Motive, wird seine Fähigkeit zum Sprung in eine andere Entwicklungslogik sein.« (Solche Sätze erweisen sich in dem wissenschafts- und technikgläubigen Milieu einer Universität eher als kontraproduktiv und führen zu Vorurteilen!)

Ein eigener Studiengang sei nicht geplant, dafür aber sollte eine Grundvorlesung für Hörer aller Semester, Grade und Fakultäten angeboten werden. Hinzu kämen Gastvorlesungen, die sich zu eigenen Reihen ausweiten könnten. Damit auch die außeruniversitäre Öffentlichkeit teilnehmen könne, seien die Vorlesungen grundsätzlich für 18 Uhr vorgesehen. Hingewiesen wird außerdem darauf, daß das Institut »einige Jahre inneren Aufbaus und konkreterer Profilierung bzw. Realisierung des angestrebten Profils« brauchen wird.

Fordernder wird Bahro beim Stellenplan und beim Raumbedarf für das Institut: eine Professur, eine Dozentur, zwei Oberassistenten, drei Assistenten und wieder drei technische Stellen — also zehn Stellen, dazu der selbstbewußte hypothetische Satz: »Außerdem kann das Institut jährlich zwei Forschungsstudienplätze und zwei Aspiranturen vergeben.« Als Minimum erwartet er elf Räume mit einer Fläche von 450-500 qm als geschlossene Einheit. Und er verrät auch den zugrundeliegenden Plan: »Das Institut soll als Wissenschaftskommune wohnen [...]. Die beste Lösung wäre Einbindung in ein Wohngebiet, so daß es für viele möglich wird, sich in der Nähe einzumieten.« (Wie Spittler berichtet, war dieses Wohngebiet schon recht genau bedacht: mitten im Prenzlauer Berg rund um den Arnimplatz.)

Doch die Realisierung ließ auf sich warten.

Inzwischen waren aber die zur Berufung notwendigen gutachterlichen Stellungnahmen geschrieben worden: die erste vom Ökologen Johannes-Günter Kohl; die anderen beiden Autoren hatten eine delikate Beziehung zu Bahro. 

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Der Ökonom Klaus Ladensack (TH Merseburg) war seinerzeit der Betreuer von dessen Dissertation und mußte sich nach deren Ablehnung heftig von ihm distanzieren, Dieter Klein hatte im September 1977 eine parteiinterne negative Einschätzung der Alternative verfaßt (oder zumindest unterschrieben), die ihren Weg zum MfS fand. Jetzt gab es nur positive Voten, und der Bildungssoziologe Artur Meier schreibt im Berufungsantrag, daß Bahro »ein national wie international anerkannter Spitzenwissenschaftler auf dem Gebiet der Sozialökologie« sei.

Schließlich wurde mit Wirkung zum 15. September 1990 — also in den letzten Wochen der DDR — Bahro vom letzten DDR-Minister für Bildung und Wissenschaft, Prof. Hans-Joachim Meyer, zum außerordent­lichen Professor für Sozialökologie berufen.

Am 25. September schreibt Bahro in einem Rundbrief: »Die Universität ist auch willens, das Institut zu gründen, aber da gibt es immer noch keinen Senatsbeschluß, weil die allgemeine Unklarheit der Lage verzögernd wirkt. [...] Informell existiert das Institut in einem gewissen Sinne schon — als ein wachsender Freundeskreis, der sich regelmäßig trifft [...] und dessen Kern auch die umfangreichen Vorbereitungen für das Lehrprogramm im Herbst und Winter mitträgt. Mir wird viel und mit viel Wärme geholfen.«

Der Beginn der regelmäßigen Vorlesungen im Rahmen des Studium generale war am Montag, dem 8. Oktober, von 18 bis 20 Uhr im Audimax (an dieser Zeit und an diesem Ort hielt Bahro bis zum Ende seiner Lehrtätigkeit 1997 fest) — sofort nach der Rückkehr aus der umbrischen Città di Castello, wo von der Vorbereitungsgruppe eine »Messe konkreter Utopien« rund um das Thema »Feuer« besucht wurde und Bahro zum Abschluß über Brechts Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus sprach.

 

Der Start war gut vorbereitet: Es gab viele Plakate mit dem gesamten Vorlesungsplan, die Themen waren ungewöhnlich und hochinteressant, es gab von Anfang an Gastvorlesungen, eine parallele Vorlesungsreihe des von ihm eingeladenen Kieler Wissenschaftsphilosophen Wolfgang Deppert, Gastvorträge und -seminare. Wochenendseminare sowie zu Bahros Vorlesungen regelmäßige Seminare von seinen Mitarbeitern, der Philosophin Christine Eitler, Maik Hosang, Thomas Thiele, und ihm selbst. 

Verteilt wurde eine ausführliche und ebenfalls ungewöhnliche Literaturliste — 80 Titel, darunter Zen-Meditation für Christen, Psychoanalyse der Atombombe, Allahs Sonne über dem Abendland, Brainsex — Der wahre Unterschied zwischen Mann und Frau. Also etwas exotisch.

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Die Vorlesungen selbst und die sie begleitenden anderen Lehrveranstaltungen werden im folgenden Kapitel behandelt, doch wenigstens eine private und zwei öffentliche kritische Betrachtungen sollen hier folgen: Ich bin in der ersten Vorlesung gewesen und hatte anschließend in mein Tagebuch notiert: 

»17.30 Uhr ins Audimax zur Bahro-Vorlesung: Saal schon voll, viele Papiere verteilt worden, statt angekündigter Vorlesung zum Wesen der Ökologischen Krise nur über sich (und die gegen ihn irgendwann mal erhobenen Vorwürfe: Stasi, Fascho, Bhagwan) und sein Institut gesprochen, 3mal Pause angekündigt und keine gemacht, um 20 Uhr erstmals das Wort <ökologische Krise> gefallen, dabei aber schon Schluß gewesen. Völlig konzeptionslos und von sich überzeugt — kann überhaupt nur gewinnen durch die Exotik eines völligen Gegenteils von Vorlesung.« 

Das mag ungerecht klingen und nicht dem inzwischen redigierten und transkribierten Vorlesungstext entsprechen — doch die Atmosphäre jener ersten und mit Spannung erwarteten Veranstaltung ist mir noch deutlich in Erinnerung, und damit auch das Selbstdarstellerische, Spontane und mehr Journalistische dieses Auftritts.

 

Dagegen der Bericht des Diplom-Gesellschaftswissenschaftlers Uwe Haake: »Was ich mir vorstellte, war: Du gehst dort hin, um die <Logik der Rettung> rationaler zu erfassen; über dem Text schwebt ein Schleier

Zu seiner Vergangenheit schreibt er: »Den Idealen treu ergeben. Gläubig, wenn auch nicht unkritisch. Bis zum Schluß besessen von der Idee. Zur Sache gehalten bis fünf nach zwölf. Verstrickt im Alten. Mitverantwortlich. Mitschuldig. Schon mit dem Gedanken gespielt, sich in das neue Alte zu integrieren.«

Zum Seminar (Rückkehr, 307 f.)

»Kurze Vorstellung der Anwesenden. Eine bunte Gesellschaft. Studenten, Kulturwissenschaftler, Künstler, Sozialwissenschaftler, Philosophen, Arbeitslose und Arbeitende, auch Arbeiter. Die Geschlechter sind beinahe paritätisch vertreten. Die Ossis dominieren insgesamt. Eine Gleichaltrige referiert über die Logik der Selbstausrottung. So wie sie es versteht, sagt sie, und meint damit, daß sie Rudolfs Patriarchats-Auffassung einer Kritik unterziehen will. [...] Mein Nachbar verweist in der Diskussion auf das Selbstausrottungsschema im Buch. Für mich Grund, einzuhaken und die Schichten grob zu skizzieren. [...] Wir sind auf einer der untersten Ursachenebenen der Selbstausrottung angelangt. Schweigen. Minuten vergehen mit Zurufen, die alle nicht treffen. [...] Rudolf bleibt vorwiegend Alleinunterhalter. Zwangsläufig. [...] Wenn Rudolf agiert, ahne ich etwas von dem, was es heißen könnte, aus den Dingen heraus zu sprechen. Spontan stellen sich Erkenntnisschauer ein.«  

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Als Kontrapunkt aus einem Artikel von Andreas Kuhlmann <Nebel für Seelen> (Tagesspiegel, 5.5.1991 — also aus Bahros zweitem Semester): 

»Mit leiser, aber unbeirrter Stimme und geschmeidigen Gesten betreibt Rudolf Bahro vor dem vollbesetzten Marx-Engels-Auditorium der Humboldt-Universität Seelenmassage. Eine Schar dienstbarer Geister geht ihm dabei zur Hand: richtet Mikrophone, verkauft Broschüren, installiert eine Tafel. Auf diese Tafel schreibt Rudolf Bahro Vokabeln die — wie Menetekel — die Stufen des menschheitsgeschichtlichen Irrwegs anzeigen sollen: <Patriarchat>, <Kolonialismus>, <Kapitaldynamik>, <Industrialismus>, <Exterminismus> [...] Er verkündet nur letzte Wahrheiten, spricht Verdammungen aus und weist Wege der Rettung.«

Nicht schlecht getroffen ist Kuhlmanns Vermutung über die Motive der »aufmerksamen und respektvollen Zuhörer«

»Gewiß sind es nicht nur schlichte Gemüter, die sich dort zusammenfinden. Es mögen zahlreiche sensible, kritische Leute darunter sein, die sich schon in den letzten Jahren der DDR mit erheblicher Courage für Frieden und Umwelt engagierten und jetzt neue Möglichkeiten kritischer Artikulation suchen. Andere freilich suchen bei dem alten Glaubenskämpfer Bahro wohl eher Ersatz für diskreditierte ideologische Dogmen.«

 

Diese drei Berichte zeigen wohl das Wesentliche dieser Veranstaltungen. Bahro wirkte wie ein Entertainer, er sprach spontan (was teilweise der Notlage geschuldet war, daß er sich kaum Zeit für die Vorbereitung nahm), elegant, tänzelte auf der Bühne herum — es ging, wie sein Freund Jochen Kirchhoff bemerkte, um seine Person und um highlights, er kalkulierte sein Auftreten wie ein Schauspieler, inszenierte sich selbst bis in die helle Kleidung hinein. Und das Publikum war fasziniert. 

In den ersten Jahren war das Audimax bis auf den letzten Platz gefüllt, viele empfanden die Vorlesungen wie eine Offenbarung, andere — und dazu gehöre auch ich — fanden sie effektvoll, aber viel zu weitschweifig, er fegte manchmal innerhalb eines Mammutsatzes durch die halbe Weltgeschichte, die Kunst, die Politik und wußte selbst nicht, wo er landen wird.

Allmählich wiederholten sich — was kein Vorwurf sein soll — im Laufe der Jahre seine Äußerungen, und das Auditorium bekam es langsam mit, wurde rarer, in den letzten Semestern (in die seine tödliche Krankheit fällt) sank die Zahl der Zuhörer auf etwa 100 bis 150. 

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Zuzustimmen ist der Psychiaterin Gerda Jun, die einen Großteil dieser Vorlesungen miterlebt hat, wenn sie sagt: »Die stärkste Ausstrahlung Bahros bestand darin, daß er überall gegen die Gleichgültigkeit kämpfte und in allen Haupt- und Nebensätzen ausdrückte, es gehe darum, das Konstruktive in der Welt zu stärken.« Ich könnte das ergänzen: Bahro wich keinem Problem aus, hatte weder Angst vor Tabus noch suchte er den Konsens, er agierte nicht als Theoretiker, sondern als kämpferische und liebende Persönlichkeit — so etwas hatte es an dieser Universität bisher wohl nicht gegeben.

 

Im Widerspruch zum öffentlichen Interesse an den Vorlesungen stand das Verhalten der Universität (nach dem Ausscheiden des Rektors und Prorektors), des DDR-Ministeriums und — nach der Wiedervereinigung — des Berliner Wissenschaftssenators. Alle drei hatten kein Interesse an der Gründung eines derart exotischen Instituts. Ohne die finanzielle Unterstützung durch die Schweisfurth-Stiftung wäre dessen Arbeit kaum aufrechtzuerhalten gewesen. 

Im Juni 1991 wendet sich Bahro an den Rektor, den neuen Prorektor und den Universitätskanzler, um »zu klären, wie und mit welchem Status die Sozialökologie, für deren Ausarbeitung und Verbreitung ich an die Humboldt-Universität berufen worden bin, nun eigentlich regulär arbeiten soll«. Dazu brauche er eine Arbeitsgruppe und die Möglichkeit, ein breites theoretisches Profil zu konstituieren — das heißt auch, »es müssen Männer und Frauen berufen werden, die ihren Weg zu dem neuen Paradigma ganz unabhängig von mir eingeschlagen haben und andere Zugänge zu derselben Sache verfolgen«. Es geht um Geld, um Räume, um die Zuordnung zu einem Bereich, der jetzt möglichst nicht mehr die ihm wenig kooperativ gegen­übertretende Sozialwissenschaftliche Fakultät sein sollte.

Daß dieses heimatlose Institut schließlich im September 1991 ein paar Räume bekam — in der Clara-Zetkin-Straße 112 (es war das Gebäude des ehemaligen Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft, aus dem das entsetzliche Gutachten für das MfS zur Verurteilung Bahros kam) —, war das Verdienst von Barbara Hohenberg, die die Sekretärin des Instituts wurde, und von Thomas Thiele, dem faktischen zweiten Assistenten (auf einer ABM-Stelle). 

Weitere Kräfte des Instituts wurden der ehemalige NVA-Politoffizier Uwe Haake (er nannte sich in aller Bescheidenheit »freier« Assistent) und Marina Lehnert. Schließlich wurde auch — es gab immer noch keinen Beschluß der Universität — ein Schild angefertigt, »Institut für Sozialökologie«, und angebracht: fertig war das Institut. 1992 bestand das Institut gerade mal aus vier Stellen (mit Sekretärin) — und war immer noch nicht gegründet.

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Genervt — und weil er erfuhr, daß seine Veranstaltungen nicht mehr ins Vorlesungsverzeichnis aufgenommen werden sollen — ergänzte er die letzte Vorlesung des Sommersemesters (13. Juli) um eine Pressekonferenz, um auf die mögliche drohende Abwicklung seines Instituts öffentlich aufmerksam zu machen. In einer Pressemitteilung vom 1. Juli heißt es bitter: Gegenwärtig sei es... 

»höchst ungewiß, ob das Institut für Sozialökologie auch nur in der gegenwärtigen unzulänglich-provisorischen Gestalt weiter existieren kann. Es scheint bei dem Versuch, die Humboldt-Universität konventionell, d.h. entlang der traditionellen Hauptfachabteilungen zu restrukturieren, einfach <vergessen>, ganz <wertfrei> [...] außen vor gelassen zu werden. Es ist in diesem Raster keine Professur für mich vorgesehen, und wenn ich mich aus mit meiner Person verbundenen Gründen dennoch als <unumgänglich> erweisen sollte, kann man mich ja ohne Institut als bunten Vogel in der Luft hängen lassen. Irgendwann <erledigt sich dann alles von selbst>.« 

Doch dann kommt der kämpferische Bahro-Ton durch: 

»In der Tat werde ich mir schwer überlegen, ob ich bei einem derartigen Spiel gute Miene mache. Ich habe nie in meinem Leben auf den Spatzen in der Hand gesetzt. Ich bin nicht nach Ostdeutschland zurückgekommen, um hier eine Professur zu kassieren und mich mit einem Institut zu schmücken, sondern weil ich eine Aufgabe sah. [...] Also werde ich nicht nur akademisch, sondern auch politisch um die Möglichkeit kämpfen, ihr auch gerecht werden zu können. Die öffentliche Diskussion, ob mein Profil und meine Praxis an eine Universität der deutschen Hauptstadt passen, erwarte ich mit gespannter Gelassenheit.«

Die anwesenden Journalisten fanden sich im überfüllten Audimax in die Vorlesung eingefangen und waren von der Größe des Auditoriums beeindruckt. Den Anwesenden berichtet Bahro, daß der Wissenschaftssenator Manfred Erhardt (CDU) sein sozialökologisches Konzept für »politisch nicht wertfrei« halte und dieses deshalb nicht an die Universität gehöre, daß der Vorsitzende der Struktur- und Berufungskommission, Prof. Friedhelm Neidhardt, erklärt habe, Bahro sei ein »unüberschaubarer Fall« und dessen Zukunft an der Humboldt-Universität noch völlig unklar.

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Bahro wurde — was er sich im Interesse seines Instituts sogar wünschen mußte — zum »Fall« für die Landeshoch­schulstruktur­kommission und einer weiteren Kommission, die ihn zu evaluieren hätte. Aber auch hier schien seitens der Wissenschafts­administration keine Eile angebracht zu sein. Inzwischen war auch Rektor Fink wegen seiner politischen Vergangenheit abberufen worden, die Position der neuen Präsidentin Marlis Dürkop noch nicht bekannt. 

Unterstützung erhielt Bahro durch den neuen Prorektor — der ihm auch (zu) hoffnungsvoll mitteilte, daß die zuständigen Kommissionen sich demnächst mit ihm befassen würden —, aber auch vom Direktor des Karlsruher Instituts für Hydromechanik, Prof. Eduard Naschauer, der in einem Schreiben an den Akademischen Senat der Humboldt-Universität diesen beglückwünschte, »daß Sie einen so eigenwilligen, weitsichtigen und herausragenden Denker wie Bahro dafür gewinnen konnten, das wohl wichtigste Thema unserer Zeit — die ökologische Krise und ihre Überwindung — in Lehre und Forschung aufzugreifen und die Ergebnisse auf so unvergleichlich stimulierende und innovative Weise umzusetzen«. Er hoffe, daß aus Anlaß der Evaluierung die Sozialökologie derart ausgebaut werde, daß davon über Berlin hinaus eine Signalwirkung ausgehen kann. Wörtlich: »Ich hielte dies für eine ganz einmalige Chance für Ihre Universität.«

Der neugewählte Vizepräsident, der Mathematiker Bernd Bank, erklärte zwar — auch im Namen der Präsidentin —, es gäbe keine Absicht, das Institut abzuwickeln. Doch dabei blieb es dann wieder eine Zeitlang. Und es war geschickt formuliert: denn ein ungegründetes Institut kann rechtlich gar nicht abgewickelt werden.

Die Evaluierung ließ weiterhin auf sich warten, die Anbindung des Instituts wurde hin und her erwogen. Eine Variante war die Zuordnung zu einem Fachbereich Humanwissenschaften mit möglichem Sitz in Berlin-Adlershof. Bahro machte dagegen geltend, daß seine Vorlesungen stark von der Öffentlichkeit besucht werden und er deshalb das Stadtzentrum nicht verlassen möchte. Eine andere Variante war die Überlegung der Präsidentin, einen eigenen Schwerpunkt »Umwelt« zu schaffen, dem zugeordnet zu sein sich Bahro gut vorstellen konnte. Nur kam es zu keinem solchen Schwerpunkt.

Gegen Ende des Jahres 1992 drängte Bahro den Prorektor, den Psychologen Hans-Dieter Schmidt, endlich das Provisorium zu beenden: Was er bis jetzt — trotz des großen öffentlichen Interesses — erreicht habe, sei nichts anderes, als »mich der Universität durch persönlichen Einsatz aufzudrängen«, und er erwarte nun, »daß die Universität als Corpus ihrerseits einen Willen, eine Absicht mit der Einrichtung eines Instituts« verfolge. Vergebens.

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Natürlich gab es die Landeshochschulstrukturkommission unter Vorsitz des Konstanzer Philosophen Jürgen Mittelstraß und mit hochrangigen Mitgliedern besetzt — doch die ließ sich Zeit.

Wie eine Vorwarnung oder — auf anderer Ebene — eine Vorentscheidung mußte die erste deutliche Niederlage für sein Institut und dessen Forschungsziele wirken: Sicher auch, um für sein Institut Drittmittel einzuwerben und für arbeitslose Wissenschaftler eine finanzielle Absicherung zu schaffen, entwickelte Bahro im Februar/März 1992 ein Projekt, das er bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) einreichte. DFG-Projekte — zumal abgelehnte — müssen nicht unbedingt in eine Biographie eingebaut werden, aber hier geht es — ähnlich wie seinerzeit mit seiner Dissertation an der TH Merseburg — um den Zusammenstoß zweier Wissenschaftsauffassungen und die besondere Art, wie Bahro mit solchen Konflikten umgeht.

Bahro beantragte für vier Wissenschaftlerinnen und eine technische Kraft (für vorerst zwei Jahre und mit knapp 90.000 DM Sachmitteln) die Finanzierung eines Projekts zur Erforschung und Unterstützung alternativer Gemeinschaftsformen in Ostdeutschland — im gängigen Forschungsjargon benannt »Geistige, psychosoziale und wirtschaftliche Grundlagen und Strukturen selbsttragender sozialökologischer Gemeinschaftsformen im Hinblick auf ihre Entfaltungsbedingungen und ihre Förderung in den neuen Bundesländern«. 

Was er damit erreichen will, wird an drei Stellen gesagt: »Das Vorhaben dient der theoretischen und praktischen Suche nach Wegen einer möglicherweise rettenden Transformation, d.h. nach Prinzipien und Gestalten einer mit dem Naturgleichgewicht verträglichen sozialen Existenzform.« Bezweckt werde damit, »mögliche Alternativen zur gegenwärtigen, in ökologischer und sozialer Hinsicht weit- und selbstzerstörerischen Lebens- und Wirtschaftsweise der reichen Länder zu erkunden und in ihrer Entfaltung zu unterstützen«. Oder noch deutlicher: festzustellen, »wie lebensfähige, d. h. auch selbsttragend reproduktionsfähige Keimzellen einer neuen Kultur auf den Weg kommen können«. Gedacht war als erster Schritt an die Erforschung der Interessen, Motive und Sehnsüchte, aber auch der Befürchtungen und Widerstände jener Menschen, die in sozialökologischen Gemeinschaften leben möchten oder könnten. 

Das wird nun nach allen Regeln erfolgreicher Antragstellung behandelt: Beispiele aus der Geschichte, welche kulturschöpferischen Leistungen Kommunen und kommunitäre Einrich-

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tungen erbracht haben, welche bedeutenden Autoren sich mit diesen Problemen beschäftigt haben sollen — Hannah Arendt, Norbert Elias, Martin Heidegger, Hans Jonas oder Claude Levi-Strauss sind nur die Spitze einer ganzen Heerschar —, welche Notwendigkeit hinter diesem Projekt steht, nämlich statt der unproduktiv jährlich verausgabten Milliardenbeträge für Ostdeutschland neue Wege zur Überwindung der massenhaften Arbeitslosigkeit zu versuchen — auf der Basis von kommunitären Subsistenzwirtschaften.

So weit, so gut. In der Tat wurde viel Geld in abenteuerliche Projekte investiert — nicht nur in den geradezu lächerlich bescheidenen Dimensionen dieses Antrags. Doch dieser ging an die DFG und wurde von sozialwissenschaftlich ausgewiesenen Gutachtern geprüft. Und von Bahro bewußt eingestreute Worte wie Sehnsüchte, spirituell, Eros maximierten eigentlich schon das Risiko der Abwehr.

Im September erfolgte die formelle Ablehnung, im Oktober wurden ihm die Gründe mitgeteilt. Man beanstandete das »vermittelte, aber wissenschaftlich nicht auflösbare Nebeneinander von globalen Konzepten oder Visionen und konkreten sozialökologischen Gemeinschaften«; es werde nicht geklärt, welche dieser Gemeinschaften angesprochen werden könnten, ja was unter diesem Begriff alles gefaßt werden soll; schließlich wurde von einem »stark missionarischen Gehalt« einer Hypothese gesprochen und die genaue Angabe des gewählten empirischen Verfahrens vermißt. Trotzdem schlugen ihm die Gutachter entgegenkommenderweise vor, einen neuen, »nunmehr sehr viel konkreteren Antrag« zu stellen.

Bahro reagierte in seiner Antwort vom 15. November 1992 beleidigt und herausfordernd: Man werde doch nicht bezweifeln, daß er fähig wäre, einen Antrag so zu formulieren, daß er der gutachterlichen Sichtweise viel mehr entgegenkomme! Er stoße sich an deren Formulierung vom »stark missionarischen Gehalt«, wäre im Einzelfall durchaus bereit, einzelnen Hinweisen nachzugehen, will ihnen aber im Ganzen nicht folgen, sondern vielmehr feststellen, »daß die Deutsche Forschungsgemeinschaft da aus einem eingeschränkten Horizonte einseitig beraten« sei und es doch nicht wahr sein könne, »daß eine eigentümliche Kraft wie meine für eine solche Institution wie die Ihre nicht so, wie sie einmal ist, annehmbar sein soll«. Ihm werde durch diese Art der Kritik — in der auch Voreingenommenheiten »wenigstens nicht kaschiert werden« — zugemutet, seine »ein Leben lang gewohnte und mit Erfolg praktizierte Art und Weise des Weltbezugs fallen zu lassen«.

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 Und um diesen seinen Weltbezug den Gutachtern deutlich zu machen, wird der Antwort ein <Bericht über den Praxis- und Forschungsansatz <Sozialökologische Gemeinschaften>> angehängt. Da knallt er ihnen im ersten Absatz gleich Gestalten wie Laotse, Buddha oder Jesus entgegen, zitiert er Hölderlin und bezieht sich auf den Islam. Dann umreißt er sein großes Forschungsziel — die möglichst allseitige Erforschung einer kommenden anderen Gesellschaftsformation — und fügt provozierend hinzu: »Ich zitiere es nicht als Sachaussage, sondern als methodischen Hinweis: >Das Reich Gottes liegt mitten in Euch.<« 

Angesichts der maßlosen Zerstörungen in Ostdeutschland (Massenarbeitslosigkeit, leerstehende Fabriken, unbewirtschaftete Felder usw.) sei sein Forschungsprogramm auf Starthilfe und Wegbegleitung für neue Wirtschaftsund Lebensformen angelegt — diese soziale Funktion seines Projekts »ist mir wichtiger als alle Verstandeskrümelei«. Soweit also seine Reaktion auf das Angebot eines »konkreteren Antrags«.

 

Zweieinhalb Jahre nach Beginn seiner Vorlesungen im stets vollbesetzten Audimax war das Institut immer noch »in Gründung«, blieb es bei dem einen Professor, der die Vielfalt von Themen und Positionen allerdings durch Einladung wichtiger und eigenwilliger Wissenschaftler vergrößern konnte. Das verlief nicht immer reibungslos, man nahm aus linken Studentenkreisen Anstoß an den politischen Standorten mancher Eingeladenen oder an bestimmten Äußerungen von Bahro. Mehr dazu im Kapitel Politische Auseinandersetzungen.

In der Studentenzeitschrift <Unaufgefordert> vom 13. Mai 1993 ging Bahro auf die Schwierigkeiten ein, das Institut innerhalb der Uni zu positionieren, und erklärte, daß ihm dieses Thema relativ egal sei, weil die Sozialökologie »ihrer Natur nach zu keiner Fakultät gehört«. Falls das für die Verwaltung wirklich ein Problem darstelle, sei er auch bereit, sich irgendwo zuordnen zu lassen. Doch dann fügt er hinzu: »Wenn es aber darauf hinausläuft, daß ich mich im Sinne des üblichen Universitätsbetriebs <normalisieren> soll, bei dem geistig nichts übrigbleibt, der keinen kulturellen Überschuß mehr produziert, werde ich mich selbst rechtzeitig davonmachen. Es gehört nicht so sehr zu meiner Identität, Professor zu sein.«

Doch in einem Kasten innerhalb des Interviews mit der Überschrift Was wird aus dem Institut für Sozialökologie stellt der studentische Autor auch fest: »Manches erinnert mehr an Kirche als an Universität, doch innerhalb seiner [Bahros] Argumentation erscheint das schlüssig.« Und dann heißt es noch einmal, daß der Sozialökologie von Bahro eine Rolle zugewiesen wird, »die die Theologische Fakultät an der alten Universität innehatte«. Das war gut beobachtet.

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Wenige Tage später am 24.5.1993 kam es zu einem Eklat

Bahro hatte zu einer Gastvorlesung zwei in der interessierten Öffentlichkeit umstrittene Personen eingeladen, Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels, um über das Thema <Auf dem Weg in eine neue Kultur: Gestaltungsformen für Sexus, Eros, Liebe> zu sprechen. Beide Referenten gehörten dem »Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung« (ZEGG) an, das in Belzig, südlich von Berlin, seinen Sitz hat und in dem begründeten Ruf stand, »freie Sexualität« zu leben, eine Sekte zu sein und mit ökologisch-esoterischen Themen gutgläubige Menschen einzufangen. 

Mit einem Schreiben der Präsidentin Marlis Dürkop, daß ZEGG eine Sekte sei, »deren Anliegen im Widerspruch zu den humanistischen Auffassungen der Humboldt-Universität steht«, wurde diese Gastvorlesung untersagt. Es war das erstemal in der erneuerten Humboldt-Universität, daß administrativ in die »Freiheit der Lehre« eingegriffen und ein förmliches Vorlesungsverbot verhängt wurde. 

Bahro mußte darauf reagieren — und die Art, wie er das tat (bzw. inszenierte), war typisch für ihn. Innerlich geradezu aufgewühlt und mit zitternden Händen las er im Audimax zuerst das an ihn gerichtete Schreiben der Präsidentin vor, dann teilte er mit, daß er sich entschlossen habe, die Entscheidung, »die sich ebenso sehr gegen mich wie gegen meine beiden Gäste richtet, formell zu respektieren, obwohl ich inhaltlich nicht den geringsten Respekt dafür habe«, er nennt dieses Verbot einen Skandal, den er jedoch nicht eskalieren möchte. Dann verteidigt er Dieter Duhm und in abgeschwächter Weise auch das ZEGG, um zu erklären: »Ich weiß jedenfalls sehr genau, wen ich mir da eingeladen habe, würde es wieder tun.« 

Als nächstes las er einen Brief von Duhm vor — der wurde vom Auditorium mit einigem Beifall aufgenommen —, dann stieg er wirkungsvoll von der Bühne (»Ich verlasse allerdings den Platz hier oben, den ich für andere vorgesehen hatte«) und begann, vor der ersten Stuhlreihe stehend, eine diesmal sorgfältig vorbereitete Vorlesung über »Sekten« und über »Ökofaschismus«. In diesem Kontext las er den Brief von Erich Honecker aus dem Gefängnis Moabit an ihn vor. (Kapitel <Politische Auseinandersetzungen>).  

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Beim Thema »Ökofaschismus« ging er ausführlich auf den gegen ihn erhobenen Vorwurf ein, er habe einen »grünen Adolf« gefordert, und setzte sich lange mit Jutta Ditfurth auseinander. Papiere der Angreifer und auch zu seiner Verteidigung waren für die Zuhörer reichlich ausgelegt. Zusätzlich eine fünfseitige <Erklärung zu dem Auftrittsverbot der Universitätspräsidentin>. Dazu schrieb er ihr am nächsten Tag ein wenig zu treuherzig: »Unsere Konfrontation gestern abend in Ihrer Abwesenheit bitte ich Sie herzlich, nicht als persönlichen Affront zu nehmen. Ich habe mich einfach als der verhalten, der ich seit spätestens 1977 bin.«

Bahro sah in diesem Verbot nur eine nicht hinzunehmende administrative Bevormundung, doch scheint er sein eigenes Wissen über das ZEGG überschätzt zu haben: Er wollte das Kreative an dieser Gruppierung vorstellen, die in ihrem sublimierten Erscheinungsbild durchaus auch seinen Erfahrungen und Vorstellungen entsprach, doch bemerkte er zu wenig deren patriarchalisch-autoritäre Organisation. Jochen Kirchhoff interpretierte Bahros Haltung folgendermaßen: Er habe ein ambivalentes Verhältnis zum ZEGG gehabt, aber grundsätzlich war er der Meinung: <Lehnt nicht etwa Ungewöhnliches zu schnell ab, es könnte doch etwas Wahres darinstecken>.

Trotz manchen Ärgers, fehlender bezahlter Stellen und fehlender Räume stand das Institut in den Jahren bis zum Sommer 1993 wohl in seiner Blüte. Die Vorlesungen waren übermäßig gut besucht, etwa 35 eingeladene Wissenschaftler brachten neben Bahro neue Ideen in das Studium generale, Parallel­vorlesungen in anderen Räumen, Seminare und die außeruniversitären Workshops ergänzten das Angebot. Es gab regelmäßig einen Bücherstand, die <Logik der Rettung> wurde sehr gut verkauft, viel besser als in den Jahren zuvor in Westdeutschland.

Für das Wintersemester 1993/94 setzte Bahro einen neuen Schwerpunkt: Jetzt sollte endlich die politische Grundlegung der erneuerten Gesellschaft erfolgen.

Da trat ein folgenreiches Unglück ein: Seine Frau Beatrice stürzte sich am 4. September, nach einer heftigen Auseinandersetzung mit ihm, von der Berliner Siegessäule in den Tod. Für Bahro war das ein Schock, von dem er sich nie wieder richtig erholte. Und manche seiner Freunde und Mitarbeiter überprüften ihr Verhältnis zu ihm und distanzierten sich. Nach dem Tod seiner Frau zog sich Bahro aus der Öffentlichkeit zurück, in einem Brief an Vizepräsident Prof. Hasso Hofmann bat er um ein Freisemester — das er auch bekam — und begründete dies mit dem Satz, daß er das sichere Gefühl habe, »eine Weile die Worte zurückzuhalten und sie neu abwägen zu sollen«. 

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In seine Trauer platzte das langerwartete Evaluierungs-Gutachten — angekündigt durch einen Brief des Vizepräsidenten, als Leiter der Kommission, vom 2. November und als ausführlicher <Bericht und Empfehlung vom 4. November>. Beide Texte sind diplomatische Meisterstücke eines sich selbstgewissen Wissenschafts­verständnisses, wonach keinerlei Außenseiter geduldet werden. Neben dem Leiter haben vier hochrangige Professoren der alten Bundesrepublik — ein Philosoph, ein Verkehrswissenschaftler, ein Soziologe und ein Ökologe — sich sehr genau mit den zur Evaluierung von Bahro eingereichten Texten beschäftigt, haben zwei weitere externe Gutachter gehört und Bahro selbst sich vorstellen lassen. 

An der Kompetenz der Kommission und der Fairneß des Procedere gibt es nicht die geringsten Zweifel. Aber es standen sich erneut zwei verschiedene Wissenschafts­kulturen gegenüber.

Was darunter zu verstehen ist, zeigt ein schon im März eingegangenes Papier eines der Kommissions­mitglieder. Um das Institut zu bewerten, heißt es dort, müssen die üblichen Evaluationskriterien angelegt werden — an erster Stelle stehe dabei das Urteil der scientific community. 

»Maßstäbe für die Anerkennung durch die scientific community wären z.B. Veröffentlichungen in führenden Publikations­organen, Vortragseinladungen bei wesentlichen Treffen der scientific community. Drittmittel der DFG und anderer Forschungs-förderungs­einrichtungen mit einem regulären Gutachterverfahren. Schriftstellerischer Erfolg allein kann auf die Dauer als Legitimation der von Bahro in Anspruch genommenen Forschungs­mittel nicht genügen.« 

Das war in der Tat der Standard. Da mußte Bahro passen.

Nun der Kommissionsbericht: Die Evaluierer betonten die Dringlichkeit einer »Umwelt-Sozialwissen­schaft«, da die bisherigen Ansätze in verschiedenen Fächern nicht ausreichten. Solche Disziplin müsse sich auch mit außerwissenschaftlichen Zwecken und Zielen befassen und nach einem Ausdruck von Jürgen Mittelstraß »trans-disziplinäre« Fragestellungen aufgreifen und bearbeiten. Es werden sogar solche dringlich zu bearbeitenden Fragen genannt — womit die Kommission zu erkennen gibt, daß sie sich in dieses Feld hineindenken kann und dessen Relevanz zu würdigen weiß. 

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Dann heißt es das erste Mal: »Aus den von Herrn Bahro zur Verfügung gestellten Unterlagen ist nicht erkennbar, daß von ihm bislang nennenswerte Impulse in Richtung einer fächerübergreifenden sozialwissenschaftlichen Umweltforschung ausgegangen sind.« Das wird sofort verständnisvoll eingeschränkt wegen der gerade durchlaufenen Rekonsolidierungsphase der gesamten Universität. 

Dann zeigt die Kommission, wie genau sie Bahros Texte gelesen hat — sie zitiert ihn geradezu wertfrei mit seinen radikalen Zielstellungen, seinem Umbauprogramm (und vergißt auch nicht sein DFG-Projekt). Doch dann kommt das definitive fachwissenschaftliche Urteil: 

»Das Programm Bahros ist auch nach Urteil der externen Gutachter weniger ein Wissenschafts- als ein Bekehrungsprogramm, Bahro selber weniger Forscher als Missionar. Was er behauptet, hat den Charakter von Botschaften, die weniger zur Prüfung als zur Nachfolge einladen. Verpflichtet man Universitäten auf Rationalitätsmaßstäbe, die die theoretische Anschlußfähigkeit der Fragestellungen, die Methodik der Beweisführung, die Systematik des Argumentierens und die Revidierbarkeit der eigenen Aussagen vorsehen, dann erfüllen Forschung und Lehre von Herrn Bahro diese Bedingungen nicht.« 

Der Kommission ist nichts vorzuwerfen, sie hat die Rationalitätsmaßstäbe neuzeitlicher Wissenschaft noch einmal genannt. Deshalb muß sie zu dem Ergebnis kommen, »daß die gegenwärtig erkennbaren Kompetenzen, Ansätze und Projekte von Herrn Bahro für sich genommen seine Berufung auf eine Hochschul­lehrerstelle an sich nicht rechtfertigen«. An sich nicht — aber man ist einem solchen originellen Außenseiter gegenüber auch verständnisvoll: Die Kommission empfiehlt deshalb »trotz aller dieser schwerwiegenden Bedenken« ihn auf eine CS-Stelle für Sozialökologie zu berufen (eine Position, die er nie bekommen hat). Die Begründung sollte aber eine bittere Pille sein: 

»Herr Bahro ist nach der Wende als einer der bekanntesten Dissidenten, der für seine Überzeugung jahrelang in DDR-Gefängnissen saß, in einem Akt der Wiedergutmachung an die Humboldt-Universität geholt worden. [...] Dabei spielte auch die Überlegung eine Rolle, der prinzipiellen Kritik am bisherigen Wissenschaftsbetrieb einen Platz einzuräumen. [...] Wir setzen uns ja auch mit der Historie dieser Universität vor der Wende nicht einseitig negativ, sondern differenzierend und produktiv auseinander. Folglich können für die Humboldt-Universität nicht durchgängig und ausnahmslos diejenigen Maßstäbe gelten, von denen abzuweichen in München oder Bonn selbstverständlich nicht der geringste Anlaß bestünde.« 

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Also eine Ohrfeige für die Ostberliner Universität. Deshalb darf man auch mal eine Ausnahme machen: »Herr Bahro ist eine Persönlichkeit der Zeit­geschichte, und auf solche Personen passen die üblichen Maßstäbe nicht.« Und der Schluß ist ganz einfach: Die bisherige erfolgreiche Berufungspolitik der Universität erlaube es ihrem Selbstbewußtsein, »auch einen ausgesprochenen Außenseiter zu berufen«. Soweit die Kommission. Das Institut wird mit keinem Wort erwähnt. Es existiert für sie nicht.

Der vorauseilende Brief des Vizepräsidenten vom 2. November fasst diesen Bericht zusammen, nur verschlimmert er die Schlusspassage, wenn es jetzt heißt, daß die erfolgreiche Berufungspolitik der Universität es erlaube, »mit den Lasten der Vergangenheit auch einen ausgesprochenen Außenseiter [nicht zu berufen, sondern:] zu ertragen«.

Damit schob man Bahro in eine fast bemitleidenswerte erbärmliche Position hinein. Er selbst war physisch und psychisch angeschlagen und mußte pausieren.

Aber auch ohne ihn liefen die Lehrveranstaltungen weiter: Kirchhoff las dienstags über <Natur — Geist — Seele. Die neue Dialektik von Naturwissenschaft, Philosophie und Mystik>, es gab Seminare von Hosang, Christine Eitler und Haake. Das war eine wichtige Bewährung für das Institut, daß es auch ohne seinen charismatischen und exotischen Professor arbeitsfähig blieb.

Der so als Wissenschaftler gedemütigte Bahro wandte sich in einem Schreiben vom 6. Juni 1994 an den Leiter der Personalabteilung, Baeckmann, um weiterhin Gastvorlesungen honorieren zu können, und stellt darüber hinausgehend zu seinem eigenen Stand an der Universität fest: »Diese Unentschiedenheit zwischen <Ihn-nicht-haben-> und <Ihn-nicht-entlassen-wollen> haben Sie mir ja als auch vorhandene Stimmung, natürlich nicht als Standpunkt der Universitätsleitung, dargestellt. Blickt jemand aus einiger Distanz auf meine Lage, so ist sie aber in formeller Hinsicht tatsächlich absolut entmutigend, und das ist kein Ruhmesblatt der Universität.« 

Worauf Baeckmann auf ein Zettelchen notierte: »Wenn er doch nur wüßte, wie die Bemühungen gehen und wie schwer es ist.« Es sollte bald noch schwerer werden.

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Durch seine Erkrankung kam er in eine kritische Dauerlage, da die Universität ab April 1995 die Gehaltszahlung einstellte und Bahro im Juli beinah einen Bittbrief an den Vizepräsidenten Prof. Müller-Preußker schrieb: Er habe nicht die ihm zugesagte C3-Stelle bekommen, er sei nicht verbeamtet worden, und »zwischenzeitlich sei eine echte Notlage eingetreten« — er müsse rund 8300 DM zurückzahlen, vor allem aber sei die Gehaltszahlung völlig eingestellt. Er bittet also wenigstens um die Verbeamtung und würde dafür auch nicht mehr auf der C3-Professur bestehen.

Erst im September kann er einen neuen Arbeitsvertrag unterschreiben mit reduzierter Arbeitszeit und entsprechend reduzierter Bezahlung, nun aber als Beamter. Gleichzeitig wurde sein Institut — nach entsprechenden Kontakten mit dem Agrarökonom Prof. Konrad Hagedorn — an die Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät angegliedert, allerdings um den Preis, daß es wegen seiner geringen Größe zu einer Arbeitsgruppe »Agrar-Kultur und Sozialökologie« herabgestuft wurde. 

Man bezog Räume in der Ziegelstraße, doch Bahro mied diese Räume, wenn es nur irgend ging. Sein Arbeitsplatz war die Wohnung im Prenzlauer Berg. Christine Eiflers Stelle lief aus, Haake trennte sich von Bahro, ebenso schied die Sekretärin aus dieser Gruppe aus, so blieben nur noch Hosang und ein fast 70jähiger Rentner, Helmut Jansen, der unbedingt noch eine Dissertation schreiben wollte und faktisch als Sekretär arbeitete.

Die kleine Arbeitsgruppe trat in der Folgezeit kaum in Erscheinung. Nur Bahro war über all die Jahre ein gefragter Gesprächspartner — Einladungen zu vielen Kongressen oder Podiumsdiskussionen, Anfragen zu seiner Unterstützung für die verschiedenartigsten Projekte trafen ständig bei ihm ein. Offensichtlich waren seine Ideen — die natürlich (im Sinne des Evaluierungsbefundes) zur »Nachfolge« einluden — weiterhin gefragt. Die öffentliche Kritik wurde seltener.

Allerdings lehnte der christlich-konservative Philosoph Günter Rohrmoser eine Einladung zur Vorlesung in der Humboldt-Universität mit höflichen Worten ab, aber nicht ohne hinzuzusetzen: »Sie haben [...] die Neigung, eine religionsstiftende Attitüde zu entwickeln. Lieber Rudolf Bahro, solche Ambitionen sind eitel. Es gibt keine neue Religion und es kann auch keiner eine neue stiften.« (Brief vom 15. Oktober 1996)

Als Bahro die Vorlesungsreihe im Sommersemester 1997 an Stelle des Eingeladenen mit einem Beitrag <Religion und Politik in der Krise der Moderne> und zu Rohrmosers »Ringen um eine Alternative zwecks Bewahrung der Gesellschaft aus christlicher Tradition« eröffnete, war das Audimax nur noch halbgefüllt. Die TAZ (16.04.) sieht darin einen Akt der Distanzierung von »Bahros Tendenzen, rechten Ideologen ein universitäres Podium zu geben«.

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Doch es ist auch aus gesundheitlichen Gründen für ihn ein schweres, sein letztes Semester: Die letzten Vorlesungen des Krebskranken finden nur noch alle zwei Wochen statt, er kann sie kräftemäßig nur mehr im Sitzen und aus mangelnder Konzentrationsfähigkeit häufig ablesend halten. »Mehr schaffe ich gesundheitlich nicht. Es ist nicht ganz voll, aber ein Stamm von etwa hundert Leuten ist mir treu geblieben. Ich spreche zwei Stunden frei über ökologische und philosophische Themen, ganz konventionell wie eine Predigt. Anschließend diskutiere ich mit den zwanzig, dreißig oft älteren Leuten, die dageblieben sind.« (Interview, posthum in der taz vom 13./14. Dezember 1997)

Dazu kam wegen der häufigen Krankschreibungen seit 1994 der Zeitpunkt, daß die Personalstelle ab 8. Juli 1997 wegen »krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit« die Gehaltszahlung zum zweiten Mal einstellte und seine Ansprüche auf Krankengeld (seitens der AOK) und -Zuschuß (seitens der Universität) am 31. Juli abgelaufen waren.

 

Nach dem Tod von Rudolf Bahro erlebte das einstige Institut einen baldigen Niedergang. Er hatte keine Vorsorge getroffen, weder für die Arbeitsgruppe »Agrar-Kultur und Sozialökologie« noch für einen möglichen Nachfolger. Einige Monate lang glaubte ein Freund von Maik Hosang, der Philosoph Michael Wende, das »Institut« weiterführen zu können, doch faktisch und verwaltungsmäßig existierte es nicht mehr.

Während einer großen Veranstaltung im Audimax der Humboldt-Universität am 25. April 1998, bei der Bahros Lebenswerk unter dem Titel <Auf Herz und Geist gebaut> gewürdigt wurde, kam es am Rande zu einem Gespräch zwischen Bahros Förderer an der Landwirtschaftsfakultät, Prof. Konrad Hagedorn, und dem als Gast nach Berlin gereisten Philosophen Johannes Heinrichs

Hagedorn hatte während seines Vortrags <Die Zukunft der Sozialökologie an der Fakultät> angedeutet, daß man an einer Fortsetzung der Arbeitsgruppe interessiert sei, doch leider gäbe es kein Geld dafür. In dem Gespräch bot Heinrichs an, daß er versuchen könnte, das Geld zu beschaffen. In einem Rekordtempo engagierte sich wieder einmal die Schweisfurth-Stiftung und schuf eine Stelle, die als Stiftungsgast­professur für insgesamt dreieinhalb Jahre finanziert wurde. 

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Johannes Heinrichs, Philosoph und früher auch katholischer Theologe (Jesuit bis zu seinem Ordens­austritt 1981), ein äußerst produktiver und systematischer Denker, war schon einmal auf Einladung Bahros Gast an der Humboldt-Universität gewesen. Im Oktober 1991 hatte er im Rahmen des Studium generale zwei Vorlesungen über spirituelle Themen gehalten, und zum Semesterende zusammen mit Bahro ein Abschlußgespräch bestritten — das Verb ist hier wörtlich zu nehmen, denn es verlief nicht sehr harmonisch. 

Dann war für das Sommersemester 1992 neben Bahros Montags-Veranstaltungen eine eigene Vorlesungs­reihe »Ökologische Sozialphilosophie« (dienstags im Institut für Psychologie) verabredet und angeschlagen — doch schon nach der ersten Vorlesung hatte es eine Differenz zwischen Bahro und Heinrichs gegeben, die dazu führte, daß letzterer seine Veranstaltungen abbrach und Berlin verließ.

Bahro entschuldigte sich brieflich, doch der Kontakt blieb unterbrochen bis 1997, dann schickte Heinrichs ihm sein neuestes Buch <Ökologik>, das Bahro mit großem Interesse las und auch rezensierte. Heinrichs besuchte den Todkranken im Krankenhaus, und Bahro schrieb noch ein Nachwort für dessen nächstes Buch <Sprung aus dem Teufelskreis> — es ist sein vermutlich allerletzter Text (datiert August 1997).

Heinrichs trat zum Wintersemester 1998/99 die neu geschaffene Gastprofessur an und führte die Studium-generale-Vorlesungen fort. Doch nicht mehr im Audimax des Hauptgebäudes, sondern beinahe versteckt in der abgelegenen Invalidenstraße, später im denkmalgeschützten Langhans-Bau auf dem Gelände der Landwirtschaftlich-Gärtnerischen und der Veterinärmedizinischen Fakultäten — im ersten Semester mit dem Hauptthema <Logik der Rettung — Ökologische Sozialphilosophie>, im zweiten Semester <Die Natur der Kultur (Ökologische Kulturtheorie)> — wieder mit Gastdozenten. 

Stärker als Bahro beschäftigt sich Heinrichs auch mit wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen, beispiels­weise wurde im Sommersemester 2000 die Thematik <Vom Weltmarkt zum Weltethos — Logik und Ethik der Globalisierung> behandelt. Der etwas abgelegene Ort und der geringere Bekanntheitsgrad Heinrichs' führten allerdings auch zu einem verkleinerten Auditorium. Im Frühjahr 2002 endete die Stiftungsprofessur. 

Inzwischen ist das »Institut« aus dem Erscheinungs­bild der Universität verschwunden. Auf dem Gelände der beiden Fakultäten sind die Überreste kaum aufzufinden. Kein Pförtner kann Auskunft geben, kein Hinweisschild existiert. In einem heruntergekommenen Gebäudeteil der Veterinärmedizin befinden sich wenige Zimmer, vollgestopft mit alten Möbeln wie von einer Haushalts­auflösung, ein anderes für zwei Frauen mit ABM-Status, die die Vorlesungen von Bändern abgeschrieben haben und das Archiv ordneten. Doch auch diese Stellen laufen aus. Dann ist die Sozialökologie aus der Humboldt-Universität verschwunden — vermutlich endgültig.

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Von Herzberg 2002