Von Marko Ferst (2003)
"Das
Rad der Geschichte
Leben
und Werk eines Dissidenten —
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Mit Rudolf Bahro hatte man es mit einem Universalgelehrten, mit einem Exoten, mit einem Seher zu tun. Gewiß, auch bei ihm gab es Zerrlinsen. Er ist in Gebiete hineingegangen, von denen viele noch nichts wissen wollen, wo die zentralen Existenzfragen dieser Menschheit in Zukunft entschieden werden. Manche seiner Ideen und Analysen sind für den mit seinem Wissenshorizont nicht Vertrauten, halsbrecherisch verknüpfte Steigpfade. Bahro ist nicht einfach gestrickt, man muß sich in seinen vielschichtigen Erkenntniskosmos einarbeiten, und mancher Zusammenhang wird wohl für immer im Dunklen bleiben. Oft können Elemente seiner Erfahrungs- und Wissenswelt mit Hilfe von Sekundärliteratur freigelegt oder doch zumindest transparenter gemacht werden. Den zentralen Grundstock erhält man durch die Lektüre seiner Werke zweifelsohne, aber man sollte nicht meinen, sich dadurch den ganzen Bahro erschlossen zu haben, selbst wenn seine Vorlesungen an der Humboldt-Universität zu Berlin eines Tages soweit möglich publiziert sein sollten. Es gibt da dennoch einen breiten Gürtel, der nur schwer zu erschließen ist, auch je abhängig von den Vorkenntnissen desjenigen, der sich damit auseinandersetzt. Vor solchem Hintergrund kann eine Biographie viele Details der Lebensgeschichte berichten. Das Wissensnetzwerk, die Motivationen und die Verknüpfungen in den Lebenslauf hinein sind dagegen viel schwieriger zu rekonstruieren, insbesondere beim späten Bahro. Da sind Fehlwahrnehmungen schnell eingebaut. Das liegt in der Natur des Stoffs. Sympathisch, daß die Biographen einräumen, Bahro ist ein zu umfassender Denker, als daß wir seine geistigen Fragestellungen und Perspektiven mit unserem Band ausloten könnten. Wie schön sich jedoch naive Vorurteile über Bahro stricken lassen, kann man an etlichen Rezensionen ablesen, die zum Erscheinen der Biographie "Rudolf Bahro — Glaube an das Veränderbare" (2002) in den verschiedenen Tageszeitungen etc. nachzulesen waren. Rezensionen, wie die von Manfred Kriener in der "tageszeitung" oder jene von Michael Jäger im "Freitag", die den wirklichen Bahro andeuten, sind eher in der Minderheit. Besonders obskur kommt eine Rezension in der <Züricher Zeitung> von Stefan Dornuf daher. Zunächst erscheint dem Rezensenten das Schreiben der Biographie selbst als eine dubiose Auszeichnung für Bahro. Aus seiner Sicht ist jede Befassung mit Bahro seit seinem Besuch bei Baghwan nicht mehr zu rechtfertigen. Er sei nicht mehr ernst zu nehmen gewesen. Ich hatte Gelegenheit zu hören, Bahro konnte sehr gut erklären, was er dort wollte. Die Unkenntnis des Journalisten nach der Beschaffenheit der Suchwege Bahros mündet flugs in den Vorwurf, er würde nur gedankliche Anregungen anderer in unschöpferischer Weise zusammenfügen. Das läßt darauf schließen, der Rezensent hat von Bahro im Original nie ein Buch gelesen. Aber im Fall Bahro ist es fast Normalität, daß ein erheblicher Teil der Journalisten an der wirklichen Person vorbeischreibt. Man kann dies an unzähligen Artikeln belegen. Mit Bahro ist man einfach überfordert. Die schönen vorgefertigten Denkschubladen passen bei ihm einfach nicht. Rudolf Bahro meinte einmal mündlich, er sei kein Dissident, nicht er sei es, der abwiche von der Gesellschaft. Mit der Kritik an den versteinerten politischen Verhältnissen in der DDR, an der Diktatur des Politbüros als verhängnisvoll übersteigertem bürokratischen Prinzip, konnte er eine Mehrheit der DDR-Bürger hinter sich wissen. Da war er kein Abweichler, kein Andersdenkender. Sicher, vom eigenen Land aus fulminant gezielten Widerspruch zu stiften, wagte niemand außer ihm und Robert Havemann, dem anderen wichtigen Kritiker der DDR-Verhältnisse. Wer formulierte sonst alternative Gesellschaftsmodelle gegen das Weiter-so der regierungsamtlichen Orthodoxie? Wer reizte die DDR-Obrigkeit damit, es würde in der DDR denken und dies ganz anders, als es die offizielle Propaganda weismachen wollte? Auch wenn er von der Diskrepanz zwischen Aufwand und Ergebnis in der Produktion sprach, von geringerer Arbeitsintensität gegenüber dem Westen und größerer Trägheit und Nachlässigkeit im Arbeitsprozeß, von mangelnder Arbeitsdisziplin in der DDR, dürfte er damit noch in der "Mitte" der Gesellschaft gestanden haben. Doch die Dissidenz beginnt dort, schon in der <Alternative>, wo es darum geht, ob unser gesellschaftlicher Stoffwechsel verträglich ist für den Erhalt der Natur, ob der Industrialismus nicht bereits in vielen Ländern das zuträgliche Maß überschritten hat. Mit etlichen Vorschlägen seiner kommunistischen Umkehr dürfte er bereits auf einem dissidenten Pfad gelegen haben, gegenüber der DDR-Gesellschaft. Nehmen wir beispielsweise seinen Vorschlag einer alternativen Arbeitsteilung in der Gesellschaft, daß der Ingenieur nicht nur Ingenieur und der Arbeiter nicht nur Arbeiter ist, also auch der Chef mal die Karre schieben sollte und der Arbeiter in die Planung real einbezogen wird. In vollem Umfange wird er Dissident erst mit seinem zweiten Hauptwerk "Logik der Rettung". Dort steht er außerhalb der deutsch-deutschen Gesellschaft, nicht in jedem Punkt, aber im zentralen Wesen seiner politisch-spirituellen Botschaft. |
Alternative
Im niederschlesischen Flinsberg geboren, verlor Bahro als Flüchtlingskind die Mutter und zwei Geschwister. Mit 18 trat er der SED bei und studierte von 1954 bis 1959 Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin. Danach wird er für zwei Jahre Dorfzeitungsredakteur im Oderbruch und heiratet. Bis 1962 arbeitet er als Parteizeitungsredakteur in Greifswald und hat in dieser Zeit noch viel Zustimmung zu den Verhältnissen in der DDR. Unter dem Titel "In dieser Richtung" veröffentlicht er 1960 eine Broschüre mit Gedichten. Man will ihn als informellen Mitarbeiter der Staatsicherheit werben, doch es stellt sich heraus, wie Bahro selbst sagt, er war dazu nicht fähig, für diese Aufgabe nicht geeignet.
Bis 1965 ist er dann im Zentralvorstand der Gewerkschaft Wissenschaft tätig in Berlin und wechselt dann auf den ersten interessanten Posten, den des stellvertretenden Chefredakteurs der Wochenzeitschrift "Forum". Sie war eine der lebendigsten Zeitschriften der DDR zu dieser Zeit und wandte sich an junge Intellektuelle und Studenten. Als zweiter Chef bei der Zeitschrift nutzte er den Urlaub seines Chefs, um von Volker Braun das Stück "Kipper Paul Bauch" abzudrucken. Das Stück sollte nicht diskutiert werden. Er selbst wurde nach diesem Verhalten von den Parteioberen abgesetzt und in die Produktion geschickt.
Als die sowjetische Führung den Prager Frühling in der Tschechoslowakei 1968 mit Panzern erstickte, entschuldigte sich Rudolf Bahro bei der Prager Botschaft für das Verhalten auch der eigenen Genossen. In Folge arbeitete er an dem Buch "Die Alternative. Zur Kritik am real existierenden Sozialismus". Jahrelang führte er ein Doppelleben: Tagsüber werkte er im Kombinat, nach Dienstschluß tippte er sein Manuskript auf der Schreibmaschine. In dieser Zeit entstand auch ein Essay über Beethoven, der neben Friedrich Hölderlin ein "Leitstern" seiner Jugend war. Außerdem schrieb Rudolf Bahro eine Dissertation über die Entfaltungsbedingungen von Hoch- und Fachschulkadern in der DDR. Sie wurde abgelehnt.
Sehr frühzeitig hatte die Staatssicherheit Kenntnis von seinem Vorhaben. Das erste Manuskript bekam die Stasi direkt von Bahros Frau, die die übrige Familie vor Repressalien schützen wollte. Weitere Fassungen liefern unter anderem informelle Mitarbeiter der Stasi. Bahro selbst sagt später, daß es ihn gewundert hätte, warum ihm nicht vorher das Handwerk gelegt wurde. Im Grunde war den Organen alles bekannt. Sie hatten alle Mittel, um zugreifen zu können, doch bis zur Veröffentlichung des Buches geschah nichts dergleichen. Vermutlich schützte ihn unter anderem der Umstand, daß mehrere bekannte DDR-Schriftsteller das Manuskript der "Alternative" besaßen, was neuen Ärger mit den Schriftstellern entzündet haben würde. Einige hatten gerade erst gegen die Biermannausbürgerung protestiert. Der Parteiobrigkeit bereitete der Fall Havemann und die Biermannausbürgerung bereits genug Ärger, und man wollte keinen neuen Fall. Dennoch stellt sich die Frage, warum die Sicherheitsorgane seelenruhig zusahen, wie westliche Fernsehteams Interviews mit Bahro in seiner Wohnung machen konnten.
Am 22. August kam dann sein großer Auftritt: Der Spiegel kündigte sein Buch <Die Alternative; Zur Kritik des real existierenden Sozialismus> an. Einen Tag später wurde er verhaftet, die Wohnungstür versiegelt. Längst lagen Bahros Thesen aber in Buchform als "Sprengsatz" bei einem Kölner Verlag, alle Gegenmaßnahmen der DDR-Obrigkeit waren jetzt zu spät. Sein Fall war in allen bundesdeutschen Zeitungen in hervorgehobener Position präsent, seine Selbstinterviews wurden gesendet, die Fernsehberichte auch in vielen Haushalten der DDR empfangen.
Er warf der Partei Verrat am Sozialismus vor, machte kenntlich, wie die Idee ausgehöhlt worden war und schlug eine weitgehende Reform der Apparate-Herrschaft vor, eine grundsätzliche Korrektur der Gesamtpolitik. All dies entwickelte er aus dem Grundstock marxistischer Optionen, aber auch aus Kategorien, die er selbst entwickelt hatte. In diesem Zusammenhang ist es ganz lohnend, die Dokumentation "Ich werde meinen Weg fortsetzen" zu lesen, in der die Thesen des Buches in sechs Aufsätzen konzentriert zusammengefaßt sind.
10 Jahre lang wendete Bahro den größten Teil seiner Freizeit dafür auf, den real existierenden Sozialismus als eigene Formation zu analysieren. Es könne nicht angehen, daß die etablierte Apparateherrschaft die sozialistischen Hoffnungen zum Gespött der Massen macht. Er charakterisierte die östlichen Staaten als Systeme mit organisierter Verantwortungslosigkeit, in denen die Subalternität der Menschen geradezu herangezüchtet wird. Jede Herrschaftsgesellschaft produziert diese Art von menschlicher Unfreiheit, aber nirgendwo nahm sie die Ausmaße an, wie im Ostblock, so Bahro.
Der sowjetischen Führung wirft er vor, durch ihren Einmarsch in die Tschechoslowakei sich selbst und die osteuropäischen Völker um die Erfahrung eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz gebracht zu haben. Er charakterisiert diese Konterrevolution der Politbürokratie 1977 als größtes Verbrechen nach dem II. Weltkrieg, das dem sowjetischen Block anzulasten ist. Nicht mehr akzeptabel sei ein Herangehen, das in den östlichen Staaten nur einen deformierten Sozialismus zu sehen glaubt. Vielmehr haben diese Gesellschaften ganz andere Fundamente als die ursprünglich angenommenen. Das muß wahrhaftig analysiert und beschrieben werden.
Zur Kritik
Ob die Erklärungsversuche mit Hilfe der asiatischen Produktionsweise umfassend genug sind, läßt sich jedoch durchaus hinterfragen. Dem polit-ökonomischen Charakter des Pseudosozialismus gingen möglicherweise Rudolf Bahro als auch Robert Havemann nicht gründlich genug auf den Boden. Das zeigt sich dann auch an fehlenden Ideen, um zu einer anderen ökonomischen Produktionsweise zu kommen mit intelligenteren Motivationsstrukturen in der Arbeitssphäre. Diese dürften jedoch nicht zugleich eine gerechte Verteilung des Sozialprodukts und ökologische Begrenzung unterminieren.
Da gibt es eine offene Flanke, die modifiziert auch für eine zukunftsfähige Kultur im 21. Jahrhundert höchste strategische Bedeutung haben dürfte.
Bahros Perspektive war es in der "Alternative" nicht, eine Parteienherrschaft nach westlicher Spielart zu etablieren. Reale Demokratisierung erschien ihm als Voraussetzung der ökonomischen Emanzipation der Massen. Die Wahrung der Menschenrechte und die Einführung politischer Demokratie sind wichtig, doch zentraler ist für ihn, daß man eine Aufklärungsbewegung zustandebringt, die den langfristigen Kampf um eine neue Gesamtpolitik führt. Dafür steht in der "Alternative" der Bund der Kommunisten.
Ob jedoch eine Machtverschiebung innerhalb der Partei möglich sei oder neben der alten Partei eine neue entstehen müsse, könne der Geschichte nicht vorgeschrieben werden, meint er weiter. In späteren Texten zum DDR-Widerstand in der Kirche zeigt er sich diesem Weg übrigens auch sehr aufgeschlossen. Er selbst sagt, es könne nicht um eine Sekte von Kryptokommunisten gehen.
Wirkung der Alternative
Ansprechen möchte er alle, die sich von der versteinerten Parteibürokratie und den Sachzwängen in den pseudosozialistischen Ländern befreien wollen. Dies ohne Rücksicht darauf, welch offizielles Gesicht man bisher gezeigt hat. Er sieht die Möglichkeit, daß ein Bündnis aller Kräfte und Strömungen zustandekommt, die sich aus der Gefangenschaft der selbstgeschaffenen Zwänge herausführen. Was er ablehnt, ist ein Parteimonopol oder ein Monopol einer bestimmten weltanschaulichen Richtung. Von unten sollte die Selbstverwaltung in die Institutionen hineinwachsen.
Sein Anliegen war nicht, einen kolonialen Prozeß hervorzurufen, bei dem das westliche System das östliche Deutschland wieder heimholt. Klar positioniert war auch, die dortige Plutokratie kann kein Vorbild sein für die Emanzipationsbewegung des eigenen Landes. Um das Bild noch ein wenig abzurunden, sei hier die Linie bis in sein Werk "Logik der Rettung" fortgeführt. Die sogenannte "freiheitliche Demokratie" würde es verdammt nötig haben, so schreibt er, in der gegebenen beschränkten, korrumpierten und durch Ausbeutung rund um den Erdball diskreditierten Form abzusterben. Es ginge darum, daß die in ihr richtig gefaßten Prinzipien wiedergeboren werden können, jenseits des kapitalistischen Expansionismus. Die Demokratie sei mindestens so verlarvt auf die Welt gekommen, wie mit der russischen Revolution der Kommunismus.
Notwendig ist aus seiner Sicht eine grundsätzliche Umwälzung der ganzen subjektiven Lebensform der Bevölkerung. Er sieht darin eine Kulturrevolution, die von der geschichtlichen Einschnittiefe nur vergleichbar ist mit dem Einstieg in die Klassengesellschaft durch die patriarchale Sozialstruktur, die vertikale Arbeitsteilung und dem Aufkommen des Staats. Bahro wollte eine gesellschaftliche Ordnung, die auf emanzipatorische Interessen, auf inneres Wachstum, auf Selbstverwirklichung und Differenzierung der Persönlichkeit baut, befördert wissen. Eine Gesellschaft, in der, so wie auch heute in der globalisierten westlichen Unvernunft, die Selbstentfaltung zahlloser Menschen frühzeitig blockiert und beschränkt wird, lehnte er ab.
Die Freiheit der Selbstbildung schien ihm hervorhebenswert, und er kritisierte in diesem Zusammenhang die Enge des DDR-Bildungssystems. Erziehungspraktiken, die im Kind nur Angst erzeugen und das Vertrauen in sein soziales Umfeld unterminieren, wollte er abgeschafft wissen. Wo die Initiative der Kinder mit Schuldgefühlen vergiftet wird, seine Leistungen abgewertet und der eigene Wille gebrochen werden, kann keine freie Persönlichkeit entstehen. Jedem sollte Universitätsbildung möglich sein. Später wird er jedoch kenntlich machen, daß man dabei nicht zum Funktionär der Megamaschine werden dürfe.
Auch wenn das gesellschaftliche System, das in der "Alternative" zur grundsätzlichen Reform anstand, inzwischen das Zeitliche gesegnet hat, die Lektüre kann trotzdem interessant sein. Hat sich heutzutage die allgemeine Emanzipation erledigt? Sollten wir uns dem blinden Spiel der kleingläubigen Egoismen preisgeben? Ist es nicht nach wie vor eine geschichtliche Aufgabe, die Subalternität, als Daseinsweise "kleiner Leute", zu überwinden und insbesondere die damit verbundenen Bedürfnisstrukturen? Darf man über die Aufhebung der alten, vertikalen Arbeitsteilung nicht ganz neu nachdenken?
Oder ganz aktuell: Er meinte beispielsweise, Gehälter, die die obere Grenze des normalen Gehaltskatalogs übersteigen, müssen reduziert werden. Diese Aussage ist natürlich reines Gift für eine Gesellschaft, in der sich diverse Manager etc. die Taschen auf Kosten der Normalbevölkerung immer reichlicher füllen, und das, ideologisch verbrämt, inzwischen alle richtig finden sollen. Diese Perversion gehört erneut an den Pranger gestellt. Haben globalisierte Weltstrukturen, die auf sozialer und ökologischer Degradation beruhen, mehr Zukunftschancen? Schon in der "Alternative" macht Bahro darauf aufmerksam, der innere Wandel des Menschengeschlechts ist ein zentraler Zugang, um der grenzenlosen Expansion der materiellen Bedürfnisse Einhalt zu gebieten.
In der Biographie wird kritisiert, daß Bahro in der "Alternative" die Hungeropfer der Kollektivierung in Rußland, diejenigen Millionen, die in der Knochenmühle des GULAG umgekommen sind, mit geschichtlichen Notwendigkeiten im Grunde genommen rechtfertigt. Da ist Einspruch einzulegen gegenüber den Biographen. Bahros Äußerungen sind gewiß nicht unproblematisch, zumal wenn zutrifft, er hatte Solschenizyns Ivan Denissowitsch bereits wahrgenommen. Freilich läßt sich dies aus heutiger Position leicht sagen. In der Bundesrepublik angekommen, beginnt Bahro sofort seine Position zu hinterfragen. Noch immer stellt er fest, es gab keine Alternative für die russische Revolution als den der nachholenden Industrialisierung und damit den Weg in den Despotismus. Doch immerhin existierte etwa durch Literaten wie Lew Tolstoi eine offen markierte Alternativposition. Sicher, als Agrarland hätte die Sowjetunion die äußeren Angriffe nicht abwehren können. Von daher kann man partiell Rechtfertigung einholen.
Bahro jedenfalls räumt ein, er hätte bei den Verlierern des Kronstädter Aufstandes eher ein Gegenbild zum sowjetischen Modell finden können für die "Alternative" als bei den Siegern. Zudem sieht er bessere Perspektiven bei Bucharin, der den Bauern mehr Spielraum für autonome Entwicklung lassen wollte. Die historische Tragik wird jedoch bereits in der "Alternative" markiert, daß der russische Aufbruch in eine neue Herrschaftsideologie hinein pervertierte, in den Katechismus einer modernen Staatskirche, deren Folge die Vernichtung der alten bolschewistische Garde war. Der ungeheure Fortschritt unter Stalin gliche dem von Marx beschworenen Götzen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte. Mir scheint die Biographie an diesem Punkt teilweise etwas ungerecht. Sie zieht die Aspekte heraus, die in der Tat diskreditieren, blendet darüber aber die Vielschichtigkeit der Aussagen Bahros zu diesem dunklen Kapitel aus.
So spricht Bahro davon, hätte ein subjektiv begabterer Mensch als Stalin die Partei führen können, so wäre das Äußerste des Terrors vermieden worden, der Cäsarenwahn nicht zum Zug gekommen. Da existieren also Aussagen, die tendenziell gegensätzlicher Natur sind. Bahro macht kenntlich, daß das Fraktionsverbot in der Partei und andere Notmaßnahmen nach der Revolution in eine Sackgasse führten. Er stellt also nicht nur die Frage, und es ist wirklich eine Frage, ob der absolut notwendige Parteikonsens für den Aufbau einer protosozialistischen Industriegesellschaft, einen andern Weg als den Stalins zugelassen hätte. Und ich lese aus dem Text nicht heraus, daß Bahro das terroristische Wüten Stalins gegen jegliche Opposition wirklich billigt, so wie es die Biographie behauptet. Daß man heute an das Thema GULAG mit einer anderen Optik herangehen muß als Bahro, sollte allerdings unmißverständlich klar sein. Der ungeheuren menschlichen Tragik dieses auf Massenvernichtung von Menschen hin entgleisten Systems wird er nicht gerecht.
Die sorgfältig vorbereitete Ankündigung der "Alternative" und die erstklassige PR-Arbeit von Bahro und der ihn Unterstützenden war in der Tat, da ist der Einschätzung der Biographen zuzustimmen, für DDR-Verhältnisse eine einmalige Spitzenleistung. Knapp acht Monate nach Erscheinen der "Alternative" waren 80.000 Exemplare verkauft. Auslandsrechte für die Veröffentlichung gingen bis dahin nach Amerika, England, Frankreich, Italien, Spanien, Dänemark und Schweden. Die publizistische Resonanz füllte im Verlag bereits neun große Leitzordner. Nur geringe Resonanz gab es in der DDR, jedoch war dies auch nicht anders zu erwarten, angesichts der repressiven Gesamtstruktur. Zu vermuten bleibt aber, daß es im Laufe der Restzeit der DDR doch etliche Leute gegeben hat, die sich die Lektüre beschafften. Sie werden eher still gelesen und gedacht haben - zu still - gewiß.
Die Machthabenden in der DDR erfanden die Lüge vom Spion und verurteilten Bahro zu acht Jahren Gefängnis. Wahrscheinlich ist es nicht ganz unmaßgeblich seinem Anwalt Gregor Gysi zu verdanken, daß er nach gut 2 Jahren zum 30. Jahrestag der DDR amnestiert wurde und in die Bundesrepublik ausreisen konnte. Ausführlich berichtet die Biographie über die Verhöre und das Vorgehen, wie Bahro in Bautzen gebrochen werden sollte. Es gelang nicht. Streckenweise liest sich die Biographie hier wie ein Krimi. Sie ist in diesem Abschnitt auch sehr lehrreich, weil man Einblicke bekommt, mit welchen Methoden Prozesse gegen einen exponierten "Staatsfeind" in der DDR vorbereitet und geführt wurden.
Nach seiner Ankunft im anderen deutschen Staat wendete Bahro sich den Grünen zu. Carl Amery hatte ihn im Westen, aus der Alternative ließ sich dies bereits erkennen, als "heimlichen Grünen" angekündigt. Dort interessierte Bahro das Bündnis von Dutschke bis Gruhl, das quer zu den bisherigen sozialpolitischen Fronten verlief. Er meinte, die ökologische Krise könne nur von so einem breiten Bunde her politisch angegangen werden. Sein Engagement blieb vergeblich.
Den Grünen ging es nur um Ökokosmetik, den modernen Lebensstil stellten sie nicht in Frage. So schrieb er z.B.: "Obwohl in der Idee bei Ökopax geblieben," da konnte er von künftigen Kriegseinsätzen noch nichts wissen, "haben sie vor lauter Reformismus und Machtbeteiligungsdrang die ursprüngliche Substanz ihres Ansatzes ganz in tagespolitisches Kleingeld umgewechselt." Eine Resolution zum Tierschutz, die den Standpunkt des "vernünftigen Experimentators" verteidigte, war dann nur der letzte Anstoß für den Austritt 1985.
In den ersten Jahren in der Bundesrepublik widmet Bahro auch einen Großteil seiner Zeit der Friedensbewegung. Er will erreichen, daß die beiden Militärblöcke anfangen, einseitig abzurüsten, statt neue Atomraketen aufzustellen. Die Bücher <Wahnsinn mit Methode> und <Pfeiler am anderen Ufer> dokumentieren eine Vielzahl der Wortmeldungen Bahros zu diesem Thema. Auch hier kann er sich auf eine massenhafte Bewegung stützen und ist nicht wirklich Dissident, eher Vordenker.
Eine Auseinandersetzung mit den westlichen Systemen verfolgte Bahro konzentriert in seinem zweiten Hauptwerk <Logik der Rettung>.
Dort zielt er auf eine grundsätzliche Kritik der patriarchal-kapitalistischen Zivilisation. Täglich gelangen weltweit Millionen Tonnen Treibhausgase in die Atmosphäre und schließen die Wärmefalle immer weiter, ungefähr drei- bis vierhundert Tier- und Pflanzenarten sterben täglich aus. Die Wüstenregionen nehmen Quadratkilometer um Quadratkilometer mehr Land in Beschlag. Innerhalb weniger Generationen werden die nicht erneuerbare Rohstoffe wie z.B. Erdöl aufgebraucht, die in Jahrmillionen entstanden. Die Bevölkerungszahl auf der Erde verdoppelt sich in immer kürzeren Abständen, ebenso wie die "Geburtenrate" von Automobilen. Alle 90 Minuten ist im brasilianischen Regenwald ein Gebiet von der Größe Kölns abgerodet. Mit 3000 m² pro Sekunde vernichten wir global den Wald, mit 1000 Tonnen pro Sekunde erodiert der Boden. Erst aus einer zusammenhängenden Panoramaschau einer Vielzahl solcher Daten kommt langsam zum Vorschein, was da eigentlich auf uns zurollt.
Wir sind langfristig dabei, die irdischen Belastungsgrenzen an immer mehr Stellen zu durchbrechen. Bahro meint, wir müßten die Industriegrundlast im Schnitt um den Faktor 10 zurückfahren, wenn wir die Absicht haben sollten, auf der Erde weiter verweilen zu wollen. Die ökologische Weltkrise stelle unsere gesamte Gesellschaftsverfassung in Frage, bis in die tiefenpsychologischen Strukturen hinein. Dies verbindet er mit einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik, spart aber auch Fragen nach dem darunterliegenden patriarchalen Untergrund und dem europäischen Entstehungshorizont nicht aus. In dem Machtsyndrom vom patriarchalen Ego bis hin zu den modernen wissenschaftlich-industriellen Exzessen, darin daß sich die europäisch männlich disponierte Vernunft angstvoll abwehrend gegen die Natur, den Körper, die Frau, das Weibliche gestellt hat, liegt der harte innere Kern der ökologischen Krise. Er kristallisiert sich um den Trieb zur kompensatorischen Ansammlung von Insignien, Sachen, Erkenntnissen und Siegen. Der permanente Aktionszwang unserer Kultur treibt sie ihrem Abgrund entgegen.
Bahro verweist darauf, es reicht nicht aus, die Marxsche Vision der Verwaltung von Sachen anzustreben, wir brauchen auch eine Emanzipation von der Selbstsucht und vom Habenmüssen. Ökologische Politik beginne mit dieser inneren Perspektive. In seinem Aufsatz zum "Homo Integralis" schrieb er, daß die Harmonie der Geister der Anfang eines neuen Zeitalters sein wird. So konfliktorientiert wie bisher werden wir nicht überleben, es käme auf die Zurücknahme der eigenen Aggression an. Es ginge darum, zu einer "neuen Politeia" zu kommen, die uns trotz sozialuniverseller Abhängigkeit ein warmes Haus bewahrt. Wir brauchen um den ganzen Planeten herum inneren und äußeren Frieden.
Die bürgerliche Persönlichkeit, ihre Intention von Freiheit und Unabhängigkeit und die damit verbundene Position von größtmöglicher Unverletzlichkeit, Versorgungssicherheit, Situationskontrolle und Bequemlichkeit als eine egozentrische aktive oder passive Machtposition, auf der sich Liebe nicht entfalten kann, steht als ein Menschenbild zur Disposition, über das wir innerlich hinauswachsen müssen. Nur wenn wir die in den Kämpfen der bürgerlichen Gesellschaft stets auf neue reproduzierten unfreien Verhaltensmuster verstehen abzubauen, wird auch eine Gesellschaft und Politik möglich sein, die ökologische Selbstbegrenzung mit emanzipativer Perspektive verschränken kann.
Wir sollten lernen, so Bahro, aus Urvertrauen statt aus Abwehr zu handeln. Nur glücklich können wir richtig sein. Es ginge um eine soziale Praxis, die unsere Liebesfähigkeit viel stärker als heute entwickelt und ob wir die Befindlichkeit, das Daseinsgefühl, die Atmosphäre der Kommunikation von uns als Menschen in der Welt verbessern können. Vom Herzen aus hätten wir die Welt neu einzurichten, aus der Bewußtseinskraft einer erkennenden, das soziale Ganze einschließenden Liebe.
Notwendig wäre aber auch ein höherer Freiheitsgrad des Denkens, eine Deautomatisierung des Denkens, die lebensrichtige Einordnung des instrumentellen Verstandes ins psychische und soziale Ganze. Ichbesessener, süchtiger Tatendrang bringt uns als Menschen nicht in ein besseres Verhältnis zur Welt, verbürgt keine zukunftsfähige Ordnung.
Die neue Welt fängt mit dem sich ändernden Menschen an, einem neuen inneren Selbst, das sich über das bedürftige Ego erheben kann. Bahro wirft die Frage nach einer anthropologischen Revolution auf, als eine Neubegründung der Gesellschaft auf bisher unerschlossene, unentfaltete Bewußtseinskräfte. Die Heilung unserer Kultur hinge davon ab, ob wir die systematische Selbstaufklärung nach Innen wagen. Meditative Praktiken können auf diesem Weg unterstützend wirken.
Zudem popularisiert Bahro die Neubegründung kleiner Lebenskreise, wie das dann auch in dem ökologischen Landgut Pommritz bei Bautzen als einem praktischen Versuch seinen Niederschlag fand. Sinnvoll hält er den Aufbau von Basisgemeinden der neuen Ordnung in Gestalt eines netzwerkartigen Verbundes von Gleichgesinnten, die überall lokale kommunitäre Zusammenhänge schaffen. Wenngleich man die Vielfalt alternativer Lebensorte in Deutschland eher unterschätzen wird, so kann dies vermutlich nicht der einzige Pfad für einen Ausweg unserer Logik des Mißlingens sein auf der materiellen Ebene. Solche Orte mögen ausstrahlen, neue Entwicklungen anstoßen.
Die Einrichtung eines Ökologischen Rates als demokratisches oberstes Verfassungsorgan kann auch auf der politischen Ebene ein Instrument sein, um sich von dem Beharrungsstatus zu lösen. Sicher, wenn der Klimawandel immer mehr unsere Wirtschaftsweise desorganisiert, dann bleibt am Ende nur Rückzug auf regionale Refugien. Heutige Reformszenarien müßten aber von der ganzen Bevölkerung gegangen werden, oder sie finden nicht statt. Es geht also um Wege, die aus der Mitte der Gesellschaft heraus gestartet werden können. Da reicht das Konzept Landkommune und wahlverwandtschaftlicher Gemeinschaft nicht aus.
Die Vision einer Umkehr in den Metropolen hänge davon ab, so Bahro, wie schnell der Mehrheit klar werde, daß die kapitalistische Kulturverfassung, samt ihres sozialpsychischen Inventars, nicht geeignet ist, um uns als Menschen dauerhaft auf dieser Erde einzurichten und es in aller Interesse liegt, nach einer alternativen kulturellen Entwicklung zu suchen, dazu nach den gesellschaftlichen Strukturen, die dafür geeignet sind.
Politik ist nicht mehr politisch genug, wenn es um eine Neubegründung der zivilisatorischen Anlagen und Fundamente geht, hält Rudolf Bahro fest, also die heute vorfindbaren Handlungsrahmen und -ziele sind nicht geeignet, die Apokalypse aufzuhalten. Er fokussiert sich hier insbesondere auf die Politik der reichen Industriestaaten, bei denen der Verteilungskampf im Mittelpunkt des Geschehens liegt. Politik wird dann zum Teil des Problems und artet in Politikasterei aus.
Ökologische Wendepolitik heißt den Staat neu zu verfassen, den Staat und die Rechtssphäre aus der materiellen Dynamik herauszulösen. Dies kann nur mit einer neuen Gesamtstruktur gelingen, irgendwelche Maßnahmepläne werden dies nicht leisten. Zudem kritisiert er, daß die Parteien angesichts der ökologischen Krise dennoch darauf setzen, die Selbstsucht, Kurzsichtigkeit und Subalternität etc. der Bevölkerung zu instrumentalisieren.
Mit der Wende kam Rudolf Bahro zurück in die DDR, meldete sich auf dem SED/PDS Parteitag zu Wort, der Beifall hielt sich in Grenzen. Der Text ließ sich hinterher eine Million Mal im "Neuen Deutschland" nachlesen. Die Rede ist in dem Band "Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS" abgedruckt und ein Ausschnitt auch auf CD gebannt. So realitiätsfern, wie man bei Lektüre diverser Presseartikel annehmen muß, ist Bahros Beitrag keineswegs. Jedoch weiß die PDS nach wie vor nicht so richtig, was sie mit seinen Thesen anfangen soll, obwohl diese erstaunlich zeitlos waren. Der Reformeransatz der PDS scheint seit längerer Zeit immer öfter in politischem Opportunismus unterzugehen. Eine kritische Analyse unserer zivilisatorischen Situation benötigt man als SPD-Imitat nicht. Und einen Bahro schon gar nicht, gleichwohl einzuräumen ist, die Rosa-Luxemburg-Stiftung bemühte sich, mit Veranstaltungen an den einstigen Kritiker zu erinnern.
1990 im Herbst begann er die Berliner Vorlesungsreihe für Sozialökologie als Studium Generale an der Humboldt-Universität. Hätte ich nicht schon vor meiner ersten Begegnung mit dem Vorlesungsstil Rudolf Bahros seine wichtigsten Bücher gelesen, so wäre die erste Vorlesung möglicherweise auch die letzte gewesen. So manche Verknüpfung von Ideen und Gedanken dürfte neuen ZuhörerInnen gar nicht so einfach nachvollziehbar gewesen sein, solange man in seinem überaus vielschichtigen Kosmos nur marginale Orientierung hatte. Jedoch konnte man von ihm sehr viel lernen, wenn man sich auf seine Art zu denken einließ, ohne gläubig alles zu akzeptieren. Auch behielt Bahro für Vorschläge immer ein offenes Ohr.
In den ersten Jahren war das Audimax öfter bis auf den letzten Platz besetzt, das sind immerhin fast 650, aber auch kurz vor seinem Tod, er starb an Blutkrebs, kamen häufig mehr als 200 ZuhörerInnen zusammen. Und dabei bunt gemischt. Von grün alternativ, über die Anhänger der unterschiedlichsten Religionen bis hin zu PDS-Mitgliedern war wohl alles mal vertreten.
Anfang der 90er Jahre zog er sich die besondere "Sympathie" der westlich-alternativen "Hauptverwaltung ewige Wahrheiten" zu. Da gab und gibt es eine ganz bestimmte Art von Leuten, die sich dadurch profilieren, indem sie andere anschwärzen. Besonders gut funktioniert das mit dem Vorwurf des Ökofaschismus. Das Engagement der Politpolizisten ging so weit, daß mitten in eine Vorlesung Pflastersteine von draußen durch die Scheibe geschleudert wurden, die den Redner nur knapp verfehlten.
Was daran noch links und antikapitalistisch ist, muß mir erst mal einer erklären. Sehr interessieren würde mich auch mal, wie Jutta Ditfurth über die schätzungsweise um die 100 Vorlesungen Bescheid wissen will, obwohl ich sie dort nie im Publikum habe sitzen sehen. Eine Einladung von Rudolf Bahro, der ihr angeboten hatte, sie könne ihre Sicht der Dinge in seiner Vorlesung zwei Stunden lang vortragen, schlug sie aus. Auch die Biographen erkannten die Hochstapelei, die hier mit Breitenwirkung inszeniert worden war.
Ein persönlicher Tiefschlag ereilte ihn, als seine zweite Frau 1993 Selbstmord beging. Sie sprang von der Siegessäule. Daraufhin setzte er ein Semester aus. Die Biographen widmen seinen Beziehungen mit Frauen einen eigenen Abschnitt, ein mutiges Ansinnen, vermutlich nicht ohne Widerhaken. Wie schon Friedrich Engels und andere Sozialisten interpretiert er Liebe etwas freizügiger, als es allgemein üblich ist. Dagegen spricht zunächst nichts, solange andere nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Soweit man den Biographen vertrauen kann, scheint sein theoretischer Anspruch emanzipatorischen Verhaltens im Privaten nicht immer gelungen.
1995 unterbrach er seine Vorlesungsreihe für weitere zwei Semester, weil seine Krebserkrankung bereits sehr fortgeschritten war. Schon bei einem Seminar im Herbst 1994 auf dem Hof Vogelsang bei Prenzlau war für jeden erkennbar, er mußte ein arges gesundheitliches Problem haben. Freilich die Irrfahrten, die er unternimmt, um alternative Behandlungen zu bekommen, und der Klinik zu entfliehen, werfen Fragen auf: Wie kann man sich so rücksichtslos gegen sich selbst verhalten?
Die Idee Bahros, Erich Honecker in seinem Verfahren vor bundesrepublikanischen Gerichten zu verteidigen, ist in der Tat ein Vorgehen, das überraschend wirkt, zumal Honecker persönlich auf 10 Jahre Zuchthaus für Bahros "Alternative" plädiert hat, als einstiger Generalsekretär. Die bundesdeutsche Form, über die DDR via Rechtsprechung zu richten, lehnte Bahro ab. Das andere Deutschland hätte keinen Bezug zu dem gescheiterten Projekt und was eigentlich gewollt gewesen ist. Es muß sehr viel Wut auf das westliche Regime im Spiel gewesen sein, über die Art der Kolonialisierung der DDR, wie sie ablief, daß er sich so positionierte. Freilich war ihm auch klar, daß die kapitalistische Zivilisation in die Zukunft hinein längst den nächsten GULAG produziert; inklusive der Opferzahlen und insofern keine Schonung beanspruchen darf, etwa als das bessere System zu gelten.
Erinnert sei auch, wie er angesichts der Blockkonfrontation sich dafür aussprach und fast ein ganzes Buch dazu verfaßte, warum man die DKP aus der sich entwickelnden Friedensbewegung verbannen muß. Er hielt sie für den langen Arm des Ostens, wenn sie die sowjetischen Atomraketen verteidigten, mit den finanziellen Unterstützungsleistungen aus den SED-Kanälen. Seiner Meinung nach mußte in Ost und West radikal abgerüstet werden und nicht einer der beiden "Todesengel" verteidigt werden. Von so einer Position Anfang der achtziger Jahre den Bogen zu schlagen zur Verteidigung des "obersten Subalternen", wie er Honecker in der "Alternative" titulierte, ist nicht ganz einfach zu erklären. Vermutlich spielt hier auch seine Auffassung von spiritueller Selbstverringerung hinein.
Adolf Holl hielt in Bahros Vorlesungsreihe zum Beispiel einen Vortrag über das Thema. Das könnte ein weiterer Schlüssel sein. Möglicherweise hätte er Honecker sogar überzeugend verteidigen können in einem begleitenden Beitrag vor Gericht, so dieser denn fähig gewesen wäre, dies zu akzeptieren. Freilich hätte Bahro um einiges mehr abklären müssen, wie er sich positionieren will und weniger in den zurecht von Guntolf Herzberg kritisierten Relativismus verfallen dürfen. Dennoch scheint er genau gewußt zu haben, mit was er es zu tun hat. Zwar verteidigt er seine Richter, die ihm den Prozeß in der DDR gemacht haben, weil sie letztlich nur Statisten der von oben festgelegten Linie waren, doch wird er seinen Ankläger einen "Betonkopf" nennen, der kein Unrechtsbewußtsein gehabt habe.
Auch Bahro beteiligte sich am Anfang an der üblichen Stasiaufarbeitung, verändert dann aber seine Einstellung, weil er sieht, daß die Art der Aufarbeitung zu verheerenden Nebenwirkungen führt. Warum dieser Wechsel zustande kommt, dem hätte schon mal Aufmerksamkeit gebührt in dem Buch.
In diesem Honecker-Abschnitt scheint mir die Biographie sich zu einseitig auf einige herausragende Schlaglichter zu konzentrieren und sorgt dadurch für eine Schieflage in der Gesamtsicht. Ich habe den Eindruck, die verständliche Abneigung von Guntolf Herzberg gegenüber Bahros Auftreten in diesem Punkt scheint der verursachende Zerrspiegel zu sein. Für ein neu geschriebenes verbessertes Kapitel wäre es höchst geboten, insgesamt zu studieren, was er nach der Wende zur DDR und damit verbundenen Aspekten sagt. Und das ist eine ganze Menge. Seine Ausführungen unterscheiden sich teilweise von den Aussagen, die sich in der "Alternative" finden. Auch ich setzte mich mit ihm auseinander über die Frage, ob Perestroika im Osten und die DDR grundsätzlich da enden mußten, wo sie geendet sind. Da sind wir zu verschiedenen Auffassungen gekommen. Ich hielt die Geschichte nicht für so festgelegt.
1991 lud Bahro Kurt Biedenkopf zu einer Vorlesung ein. Dort konnte er den CDU-Politiker davon überzeugen, daß es doch angesichts der ökologischen Krise sinnvoll sei, alternative Lebensplätze zu fördern. Es folgte ein Treffen auf einem sächsischen Alternativhof in Schönewitz. Aus diesem Impuls heraus entwickelte sich dann das Lebensgut Pommritz. Das Land Sachsen stellte zunächst Hof, Land u.a. zur Verfügung. Vielleicht wird es zukünftig auch andere Ministerpräsidenten geben, die solche Alternativen fördern, so unausgereift und provisorisch diese Experimente vorläufig wohl noch sein müssen. Vorschläge zur Verfahrensweise liegen bereits auf dem Tisch. Die Texte dazu von Bahro u.a. sind in dem Band "Apokalypse oder Geist einer neuen Zeit" zu großen Teilen dokumentiert. Ein erster Vorlesungsband war bereits 1991 unter dem Titel "Rückkehr. Die In-Weltkrise als Ursprung der Weltzerstörung" erschienen.
Das Rudolf Bahro-Archiv an der Humboldt-Universität will zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung auf längere Sicht einen weiteren Band mit Vorlesungen herausgeben, die Bahro in seiner Zeit als Professor für Sozialökologie in Berlin gehalten hat. Unveröffentlicht ist auch das Buch <Die Befreiung aus dem Untergang der DDR> wo er sich mit der PDS, Kommunismus und Ökologie, marxistischem Gedankengut sowie der "schenkenden Tugend" von Nietzsche u.a. auseinandersetzt. Gewiß enthält der Essay eine ganze Reihe interessanter Überlegungen, doch dem Votum der Biographen, es als drittes Hauptwerk Bahros zu bezeichnen, würde ich nicht folgen wollen. Dafür könnte man den Eindruck gewinnen, daß sein Aufsatz zum "Homo integralis" fast wie ein Schlußstein wirkt, als ob er in einen Aufsatz die Konzeption für ein ganzes Buch verpackt hat.
Bei einem meiner Krankenhausbesuche äußerte Bahro, er wolle noch einmal ein umfassendes Werk über den Staat schreiben und will dazu u.a. Hegel in Gänze lesen. Vielleicht gibt es dazu bei anderen noch mehr Puzzelstücke.
2002 erschien unter dem Titel <Wege zur ökologischen Zeitenwende; Reformalternativen und Visionen für ein zukunftsfähiges Kultursystem>, zusammen mit Texten von Franz Alt und Marko Ferst, eine ganze Reihe noch unbekannter Texte von Bahro erstmals, alle aus den letzten Lebensjahren. In mehreren Vorlesungen zur Studie "Zukunftsfähiges Deutschland" lotet er erneut aus, was alles nicht mehr hinreicht, um zu einer Gesellschaft mit menschlichem Antlitz zu kommen. In seinem letzten Aufsatz stellt er noch mal die Frage nach einer Kulturordnung zur Debatte, die auf Herz und Geist gebaut ist und nicht auf Beton und Chips.
In weiteren Beiträgen geht es darum, wie wir zu einer politischen Instanz für das Naturverhältnis kommen könnten und wie unsere Tektonik der Selbstzerstörung angelegt ist. Die Texte zeigen überdies die Vielschichtigkeit seiner Ideen und Analysen. Als ich ihm die Buchkonzeption zum erstenmal vorstellte, fand er die Idee, daß ich mit Franz Alt die Befragung vornehmen will, sehr spannend, mit seinem eigenen Anteil war er noch nicht zufrieden. Da kamen dann später weitere Texte zu den Vorlesungen hinzu.
Leider ist der Band derzeit der einzige, den man noch im Buchhandel erhalten kann. Man müßte sich darum bemühen, daß mehr Texte wieder zugänglich werden. Besonders sein Band <Logik der Rettung> oder auch Unveröffentlichtes.
Dissidenz, auch als die Frage nach der richtigen inneren Verfaßtheit von Menschen und die Frage nach optimalen Lebensstrukturen in den Gesellschaften, war nicht nur zu DDR-Zeiten ein rares Gut. Auch in den heutigen Verhältnissen ist uns das aufgetragen, wenn es um die Selbstbegrenzung des industriellen Expansionismus geht, um den Erhalt einer menschenwürdigen Existenz zu ringen. Es scheint mir sinnvoll zu sein, die Konzeptionen Rudolf Bahros in ihren Stärken zu sichten, aber mit neuen Fragestellungen könnte künftiges "Vordenken" auch schwächere Punkte alternativ formulieren.
Ich habe Rudolf Bahro mal damit konfrontiert, eigentlich müßte man einen zweiten Teil zu seinem Buch "Logik der Rettung" schreiben, wo der Schwerpunkt darauf zu setzen wäre, wie eine konkrete Utopie für eine zukunftsfähige Gesellschaft aussehen könnte.
Es ginge schon um mehr als ein paar theoretische Rahmenbedingungen. Er bestand darauf, die innere Veränderungsperspektive wäre die entscheidende Matrix, alles andere würde sich ergeben. Dieses Ergeben konnte ich nie nachvollziehen, zumal nach der Bruchlandung, die der angebliche Sozialismus hingelegt hat, wiewohl ich Bahros Grundannahme einer In-Weltkrise teile.
In dem Band <Wege zur ökologischen Zeitenwende> ist in einer ersten Lesung auch der Versuch einer Antwort auf die Fragestellung nach einer ökotopianischen Zukunftsgesellschaft meinerseits zu finden, sicher unvollkommen, aber eben ein Versuch, mehr Phantasie für neue Gesellschaftsentwürfe zu wecken.
Kommen wir auf die Überschrift unseres Beitrags. An seine Ex-Frau Gundula Bahro schreibt er 1994: "Wir haben versucht, ins Rad der Geschichte einzugreifen, es ist uns entglitten." Entglitten wohl in mehrfachem Sinne. Verloren gegangen ist der Versuch, eine emanzipatorischere Gesellschaft im östlichen Deutschland und anderen pseudosozialistischen Staaten zu etablieren. Verheerender jedoch dürfte sein, daß uns jetzt die zivilisatorischen Fundamente insgesamt wegbrechen. Ihm war klar, es spricht viel dafür, wir gehen auf eine dunkle Zeit zu, eine Pflasterstraße durch die Hölle. Ich erinnere mich an eine Vorlesung, wo er ausführte, daß die ökologische Krise ein oder zwei Milliarden Menschen das Leben kosten könnte. Gewiß mengte er immer die optimistische Botschaft dazu, das Rettende könnte auch wachsen.
Schon in der <Alternative> verdeutlicht er, wenn es der Menschheit nicht gelingt, die Naturgleichgewichte zu wahren, dann wird sie im Zeichen barbarischer Kämpfe und Diktaturen dahin gezwungen werden. Dieser Absturz dürfte jetzt auf uns zukommen. Wer sich die Daten gründlich besieht, dem ist klar, inzwischen reißen die Verankerungen, etwa was das Klima betrifft.
Bahro hoffte, die Zusammenbrüche würden stufenweise kommen, so daß die Gesellschaften noch umsteuern könnten. Dies setzt aber voraus, in vielen Staaten bilden sich aktive Minderheiten heraus, die solch einen Prozeß dann auch gegen geschwächte alte geistige Hegemonien durchsetzen können. Bisher sieht alles danach aus, daß die Metropolengesellschaften höchste Meisterschaft im Verdrängen der ökologischen Realitäten aufbieten. Dadurch ist man dem Verhängnis um so mehr ausgeliefert und zerstört die geschichtlichen Potentiale für eine grundsätzliche Korrektur.
Die Lebensweise und systemischen Zusammenhänge, die wir uns jetzt leisten, werden dazu führen, für die kommenden Generationen steht "Auschwitz global" auf der Tagesordnung. Die Züge fahren in einen vermutlich Jahrhunderte langen Alptraum. Rudolf Bahro wollte ein Pfeiler am anderen Ufer sein. Er war noch nicht stützfest, aber ein Symbol, ein Aufruf zum Weiterdenken, das war er schon, und er könnte es auch bleiben. Seine Themen sind zu geschichtsmächtig.
Daß fünf Jahre nach Bahros Tod eine solch umfangreiche Biographie erscheint, damit war nicht unbedingt zu rechnen. Das ist schon eine angenehme Überraschung. Ein Blick auf die Liste der Interviewpartner/innen und die verwendete Literatur zeigt sehr schnell, es wurde sehr intensiv Bahros Leben durchforstet. Viele Materialien steuerten auch Freunde bei. Die Biographen zeigen vielfach schonungslose Ausschnitte aus dem Leben des privaten Rudolf Bahro. Halbwegs bewerten, wie genau diese sind, können letztlich nur diejenigen, die in den jeweiligen Situationen ihn begleitet haben.
Ganz wenige Daten sind noch mal zu prüfen. Wegen der Chemotherapie setzt er im Sommer- und Wintersemester 1995/96 die Vorlesungen in Berlin aus. Im April 1996 nimmt er die Vorlesungstätigkeit wieder auf und nicht erst im April 1997. Im Kapitel über die Vorlesungen steht es falsch, an anderer Stelle richtig.
Andrej Bahro urteilt über die Biographie, sie sei in einem überkorrekten sauberen Stil geschrieben, der so gar nicht passen würde zum wohligen Leben des Vaters. Weiter schätzt er ein, die Biographie wird ihm inhaltlich überwiegend gerecht. Gerade letzteres scheint mir zutreffend zu sein. Gewiß bei dem ein oder anderen Detail könnte man noch mal nachhaken, einige Schemen ließen sich klarer zeichnen. Und die Bücher Bahros muß man überdies selbst lesen.
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"Das Rad der Geschichte ist uns
entglitten" - Leben und Werk eines Dissidenten — Biographie über Rudolf Bahro
erschienen