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Die Wissenschaft von Geist und Ordnung

Einführung / Bateson-1972

Dieser Aufsatz wurde im Jahr 1971 geschrieben und in der englischen Originalausgabe dieses Buchs zum ersten Mal veröffentlicht.

 

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Der Titel dieses Buchs mit gesammelten Aufsätzen und Vorlesungen soll eine genaue Vorstellung von seinem Inhalt vermitteln. Die über fünfunddreißig Jahre verstreuten Aufsätze zeigen in ihrer Gesamtheit einen neuen Weg auf, über Ideen, und diejenigen Aggregate von Ideen nachzudenken, die ich mit dem Begriff »Geist« bezeichne. Diese Denkweise nenne ich die »Ökologie des Geistes« oder die Ökologie der Ideen. Es handelt sich um eine Wissenschaft, die bislang noch nicht als ein organisierter Fundus von Theorien oder Erkenntnissen existiert.

Aber die Definition einer »Idee«, die die Aufsätze gemeinsam leisten wollen, ist viel weiter und formaler, als üblicherweise angenommen wird. Die Aufsätze müssen für sich selbst sprechen, aber ich möchte doch gleich hier am Anfang meine Überzeugung ausdrücken, daß Themen wie die bilaterale Symmetrie eines Tieres, die musterförmige Anordnung von Blättern an einer Pflanze, die Eskalation eines Rüstungswettlaufs, die Prozesse des Partnerwerbens, die Natur des Spiels, die Grammatik eines Satzes, das Geheimnis der biologischen Evolution und die zeitgenössischen Krisen in der menschlichen Beziehung zur Umwelt nur im Rahmen einer Ökologie von Ideen verständlich sind, wie ich sie hier vorschlage.

Die in diesem Buch aufgeworfenen Fragen betreffen die Ökologie: Wie findet eine Wechselwirkung zwischen Ideen statt? Gibt es eine Art natürlicher Selektion, die das Überleben einiger Ideen und den Untergang oder den Tod anderer bestimmt? Welche Art der Ökonomie begrenzt die Vielheit von Ideen in einem gegebenen Bereich des Geistes? Welches sind die notwendigen Bedingungen für Stabilität (oder Überleben) eines solchen Systems oder Subsystems?

Einige dieser Fragen werden in den Aufsätzen berührt, aber der Hauptvorstoß des Buches besteht darin, den Weg freizumachen, um solche Fragen sinnvoll stellen zu können.

Erst Ende 1969 wurde mir vollkommen klar, was ich eigentlich gemacht hatte. Mit der Niederschrift der Korzybski-Vorlesung »Form, Substanz und Differenz« fand ich heraus, daß ich bei meiner Arbeit mit primitiven Völkern, Schizophrenie, biologischer Symmetrie und in meiner Abweichung von der herkömmlichen Evolutions- und Lerntheorie eine weit verstreute Menge von Fix- oder Bezugspunkten festgelegt hatte, von denen aus ein neues wissenschaftliches Arbeitsfeld abgegrenzt werden konnte. Diese Fixpunkte habe ich im Titel dieses Buchs als »Schritte« bezeichnet.*

* Der Titel der amerikanischen Originalausgabe lautet »Steps to an Ecology of Mind«. (A. d. Ü.)

Es liegt in der Natur der Sache, daß ein Forscher erst dann weiß, was er untersucht, wenn er es erforscht hat. Er trägt keinen Baedeker in der Tasche, keinen Führer, der ihm sagt, welche Kirchen er besichtigen und in welchen Hotels er wohnen soll. Er verfügt nur über das zweifelhafte Wissen anderer, die den Weg vor ihm gegangen sind. Ohne Zweifel führen tiefere Schichten des Geistes den Wissenschaftler oder Künstler zu Erfahrungen und Gedanken, die irgendwie für seine Probleme relevant sind, und diese Führung scheint schon zu wirken, lange bevor der Wissenschaftler irgendeine bewußte Kenntnis seiner Ziele hat. Aber wie das abläuft, wissen wir nicht.

Ich war oft ungeduldig mit Kollegen, die unfähig schienen, zwischen Trivialem und Wichtigem zu unterscheiden. Wenn mich aber Studenten um eine Definition dieses Unterschiedes baten, verschlug es mir die Sprache. Ich habe darauf vage geantwortet, daß jedes Studium, das Licht auf die Natur von »Ordnung« oder »Muster« im Universum wirft, mit Sicherheit nicht trivial sei.

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Aber diese Antwort drückt sich nur vor der Frage. Früher unterrichtete ich einen freiwilligen Kursus für Angehörige der Psychiatrie im Veterans Administration Hospital in Palo Alto und versuchte, sie zum Nachdenken über die in diesen Aufsätzen dargestellten Gedanken anzuregen. Sie hörten dem, was ich sagte, aufmerksam und mit großem Interesse zu, aber jedes Jahr kam nach drei oder vier Sitzungen die Frage auf:

»Worüber geht dieser Kurs denn eigentlich?« Ich versuchte, diese Frage auf verschiedenste Art und Weise zu beantworten. Einmal stellte ich eine Art Katechismus zusammen und bot ihn der Klasse als eine Zusammenstellung der Fragen an, die sie nach Abschluß des Kurses diskutieren können sollten. Die Fragen reichten von »Was ist ein Sakrament?« über »Was ist Entropie?« bis »Was ist Spiel?*

Als didaktisches Manöver war mein Katechismus ein Fehlschlag: Er brachte die Klasse zum Schweigen. Aber eine Frage darin war nützlich:

Eine bestimmte Mutter belohnt ihren kleinen Sohn gewöhnlich mit Eiskrem, wenn er seinen Spinat gegessen hat. Welche zusätzlichen Informationen würden Sie brauchen, um voraussagen zu können, ob sich bei dem Kind folgende Entwicklung einstellen wird; a. Es wird schließlich Spinat lieben oder hassen; b. Eiskrem lieben oder hassen oder c. die Mutter lieben oder hassen?

Wir widmeten der Erforschung der vielen Verästelungen dieser Frage eine oder zwei Unterrichtsstunden, und dabei wurde klar, daß sie alle zusätzliche Informationen über den Kontext für das Verhalten der Mutter und des Sohnes brauchten. In der Tat definierten das Phänomen des Kontexts und das eng damit verbundene Phänomen der >Bedeutung< eine Unterscheidung zwischen den »harten« Wissenschaften und der Art von Wissenschaft, die ich aufzubauen versuchte.

Nach und nach entdeckte ich, daß die Schwierigkeit, der Klasse zu sagen, worum es in dem Kurs ging, darin lag, daß ich anders dachte als sie. Ein Hinweis auf diese Differenz kam von einem der Studenten. Es war die erste Sitzung der Klasse, und ich hatte über die kulturellen Unterschiede zwischen England und Amerika gesprochen - ein Thema, das immer angesprochen werden sollte, wenn ein Engländer bei Amerikanern über Kultur­anthro­pologie unterrichten muß. Am Ende der Sitzung kam einer der Teilnehmer zu mir.

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Er versicherte sich mit einem Blick über die Schulter, daß die anderen gegangen waren, und sagte dann ziemlich zögernd: »Ich möchte eine Frage stellen.« »Bitte.« »Es geht darum - wollen Sie, daß wir lernen, was Sie uns vortragen?« Ich zögerte einen Augenblick, aber er fuhr schnell fort: »Oder ist es alles eine Art Beispiel, eine Veranschaulichung von etwas anderem?« »Ja, in der Tat!« Aber ein Beispiel für was?

Und fast jedes Jahr kam so etwas auf wie eine Klage, die gewöhnlich in Form eines Gerüchts bis zu mir drang. Es wurde vorgebracht, daß »Bateson etwas weiß, das er uns nicht sagt«, oder »Hinter dem, was Bateson sagt, steckt etwas, aber er verrät nie, was es ist.«

Natürlich beantwortete ich nicht die Frage, »ein Beispiel für was?«

Verzweifelt errichtete ich ein Diagramm, um zu beschreiben, was ich für die Aufgabe des Wissenschaftlers hielt. Bei der Verwendung dieses Diagramms wurde klar, daß ein Unterschied zwischen meinen Denkgewohnheiten und denen meiner Studenten aus der Tatsache folgte, daß sie geübt waren, induktiv von Daten zu Hypothesen hin zu denken und zu argumentieren, aber nicht darin, Hypothesen an Erkenntnissen zu messen, die deduktiv von den Grundlagen der Wissenschaft oder der Philosophie abgeleitet waren.

Das Diagramm hatte drei Spalten. Auf der linken Seite führte ich die verschiedenen Arten von uninter­pretierten Daten auf, wie einen Filmbericht von menschlichem oder tierischem Verhalten, eine Versuchs­beschreibung, eine Beschreibung oder Photographie von einem Käferbein oder eine aufgenommene menschliche Äußerung. Ich betonte die Tatsache, daß »Daten« nicht Ereignisse oder Objekte sind, sondern stets Berichte, Beschreibungen oder Erinnerungen von Ereignissen oder Objekten. Es findet immer eine Transformation oder Neucodierung des nackten Ereignisses statt, die zwischen den Wissenschaftler und seinen Gegenstand tritt. Das Gewicht eines Gegenstandes wird mit dem eines anderen verglichen oder auf einem Maßstab eingetragen.

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Die menschliche Stimme wird in eine Bandaufnahme transformiert. Zudem kommt es immer und unausweichlich zu einer Selektion der Daten, weil nicht das gesamte vergangene und gegenwärtige Universum Untersuchungsgegenstand vom Standpunkt eines beliebigen Beobachters aus ist.

Streng genommen sind daher überhaupt keine Daten wirklich »nackt«, und jeder Bericht ist irgendwie durch seine Abfassung und durch Transformation entweder durch einen Menschen oder durch seine Instrumente verändert worden.

Dennoch sind aber die Daten die verläßlichste Informationsquelle, und von ihnen muß der Wissenschaftler ausgehen. Sie liefern ihm die erste Inspiration, und zu ihnen muß er später zurückkehren.

In der mittleren Spalte führte ich eine Anzahl unvollständig definierter Erklärungsbegriffe auf, die man gewöhnlich in der Verhaltensforschung verwendet »Ego«, »Angst«, »Instinkt«, »Absicht«, »Geist«, »Selbst«, »festgelegtes Handlungsmuster«, »Intelligenz«, »Dummheit«, »Reife« und so weiter. Der Höflichkeit zuliebe bezeichne ich diese als »heuristische« Begriffe; in Wahrheit sind die meisten von ihnen so locker abgeleitet und so irrelevant füreinander, daß sie sich zu einer Art begrifflichem Nebel vermischen, der viel dazu beiträgt, den wissenschaftlichen Fortschritt zu hemmen.

In der rechten Spalte listete ich die von mir so genannten »Grundlagen« auf. Diese zerfallen in zwei Arten: Aussagen und Aussagensysteme, die Gemeinplätze sind, und Aussagen oder »Gesetze«, die allgemein wahr sind. Zu den Gemeinplätzen wählte ich die »ewigen Wahrheiten« der Mathematik, bei denen die Wahrheit tautologisch auf die Gebiete beschränkt ist, in denen die von Menschen gemachten Mengen von Axiomen und Definitionen gelten: »Wenn Zahlen angemessen definiert sind, und wenn die Operation der Addition angemessen definiert ist, dann: 5+7=12.«

Zu den Aussagen, die ich als wissenschaftlich oder allgemein und empirisch wahr bezeichnete, zählte ich die Gesetze von der Erhaltung der Masse und der Energie, den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik usw.

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Aber die Linie zwischen tautologischen Wahrheiten und empirischen Verallgemeinerungen ist nicht genau definierbar, und unter den »Grundlagen« finden sich viele Aussagen, deren Wahrheit kein vernünftiger Mensch bezweifeln kann, die sich aber nicht so einfach unter empirisch oder tautologisch einordnen lassen. Die »Gesetze« der Wahrscheinlichkeit lassen sich nicht so formulieren, daß man sie zwar versteht, aber nicht glaubt; es ist jedoch nicht leicht zu entscheiden, ob sie empirisch oder tautologisch sind, und das gilt auch für Shannons Theoreme in der Informationstheorie.

Mit Hilfe eines solchen Diagramms läßt sich vieles über die ganze wissenschaftliche Anstrengung und über die Stellung und Richtung jeder einzelnen Untersuchung darin sagen. »Erklärung« ist die Einteilung von Daten nach Grundlagen, aber das höchste Ziel der Wissenschaft ist die Vermehrung grundlegenden Wissens.

Viele Forscher, besonders in den Verhaltenswissenschaften, scheinen zu glauben, daß wissenschaftliches Vorgehen an erster Stelle induktiv erfolgt und induktiv erfolgen sollte. Im Sinne des Diagramms glauben sie, daß sich der Fortschritt aus dem Studium der »nackten« Daten ergibt, das zu neuen heuristischen Begriffen führt. Die heuristischen Begriffe müssen dann als Arbeitshypothesen betrachtet und an weiteren Daten gemessen werden. Allmählich, so hofft man, werden die heuristischen Begriffe berichtigt und verbessert, bis sie es schließlich wert sind, einen Platz in der Liste der Grundlagen einzunehmen. Etwa fünfzig Jahre Arbeit, an der Tausende von klugen Köpfen beteiligt waren, haben in der Tat eine reiche Ernte von einigen hundert heuristischen Begriffen abgeworfen, aber leider kaum ein einziges Prinzip, das einen Platz in der Liste der Grundlagen verdient hätte.

Es ist nur allzu klar, daß die überragende Mehrheit von Begriffen der zeitgenössischen Psychologie, Psychiatrie, Anthropologie, Soziologie und Ökonomie vom Netzwerk wissenschaftlicher Grundlagen total losgelöst ist.

Molière beschrieb vor langer Zeit ein mündliches Doktorexamen, bei dem die gelehrten Doktoren nach »Ursache und Grund« fragen, warum Opium die Menschen in Schlaf versinken läßt. Der Kandidat antwortet triumphierend im Küchenlatein: »Weil eine einschläfernde Kraft darin wirkt (vis dormitiva).«

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Normalerweise steht der Wissenschaftler einem komplexen Interaktionssystem gegenüber in diesem Fall einer Wechselwirkung von Mensch und Opium. Er beobachtet eine Veränderung in dem System der Mensch schläft ein. Der Wissenschaftler erklärt dann die Veränderung, indem er der fiktiven Ursache einen Namen gibt, die in dem einen oder anderen Bestandteil des Interaktionssystems angelegt ist. Entweder das Opium enthält ein verdinglichtes einschläferndes Prinzip, oder bei dem Menschen besteht ein verdinglichtes Schlafbedürfnis, eine Adormitosis, die in seiner Reaktion auf Opium »zum Ausdruck kommt«.

Und normalerweise sind alle Hypothesen dieser Art »einschläfernd« in dem Sinne, daß sie die kritische Instanz (eine weitere verdinglichte fiktive Ursache) innerhalb des Wissenschaftlers selbst zum Einschlafen bringen.

Der Geisteszustand oder Denkhabitus, der von Daten zur Einschläferungshypothese und zurück zu den Daten führt, verstärkt sich selbst. Alle Wissenschaftler legen großen Wert auf Voraussage, und es ist ja auch etwas Schönes, Phänomene voraussagen zu können. Aber Voraussage ist ein ziemlich dürftiger Maßstab für die Überprüfung einer Hypothese, und das gilt ganz besonders für »einschläfernde Hypothesen«. Wenn wir behaupten, daß im Opium ein einschläferndes Prinzip wirkt, dann können wir ein ganzes Leben damit verbringen, die Charakteristika dieses Prinzips zu studieren. Ist es hitzebeständig? In welcher Fraktionierung eines Destillats ist es lokalisiert? Was ist seine Molekülstruktur? Und so weiter. Viele dieser Fragen werden sich im Laboratorium klären lassen und zu abgeleiteten Hypothesen weiterführen, die nicht weniger »einschläfernd« sind als diejenige, von der wir ausgingen.

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In der Tat ist die Vervielfältigung von einschläfernden Hypothesen ein Symptom für die übertriebene Vorliebe für Induktion, und diese Vorliebe muß immer zu etwas wie dem gegenwärtigen Zustand der Verhaltens­wissen­schaften führen einer Menge quasitheoretischer Spekulation, die in keinem Zusammenhang mit irgendeinem Kern grundlegenden Wissens steht. Im Kontrast hierzu versuche ich, Studenten beizubringen und diese Aufsatz­sammlung hat sehr viel mit der Vermittlung dieser These zu tun , daß man in der wissenschaftlichen Forschung zwei Ausgangspunkte hat, von denen jeder seine eigene Autorität entfaltet: die Beobachtungen können nicht geleugnet werden, und die Grundlagen müssen ihnen angepaßt werden. Man muß so etwas ähnliches wie eine Zangenbewegung vollführen.

Wenn man ein Stück Land beobachtet oder die Sterne einteilt, hat man es mit zwei Wissensquellen zu tun, von denen keine außer acht gelassen werden darf: Einerseits die eigenen empirischen Messungen und andererseits die euklidische Geometrie. Wenn es nicht gelingt, die beiden aufeinander abzustimmen, dann sind entweder die Daten falsch oder man hat falsch argumentiert, oder man hat eine große Entdeckung gemacht, die zu einer Revision der gesamten Geometrie führt.

Der Möchtegern-Verhaltenswissenschaftler, der nichts über die Grundstruktur der Wissenschaft und über die 3000 Jahre sorgfältigen philosophischen und humanistischen Nachdenkens über den Menschen weiß — der weder Entropie noch Sakrament definieren kann —, sollte sich besser zurückhalten, als dem bestehenden Dschungel von unausgegorenen Hypothesen noch eine weitere hinzuzufügen.

Aber der Graben zwischen dem Heuristischen und dem Grundlegenden verdankt sich nicht allein dem Empirismus und der induktiven Denkgewohnheit, auch nicht den Verführungen schneller Anwendbarkeit und des falschen Erziehungs­systems, das professionelle Wissenschaftler aus Menschen macht, die sich wenig für die Grundstruktur der Wissenschaft interessieren. Er kommt auch aus dem Umstand, daß ein sehr großer Teil der wissen­schaftlichen Grundstruktur des neunzehnten Jahrhunderts unangemessen oder irrelevant für die Probleme und Phänomene war, mit denen es Biologen und Verhaltenswissenschaftler zu tun hatten.

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Mindestens 200 Jahre lang, sagen wir von der Zeit Newtons bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts, bestand die Hauptbeschäftigung der Wissenschaft darin, diejenigen Kausalketten aufzuzeigen, die auf Kräfte und Einflüsse zurückgeführt werden konnten. Die Newton zur Verfügung stehende Mathematik war überwiegend quantitativ, und diese Tatsache, zusammen mit der Betonung von Kräften und Einflüssen, veranlaßte die Menschen dazu, mit erstaunlicher Genauigkeit Quantitäten der Entfernung, der Zeit, der Materie und der Energie zu messen. Da die Messungen des Beobachters mit der euklidischen Geometrie übereinstimmen müssen, mußte auch das wissenschaftliche Denken mit den großen Gesetzen der Erhaltung konform gehen. Die Beschreibung irgendeines Ereignisses, das ein Physiker oder Chemiker untersuchte, mußte auf die Vorräte von Masse und Energie gestützt werden, und diese Regel gab dem ganzen Denken in den Naturwissenschaften eine besondere Strenge.

Die frühen Pioniere der Verhaltensforschung nahmen, was nicht verwunderlich ist, ihre Beobachtung des Verhaltens mit dem Wunsch auf, eine ähnlich strenge Grundlage als Kontrolle für ihre Spekulationen zu erhalten. Länge und Masse waren Begriffe, die sie bei der Beschreibung des Verhaltens kaum verwenden konnten (was immer das sein mochte), Energie aber schien handlicher zu sein. Es war verlockend, »Energie« auf schon bestehende Metaphern wie »Stärke« der Gefühle oder des Charakters oder »Strenge« zu beziehen; oder Energie irgendwie als Gegensatz zu »Ermüdung« oder »Apathie« aufzufassen. Der Stoffwechsel unterliegt einem Energiehaushalt (im Rahmen der strengen Bedeutung von »Energie«), und im Verhalten verbrauchte Energie muß sicher in diesen Haushalt eingeschlossen sein; deshalb schien es klug, Energie als eine Determinante des Verhaltens zu interpretieren.

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Es wäre fruchtbarer gewesen, Energiemangel als Hemmung von Verhalten zu denken, da ein verhungernder Mensch schließlich aufhören wird, sich zu verhalten. Aber selbst das reicht nicht hin: Eine Amöbe, der die Nahrung entzogen wird, wird für eine gewisse Zeit aktiver. Ihr Energieverbrauch steht im umgekehrten Verhältnis zur eingegebenen Energie.

Die Wissenschaftler des neunzehnten Jahrhunderts (besonders Freud), die versuchten, eine Brücke zwischen Verhaltensdaten und den Grundlagen der Physik und der Chemie zu bauen, hatten sicher recht, wenn sie auf der Notwendigkeit einer solchen Brücke insistierten, aber ich glaube, sie hatten unrecht, wenn sie dies mit dem Begriff der »Energie« begründeten.

Sind Masse und Länge für die Beschreibung des Verhaltens unangemessen, dann ist Energie aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht geeigneter. Energie ist Masse x Geschwindigkeit2), und kein Verhaltenswissenschaftler besteht wirklich darauf, daß diese Dimensionen auf »psychische Energie« anwendbar sind. Es ist daher notwendig, sich nochmals unter den Grundlagen nach einer geeigneten Menge von Ideen umzuschauen, an denen wir unsere heuristischen Hypothesen messen können.

Einige werden aber dagegen halten, daß die Zeit dafür noch nicht reif ist; daß mit Sicherheit alle Grundlagen der Wissenschaft durch induktives Vorgehen von der Erfahrung aus erreicht wurden, so daß wir fortfahren sollten, Induktion zu betreiben, bis wir eine grundlegende Antwort erhalten.

Ich glaube, es ist einfach nicht wahr, daß die Grundlagen der Wissenschaft mit der auf Erfahrung basierenden Induktion anfingen, und ich vermute, daß wir bei der Suche nach einem Brückenkopf unter den Grundlagen zu den ersten Anfängen des wissenschaftlichen und philosophischen Denkens zurückgehen sollten; und sicher zurück bis zu einer Zeit, da Wissenschaft, Philosophie und Religion noch nicht getrennte Aktivitäten waren, die jede für sich von Profis in getrennten Disziplinen betrieben wurden.

Man denke zum Beispiel an den zentralen Ursprungsmythos der jüdisch-christlichen Völker. Welches sind die grundlegenden philosophischen und wissenschaftlichen Probleme, um die es in diesem Mythos geht?

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Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer,
und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.

Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, daß das
Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das
Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.

Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, die da scheide
zwischen den Wassern. Da machte Gott die Feste und schied das Wasser unter
der Feste von dem Wasser über der Feste. Und es geschah so. Und Gott nannte
die Feste Himmel. Da ward aus Abend und Morgen der zweite Tag.

Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere
Orte, daß man das Trockene sehe. Und es geschah so. Und Gott nannte das
Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer. Und Gott sah,
daß es gut war.
Luther-Übersetzung

 

Aus diesen ersten zehn Versen gewaltiger Prosa können wir einige der Prämissen oder Grundlagen des antiken chaldäischen Denkens entnehmen, und es ist erstaunlich, fast gespenstisch, festzustellen, wieviele der Grundlagen und Probleme der modernen Wissenschaft in dem antiken Dokument angedeutet sind.

(1) Das Problem des Ursprungs und der Natur der Materie wird vollständig ausgelassen.

(2) Die Passage befaßt sich ausführlich mit dem Problem des Ursprungs von Ordnung.

(3) So wird eine Trennung der beiden Arten von Problemen vollzogen. Möglicherweise war diese Trennung von Problemen ein Irrtum, aber - Irrtum oder nicht - die Trennung wird in den Grundlagen der modernen Wissenschaft beibehalten. Die Gesetze der Erhaltung von Materie und Energie bleiben weiterhin getrennt von den Gesetzen der Ordnung, der negativen Entropie und der Information.

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(4) Ordnung wird als eine Sache des Aussortierens und des Teilens gesehen. Aber der wesentliche Begriff bei allem Aussortieren ist, daß jeder Unterschied später einen anderen Unterschied verursachen soll. Wenn wir schwarze Bälle aus weißen aussortieren oder kleine aus großen, soll dem Unterschied zwischen den Bällen ein solcher in ihrer Lokalisierung folgen die Bälle der einen Klasse in einen Sack, die der anderen in einen anderen. Für eine solche Operation brauchen wir etwas wie ein Sieb, eine Schwelle oder, par excellence, ein Sinnesorgan. Es ist daher verständlich, daß ein wahrnehmendes Einzelwesen erfunden wurde, um diese Funktion auszuüben, eine ansonsten unwahrscheinliche Ordnung zu schaffen.

(5) Eng verknüpft mit dem Sortieren und Teilen ist das Geheimnis der Klassifizierung, dem später unter den außergewöhnlichen menschlichen Leistungen das Benennen folgt.

Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, daß die verschiedenen Komponenten dieses Mythos alle aus dem auf Erfahrung beruhenden induktiven Denken folgen sollen. Und die Sache wird noch komplizierter, wenn dieser Ursprungsmythos mit anderen verglichen wird, die abweichende Grundprämissen verkörpern.

Bei den Iatmul in Neu Guinea handelt der zentrale Ursprungsmythos, wie die Schöpfungsgeschichte, von der Frage, wie das trockene Festland vom Wasser geschieden wurde. Sie sagen, daß das Krokodil Kavwokmali am Anfang mit den Vorderbeinen und mit den Hinterbeinen paddelte; und dieses Paddeln führte dazu, daß der Schlamm mit dem Wasser vermischt blieb. Der große Kulturheld, Kevembuangga, kam mit seinem Speer und tötete Kavwokmali. Danach setzte sich der Schlamm, und das Festland bildete sich heraus. Kevembuangga setzte dann seinen Fuß auf das Festland, d.h. er demonstrierte stolz, »daß es gut war«.

Dieser Fall erlaubt es eher, den Mythos von der Erfahrung verbunden mit induktivem Denken abzuleiten. Schließlich bleibt Schlamm vermischt, wenn er wahllos aufgerührt wird, und setzt sich, wenn das Rühren aufhört. Überdies leben die latmul in den riesigen Sümpfen des Sepik-River-Tals, wo die Abgrenzung des Landes vom Wasser unvollkommen ist. Es ist verständlich, daß sie an der Unterscheidung von Land und Wasser interessiert sind.

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Jedenfalls sind die Iatmul zu einer Theorie der Ordnung gelangt, die im fast genauen Gegensatz zu der im Buch der Genesis steht. Im Denken der Iatmul taucht das Sortieren auf, sobald Zufälligkeiten vermieden werden. In der Schöpfungsgeschichte wird ein Vermittler erfunden, der das Sortieren und Teilen besorgt. Aber beide Kulturen nehmen gleichermaßen eine grundlegende Trennung zwischen den Problemen der materiellen Schöpfung und den Problemen von Ordnung und Differenzierung vor.

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Wenn wir nun zu der Frage zurückkehren, ob die Grundlagen der Wissenschaft und/oder Philosophie auf der primitiven Stufe durch induktives Denken auf der Basis von Erfahrung erreicht wurden, merken wir, daß die Antwort nicht leicht ist. Es ist schwierig zu erkennen, wie die Dichotomie von Substanz und Form durch induktive Argumentation herausgefunden werden konnte. Denn kein Mensch hat jemals formlose und unsortierte Materie gesehen oder erfahren; wie auch kein Mensch jemals ein »zufälliges« Ereignis gesehen oder erfahren hat. Wenn also die Vorstellung eines »wüsten und leeren« Universums durch Induktion erreicht wurde, dann geschah dies aufgrund eines ungeheuren - und vielleicht irrtümlichen - Sprungs der Extrapolation.

Und genauso ist nicht klar, ob der Ausgangspunkt, von dem die primitiven Philosophen abhoben, Beobachtung war. Es ist zumindest genauso wahrscheinlich, daß die Dichotomie von Form und Substanz eine unbewußte Ableitung aus der Relation zwischen Subjekt und Prädikat in der Struktur der primitiven Sprache war. Dies jedoch ist eine Sache, die jenseits sinnvoller Spekulation liegt.

Sei dem wie es wolle, das zentrale - aber meistens nicht explizite - Thema der Vorlesungen, die ich vor den Angehörigen der Psychiatrie hielt, und dieser Aufsätze ist die Brücke zwischen Verhaltensdaten und den Grundlagen von Wissenschaft und Philosophie; und meine oben gemachten kritischen Anmerkungen über die metaphorische Verwendung von »Energie« in den Verhaltenswissenschaften vereinigen sich zu einem ziemlich einfachen Vorwurf gegenüber vielen meiner Kollegen, daß sie versucht haben, die Brücke zu der falschen Hälfte der antiken Dichotomie von Form und Substanz zu schlagen.

Die Gesetze der Erhaltung von Materie und Energie betreffen eher Substanz als Form. Aber geistige Prozesse, Ideen, Kommunikation, Organisation, Differenzierung, Muster und so weiter haben es eher mit Form als mit Substanz zu tun.

Innerhalb des Fundus von Grundlagen wurde die Hälfte, die sich auf Form bezieht, in den letzten dreißig Jahren dramatisch angereichert durch die Entdeckung der Kybernetik und der Systemtheorie.

Dieses Buch will eine Brücke schlagen zwischen den Tatsachen des Lebens, dem Verhalten und dem, was wir heute über die Natur des Musters und der Ordnung wissen.

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