1. Das Leben riskieren — das Leben gewinnen
Bauriedl-1988
Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden. / Bibel, Matthäus 16,25
Und setzet ihr nicht das Leben ein; Nie wird euch das Leben gewonnen sein. / Schiller, »Wallensteins Lager«
Der Gewinn im Verlust
19-48
Ohne Risiko keine Chance, das scheinen diese beiden Zitate auszusagen. Und doch ist die Rechnung Risiko = Chance nicht so einfach, wie sie hier zu sein scheint. Schillers Worte aus »Wallensteins Lager« verherrlichen das Soldatenleben und den Krieg in einer Situation, in der den Soldaten der Frieden und damit der Verlust ihrer Macht über die Bauern droht. Jesus meint mit seinen Worten, daß das ewige Leben nur durch Verzicht auf das zeitliche, das »fleischliche« Leben zu gewinnen sei. Er fährt an der zitierten Stelle fort: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« (Matthäus 16, 26).
In unserer heutigen Situation können wir weder die militärische Macht, die Zivilbevölkerung zu berauben und zu ermorden, noch ein Versprechen auf das ewige Leben als einen Gewinn ansehen, für den es lohnt, das Leben zu riskieren beziehungsweise auf Triebbedürfnisse zu verzichten.
Für uns geht es ums Überleben schlechthin, das nicht mehr durch militärische oder moralische Überlegenheit gesichert werden kann. Und doch scheint mir der Buchtitel <Das Leben riskieren> gerade in seiner Doppeldeutigkeit das auszudrücken, worum es in unserer Zeit geht: um die Vermeidung oder Nichtvermeidung der Angst vor dem Tod und der Angst vor dem Leben.
Das Leben ist nicht ohne den Tod zu haben. Lebendigsein kann man nicht ohne die Wahrnehmung von Gefährdung und Tod. Jeder Versuch, durch Verdrängung von Angst und Gefahr eine künstliche Lebendigkeit zu erzeugen, bringt eine psychische »Totenstarre« bei lebendigem Leibe mit sich und macht es dem derart »lebendigen« Menschen unmöglich, sich für sein Leben und für das seiner Nachkommen einzusetzen. Andererseits können wir besser mit unserem Leben, mit der derzeit so großen Gefährdung unseres Lebens und mit der Gewißheit unseres persönlichen Todes umgehen, wenn wir uns auf unser Leben einlassen, wenn wir es wagen, die Angst und auch die Lust zu erleben, die zu diesem Leben gehören.
Im Gegensatz zur traditionellen Lehre der christlichen Kirchen, nach der der Leib sterben muß, damit der Geist oder die Seele leben kann, wird uns heute klar, daß Leib und Seele lebendig sein müssen, wenn wir fähig sein wollen, unser Leben und die Lebensbedingungen der ganzen Menschheit zu erhalten. Leib und Seele bilden kein Gegensatzpaar mehr, bei dem nur einer von beiden, entweder der Leib oder die Seele, auf Kosten des anderen überleben kann. Das schließt jede moralische Haltung, die Forderung, Triebbedürfnisse zugunsten des »ewigen Lebens«, oder persönliche Bedürfnisse zugunsten des Gemeinwohls zu unterdrücken, aus. Auch eine idealistische Trennung und Bewertung des »Seins« gegenüber dem »Haben«, wie Erich Fromm1) sie propagierte, scheint mir nicht mehr in unser »Neues Denken« zu passen.
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Der Verzicht, um den es heute um des gemeinsamen Überlebens willen geht, ist der Verzicht auf Ersatzbefriedigung: Es geht darum, die Erfüllung originärer Lebensbedürfnisse einzufordern. Zu lange haben wir die (Trieb-) Bedürfnisse des Menschen für böse oder doch für die Gemeinschaft schädigend gehalten. Das brachte die Forderung nach Triebverzicht als kultureller Leistung mit sich. Wir verwechselten wie unsere Vorfahren Lebenswünsche mit Ersatzwünschen, das Bedürfnis, mit dem anderen zu leben, mit dem Bedürfnis, gegen den anderen zu leben.
Das heißt nicht, daß ich behaupte, der Mensch sei »eigentlich gut« im Gegensatz zur und in Umkehrung der These, daß der Mensch eigentlich böse sei und deshalb gezähmt werden müsse. Die Kategorien »Gut« und »Böse« genügen für unsere Problematik nicht mehr. Für uns gilt es zu unterscheiden, ob und wieweit der einzelne Mensch und die Gemeinschaft der Menschen ihr Leben riskieren, im Sinne der Zerstörung von Leben, oder ob sie ihr Leben riskieren, im Sinne der Erhaltung des Lebens. Von diesen beiden Möglichkeiten, die so nahe beieinanderliegen, daß sie mit denselben Worten ausgedrückt werden können (»Das Leben riskieren«), handelt dieses Buch.
Um jedem Verdacht des Idealismus und der Naivität zuvorzukommen, möchte ich deutlich machen, daß ich sehr wohl sehe, wie schwierig es ist, das Leben zu riskieren im Sinne des Erhaltens von eigenem und fremdem Leben. Natürlich leben wir alle in einer sozialen Umwelt, in der eher der (kollektive) Tod als das Leben riskiert wird, weil wir mehr oder weniger unbewußt versuchen, der Angst vor dem persönlichen und vor dem kollektiven Tod durch ein »Ersatzleben« zu entkommen, in dem der Tod scheinbar nicht vorkommt. Der Ausstieg aus diesem Ersatzleben macht den Blick auf den Tod wieder frei, und das macht Angst, nicht nur Lust.
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Die Lust am Leben und die Lust am Ersatzleben ist kaum mehr voneinander zu unterscheiden, da sogar die sexuelle Lust individuell und kollektiv zur Ersatzbefriedigung, zur Abwehr von Angst verwendet und kommerzialisiert wird. Für manche Leser mag es deshalb doch den Anschein von Naivität haben, wenn ich mich in diesem Buch auf die Suche nach der originären Lust mache, nach der Lust, die nicht die Angst vor dem Leben und die Angst vor dem Tod verdecken hilft. Angesichts der brutalen, »handfesten« Abwehrformen in unserer Gesellschaft scheint es aussichtslos, ja eine utopische Paradiessuche zu sein, wenn man nach den »gesunden« Anteilen des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft sucht. Und doch bin ich der Meinung, daß man ein unrealistisches Weltbild hat, wenn man nur die Betondecke sieht und nicht die Grashalme oder Graswurzeln, die sie bedeckt.
Für jeden von uns stellt sich in jedem Moment die Frage, ob er mit der Sicherheit und Zufriedenheit durch »Beton« leben oder ob er sich auf die Sicherheit und Zufriedenheit des »Grases« verlassen will, das immer noch, wenn auch sehr kümmerlich, unter dem »Beton« lebt. Zum Glück steht nach unserem heutigen Weltbild das Realitätsprinzip dem Lustprinzip nicht mehr entgegen. Die noch Freuds Theorie weitgehend bestimmende Vorstellung aus dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, daß das Lustprinzip durch die Anpassung an die Realität — im Sinne der Einschränkung von Lust — aufgegeben werden müsse, scheint sich aufzulösen. Wir sehen jetzt, daß der Verzicht auf Lebendigkeit eben nicht ein besseres und sichereres Leben garantiert. Jeder Verzicht auf Lebendigkeit, im Bild die Totenstarre bei lebendigem Leib oder der Beton über dem Gras, bringt weniger Sicherheit und hat auch mit größerer Realitätsbezogenheit nichts zu tun.
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Dem Realitätsprinzip zu folgen bedeutet heute, die eigenen und die fremden Bedürfnisse (die Lebensbedürfnisse des »Grases«) wahrzunehmen. Aber zur Realität gehören auch die eigene und die fremde Angst vor diesen Bedürfnissen und die daraus folgenden Versuche, entweder die Bedürfnisse oder die Angst oder beides zu verdrängen und Ersatzbedürfnisse (»Beton«) durchzusetzen. Ein solche realistische Wahrnehmung der eigenen Person und der Beziehungen, in denen man steht, führt unweigerlich in Konflikte. Hier wird deutlich, daß es sich bei diesem »Neuen Denken« nicht um einen naiven Pazifismus handelt, sondern um eine sehr bewußte Form der Auseinandersetzung, die allerdings Krieg und Zerstörung zu vermeiden versucht. Die neue Perspektive, die immer schon als ein wesentliches Element im psychoanalytischen Denken enthalten war, besteht darin, daß die Wahrnehmung und der Ausdruck eigener Lebensbedürfnisse und das Durchstehen der daraus sich ergebenden psychosozialen Konflikte nicht zur Zerstörung des anderen führen, sondern zur Verbesserung der Beziehungen und damit zur Verbesserung der Lebensbedingungen jedes einzelnen.
Der Verzicht, um den es heute geht, ist der Verzicht auf den <Beton>. Wir haben uns so sehr an die »Sicherheit durch Beton« gewöhnt, daß wir unsere Unzufriedenheit mit dem »Beton« vor allem in unseren sozialen Beziehungen nur sehr langsam entdecken. Zudem ist die Angst vor dem Verlust der »Betonsicherheit» so groß, daß wir uns im Konfliktfall doch lieber schnell wieder »einbetonieren« und es nicht riskieren, als »Gras« unter den harten Schritten des anderen zu leiden. Das kann ja im Einzelfall auch sehr realitätsbezogen sein. Es scheint mir nur wichtig, immer auch zu verstehen, daß unsere Angst und das »Uns-Einbetonieren« nicht nur die Folge der »Betonschritte« des oder der anderen sind, sondern auch die Folge unserer eigenen Angst und unserer persönlichen Art, uns in Sicherheit zu bringen.
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Keine Moral wird uns dazu veranlassen können, auf die »Betonsicherheit« zu verzichten, wenn wir in diesem Verzicht nicht gleichzeitig den Gewinn zunehmender Lebendigkeit, Zufriedenheit und letztlich auch echter Sicherheit sehen können. Askese ist zumeist nur eine veränderte Form von »Beton«, die dem Asketen die Ersatzbefriedigung moralischer Überlegenheit bringt und der Umwelt ein schlechtes Gewissen macht.
Der Gewinn beim Verlust der »Betonsicherheit« ist Genuß, nicht Askese. Wie echte sexuelle Befriedigung kann solcher Genuß weder vorgeschrieben noch geplant werden. Er ist auch ohne Verunsicherung nicht zu erreichen. »Neues Denken« in diesem Sinne kann nicht verordnet werden, weder von oben noch von unten. Wie das Gras wächst und entwickelt es sich von selbst, wo immer es sich entwickeln kann, und jeder einzelne kann versuchen, ein wenig von dieser Entwicklung für sich selbst aufzugreifen, an der Stelle, an der er sich im gesellschaftlichen Gefüge befindet.
Das Leben läuft ab
Für den einzelnen bedeutet das, daß er sich auf seine reale Abhängigkeit einläßt; er erlebt wieder, daß sein Leben darin besteht, daß es abläuft. Wenn es nicht mehr abläuft, wenn es sich nicht mehr dem Ende nähert, dann ist es nicht mehr. Diese Erkenntnis haben wir zumeist aus unserem Bewußtsein ausgeschlossen.
Wir leben statt dessen auf Ziele hin, auf Erfolg und Leistung, auf eine bessere Zukunft, und wir vergessen gleichzeitig, daß wir jetzt leben, daß jetzt unser Leben abläuft. Trotz aller Bemühungen werden wir nie Herr über das Leben sein. Den Tod können wir machen, das Leben nicht. Das Leben können wir nur unterstützen und fördern oder zerstören.
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In dem Maße, wie wir versuchen, das Leben zu machen bzw. zu kontrollieren, zerstören wir es. Unser Leben und Sterben geschieht, es ereignet sich so, wie es sich ereignet, auch wenn wir meinen, dieses Geschehen durch Nicht-Wahrnehmung verhindern zu können.
In Wirklichkeit leben wir in der ständigen Gefahr nicht nur unseres persönlichen Todes, sondern auch des kollektiven Todes. Aber wir halten es zumeist nicht aus, diese Gefahr als einen Teil unseres Lebens wirklich zu erleben. Wir versuchen, diesem Erleben unseres Gefährdetseins zu entkommen, indem wir unsere (politischen) Gegner verteufeln und uns ihnen gegenüber für ohnmächtig erklären. Manche neuen Religionen bieten auch an, »geistige« Inhalte von der äußeren Realität zu trennen. Solche Nischen für weltfremde Phantasien machen die Konfliktvermeidung ebenso möglich wie die »Religion« der Hochrüstung und des Krieges. Jeder Wahn dient zur Vermeidung von Konflikten und damit auch zur Vermeidung von Realität. Und der Realitätsverlust bringt die Gefährdung mit sich, eben die Gefährdung, deren Nicht-Wahrnehmung wiederum den Realitätsverlust bedingt.
Aus diesem Circulus vitiosus kann man nur aussteigen, wenn man die Illusion aufgibt, auf ein Ziel hinzuleben, eine Leistung erbringen, einen besseren Zustand herstellen zu müssen. Wenn ich mir nicht ständig bessere (Soll-) Zustände vorstelle, die ich erreichen oder herstellen muß, dann merke ich, daß ich jetzt lebe und später sterbe. Wenn man die Leistungsorientierung mit ihren vielfältigen Implikationen fallen läßt, riskiert man das Bewußtsein des Lebens und des Sterbens gleichzeitig.
Man riskiert die Erkenntnis, daß man sich in einem ständigen Veränderungsprozeß befindet. Aber man gewinnt dabei auch die Sicht auf die vielen kleinen Veränderungsschritte, die in jedem Moment möglich sind. Man sieht die Möglichkeit, Schritte, die man gestern nicht getan hat, heute zu tun. Sehr oft ist es heute noch nicht zu spät. Schritte zur Erhaltung des Lebens kann man erst dann nicht mehr tun, wenn man tot ist.
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Natürlich meine ich hier nicht die Erhaltung des biologischen Lebens, sondern die Erhaltung der Lebendigkeit im Gegensatz zur »Totenstarre bei lebendigem Leib«. Und hier nähert sich mein Denken doch wieder dem oben zitierten Jesus-Wort: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« Wenn mit Seele Lebendigkeit gemeint ist und nicht ein Gegensatz zur Leiblichkeit, dann kann ich auch heute noch den revolutionären Gehalt der christlichen Botschaft uneingeschränkt übernehmen.
Wenn ich mich selbst verstehe als einen Menschen, der sich in einem ständigen Prozeß befindet, jederzeit abhängig von den Prozessen und Situationen seiner Umwelt und jederzeit beteiligt an allen Veränderungen und Nichtveränderungen in dieser Welt, dann nehmen in gleichem Maße meine irrealen Größenphantasien ab und auch meine ebenso irrealen Ohnmachtsphantasien. Ich sehe dann nicht nur den Punkt, an dem ich stehe, und nicht nur das Ziel, auf das ich zustrebe; ich sehe den Weg, den ich in meinem Leben zurücklege, den Ablauf meines Lebens. Das ermöglicht mir Rück-Sicht und Vor-Sicht. Denn je mehr ich meine Zeitlichkeit und meine zeitliche Beschränktheit verleugne, desto mehr bin ich von kurzfristigen Ersatzbefriedigungen abhängig, die alle nur auf Kosten von Vorsicht und Rücksicht möglich sind.
Warum aber macht es dann soviel Angst, das Leben zu riskieren? Ist nicht der Gewinn viel größer als der Verlust? Warum müssen wir unser Leben so weitgehend kontrollieren und überwachen und es dadurch zerstören? Warum verlieren wir so viel Kraft im Kampf gegen uns selbst und gegen andere, Kraft, die wir auch für das Leben einsetzen könnten? Oft können wir gar nicht verstehen, daß uns das Leben Angst macht. Wir glauben immer, daß wir nur Angst vor dem Tod haben. Wir glauben, daß alle unsere Anstrengungen und Vermeidungen dazu dienen, Frustrationen zu vermeiden, und können uns nicht vorstellen, daß uns auch Nähe und Lust Angst machen, wenn sie über das Maß dessen hinausgehen, was wir zuzulassen gewöhnt sind.
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Bei der Beantwortung dieser Fragen hilft mir die Vorstellung, daß unsere Angst vor dem Leben immer eine Angst vor dem Leben und vor dem Tod ist, da in Wirklichkeit Leben und Tod nicht voneinander zu trennen sind. Wir trennen aber beides und leben in dem Bewußtsein, daß wir dann glücklich und zufrieden leben, wenn wir erfolgreich gegen alles Negative, gegen Mißerfolg, Frustrationen, Krankheiten, Leiden und in unserer Phantasie auch gegen den Tod zu Felde ziehen. Wir teilen das Leben also in zwei Teile, versuchen davon nur den »guten« Teil zu akzeptieren und den »schlechten« zu vermeiden. Diese Notwendigkeit, zwischen Gutem und Schlechtem zu trennen, beruht auf unserer Angst vor der Überschwemmung durch »Paradieswünsche«. Solche Paradieswünsche sind zum Beispiel der Wunsch nach der totalen Versorgung, nach der totalen Befriedigung oder auch nach der totalen Vereinigung. Doch andererseits macht die Totalität dieser Wünsche auch Angst, denn sie impliziert immer den Verlust der eigenen Grenzen, den Verlust des eigenen Ich.
Zur Abwehr dieser Angst vor den totalen Wünschen beginnen wir zu planen. Und wir planen das Paradies, das uns ungeplant so viel Angst macht. Aber das geplante Paradies ist die Hölle. Anstelle des Lebens, das Befriedigung und Frustration, Sicherheit und Unsicherheit enthält, wollen wir das Paradies und produzieren uns selbst und anderen dadurch die »Hölle«, also genau das, was wir zu vermeiden trachten: die Gefahr, den Krieg, die Unzufriedenheit, die Einsamkeit, den Untergang. Ein Ausstieg aus diesem zweiten Circulus vitiosus scheint mir nur möglich zu sein in dem Bewußtsein, daß das Leben abläuft. In diesem Erleben des Ablaufs sind beide Seiten des Lebens untrennbar miteinander verbunden: die Chance, sich am Leben zu freuen, und das sichere Bewußtsein der ständigen Annäherung an den Tod.
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Die zwei Fragen
Wie sieht das <Neue Denken> in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen aus? Ich habe die Erfahrung gemacht, daß in jeder Beziehung und zu jeder Zeit grundsätzlich zwei einander ausschließende Fragen gestellt werden können. Die erste Frage ist die Frage nach der Macht: »Wer ist stärker?«; die zweite ist die Frage nach dem Leben: »Wie können wir miteinander zufrieden werden?« Diese beiden Fragen kennzeichnen die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. In jeder Beziehung kommen immer beide Fragen vor. Je häufiger und intensiver die erste Frage, die Frage nach der Macht, gestellt wird, desto schlechter, unbefriedigender und gefährlicher ist die Beziehung.
Wird die erste Frage gestellt, dann geht man in diesem Moment in dieser Beziehung davon aus, daß jeder nur gegen den anderen leben oder überleben kann. Es herrschen die Gesetze des Nullsummenspiels: Was der eine bekommt, geht dem anderen verloren. Die Abhängigkeit zwischen den beiden Personen oder Lagern wird nur einseitig gesehen. Wer den anderen unterdrücken und ausbeuten kann, ist der Sieger. Von ihm hängt der andere ab und nicht umgekehrt. Natürlich versucht jeder der beiden, dieser einseitigen Abhängigkeit, die dann Unterlegenheit bedeutet, zu entkommen. Das kann er nach dem Prinzip des Nullsummenspiels nur dadurch, daß er selbst der Stärkere wird und den anderen von sich abhängig macht, ihn seinerseits unterdrückt und ausbeutet.
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Wird die zweite Frage gestellt, dann geht man in diesem Moment in dieser Beziehung davon aus, daß beide nur miteinander leben und überleben können. Die Gesetze des Nullsummenspiels gelten dann nicht. Statt dessen wird die Gegenseitigkeit der Abhängigkeit gesehen: Was gegen dich ist, ist auch gegen mich, was du verlierst, geht auch mir verloren, was ich gewinne, hast auch du gewonnen. Die Sorge für die eigene Sicherheit und Zufriedenheit schließt die Sorge für die Sicherheit und Zufriedenheit des anderen ein. Das mag nach Urchristentum und utopischem Sozialismus klingen. Eine Utopie ist es wohl, aber doch eine Utopie, die stellenweise schon verwirklicht ist oder verwirklicht wird und die prinzipiell auch an anderen Stellen zu verwirklichen wäre.
Die zweite Frage, die Frage nach dem Leben, wird ständig in allen unseren Beziehungen gestellt, wenn auch die Frage nach der Macht zumeist zu überwiegen scheint. Kein Kind könnte überleben, wenn nicht die Mutter wenigstens teilweise in der Beziehung zu ihm die Frage nach dem Leben stellen würde. Keine Partnerbeziehung würde eingegangen, wenn nicht die Partner die Ursehnsucht hätten — und zumindest zu Beginn der Beziehung auch realisieren würden —, die Sehnsucht nach der Frage des Lebens: »Wie können wir miteinander zufrieden werden?«
Und selbst in der sogenannten großen Politik sind immer wieder Stellen zu finden, an denen Politiker versuchen, oder zumindest ihre Sehnsucht danach erkennen lassen, ein wirkliches Miteinander möglich zu machen und — schon aus Gründen der eigenen Psychohygiene — auf das ständige Gegeneinander zu verzichten. Die Tatsache, daß unsere Welt überwiegend von der Machtfrage beherrscht wird, ist kein Beweis dafür, daß die Frage nach dem Leben gar nicht existiert.
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Nun ist die zweite Frage die typische Frage des »Neuen Denkens«, wie es derzeit auch in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow propagiert wird. Ich habe den Eindruck, daß dieses »Neue Denken« gar nicht neu ist. Es existiert als Möglichkeit, seitdem es Menschen gibt. Die Politik, insbesondere die Außenpolitik, hat sich wohl zumeist an der Machtfrage orientiert, weil in den jeweiligen Außenbeziehungen die Konflikte in Form von Bedrohung und Krieg abgehandelt werden, die im Inneren der jeweiligen Gruppe oder des jeweiligen Volkes nicht ausgetragen werden können. Durch die Entwicklung von Waffen, die nicht mehr nur dem Feind gefährlich werden, sondern in fast gleichem Maße der eigenen Bevölkerung schaden, wurde uns auch in der Außenpolitik das »Neue Denken«, die Frage nach dem Leben, quasi aufgedrängt. Um selbst zu überleben, müssen wir uns jetzt um die Überlebenschancen der jeweiligen Gegner sorgen. In der Innenpolitik existieren diese Waffen noch nicht, so kann man dort noch scheinbar ohne Nachteil für den Starken von der Machtfrage ausgehen.
Für die große und die kleine Politik ist es interessant zu verstehen, an welchen Stellen und aus welchem Grund die eine Frage in die andere übergeht, weshalb Beziehungen, die doch grundsätzlich und für beide Teile besser unter der Frage nach dem Miteinander stehen würden, immer wieder zur Machtbeziehung entarten. Im Gegensatz zu der üblichen Meinung, daß der Mensch eben so sei, ein wildes und machtgieriges Tier, und daß diese seine Natur eben immer von neuem durchbreche, bin ich der Auffassung, daß die Gewalt in zwischenmenschlichen Beziehungen, sei sie psychischer, materieller oder auch körperlicher Natur, immer auf Angst zurückzuführen ist. Die verschiedenen Formen der Angst, die dazu führen, daß bewußt oder unbewußt die Machtfrage gestellt wird, werde ich in diesem Buch zu beschreiben versuchen. Hier möchte ich sagen, daß jedem Mord in gewissem Sinne ein (psychischer) Selbstmord vorausgeht. Nur (psychisch) Tote töten. Das Beziehungsprinzip des Entweder-du-oder-ich tötet immer beide, auch wenn es von beiden zur Abwehr von Angst eingesetzt wird.
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Der Übergang in die andere Richtung, von der Machtfrage zur Frage: »Wie können wir miteinander zufrieden werden?«, hat andere Ursachen. Auch hier geht es um Angst, aber um die vor dem Selbstmord und vor dem Mord. Sobald einem in einer Beziehung bewußt wird, daß man voneinander abhängig ist, wenn man wirklich zufrieden werden will, und sobald einem diese gegenseitige Abhängigkeit weniger Angst macht als die phantasierte und mit Unterlegenheit gleichgesetzte einseitige Abhängigkeit, hat man keinen Grund mehr, den anderen zu schädigen, um sich selbst zu retten. Man kann sich ja dann nur noch retten, indem man den anderen rettet.
Und wieder fürchte ich, daß meine Überlegungen als eine billige Predigt für den Altruismus und damit als neue und alte Ideologie mißverstanden werden. Um diesem Mißverständnis, so gut es geht, vorzubeugen, muß ich mich mit den Prinzipien des moralischen Machtkampfes beschäftigen. Der moralische Machtkampf sieht in der altruistischen Opferhaltung der Beteiligten dem von mir gemeinten »Miteinander« oft ähnlich, ist aber beziehungsanalytisch gesehen das Gegenteil, eben ein Machtkampf. Hier ist das Nullsummenspiel nicht aufgehoben: Wenn ich etwas für den anderen tue, dann erwarte ich natürlich, daß er auch etwas für mich tut. Wenn ich vom anderen gequält, verletzt oder auf irgendeine andere Weise schlecht behandelt wurde, dann verwende ich das zur Aufrechnung, zur Legitimation meiner Ansprüche gegen ihn.
Auch und gerade viele »christliche« Beziehungen oder Taten der »Nächstenliebe« haben diesen kapitalistischen oder merkantilen Hintergrund. Die Sorge für den anderen geschieht nicht zur eigenen Befriedigung, sondern zur Ansammlung von moralischen »Gutscheinen«, die dann spätestens im Himmel vorgelegt werden sollen, aber psychisch immer auch schon auf Erden als Erpressungsmittel im Nullsummenspiel dienen.
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Da man glaubt, der eine könne auf Kosten des anderen leben und zufrieden werden, versucht man entweder (im moralischen Machtkampf) sich selbst etwas anzutun oder antun zu lassen oder (im offenen Machtkampf) dem anderen etwas anzutun. Jedesmal geht es um den Gewinn der überlegenen Position, darum, wer stärker ist.
Der wirkliche Ausstieg aus dem Machtkampf geschieht unter der Erkenntnis, daß das Leben miteinander zu riskieren immer einen doppelten Vorteil bringt. Es macht zufriedener und verbraucht weniger Kraft. In der Außenpolitik ist die Kraftersparnis bei Abrüstungsschritten deutlich erkennbar ebenso wie die Verringerung der Angst bei verminderter Kriegsgefahr. Aber auch in der Wirtschaft wird allmählich der doppelte Vorteil erkennbar. Wenn wir uns umweltschonender verhalten, wird volkswirtschaftlich auf lange Zeit gesehen viel Kraft und Geld gespart, und wir brauchen weniger Angst vor ökologischen Katastrophen zu haben.
In privaten Beziehungen kann man diesen Übergang ebenfalls immer wieder beobachten: Einer von zwei im Machtkampf miteinander befindlichen Partnern bemerkt plötzlich, daß er selbst davon profitieren kann, wenn er z.B. die Vorwurfshaltung dem anderen gegenüber verläßt. Er stellt seinen stummen oder auch lauten Vorwurf zur Disposition, läßt sich auf den Konflikt mit dem anderen ein und kommt ihm dadurch nahe. Das erspart ihm die Anstrengung des weiteren Kampfes und macht ihn zufrieden, während er vorher nur von der Ersatzbefriedigung der Überlegenheit (im moralischen oder im direkten, materiellen oder körperlichen Sinn) über den anderen leben konnte.
Dieser doppelte Vorteil der Kraftersparnis und der zunehmenden Befriedigung wird deshalb zumeist nicht gesehen und ergriffen, weil der Verlust der Sicherheit durch Macht zuviel Angst macht. Das ist allerdings der einzige Verzicht, der jeweils zu leisten ist, wenn man im Austausch und vom Austausch leben will. Menschen, denen diese dialogische Beziehungsform leichter fällt als anderen, sind nicht bessere Menschen, aber sie sind vielleicht freiere und glücklichere Menschen.
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Freilich haben wir alle das Nullsummenspiel nicht nur von unserer Kindheit an gelernt und halten es deshalb zumeist für die sicherste Beziehungsmöglichkeit; wir befinden uns auch in einer sozialen Umwelt, deren Strukturen dem Nullsummenspiel folgen. Am deutlichsten ist das in unserem sogenannten demokratischen System erkennbar, das im Grundprinzip auf dem ständigen Machtkampf zwischen Regierung und Opposition beruht. Durch die freie Wahl, die als Kennzeichen der Demokratie gilt, kann der Bürger eigentlich immer nur eine Partei gegen die anderen stärken. Er hat keinen direkten Einfluß darauf, daß die Parteien und ihre Vertreter miteinander und nicht gegeneinander arbeiten, obwohl das der Wunsch vieler Bürger wäre. Er kann nur versuchen, in seinen politischen Beziehungen selbst nicht das Nullsummenspiel zu betreiben, und er kann versuchen, selbst nicht zu glauben, daß er selbstverständlich ohnmächtig ist, solange die anderen mächtig sind, und daß er deshalb in stummer Ohnmacht die Rolle des gehorsamen Untertanen zu spielen hat.
Alle Formen der strukturellen Gewalt sind bereitgestellte Waffen für den Krieg der einen gegen die anderen. Es ist wichtig, die Bedrohlichkeit dieser politischen, ökonomischen, juristischen oder auch moralischen Waffen nicht zu übersehen. Wir verstehen sonst die Angst nicht, die uns und andere befällt, wenn wir uns ohne den Schutz der Regeln der strukturellen Gewalt zu bewegen versuchen. Die expliziten und impliziten Regeln unserer Gesellschaft bieten vielfältige Möglichkeiten, einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen zu unterdrücken, mit denen man nicht oder nicht mehr befriedigend zusammenleben kann oder will.
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Hier wird es wohl in der nächsten Zeit darauf ankommen, in den verschiedenen Politikfeldern immer deutlicher den doppelten Vorteil des Miteinander herauszustellen. Dieses Miteinander bedeutet ja nicht Unterordnung, sondern offene Auseinandersetzung. Es bedeutet allerdings, auf das scheinbar selbstverständliche Recht des Stärkeren, des Inhabers der strukturellen Gewalt, wenigstens schrittweise zu verzichten. Dieses Recht des Stärkeren, sei es des wirtschaftlich Stärkeren oder des juristisch, politisch oder auch moralisch Stärkeren, ist für uns alle so selbstverständlich, daß wir die Vorstellung, im hier beschriebenen Sinn auf die »sprachlose (strukturelle) Gewalt« zu verzichten und uns einem Konflikt zu stellen, zumeist für ausgeschlossen oder auch für abwegig halten.
Damit dieser Gewaltverzicht im weitesten Sinn möglich wird, müßte sich in unserem kollektiven politischen Bewußtsein Grundsätzliches verändern. Es wäre dann nicht mehr der Sieg über den anderen oder über die andere Partei als Erfolg eines Politikers zu betrachten, sondern seine Fähigkeit, seine Beziehungen in allen Richtungen zu verbessern. Diese Art von Fähigkeit oder von Erfolg wird bisher bei uns noch nicht hoch genug bewertet. Wir verhalten uns zumeist eher wie Fußballfans, die jubeln, wenn ihre Mannschaft gesiegt hat, gleichgültig auf welche Weise ihr die möglichst totale Demütigung der anderen Mannschaft gelungen ist. Unsere Demokratie funktioniert nach dem Totschlagsprinzip — wie auch die meisten unserer sportlichen Spiele und wie die meisten der »Gesellschaftsspiele«, in denen wir schon unsere Kinder darauf »abrichten« zu glauben, der Erfolg und damit das Glück bestünden darin, daß der Spielpartner besiegt wird.
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Die Vorstellung von solchen Bewußtseinsveränderungen mag naiv erscheinen. Ich allerdings halte die Vorstellung für naiv, ohne eine solche Bewußtseinsveränderung, mit den Mitteln der bisher schon gegebenen strukturellen und militärischen Gewalt einen Weg aus den uns drohenden existentiellen Gefahren zu finden. Solange wir das Nullsummenspiel in allen seinen Varianten weiterspielen und keine neuen Spielregeln einführen, bleibt alles beim alten. Soweit uns aber der doppelte Vorteil bewußt wird und wir uns mitverantwortlich fühlen für unsere »Gesellschaftsspiele«, das heißt für die Struktur unserer Gesellschaft, so weit beginnen wir, die unausweichliche Notwendigkeit der Frage »Wer ist stärker?« in Frage zu stellen. Es gibt bei genauem Hinsehen sehr viel mehr Stellen in unseren Beziehungen, an denen das möglich ist und auch schon praktiziert wird, als wir gemeinhin glauben.
Ich halte es für wichtig, das Paradies nicht in der fernen Zukunft zu erwarten oder durch spirituelle Kunststücke herbeizaubern zu wollen, sondern zu sehen, daß Leben nicht gleich Macht ist und daß deshalb die beiden Grundfragen in jedem Moment als mögliche Beziehungsformen im Raum stehen. Auch wenn wir nur in kleinen Schritten unsere eigenen Erfahrungen auf dem Weg solcher Bewußtseinsveränderungen machen können, so ist doch kein Schritt auf diesem Weg vergeblich. Es geht jedesmal um den Unterschied, ob man diesen einen Schritt macht oder ob man ihn unterläßt.
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Der militärische und der zivile Mut
Orientiert man sich in seinem Verhalten nicht mehr nur an dessen Effektivität im Sinne der (gewaltsamen) Veränderung des anderen bzw. der Umwelt, sondern an dem in der eigenen Person erlebten Gefühl, sich in diesem Moment zu verändern, ein wenig mehr Lebendigkeit zu riskieren, dann verändern sich auch die Vorstellungen von Kampf und Mut. Wo die Soldaten in »Wallensteins Lager« nach Schiller noch sangen: »Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein«, da tritt heute eine Bedeutungsverschiebung ein in bezug auf das, was mit dem Einsetzen des Lebens gemeint ist.
Der traditionelle Begriff des politischen und militärischen Kampfes, auch im politischen Widerstand, orientiert sich am militärischen Mut, den der einzelne in der Schlachtreihe der Gleichgesinnten gegenüber der Schlachtreihe der Feinde aufbringen muß. Der Mutigste ist der in der ersten Schlachtreihe oder eigentlich der, der der eigenen Gruppe »voranreitet« und sich als erster mit den Feinden schlägt. Wer sich in der hintersten Schlachtreihe herumdrückt, ist am wenigsten wert. Die Männer des 20. Juli gelten vielen als der Inbegriff des politischen Widerstands in Deutschland. Für ihre Heroisierung ist ausschlaggebend, daß sie »voranritten«, und auch, daß sie ihr Leben verloren. Die vielen kleinen Widerstandskämpfer, die es wagten, lebendig zu bleiben an Stellen, wo im Kollektiv der psychische Tod, die Gewaltherrschaft unaufhaltsam voranschritt, werden heute vielfach übersehen. Sie verloren nicht ihr Leben, sondern sie versuchten, ihre Lebendigkeit zu erhalten. Wenn sich die Vorstellungen über die Art des Mutes, der im politischen Widerstand nötig ist, nicht verändern, werden wir wieder so lange warten, bis Widerstand nur noch mit dem Verlust des Lebens zu bezahlen ist.
Der militärische Mut, sei es im Krieg gegen Außenfeinde, sei es im Krieg gegen die eigene Regierung, wird immer zerstörerisch sein. Er ist definiert als Rücksichtslosigkeit dem eigenen Leben und dem Feind gegenüber. Das Verhalten des einzelnen ist hier bestimmt durch das, was die eigene Gruppe will, wozu sie ihre »Helden« beauftragt. Was diese Helden selbst in jedem Augenblick fühlen und für richtig halten, ist nicht gefragt; es würde die »Schlachtordnung« stören.
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Im Gegensatz dazu ist der zivile Mut der Mut des einzelnen, nur seinen eigenen Gefühlen und Überzeugungen zu folgen und diese auch erkennbar werden zu lassen. Es ist der Mut, Lebendigkeit zu riskieren, wo (psychisch) tot zu sein weniger riskant zu sein scheint. Im Begriff der Zivilcourage werden diese beiden Formen des Mutes zumeist verwechselt. Zivilcourage bedeutet für viele, den Mut zu haben, gegen die Obrigkeit vorzugehen. Alles, was gegen die Obrigkeit ist, ist gut, alles was für sie ist, ist schlecht. Wenn dabei nur noch wie im Krieg das »Gegen« bestimmend ist und nicht mehr das »Für« die eigene Person, das »Für« die Erhaltung der Lebendigkeit, dann geht die Zivilcourage in den militärischen Mut über und wird zerstörerisch.
Ich möchte nicht so mißverstanden werden, als verurteilte ich ein bestimmtes Verhalten im politischen Widerstand, etwa die Anwendung von Gewalt. Mir geht es gar nicht in erster Linie um ein bestimmtes Verhalten (sein Verhalten muß immer jeder einzelne selbst verantworten), sondern um die klare Unterscheidung von unterschiedlichen Beziehungsqualitäten, die das ihnen entsprechende Verhalten und schließlich auch die ihnen entsprechenden Folgen dieses Verhaltens unweigerlich mit sich bringen (vgl. auch das 5. Kapitel, das sich noch ausführlicher mit dem Problem des politischen Widerstands beschäftigt).
Der zivile Mut des einzelnen, seine Bereitschaft und Fähigkeit, das Leben zu riskieren im Sinne der Erhaltung des eigenen und des fremden Lebens, führt dazu, daß man unter Umständen die eigenen »Schlachtreihen« stört, daß man es wagt, unterschiedliche Gefühle und Überzeugungen gegenüber den Mitgliedern der eigenen Gruppe bei sich zu entdecken, was oft bedeutet, daß man in bestimmten Punkten Ähnlichkeiten mit den Gefühlen und Überzeugungen der »anderen« bei sich bemerkt und deutlich macht.
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Das führt in eine ständige Konfliktsituation, die besonders dann ängstigend ist, wenn man es nicht gewöhnt ist, sich in einem konflikthaften Spannungsfeld aufzuhalten. Aber die Größe der Angst hängt nicht nur von einem selber und der eigenen Geschichte ab, sondern auch von dem Feld, in dem man sich bewegt. Ist die Spaltungsnotwendigkeit bzw. der Kriegszustand in diesem Feld schon sehr weit eskaliert, dann hat der einzelne in diesem Feld auch besonders viel Angst, die eigenen Reihen zu stören. Die Strafen dafür sind dann sehr hoch, und in dieser Hinsicht ist seine Angst sehr realistisch.
Der Aufenthalt in einem solchen spannungsreichen Konfliktfeld hat allerdings auch eine angenehme Seite. Und nur diese Seite kann eine Person dazu bewegen, dem jeweiligen Konflikt nicht auszuweichen. Man kann in diesem Feld das Gefühl haben, lebendig zu sein, sich verändern zu können, indem man sich selbst und damit auch die anderen nicht verläßt.
Ich habe allerdings auch die Erfahrung gemacht, daß solche konflikthaften Beziehungen sehr viel mehr Aufmerksamkeit und Spannungstoleranz erfordern als unsere üblichen »toten« Beziehungen, die nach bestimmten Regeln ablaufen, nach denen immer schon feststeht, wer für mich und wer gegen mich ist. Deshalb kann ich nur wenige meiner Beziehungen so gut »pflegen«, daß ich in ihnen die anstehenden Konflikte nicht beiseite schiebe. Und auch dort ist mir diese Lebendigkeit wiederum nur sehr partiell möglich. Aber schon diese wenigen Stellen, an denen ich nicht auf meine Lebendigkeit verzichte, sind sehr befriedigend. Und ich halte es auch für wichtig, die anderen Stellen, an denen ich den zivilen Mut und die psychische Kraft nicht aufbringe, nicht so zu verstehen, als ob es dort aussichtslos sei, weil die anderen eben so und so sind. Wenn ich diese Stellen als immer noch mögliche und vielleicht für meine eigene Zufriedenheit auch nötige »Konfliktplätze« verstehe, bleibe ich nicht in voreiliger Scheinzufriedenheit auf dem erreichten Stand stehen.
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Wenn wir Angst bekommen, tendieren wir alle dazu, den Konsens mit dem Freund und den Dissens mit dem Feind zu suchen. Die systemverändernde Funktion des zivilen Mutes besteht darin, in solchen Situationen wenigstens teilweise die Kraft aufzubringen, diese Angst als einen notwendigen Teil des Lebens und der Lebendigkeit auszuhalten und den Konflikt mit dem anderen aufzunehmen, anstatt diesen durch vorauseilende Unterwerfung oder unterwürfige Versorgung scheinbar zufriedenzustellen oder auch durch vorauseilende Verurteilung unter die »Feinde« einzureihen, mit denen jede Kontaktaufnahme sinnlos erscheint. Nur diese kleinen aber wichtigen Stellen verändern die Grundstruktur unserer persönlichen und politischen Beziehungen und uns selbst. Die »militärischen« Blöcke funktionieren nach dem Grundprinzip der Trennung zwischen guten und bösen Menschen. Eine Auflösung solcher Blöcke, wo auch immer, ist nur möglich durch Differenzierung der »Fronten«, durch den persönlichen Mut einzelner, die die vorgegebenen Schlachtreihen nicht verstärken, sondern eventuell ihrem persönlichen Empfinden entsprechend stören.
Schlachtreihen gibt es jedoch nicht nur zwischen verschiedenen politischen Lagern. Schlachtreihen in dem hier gemeinten weiten Sinn entstehen und bestehen auch aus sozialen Rollen. Und hier wird das Feld des politischen Widerstands sehr unübersichtlich. Die meisten sozialen Rollen sind uns als Rollen unbewußt, weil wir sie für selbstverständlich halten. Wir sind in der Vorstellung erzogen worden, daß Kinder selbstverständlich den Vorschriften der Eltern gehorchen müssen, daß Staatsbürger selbstverständlich tun müssen, was die Regierung befiehlt, vor allem, wenn die Regierung demokratisch gewählt ist. Wir haben gelernt, wie man als Frau, als Mann denkt, fühlt und handelt.
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Die verschiedenen Rollenvorschriften sind ebenso unübersichtlich in ihrer Zahl und in ihren Überschneidungen, wie sie undurchsichtig sind wegen ihres hohen Grades an Unbewußtheit, den sie im Laufe der Sozialisation jedes einzelnen annehmen.
Der zivile Ungehorsam als eine Form des zivilen Mutes hat deshalb viel mehr Facetten, als im allgemeinen berücksichtigt werden, wenn dieses Schlagwort in politischen Auseinandersetzungen gebraucht wird. Ziviler Ungehorsam nach dieser weiten Sicht ist es, sich immer wieder die Frage zu stellen, ob die »Sachzwänge«, in denen man sich befindet, tatsächlich so bindend sind, wie sie zu sein scheinen. Das Gefühl »ich muß ja, weil ...« deutet oft Stellen an, an denen man beginnt, sich nicht mehr nach den eigenen Gefühlen und Wünschen zu richten, und statt dessen eine Begründung für ein der eigenen Person und der eigenen Verantwortlichkeit entfremdetes Verhalten sucht.
Diese täglich ablaufenden automatischen Reaktionen vieler, nein aller einzelnen halten unser Gesellschaftssystem mit seiner Symptomatik aufrecht. Freilich machen sie auch die Stabilität unserer Gesellschaft aus, ohne die wir nicht leben könnten. Wenn wir alle anfingen, genau das nicht mehr zu tun, was wir bisher glaubten tun zu müssen, dann würde zum Beispiel auch unser ganzes Versorgungssystem zusammenbrechen.
Persönliche Verantwortlichkeit kann also nicht so definiert werden, daß sie die bestehenden Rollen und ihre regelhafte Ordnung einfach verneint. Obgleich die kollektive oder strukturelle Verantwortungslosigkeit unserer Gesellschaft auf der blinden Erfüllung von Rollen und Vorschriften beruht, ist die Rückgewinnung persönlicher Verantwortlichkeit doch immer auch an eine persönlich zu verantwortende Entscheidung des einzelnen gebunden, an die Frage: »Will ich an meiner Stelle und zu diesem Zeitpunkt alles so weiterlaufen lassen, wie es bisher lief? Oder gibt es eine Möglichkeit, mehr Lebendigkeit, und das bedeutet eben immer auch mehr Konflikte, zu riskieren als bisher?«
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Die zweite Frage, die Frage nach dem Leben, wie ich sie oben beschrieben habe, ist die Frage, die die Eigendynamik an den Stellen eines Systems zu unterbrechen hilft, an denen sonst der automatische Totstellreflex den einzelnen im Moment scheinbar schützt, in Wirklichkeit aber ihn selbst zusammen mit anderen in Gefahr bringt.
Ein großes Problem bei diesen das System verändernden Schritten ist die Wahrnehmung der eigenen Wünsche. Im Lauf unserer persönlichen und kollektiven Geschichte haben wir es verlernt, auf unsere eigenen Gefühle und Wünsche zu hören, ja sie überhaupt wahrzunehmen. Wir haben gelernt zu glauben, daß das Chaos entsteht, wenn jeder sich nur nach sich selbst richtet, und daß Menschen, die sich so verhalten, als Anarchisten und Egoisten zu verurteilen, aus der Gemeinschaft auszustoßen sind. So lassen wir lieber von anderen protestieren und Widerstand leisten. Wir lassen die Regierung für Ordnung sorgen, und wir lassen durch die parlamentarische und außerparlamentarische Opposition die Regierung bekämpfen.
Da aber delegiertes Leben kein eigenes Leben ist, da die von der Masse an die Spitze des Kriegszuges gestellten Heerführer nicht ihrem eigenen Gefühl, sondern ihren heroischen Aufträgen folgen, leben wir alle in dem unbefriedigenden und gefährlichen Zustand, daß die einen kämpfen — doch nicht für ihre wirklichen Bedürfnisse, sondern um ihren narzißtischen Wert als beauftragte Führer und die anderen sich ruhig verhalten, wie sie es gelernt haben, und den Krieg »in Auftrag« geben. Beide Rollen, die des Politikers und die des Staatsbürgers, dienen auf unterschiedliche Weise der Vermeidung von Konflikten.
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Der Totstellreflex ist also nicht nur bei den passiven und gleichgültigen Bürgern zu sehen, sondern ebenso bei den im Rampenlicht stehenden, scheinbar aktiven und engagierten Politikern. Soweit sie in der Angst mit dem ihrer Rolle zugeordneten Reflex reagieren und in Gefahrensituationen pauschal und blind auf jeden Fall behaupten, sie hätten »alles im Griff«, gleichen sie dem »tapferen« Menschen, der in der Angst vor einer gefährlichen Operation »ganz vernünftig« und stumm wird, sich allen Vorschriften selbstverständlich fügt, keine Fragen mehr stellt, nicht aus der Rolle fällt und so sogar und gerade in der höchsten Lebensgefahr »alles im Griff« hat. Dieser Totstellreflex kann einem Käfer nützen, um von einem Vogel, der ihn nicht für lebendig hält, nicht gefressen zu werden. Nähert sich dagegen die Straßenwalze, dann nützt der Totstellreflex dem Käfer nichts, im Gegenteil: Wenn er schon den Fahrer der Straßenwalze nicht durch Rufen beeinflussen kann, so könnte er sich immerhin noch schnell, zur Seite laufend, in Sicherheit bringen.
Mario Erdheim und Maya Nadig2) schreiben vom »sozialen Tod«, der zugelassen werden muß, wenn man die stereotypen Rollenvorschriften verläßt. Ich halte diese Bezeichnung einerseits für sehr sinnvoll, weil sie zeigt, weshalb wir so große Angst vor dem Verlassen unserer Rolle haben, in der wir so »reibungslos« funktionieren. Manchmal scheint es, als fürchteten wir und insbesondere unsere Politiker diesen sozialen Tod mehr als den realen kollektiven Selbstmord. Andererseits halte ich den Begriff »sozialer Tod« deshalb nicht für günstig, weil nach meiner Vorstellung an dieser Stelle das Leben beginnt, auch das soziale Leben.
Wo das Funktionieren aufhört, beginnt das Leben, und umgekehrt.3) Das Gefühl, sich in einem aussichtslosen Kampf zu befinden, mit Windmühlenflügeln kämpfen zu müssen, hat häufig damit zu tun, daß man es nicht wagt, erkennbar zu werden. Insofern stimmt auch mein Bild vom Käfer und der Straßenwalze nicht. Wir haben an vielen Stellen die Möglichkeit, durch »Rufen« oder durch andere, im speziellen Fall wirksame Methoden den Fahrer der Straßenwalze zum Anhalten zu bringen — vor allem deshalb, weil wir immer selbst auch ein Teil dieses Fahrers sind.
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Auch für den Politiker im engeren oder im weiteren Sinn (im weiteren Sinn ist jeder Mensch ein Politiker, ein politisch Verantwortlicher) geht es beim »sozialen Tod« bzw. beim »sozialen Lebendigwerden« um ein Risiko. Nur der »Führer« kann Veränderungen im Sinne von wirklicher Befreiung in Gang bringen oder fördern, der es riskiert, daß ihm die anderen nicht folgen. Wenn er dieses Risiko nicht eingeht, spielt er nur die Rolle des Führers, das heißt, er verwendet die Angst und die Angstabwehrmechanismen seiner potentiellen Gefolgschaft, um sie mit Hilfe von psychischer oder von offener Gewalt zur Nachfolge zu zwingen.
Die psychische Gewalt besteht zum Beispiel darin, daß der (politische) Führer nach außen hin ein »tolles Image« produziert und so die Angst, die Geborgenheitswünsche und die narzißtischen Bedürfnisse seiner Anhänger für seine Zwecke ausnützt. Das Risiko einzugehen, daß einem die anderen nicht folgen, bedeutet den Verzicht auf Propaganda im Sinne von Verführung, aber auch den Verzicht auf und damit die Entlastung von Außenbestimmtheit. Denn jeder, der seine (politische) Karriere auf den Fähigkeiten der Schauspielerkunst aufbaut, hängt davon ab, welche Rolle das Publikum für ihn schreibt und wie es die Inszenierung wünscht.
Ich weiß, daß das Risiko, die Maske abzulegen, in den meisten Gruppen, bei Politikern, unter »Terroristen«, bei Konservativen und bei Alternativen, sehr groß ist. Das ist aber kein Grund, sich über die Ursachen und Folgen des oben beschriebenen »Funktionierens« keine Gedanken zu machen.
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Die »netzförmige« Gesellschaft
Ich möchte noch auf eine Erscheinung aufmerksam machen, die mir immer wieder auffällt. In Gruppen, in denen in einem Prozeß der persönlichen Auseinandersetzung auch der persönliche Mut der einzelnen wächst, verändert sich die Beziehungsstruktur: Aus einer linearen Beziehungsstruktur entsteht allmählich eine netzförmige.
Unter einer linearen Beziehungsstruktur verstehe ich zum Beispiel das Vorherrschen einer hierarchischen Ordnung; jeder weiß, wo er sich in der Linie zwischen Oben und Unten, zwischen dem Ersten und dem Letzten einzuordnen hat und wie die Reihenfolge aussieht. Die Kämpfe in dieser hierarchischen Struktur gehen darum, wer stärker ist, wer dem anderen, dem Höherstehenden seinen Platz streitig macht, sei es nach den Kriterien der offenen Gewalt (die zumeist in überwiegend oder ausschließlich männlichen Gruppen gelten), sei es nach den Kriterien der Moral, wonach oft der/die Schwächste oder am meisten Gequälte in der Rangordnung oben steht. (Diese Rangordnung gilt häufig in überwiegend oder ausschließlich weiblichen Gruppen.)
Als eine andere Art der linearen Beziehungsstruktur in Gruppen sehe ich die schon wiederholt erwähnte »Schlachtreihe« an. Diese Schlachtreihe kann einem Außenfeind gegenüber aufgestellt sein oder gegenüber einem gemeinsamen Feind innerhalb der Gruppe. Jede Ideologie, jedes Feindbild, jede Spaltung in Gut und Böse liefert Orientierungsmöglichkeiten für die Einordnung des einzelnen in diese »Reihe«. Deshalb wird derjenige, der »aus der Reihe tanzt«, auch zunächst als Störer empfunden und bestraft. Er stört die bisherige Orientierung, und das bedeutet, er stört Ordnung und Sicherheit. Ganz besonders störend ist derjenige, der sich bei diesem Störmanöver nicht nur darum bemüht, die Schlachtreihe umzustellen, sie einem neuen Feind, zum Beispiel dem bisherigen Führer, entgegenzustellen, sondern der das Prinzip der Reihe dadurch in Frage stellt, daß er sich selbst nicht mehr nach einer Reihe ausrichtet.
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Geht er selbst das Risiko ein, keine neue Reihe — nun selbst als der Führer — einzurichten, und es gelingt ihm, diese seine »subjektive« Position nicht durch narzißtische Selbstbewunderung abzusichern, dann wird sich im gleichen Maße die Struktur der Gruppe von einer vorwiegend linearen in eine mehr netzförmige verwandeln. Wie ich in den späteren Kapiteln ausführlich darstellen werde, geht es beim »Durchstehen« von Konflikten einerseits darum, nicht wegzulaufen, andererseits aber auch darum, die ängstigenden Kritiker nicht »totzuschlagen«. Je besser man sich selbst und seine eigene Angst im Gesamtzusammenhang der jeweiligen Beziehungsstruktur sehen kann, desto leichter fällt einem ein solches »Durchstehen«.
So kann der einzelne ein wenig zur Veränderung der Beziehungsstruktur des Ganzen beitragen. Ob und wieweit einem dieser Schritt gelingt, kann man am besten in sich selbst spüren, und zwar an dem Gefühl, ob man sich gegen die anderen oder mit den anderen zu retten versucht. Josef Weizenbaum schrieb: »Die sogenannte Ohnmacht des einzelnen ist vielleicht die gefährlichste Illusion, die ein Mensch überhaupt haben kann.«4 Ich kann dem nur zustimmen.
Wie sieht nun die »netzförmige« Gesellschaft aus? Das wesentliche an dieser netzförmigen Gesellschaft besteht darin, daß man zwar durch persönlichen Mut zu ihrer Entstehung beitragen kann, daß ein solches Netz aber nicht durch irgendeine Konstruktion herzustellen ist. Wenn es entsteht, entsteht es von selbst — wie das Leben. Wir können ein solches Netz nur zerstören, indem wir die lineare Orientierung einführen, wir können es aber nicht »machen«.
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Das hängt damit zusammen, daß wir die Welt im Sinne von mehr Lebendigkeit nur so weit verändern können, wie wir in uns selbst mehr Lebendigkeit zulassen. Sobald wir die Welt verändern wollen, ohne uns selbst zu verändern, delegieren wir die Veränderung, die wir selbst nicht wagen, an andere und tragen so zur Entstehung und Aufrechterhaltung linearer Beziehungsstrukturen bei.
Manche werden sagen, daß solche gruppendynamischen Phänomene nicht auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragbar seien, daß eine »Gesellschaft«, deren Mitglieder sich gar nicht kennen, eben nicht »netzförmig« werden könne. In diesem Einwand erkenne ich regelmäßig die Heilsphantasien des Alles oder Nichts. Entweder ist dieses Veränderungsmodell auf alle, möglichst auf die ganze Welt oder wenigstens auf die Bundesrepublik Deutschland anzuwenden, oder es ist illusorisch, bringt nichts und fällt deswegen der Lächerlichkeit anheim. Ich meine, daß die Vorstellungen über mögliche und nötige revolutionäre Prozesse in unserer Gesellschaft sich in den letzten zwanzig Jahren stark verändert haben.
Gerade in der neuen politischen Kultur der Betroffenheit, wie sie insbesondere nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl entstanden ist, wird nicht mehr der Anspruch erhoben, daß der einzelne alle retten kann und muß. Man erkennt vielmehr, wie wichtig auch die privaten und persönlichen Beziehungen (eventuell auch die »persönliche« Beziehung zu den politisch Verantwortlichen oder zu bestimmten umweltschädigenden Konzernen) für die politische Veränderung sind. Man sieht, daß jemand, der in seinem privaten Bereich, in seiner überschaubaren Umgebung den Konflikten prinzipiell ausweicht, auch als Politiker die Konflikte, die ihn in dieser Position betreffen, besten- oder schlechtestenfalls nur mit Gewalt lösen wird.
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Die Zeit der Phantasien vom großen Auf- und Durchbruch ist vorbei. Wir haben bemerkt, daß politischer Widerstand im Sinne der Gesundung von gesellschaftlichen Beziehungsformen eine langwierige und anstrengende Arbeit ist. Wir beginnen sogar allmählich zu sehen, daß nicht nur — systemkonform — die Gruppe der Protestierenden endlich in irgendeiner Koalition die 50-Prozent-Marke überschreiten muß, sondern daß sich die Veränderung des Bewußtseins und damit der Beziehungsstrukturen überall, in allen Parteien und Gruppierungen vollzieht und vollziehen muß.
Die narzißtischen Größenphantasien vom großen »Umkippen« sind ausgeträumt. Es wird uns kein Führer mehr retten können. Wir können nur noch jeder in seinem Umkreis dafür zu sorgen versuchen, daß die Beziehungen ein wenig »netzartiger«, ein wenig mehr auf die Personen bezogen werden. Die alten Orientierungen nach sozialen Klassen von Privilegierten und Unterprivilegierten sind wichtig, aber sie reichen nicht mehr aus.
Unterprivilegiert und ohnmächtig sind wir alle, auch die Reichsten und Mächtigsten, wenn wir bedenken, daß wir wahrscheinlich nicht einmal das Überleben der Menschheit sichern können. Ich will nicht die Illusion erwecken, als könnte durch das von mir vorgestellte Veränderungsmodell die Menschheit gerettet werden.
Ich will Zusammenhänge aufzeigen, die uns zumeist unbewußt bleiben, Zusammenhänge zwischen unserer eigenen Haltung und dem, was in einer Beziehung, in einer Gruppe geschieht. Solange wir uns nur als hilflose Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse sehen, solange wir »das System« als nur gegen uns gerichtet und als nur außerhalb von uns befindlich — nicht von uns mitgestaltet — verstehen, so lange werden wir politisch passiv bleiben in unserer »großen« und »kleinen« Politik.
Gerade die Trennung zwischen Politischem und Nicht-Politischem löst sich derzeit im Bewußtsein der politischen Kreise auf, die erst in den letzten Jahren »politisch aufgewacht« sind. Man glaubt immer weniger an die Unumstößlichkeit sogenannter »handfester« Interessen. Man erkennt sie als Ausdruck von harter politischer Brutalität, die nicht einfach hingenommen werden kann und muß. Es wird immer deutlicher, daß auch die »Passiven« an der ungehinderten Brutalität der »Aktiven« beteiligt sind und daß dieser mörderischen und selbstmörderischen Rücksichtslosigkeit eine lebendige Alternative gegenübergestellt werden muß.
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Thea Bauriedl Das Leben riskieren Psychoanalytische Perspektiven des politischen Widerstandes