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3.  Der Kampf gegen die Abhängigkeit macht abhängig

 

  Suchtprobleme  

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Im letzten Kapitel war bereits die Rede von der Sucht, die eng mit der narzißtischen Persönlichkeits- und Gesellschaftsstruktur verbunden ist. Im allgemeinen sprechen wir von Sucht bei Drogenabhängigkeit und Alkoholismus. Schon die Nikotinabhängigkeit ist so weit verbreitet, daß viele sie für »ganz normal« halten. Und was normal ist, ist keine Krankheit. Das Etikett »süchtig« haben wir für die Randzone unserer Gesellschaft reserviert. Alkohol­ismus und Nikotin­abhängigkeit im »Mittelfeld« oder an der »Spitze« sind normal, erklärbar durch die große Belastung, die unsere »Verantwortlichen« tragen müssen.

Ob etwas als Sucht bezeichnet wird und wie sehr die Sucht verurteilt wird, hängt davon ab, wer sie hat. Die Sucht der Herrschenden und der »Normalen« wird nicht oder nur vorsichtig als solche benannt und zumeist mit irgendeinem »Sachzwang« entschuldigt. Die Sucht der »Randgruppen« wird neben vielem anderem zur weiteren Diffamierung dieser Mitmenschen verwendet. Ihre Suchtmittel werden als extrem gefährlich eingestuft und verboten, während die Suchtmittel der Herrschenden zum Bruttosozialprodukt beitragen.

Natürlich sind auch die Suchtmittel selbst unterschiedlich. Die Menschen am Rand unserer Gesellschaft brauchen und gebrauchen andere Aufputschmittel gegen ihre Verzweiflung und Angst als die »Normalen«. Sie sind viel offensichtlicher suizidal als diejenigen, die vordergründig von der ungleichen Verteilung der Macht profitieren.

Um die Trennung zwischen der »schmutzigen« und der »sauberen« Sucht zu relativieren, möchte ich hier versuchen, die psycho-dynamischen und sozio-dynamischen Grundprinzipien der Sucht genauer zu sehen. Auf diesem Wege werden uns viele Symptome und Verhaltensweisen begegnen, die wir normalerweise nicht als Ausdruck von Abhängigkeit im Sinne der Sucht erkennen.

Bei der Darstellung der »Symptome der Macht« im vorigen Kapitel sind wir schon einigen Ursachen der Sucht begegnet. Wir sahen die Angst vor der Lebendigkeit, vor Kontakt und Berührung, die Angst vor dem Kleinsein, vor dem Zu-klein-Sein, die Angst vor Feinden, die Angst vor dem »Verhungern« als Ausdruck der Angst vor dem Untergang. Wir sahen aber auch die Angst vor dem Machtverlust, die Angst vor Liebesverlust und vor der Langeweile, die Angst vor der Angst, vor der Wahrnehmung der Realität, und die Angst vor dem Erkennbarwerden in Konflikten, vor Verletzungen und Demütigungen. 

Damit sind bei weitem nicht alle Formen der Angst aufgezählt, die zur Sucht führen. In jedem einzelnen Fall hat die Angst ihre spezifischen Facetten. Und doch ist die Grundform oder eine wichtige Grundform all dieser Ängste die Angst vor der Abhängigkeit. Könnten wir uns auf unsere Abhängigkeit von unseren Mitmenschen und von der uns umgebenden Umwelt mehr einlassen und verlassen, wir brauchten weniger Angst mit den verschiedenen Suchtmitteln totzuschlagen.

Es scheint ein Widerspruch zu sein, wenn ich behaupte, daß der Kampf gegen die Abhängigkeit abhängig macht. Das ist natürlich derselbe Widerspruch wie die Behauptung, daß der Versuch, den Untergang zu vermeiden, in den Untergang führt. Unsere normale bewußte Logik kann da nicht folgen.

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Für die »Psycho-Logik« des psychoanalytischen Denkens jedoch ist diese Behauptung kein Widerspruch. Wenn die verschiedenen Bedeutungen der Begriffe Abhängigkeit und Untergang voneinander unterschieden werden, löst sich der scheinbare Widerspruch auf.

Nach psychoanalytischer Erkenntnis ist die Angst vor der Abhängigkeit ein Zeichen von psychischer Schwäche, die jeder von uns in gewissem Maß hat. 

Jeder einzelne und unsere Gesellschaft als ganze fürchtet die Realität, und zwar ganz besonders die Realität unseres Lebens und Sterbens (vgl. Kapitel 1). Wir fürchten unser Ausgeliefertsein, unsere Abhängigkeit von gesunder Luft bei jedem Atemzug, von Nahrung, Kleidung und Wohnung, und nicht zuletzt fürchten wir das Erleben unserer (realen!) Abhängigkeit von zwischenmenschlicher Zuwendung, Liebe und Solidarität. 

Durch diese Abhängigkeit ist unser Leben de facto sehr riskant. Die Wahrnehmung dieser realen Risiken, die wir niemals »in den Griff bekommen« können, macht uns Angst, und so unternehmen wir die vielfältigsten Anstrengungen, um das Leben scheinbar doch in den Griff zu bekommen. Diese Anstrengungen kann man prinzipiell alle als Suchtmittel bezeichnen, weil sie alle dazu dienen, die Angst vor der Abhängigkeit, vor der Verletzlichkeit des Menschseins zu beseitigen. Bei manchen Menschen ist diese Angst besonders groß. Deswegen müssen sie besonders anstrengende und sich und andere besonders schädigende Versuche unternehmen, um diese Angst in Schach zu halten.

Durch die scheinbare Befreiung von der realen Abhängigkeit geraten wir aber in eine neue, eine künstliche Abhängigkeit — jetzt von der jeweiligen »Droge«. Die latent weiterhin wirksame Angst und die Gewöhnung an die Ersatzbefriedigung und an die Scheinberuhigung binden uns mit großer Kraft an unsere Suchtmittel. Diese Suchtmittel haben im wesentlichen zwei Aufgaben: Sie stellen uns scheinbar zufrieden und schützen uns vor dem Gefühl des Ausgeliefert­seins. 

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Die innere Leere und das Chaos depressiver Zustände kann man zum Beispiel durch zwanghaftes Lösen von Kreuzworträtseln verdrängen. Die Zufriedenheit — die solche Betätigung oder auch eine ungeheure Arbeitsleistung schafft — besteht in dem Gefühl, wertvoll und erfolgreich zu sein, wo man sich sonst wertlos und minderwertig, und das heißt: nicht wert, geliebt zu werden, fühlen würde. Auch ein Gefühl von Macht, Kontrolle und Übersicht kann beim suchtartigen Kreuzworträtsellösen entstehen. Manche Menschen versorgen sich mit diesem Gefühl, indem sie viele andere Menschen »regieren« und minuziös kontrollieren. Die Angst vor dem eigenen inneren Chaos kann durch Wendung nach außen und durch Kontrolle der anderen beseitigt werden.

Das Gefühl, ungeborgen, ausgeliefert und ständig bedroht zu sein, haben wir ebenfalls mehr oder weniger alle, wenn auch in unterschiedlichem Maß. Soweit wir als Kinder in unseren Familien nicht Geborgenheit fanden, sondern unseren Eltern wegen deren »Sucht« eine Scheingeborgenheit liefern mußten, haben wir wenig Vertrauen in uns selbst und in andere. Abhängigkeit macht uns deshalb grundsätzlich Angst.

Eine latente Wut über diese primäre Ungeborgenheit bestimmt die lebenslange Suizidalität vieler Menschen. 

Sie können kaum für sich sorgen und schädigen sich unentwegt, sei es durch Drogen irgendwelcher Art, sei es durch Unfälle, Suizidversuche, Beziehungs­abbrüche, oder auf andere Weise. Im Unbewußten wird die fehlende Mutter lebenslang für diese Selbstzerstörung verantwortlich gemacht. 

Aber ist nicht unsere ganze Gesellschaft in einem Zustand, der dem hier beschriebenen gleicht? Genügt es, die »armen Süchtigen« zu beschreiben, zu bedauern und eventuell zu behandeln? Werden vielleicht die »gescheiterten Existenzen« in unserer Gesellschaft deswegen so entwertet (und entwerten sie sich selbst), weil unser aller Existenz dabei ist zu scheitern?

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Die mörderische Qualität der Sucht wird besonders deutlich, wenn wir hören, daß jedes Jahr in der Bundesrepublik 1800 neugeborene Babies an der sogenannten Alkohol-Embryopathie leiden, an Minderwuchs, Untergewicht, Gehirnschäden oder an Fehlbildungen verschiedener Art. Der Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft hat sie so schwer geschädigt. Mütter, die sich selbst nicht schützen können, können auch ihre Kinder nicht schützen. Menschen, die sich selbst nicht schützen können, zerstören auch ihre Umwelt. Die Unfähigkeit der einzelnen zu leben betrifft immer auch deren Bezugspersonen mit.

Dabei ist gerade bei so auffällig Süchtigen die Angst vor Liebesverlust und der Wunsch nach Geborgenheit ganz besonders groß. Sie meinen oft, deshalb nicht geliebt zu werden oder nicht geliebt werden zu können, weil sie nicht schön oder reich genug sind, und umgeben sich deshalb suchtartig mit Ersatzschönheit und mit Luxus jeder Art. Trotzdem bleibt die Befriedigung aus, denn das Nichtgeliebtwerden liegt nicht an mangelnder Schönheit oder an fehlendem Reichtum, sondern an der eigenen Unfähigkeit, zu leben und zu lieben.

In der Konkurrenzgesellschaft lebt jeder gegen jeden, obwohl oder weil jeder ganz besondere Angst vor der Konkurrenz hat. Der Wunsch nach Geborgenheit und Unverletztheit ist pervertiert in Gewalttätigkeit gegen sich selbst und gegen andere. Auch diese Gewalt ist ein Suchtmittel. Weil sie die eigene Verletzbarkeit schützt, kann man nur so schwer auf sie verzichten. Mit Hilfe der verschiedensten »Dopingmittel« wird ständig versucht, der Größte zu bleiben, weil der Größte scheinbar der Sicherste und der Glücklichste ist. Unsere Sportler machen es uns vor. 

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Die Phantasie von einem Leben in Freiheit von Angst und Schmerzen, die Phantasie von der Omnipotenz und der Freiheit des Willens und des Wollens, die Phantasie von der Unabhängigkeit von anderen Menschen, diese Phantasien ersetzen uns das, was wir wirklich brauchen: Nähe und Geborgenheit miteinander.

In unseren politischen Phantasien und Beziehungen ist die Gewalttätigkeit aufgrund von Überempfindlich­keit besonders relevant. Zumeist ist die Überempfind­lichkeit der Mächtigen und Gewalttätigen ihnen selbst und den meisten anderen aber nicht bewußt. Und auch die Gewalttätigkeit selbst bleibt oft unbewußt, vor allem, wenn sie die gesetzlichen Regeln der Demokratie oder die »selbstverständlichen« Methoden der Wirtschaft und der Industrie als Waffen verwendet.

 

  Paradiesphantasien in der Politik  

 

Aber die Gewalt ist nur eine »Droge« zur Vermeidung von Angst und Unsicherheit in unseren politischen Beziehungen. Andere Drogen, an denen wir mehr oder weniger suchtartig hängen, sind z.B. die Beruhigung und Verharmlosung von Angst und Gefahr, die Phantasie von der Machbarkeit des Glücks, die Geborgenheitsgefühle in Gruppen mit gemeinsamem Feind (»Einigkeit macht stark«), der Machtgewinn durch propagandistisches Schüren von Angst (bei den jeweiligen Anhängern) vor dem politischen Gegner, das Gefühl von Selbstsicherheit aufgrund politischer Mehrheiten. 

Alle diese und viele andere »Drogen« werden in allen Parteien und auch außerhalb der Parteien gegen die Angst vor der Abhängigkeit, Hilflosigkeit und Verletzlichkeit »eingenommen«.

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Auch das »kontraphobische« Wahlverhalten von Anhängern aller Parteien hat letztlich eine ähnliche Grundstruktur wie die Drogenabhängigkeit. Je größer die Angst und die Gefahr, desto mehr werden in manchen Bevölkerungskreisen politische Vertreter gewählt, die die Gefahren verharmlosen. Die jeweiligen Führer (ob schwarz, ob grün) sollen das Paradies, d.h. die Unverletzbarkeit herstellen. Damit man die reale Gefährdung nicht sehen muß (weil man glaubt, sie nicht aushalten zu können), damit man die eigene Unfähigkeit und die Unfähigkeit aller Politiker, dieses Paradies herzustellen, nicht betrauern muß, phantasiert man in zwei Richtungen:

In beiden Phantasien kommt die Rettung von außen. Es handelt sich dabei aber nicht (oder nicht nur) um die Rettung vor Umwelt- und Kriegsgefahren, sondern immer auch um die Betäubung von Verlassenheits- und Wertlosigkeitsgefühlen. Das Selbstbild wird durch die Zugehörigkeit zur »richtigen« Gruppe positiv. Diese Bestätigung wird ständig gebraucht und wiederhergestellt, da ein unsicheres Selbstwertgefühl einem »Faß ohne Boden« gleicht. Es muß ständig (durch Drogen jeder Art) aufgefüllt werden und wird doch nie voll.

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Der Kampf ums Überleben ist zu einem Kampf um die (narzißtische) Überlegenheit denaturiert. Die Inhalte der »Suchtphantasien« sind unterschiedlich in den verschiedenen Lagern, aber die Abhängigkeit selbst ist ähnlich.

Die politischen Gegner spielen sich die »Drogen« auch gegenseitig zu. Die Art, wie die Grünen und Alternativen oft Umweltgefährdung aufdecken und anprangern (Schuldzuschreibung und Abwertung der anderen Seite zum Zweck des Machtgewinns und zur Befriedigung der eigenen narzißtischen Bedürftigkeit), verhindert häufig die Beseitigung der Gefahr. Die Folge solcher abwertenden Anklagen gegen die »Etablierten« ist Trotz und (narzißtischer) Prestigegewinn (»Gesicht wahren«) auf der anderen Seite. Die »Etablierten« bekommen dadurch die Droge »Sich-Überwertig-Fühlen« gegenüber den »Aktionisten, die sich nicht auskennen und immer nur alles ablehnen« zugespielt, die sie selbst wiederum zur Stabilisierung des eigenen narzißtischen Gleichgewichts brauchen.

Die für Drogenabhängige typischen Extremphantasien, überwertig bzw. minderwertig zu sein (Manie und Depression), sind wichtige Motive im politischen Handeln. Beide Phantasien stellen eine Verleugnung der Realität dar. Im (durch Drogengenuß hergestellten) Gefühl der Überwertigkeit wird die eigene Abhängigkeit von der Umwelt und von den Bezugspersonen geleugnet. Die paradiesische Unverletzbarkeit scheint herstellbar oder schon hergestellt zu sein. Man ist selbst der Retter, oder man hat den Retter bei der Hand, man hat ein selbstverständliches Recht auf totale Versorgung und auf absolut konfliktfreie Beziehungen. Der Teufel sind die anderen, aber der Teufel kann einem nichts anhaben — man ist ja so stark.

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Fehlt die Droge, dann bricht dieses Überwertigkeitsgefühl zusammen. Der Mensch erlebt sich als hilflos, ausgeliefert und verletzbar. Die anderen sind immer noch der Teufel, aber der Teufel ist nicht mehr manipulierbar. Man kann ihm die totale Versorgung und den totalen Schutz nicht mehr abtrotzen. Im Gegenteil, die anderen werden zu übermächtigen und absolut böswilligen Verfolgern. Es bleibt nur noch der Selbstmord oder die Droge (die ein Selbstmord auf Umwegen ist).

Der vom Walkman abhängige Süchtige hüllt sich in eine künstliche Hülle aus Musik. Er verschafft sich dadurch einen scheinbar sicheren Schutz gegen die von ihm als verletzend und eindringend erlebten Geräusche der realen Umwelt. Er sieht nicht oder will nicht sehen, daß gerade dieser »Drogen-Schutz« besonders gefährlich ist, weil er den Bezug zur Realität vermindert. Auch der politisch Drogenabhängige vermeidet die Realität. Im (politischen) Machtkampf übersieht er die Stelle, an der er sich persönlich entscheiden kann und muß. Im Gefühl der Überwertigkeit überschätzt er die eigenen Möglichkeiten in politischen Aktionen (magisches Denken), im Gefühl der Minderwertigkeit unterschätzt er sie. In beiden Phantasien wird der Bezug zur Realität vermieden und damit auch die Chance und Notwendigkeit, zur Veränderung beizutragen.

Eine adäquate Realitätswahrnehmung ist immer durch Spannungstoleranz gekennzeichnet, die sich in dem Gefühl zeigt: Es ist schlimm oder schwierig, aber es gibt auch Möglichkeiten, das Leben nicht zu zerstören. Eine adäquate Realitätswahrnehmung produziert nicht die Phantasie, durch kurzfristige »Husarenstücke« die Welt verändern zu können. Die gesellschaftlichen und politischen Strukturen verändern sich auch (fast) unabhängig vom jeweils einzelnen. Alles was dieser einzelne tun kann, ist: auf Größenphantasien, aber auch auf die »Entschuldigung« durch Minderwertigkeitsphantasien, zu verzichten und so die Sicht auf die realen Möglichkeiten und Schwierigkeiten freizubekommen. Kurzfristige Aktionen oder Kampagnen sind wichtige Ereignisse, aber nicht Ursache, sondern eher Symptome gesellschaftlicher Veränderungen.

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  Freie Fahrt für abhängige Bürger  

 

Der Slogan heißt freilich anders. Das Auto scheint uns die Freiheit zu bringen, jedenfalls wenn wir Freiheit und »freie Fahrt« gleichsetzen. Spätestens im Stau wird uns bewußt, welchen Grad an Freizügigkeit uns unsere überfüllten Straßen noch lassen. Aber das zeitweise Eingesperrtsein in Blech und Abgase und das Wissen um die Luftverschmutzung durch das eigene Auto hindern uns nicht daran, unser Auto weiterhin als eines der wichtigsten Symbole unserer Freiheit zu verstehen. Das hängt wohl damit zusammen, daß wir schon abhängig, autoabhängig geworden sind.

Wie andere Süchtige haben wir immer viele Begründungen, weshalb wir gerade jetzt nicht auf das Auto verzichten können. Aber erschreckend viele Autofahrer brauchen auch gar keine Begründung für ihr Autofahren. Autofahren ist selbstverständlich, ist männlich und macht frei. BMW wirbt für eines seiner Modelle mit dem Satz: »Ein Rennfahrzeug mit Straßentauglichkeit für Männer, die ihren Willen zum Siegen offen zeigen.« Deutlicher kann man den männlich-narzißtischen Exhibitionismus und den Militarismus auf den Straßen der Bundesrepublik kaum beschreiben. In der täglichen »Schlacht« aller gegen alle dient das Auto als erlaubte Waffe gegen den Schwächeren und als Beweis für die eigene Stärke, die mit »Risikobereitschaft« gleichgesetzt wird.

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Dieses deutliche Muster der Angstverleugnung folgt genau dem Prinzip der Drogenabhängigkeit. Nur ist die Droge Auto die Droge der Herrschenden, und deswegen wird nichts gegen sie unternommen. Dieselben Politiker, die so sehr auf eine Kontrolle der Aids-Infizierten drängen, halten eine Geschwindigkeitsbeschränkung für unnötig. Das Rasen mit dem Auto ist (Abwehr-) systemkonform, die Verbreitung der Immunschwächekrankheit Aids ist es nicht. Sie stört das System der Verleugnung von Abhängigkeit, denn sie macht auf Krankheit, Schwäche und Tod aufmerksam. Kürzlich erfuhr ich, daß die »saubere« Stadt Zürich jetzt graue Leichenwagen einführen will anstelle der bisher schwarzen. Man soll den Tod nicht mehr sehen, und man produziert ihn doch täglich.

Das Fatale an diesem Geschehen ist, daß (reale) Abhängigkeit mit (suchtartiger) Abhängigkeit vertauscht wird und daß man gleichzeitig (suchtartige) Abhängigkeit mit Unabhängigkeit verwechselt. Der Autofahrer ist »selbstherrlich«, scheinbar sein eigener Herr. Er ist unabhängig von Fahrplänen, er steuert selbst und bestimmt selbst, wie schnell und wohin er fährt. Vor allem die jungen Fahrer unter 25 Jahren, in der Ablösungsphase vom Elternhaus, fahren im »Selbständig­keitsrausch« und kommen darin um. Mit Hilfe des Autos fühlen sie sich frei und groß, endlich nicht mehr bevormundet. Das Auto gibt ihnen auch die Möglichkeit, gegen gesetzliche Vorschriften und gegen die Polizei, den Vertreter ihres eigenen strengen Überichs, zu handeln. Und die »Väter« in der Regierung wagen es nicht, diesen »Freiheitsdrang« einzuschränken. Sie überlassen die Söhne dem Selbstmord. Durch Geschwindigkeitsbeschränkungen auch für diese Söhne zu sorgen würde auch nach der Einschätzung der »Väter« eine unzulässige Einschränkung bedeuten.

Manche sprechen von einem »natürlichen Trieb« des Menschen, sich schnell zu bewegen, von der Lust, in der Gefahr zu bestehen, von dem Rausch, sich an der Grenze zwischen Leben und Tod aufzuhalten. Ich kann solche Feststellungen nur für zynisch halten. 

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Für mein Verständnis hat die Autoabhängigkeit mit der großen Angst zu tun, die sie verdeckt. Der »mutige« und spöttische Satz »Mein Auto fährt auch ohne Wald«, den man von manchen Jugendlichen hört, macht deutlich, daß es bei diesem Rasen um die extreme Zukunftsangst gerade der Jugendlichen geht und um ihr unbewußtes Wissen darüber, daß wir uns nicht werden retten können, wenn wir weiterhin so wenig fähig sind zur Besorgnis um uns selbst und um andere.

Das Auto mit seiner geschlossenen Karosserie vermittelt manchem das Gefühl von Geborgenheit in all der inneren und äußeren Ungeborgenheit. Aber es ist eben eine falsche Geborgenheit, eine Geborgenheit durch Isolation von der Welt, in der man sich bewegt, durch Isolation von den Menschen, die man nun nicht mehr persönlich trifft. Andere Menschen sind im Autoverkehr nur störend. Man muß warten, bis sie einem den Weg wieder frei machen. Man freut sich nicht, sie zu treffen. Und allzuoft geht diese »Isolationshaft« tödlich aus. Allzuoft wird die als Schutz gegen die »Feindseligkeit der Welt« gebrauchte Karosserie zum Sarg. »Wie die Lemminge rasen sie in den Tod«,1) so schreibt ein Polizeireporter — aus Angst vor dem Tod?

 

Heilung der Sucht?  

Es stellt sich die Frage nach den Heilungschancen bei Drogenabhängigkeit im weitesten Sinn. Befragt nach den Heilungschancen der Drogenabhängigen im engeren Sinn, schütteln erfahrungsgemäß viele Psychotherapeuten den Kopf, insbesondere die Psychoanalytiker unter ihnen, die sich mit dem Erreichen von Drogen-Abstinenz alleine nicht zufriedengeben wollen.2) 

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Auch wenn sie sehr schwer herzustellen sind, möchte ich doch in großen Zügen die Bedingungen für eine grundsätzliche Heilung beschreiben, für eine Heilung, die nicht nur zur Entwicklung einer Ersatzsymptomatik führt, sondern das gestörte, ja teilweise zerstörte »System« grundsätzlich verändert.

Es gibt verschiedene Prinzipien und Wege, nach denen die Abhängigkeit der Süchtigen bekämpft wird. Das erste Prinzip ist das Verbot der Droge. Man verordnet dem Abhängigen eine Entziehungskur, damit er die Chance hat zu erleben, daß er ohne die Droge auch oder sogar besser leben kann als mit ihr. Eine Erfahrung, vor allem bei der Behandlung von Alkoholikern, ist die, daß kontrolliertes Trinken nicht möglich ist. Die Verführung zum Rückfall in den »grenzenlosen« Zustand der Unzuständigkeit ist für Alkoholiker schon beim Genuß von wenigen Tropfen Alkohol zu groß. So versucht man, sie zunächst einmal mehr oder weniger künstlich »trocken zu machen«. Dieser Zustand sieht psychisch oft zunächst so aus, als hätte man ein Brett über einen Sumpf gelegt. Der Sumpf darunter ist in gleicher Weise vorhanden wie vorher, und das Leben wird zum Balanceakt.

Für eine grundsätzliche (System-) Veränderung ist also mehr nötig als nur ein Verbot der Suchtmittel (das im internationalen Drogenhandel wie beim einzelnen Abhängigen schon schwer genug durchzusetzen und zu kontrollieren ist). Es ist mehr nötig als die reine Symptombekämpfung und die darin fast immer enthaltene Diffamierung und oft auch Bestrafung der Abhängigen. Wenn der UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar auf einer internationalen Drogenkonferenz davon spricht, daß alle Teile der Erde in einem noch nie dagewesenen Ausmaß von der »Macht des Bösen« betroffen sind, wenn er sagt: »Wir sehen uns einem Übel gegenüber, das nicht nur Menschen zerstört, sondern die Grundfesten der Gesellschaft durch Korruption und Gewalt erschüttert, die Sicherheit von Nationen gefährdet«,3) dann mag er wohl recht haben.

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Aber die Abhängigkeit der »Sauberen« von den »Schmutzigen« und von der Bekämpfung der »Schmutzigen« sieht er nicht. Man erkennt sie an der Diffamierung, durch die eine differenzierte Analyse der Zusammenhänge verhindert wird. Wenn Nancy und Ronald Reagan, wie sie sagen, ein aggressives Programm entwickelt haben, mit dem Amerika drogenfrei gemacht werden soll, dann leben sie darin selbst, wie auch die Drogenabhängigen und die Drogenhändler, von der Spaltung in Gut und Böse, die ihrerseits eine Art von Sucht ist. Wenn man Symptome nur als die »Macht des Bösen« bekämpft, bekämpft man in ihnen eigene Schwächen und Ängste und wird in diesem Kampf auf die Dauer nicht erfolgreich sein. Die Ausgrenzung der Drogenabhängigen im engeren Sinn trägt zur Verschleierung der Tatsache bei, daß wir alle mehr oder weniger drogenabhängig sind.

 

Wir alle als die Süchtigen brauchen Verständnis für uns selbst und für unsere süchtigen Mitmenschen. Verständnis heißt nicht Entschuldigung, sondern eine genaue Analyse der psycho-dynamischen und sozio-dynamischen Zusammenhänge. Verständnis schließt auch Auseinandersetzung nicht aus. Im Gegenteil, es öffnet den Zugang zu den verschiedenen hier beschriebenen Ängsten und läßt die Suchtmittel zunächst einmal überhaupt als Suchtmittel und dann auch in ihrer Ersatzfunktion (Ersatzbefriedigung und Ersatzsicherheit) erkennbar werden. Daraus entsteht ein Gefühl für die Gefährlichkeit der Auseinandersetzung und ein Verständnis dafür, weshalb sie bisher vermieden wurde. Die Auseinandersetzung wird differenzierter, sie enthält weniger Anklagen. Wenn wir »die Gesellschaft« nur anklagen, dann tun wir im Prinzip nichts anderes als das Ehepaar Reagan, das sich und (im Auftrag) seine Anhänger durch diese Anklagen von der Not der anderen abzusetzen versucht.

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In dem eben schon zitierten Bericht über die Weltdrogenkonferenz der UNO war auch zu lesen, daß Bundes­gesundheits­ministerin Süssmuth dafür plädierte, den Bauern, die in Asien oder Südamerika Drogen anbauen, eine neue Erwerbsgrundlage zu schaffen. Das sei allerdings schwierig, weil sie mit dem Anbau von Drogen im Vergleich zum normalen Erwerb den 20- bis 30fachen Gewinn machen könnten. Auf internationaler Ebene sieht man hier dieselbe Szene wie bei den einzelnen Abhängigen, wie bei jedem von uns: Es ist ungeheuer schwer, auf den scheinbar so viel höheren Gewinn zu verzichten, den wir aus unserer Abhängigkeit im Sinne der Sucht ziehen. Und außerdem besteht der Verzicht, psychologisch gesehen, nicht nur in materieller Einbuße, sondern auch in der Gefahr der Wiederkehr des Verdrängten, der verdrängten Angst und (realen) Abhängigkeit — eine Angst, die im wesentlichen auch unser kapitalistisches System stabilisiert.

Es bleibt also nur, den Gewinn zu suchen, der auch in diesem Verzicht liegt, den Gewinn an Menschlichkeit, Nähe und Kontakt. Hier wird mir oft Naivität vorgeworfen. Ich solle doch nicht glauben, daß dieses Bedürfnis nach Menschlichkeit irgend jemanden »hinter dem Ofen hervorlocken« könne. Da ich aber nichts anderes weiß und da meine Kritiker zumeist keine Alternative als die Gewaltanwendung vorschlagen, bleibe ich bei meiner Erfahrung, daß der Wunsch zu leben in allen Fällen neben der Angst vor dem Leben existiert und daß nicht die Schwäche dieses Wunsches das Problem ist, sondern die Größe der Angst.

Eine realistische Einschätzung der Chancen zur Hilfe bei dieser Sucht muß also die individuellen und kollektiven Ängste einbeziehen, z.B. die Ängste vor der »Kastration«, wenn Geschwindigkeits­begrenzungen eingeführt oder Raketen abgeschafft werden sollen, die Ängste vor dem »Aufgefressenwerden« im Kontakt, wenn die »Isolationshaft« in ihren verschiedenen Formen aufgelöst werden soll, die Ängste vor dem Zerstörtwerden, wenn in der Politik auf Gewalt verzichtet werden soll. Das sind freilich sehr große Hindernisse auf dem Weg zu mehr Menschlichkeit.

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Trotzdem halte ich es für sinnvoll, sich diesen Weg immer wieder genau anzusehen. Oft wollen wir ihn gar nicht sehen, weil er uns zu schwierig zu sein scheint. Dieses »Wegschauen« verstehe ich noch einmal als Ausdruck von Angst. Es könnte sich ja herausstellen, daß ganz kleine Schritte auf diesem Weg doch möglich sind. Die Hindernisse sehen oft so groß aus, weil wir immer wieder glauben, Siebenmeilenstiel besitzen zu müssen, um voranzukommen. 

Ich will die Hindernisse aber nicht verharmlosen. Es geht um so schwierige Prozesse wie die Entwicklung der Fähigkeit zu trauern (vgl. Kapitel 7). Die Perversion der Geborgenheitswünsche in Gewalttätigkeit ist rückgängig zu machen. Ärger, Schmerz und Trauer müssen ausgehalten werden, aber auch die Lust am Leben. Und hier sehe ich immer die einzige Chance: das Wiederfinden der »Lebenswünsche« ohne Verleugnung der Abhängigkeit. Letztlich sind diese Wünsche der einzige Motor, der den Menschen das Leben wieder mehr riskieren läßt.

Allerdings haben die meisten Süchtigen (im engeren und im weiteren Sinn) nicht das Gefühl, vor eine Wahl gestellt zu sein. Sie sehen nicht, daß sie sich prinzipiell entscheiden können, ob sie ihr beschränktes Leben in aller Verletzlichkeit und Konflikthaftigkeit leben oder ob sie sich selbst und eventuell auch andere mit Hilfe der verschiedenen Suchtmittel doch lieber umbringen wollen. 

Sie sehen nicht, daß sie diese Entscheidung täglich und stündlich treffen, nämlich die Entscheidung gegen das Leben und für den Tod. Ein großes Problem der Suchttherapie, aber im Prinzip jeder therapeutischen Veränderung, ist es auch, daß die Abhängigkeit selbst und vor allem die in ihr enthaltene Suizidalität als Gefahr nicht bewußt ist. So kann und braucht man sich gar nicht zu entscheiden. 

Die Abhängigkeit wird einfach mit »das ist mein freier Wille« kaschiert, und die Suizidalität als Gefahr wird nicht gesehen. Daß uns diese Wahlmöglichkeit bewußt wird, tut uns allen not. Die Entscheidung, ob wir lieber lebendig sein wollen oder tot, steht in jedem Moment des Lebens an, nicht nur grundsätzlich oder »später«. Wir befinden uns ja gar nicht »vor« dem Weg. Wir sind mitten darauf und entscheiden uns ständig in der einen oder anderen Weise, auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen.

Das Bewußtwerden der Entscheidungsmöglichkeiten bringt es mit sich, daß wir die Verantwortung für uns wieder selbst übernehmen, die wir bisher an andere oder an »das System« abgegeben hatten. Unsere Fähigkeit zur Besorgnis wächst; das ist ein Teil des Demokratisierungsprozesses, um den es auch bei uns geht — nicht nur in der Sowjetunion. Die Fähigkeit, um sich selbst besorgt zu sein und gleichzeitig um andere, ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine demokratische und das heißt auch: eine ökologisch denkende Gesellschaft. 

Diese Fähigkeit beruht darauf, daß die gegenseitige Abhängigkeit nicht verleugnet wird. 

Der Demokratisierungsprozeß bedeutet immer auch Verzicht auf Suchtmittel jeder Art. Er kann nur vorsichtig, schrittweise, langsam und gemeinsam vor sich gehen, weil die Angst so groß ist. Ich will ihn im nächsten Kapitel beschreiben.

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 Thea Bauriedl    Das Leben riskieren   Psychoanalytische Perspektiven des politischen Widerstandes