Start    Weiter

4.  Widerstand für mehr Demokratie

 

 

93-112

Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes. Seit der Antike haben sich Menschen darüber Gedanken gemacht, wie denn das Volk herrschen kann und soll. In unserer Zeit definierte Carlo Schmid die freiheitliche Demokratie als »die Chance, den Staat zu vermenschlichen«.1 Nützen wir diese Chance, schaffen wir uns diese Chance? Oder verstehen wir unter Demokratie »die sichere Führung des Volkes zum Besten des Volkes«?2 Oder setzen wir Demokratie in unserem Bewußtsein gleich mit Ruhe und Ordnung oder gar mit Kapitalismus?

Im Laufe meiner Forschung über Gesundheit und Krankheit zwischenmenschlicher Beziehungen bei Paaren, Familien und Gruppen, und schließlich auch über die Krankheitserscheinungen einer Gesell­schaft wurde mir klar, daß der Begriff Demokratie für mich gleichbedeutend ist mit: gesunder Beziehungsstruktur, ja mit psychischer Gesundheit überhaupt, und das gleichermaßen beim Individuum wie in kleinen und großen Gruppen. Für mich bedeutet Demokratie also: die optimal genutzte Chance, zwischenmenschliche Beziehungen zu »vermenschlichen«, oder auch: in gesunder und das heißt, befriedigender Weise miteinander umzugehen.

 Die Verfassung schützt nicht unser demokratisches Bewußtsein 

So wichtig eine demokratische Verfassung für die Chance ist, relativ herrschaftsfrei miteinander umzugehen, so wenig ist doch durch eine solche Verfassung diese Umgangsweise garantiert. Demokratie, wie ich sie verstehe, hängt ab von dem demokratischen Bewußtsein jedes einzelnen Bürgers und des Kollektivs. Eine demokratische Verfassung ist Ausdruck des Willens zur Demokratie. Sie ist nicht Ausdruck der Demokratiefähigkeit eines Volkes. 

Wenn die Demokratiefähigkeit eines Volkes, sein demokratisches Bewußtsein längere Zeit hinter der freiheitlichen Form der Verfassung zurückbleibt, gerät auch die Verfassung in Gefahr. Es droht ihr in zunehmendem Maße die Uminterpretation zu machtpolitischen Zwecken, und es droht ihr die Außerkraftsetzung, spätestens im Falle einer Destabilisierung, zum Beispiel bei einer sozialen, wirtschaftlichen, kriegerischen oder ökologischen Katastrophe.

Das demokratische Bewußtsein des einzelnen hängt eng mit dem demokratischen Bewußtsein des Kollektivs zusammen. Das gilt für den Vorgang der Entdemokratisierung ebenso wie für den Vorgang der Demokratisierung. In einem Klima der Entdemokratisierung, der Zunahme von Herrschaft und Gewalt, wagen es viele einzelne immer weniger, ihren persönlichen Wünschen entsprechend zu leben und sich zu artikulieren. Umgekehrt nimmt die kollektive Gewalt mit jedem einzelnen zu, der beginnt, sich einzuordnen, sich nicht mehr als Individuum bemerkbar zu machen, »Gemeinnutz« für den Gegensatz von »Eigennutz« zu halten und deshalb auf seinen »Eigennutz« entweder zu verzichten oder ihn totalitär durchzusetzen.

94


Aber auch im Prozeß der Demokratisierung geht das Lebendigwerden des einzelnen mit dem der Gesellschaft Hand in Hand. Das Prinzip der »Wiederkehr des Verdrängten«3) ist im Individuum und im Kollektiv dasselbe. Der einzelne wird psychisch gesünder, wenn und soweit er weniger Wünsche, Gefühle und Ängste in sich unterdrückt. Je gesünder in diesem Sinne die einzelnen werden, desto gesünder, lebendiger wird das Kollektiv. Die »Symptome der Macht« nehmen ab in dem Maße, wie Unbewußtheit, die Grundlage von Macht und Ohnmacht, aufgelöst wird.

 Demokratie beginnt beim einzelnen 

Demokratisches Bewußtsein ist die Grundlage demokratischen Verhaltens. Ich möchte im folgenden dieses demokratische Bewußtsein beschreiben. Wegen der Zusammenhänge zwischen individueller und kollektiver Gesundheit gehe ich dabei von den Erkenntnissen über die psychische Gesundheit des Individuums im Kollektiv aus, wie sie sich mir in meiner bisherigen Forschung über familiäre und gesellschaftliche Beziehungsstörungen ergeben haben.

Ein psychisch gesunder Mensch ist fähig, Freude und Leid, Genußmöglichkeiten und Bedrohungen zu erleben, die in seiner und für seine Gemeinschaft entstehen. Er fühlt sich mitbetroffen von allem, was die Gemeinschaft betrifft. Er erlebt sich weder außerhalb der Gemeinschaft (d.h. darüber, darunter oder abseits stehend), noch identifiziert er sich mit dem Ganzen der Gemeinschaft.

»Der Staat bin ich« ist eine ebenso krankhafte Phantasie wie: »Ich habe mit dem Staat nichts zu tun«. Es ist ein Ausdruck psychischer Gesundheit, wenn ein Mensch seinen Platz in der Gemeinschaft als solchen erkennt. 

95


Wenn dagegen ein Kind glaubt, es sei ein Erwachsener, wenn ein Erwachsener glaubt, er sei ein Kind, wenn eine Frau glaubt, sie sei ein Mann oder umgekehrt, wenn ein Politiker glaubt, er sei alleine für alles verantwortlich und müsse deshalb alle Macht in Händen haben, wenn ein Nicht-Politiker glaubt, er sei nicht mitverantwortlich für das, was im Staat geschieht, dann werden durch dieses verschobene Bewußtsein der einzelnen die lebendigen Möglichkeiten aller verfehlt. 

Eine lebendige Veränderung kann man nur erreichen, wenn man in seinem Bewußtsein die Stelle in der Gemeinschaft einnimmt, an der man sich wirklich befindet. Das bedeutet auch, daß jede Verleugnung oder Verdrängung der wirklichen Gefühle eine Bewußtseinsverzerrung darstellt, die eine emanzipatorische Veränderung in der Gemeinschaft behindert. Das Erleben des persönlichen Betroffenseins von den Ereignissen oder Zuständen in der Gemeinschaft hat dagegen zur Folge, daß adäquate und damit auch erfolgreiche Versuche unternommen werden, das eigene Leben und das der Gemeinschaft befriedigend zu gestalten und notfalls zu schützen.

 

Leben ist Veränderung. Deshalb bedeutet die Teilnahme an der Veränderung auch Teilnahme am Leben. Veränderungen in Richtung auf mehr psychische Gesundheit setzen immer voraus, daß der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung größer ist als die Angst vor den Konflikten, die dann entstehen, wenn man versucht, seine Lebenswünsche in die Realität umzusetzen. Unter dem Begriff »Lebenswünsche« verstehe ich die Bedürfnisse nach körperlicher und seelischer Befriedigung und nach Sicherheit. Aber diese unsere Lebenswünsche sind uns zu einem großen Teil unbewußt. Denn in unserer Sozialisation erfahren wir, daß Wünsche, die über das Maß des kollektiv Zulässigen hinausgehen, abzuwerten sind. Also werden sie verdrängt, und durch die Verdrängung entstehen innere Normen, die den äußeren Normen entsprechen und diese aufrechterhalten.

96


Eine emanzipatorische Veränderung nimmt ihren Anfang im Verzicht auf die Unterdrückung und Diffamierung der eigenen Wünsche. Wenn die eigenen Wünsche und die damit verbundenen Gefühle nicht mehr für falsch oder für schlecht gehalten werden, beginnt der Mensch, sich zunehmend mehr von seinen Bedürfnissen bestimmen zu lassen als von den Normen innerhalb und außerhalb seiner Person.

Der Staat hat Möglichkeiten, die Wünsche seiner Bürger kompromißhaft zu befriedigen, indem er sie teilweise verwaltet. Aus Wünschen werden dann Rechtsansprüche, wobei diese Normierung von Wünschen zur Konfliktregelung dient, indem sie die Wünsche der einen im Konfliktfall den Wünschen der anderen unterordnet. Ein Austragen von Konflikten als emanzipatorischer Vorgang ist durch die Normierung und die Befolgung oder Durchsetzung von Rechtsansprüchen nicht möglich. Der »Rechtsstaat« ist also eine Kompromißbildung, die ständiger Veränderung bedarf, wenn die Gesellschaft nicht erstarren will. Freiheit und Selbstbestimmung beruhen auf dem Kontakt des Individuums zu seinen Bedürfnissen und bedingen eine permanente Infragestellung individueller und kollektiver Normen. Nur in einem solchen ständigen Veränderungsprozeß kann ein Bewußtsein dafür entwickelt werden, daß die Lebenswünsche der einen den Lebenswünschen der anderen in einer gesunden Beziehung nicht entgegenstehen, weil Leben und Überleben immer nur gemeinsam möglich ist.

Die hier beschriebenen Veränderungen werden vom einzelnen nur gewagt, wenn ihm nicht nur sein persönliches Betroffensein von allem bewußt ist, was die Gemeinschaft betrifft. Um Möglichkeiten zur Veränderung sehen zu können, ist auch die Erkenntnis der persönlichen Beteiligung an allem nötig, was geschieht und was nicht geschieht. Der Hegelsche Satz »Das Tun des einen ist das Tun des anderen«4) zerfällt aber in unserer von Schuldbewußtsein und Schuldprojektionen geprägten Kultur zumeist in: »Was die anderen (Böses) getan haben oder tun, ist nicht das, was ich (guter Mensch) getan habe oder tue.« 

97


Die Hopi-Indianer haben sich das Bewußtsein erhalten, daß sie für alles mitverantwortlich sind, auch für die Taten ihrer »Feinde«. Bei uns wird zwar die Möglichkeit, durch Provokation den Feind zur Gewalttätigkeit zu veranlassen, als Mittel der Politik verwandt, aber die Verantwortlichkeit derer, die die Gewalt bei ihren Feinden durch eigene Gewalttätigkeit (und sei es »legale« oder auch nur verbale Gewalttätigkeit) mit hervorrufen, wird zumeist nicht als solche erkannt. Wir sind gewöhnt zu denken, daß das Böse jeweils von den anderen, den »Bösen«, ausgeht und ausgeführt wird, während wir selbst nur auf diese anderen reagieren. Wir machen »die anderen« wohl für unsere Taten verantwortlich, fühlen uns selbst aber nicht mitverantwortlich für das, was die anderen tun.

Durch die Verleugnung der eigenen Verantwortung für das Tun der anderen entsteht das Gefühl der Ohnmacht diesen anderen gegenüber und daraus resultierend die Phantasie, die anderen nur durch eigene Übermacht bewegen zu können. So setzt sich das Spiel der Verwandlung von Ohnmachtsgefühlen in Machtphantasien immer weiter fort. Es scheint keinen anderen Ausweg aus der Ohnmacht zu geben als den der Machtentwicklung. Und wenn es nicht möglich ist oder ideologisch abgelehnt wird, selbst mächtig oder übermächtig zu werden, dann bleibt für den einzelnen oder den unterlegenen Teil der Bevölkerung scheinbar nur die Möglichkeit, passiv zuzusehen, wie sich bei anderen (politisch, militärisch, ökonomisch) Macht und Gewalt immer mehr konzentrieren.

Erkennt jedoch der einzelne seine Beteiligung am Zustand des Ganzen, dann glaubt er nicht mehr, erst eine irgendwie geartete Machtposition im System erreicht haben zu müssen (etwa einen Ministersessel oder die Mehrheit im Parlament), um Veränderungen in Gang zu setzen. Lebendige Veränderungen können nur bewirkt werden, wenn man an dem Platz, an dem man sich befindet (und sei es ein Ministersessel), zu

98


verstehen versucht, was dieser Platz politisch bedeutet und welche Möglichkeiten es gibt, hier mündiger zu werden, hier abgebrochene, eventuell auch schwierige und ängstigende Kontakte wieder aufzunehmen, hier scheinbar selbstverständliche Loyalitäten in Frage zu stellen, usw.5)

Demokratisches Bewußtsein als Grundlage demokratischen Verhaltens hat nichts mit einer abgehobenen Moral zu tun. Es besteht vielmehr im Erkennen und Ergreifen von Chancen, an jeder Stelle des Systems das Leben des einzelnen und damit gleichzeitig das Leben der Gemeinschaft befriedigender und sicherer zu gestalten. Es handelt sich dabei also eigentlich um einen gesunden Egoismus des einzelnen, der das Wohl des einzelnen nicht im Gegensatz zum Wohl der Gemeinschaft sieht. 

In diesem Sinne wird der Begriff »demokratisches Bewußtsein« dem Begriff »ökologisches Bewußtsein« sehr ähnlich, denn auch der Begriff »ökologisches Bewußtsein« ist um die Dimension der psychischen bzw. der politischen Beziehungen zwischen den Menschen zu erweitern. Ökologisches Bewußtsein setzt detaillierte Kenntnisse über das Zusammenleben von Menschen, Tieren und Pflanzen voraus, die zum Teil weit über das hinausgehen, was in unseren durchschnittlichen Alltagsbeziehungen und vor allem in unserem durchschnittlichen politischen Denken Bedeutung erlangt. 

Die Vorstellungen von Demokratie und Ökologie fallen deshalb zumeist auseinander, weil beide Begriffe nur im Sinne von Regelmäßigkeiten oder Regelhaftigkeiten verstanden werden. Das Erleben der Menschen, ihre bewußten und unbewußten Phantasien in bezug auf andere Menschen, aber auch in bezug auf Tiere, Pflanzen und die unbelebte Umwelt bleiben dabei ausgeklammert und sind doch so wichtig und folgenreich.

99


Daß im zwischenmenschlichen Bereich das Wissen um die Gesetzmäßigkeiten des Zusammenlebens fehlt, liegt nun aber nicht (oder zumindest nicht nur) daran, daß hier zuwenig Forschung (z.B. psychoanalytische Friedensforschung) betrieben wird. (Zuwenig Forschung wird deswegen betrieben, weil die Ergebnisse dieser Forschung die bestehenden Machtstrukturen zu sehr in Frage stellen würden.) Das Wissen um die Gesetzmäßigkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen — und hier vor allem um die Gegenseitigkeit, also die Dialektik von Beziehungen — vermindert sich automatisch bei demjenigen, der selbst Teil der untersuchten Beziehung ist. Die eigene Betroffenheit und vor allem die eigene Beteiligung am gemeinsamen Befinden unterliegt der Verdrängung, sobald ein Konflikt entsteht, der die Konflikt- oder Risikotoleranz des einzelnen übersteigt.

Ich möchte das noch deutlicher machen: Demokratisches Bewußtsein kann sich nur auf der Grundlage der persönlichen Konfliktfähigkeit vieler einzelner entwickeln. Ingeborg Bachmanns »Tapferkeit vor dem Freund« ist dazu nicht weniger wichtig als die häufiger geforderte »Tapferkeit vor dem Feind«. Gemeint ist hier aber nicht eine Tapferkeit, wie sie von Soldaten erwartet und bei ihnen bewundert wird. Es handelt sich hier sozusagen um einen »Mut an zwei Fronten«, um die Fähigkeit, zu zwei eventuell im Gegensatz zueinander stehenden Personen oder Lagern eine jeweils eigenständige Beziehung aufzunehmen und aufrechtzuerhalten. Dazu muß auf die (scheinbare) Sicherheit verzichtet werden, im Lager der »Freunde« dadurch geborgen zu sein, daß man gemeinsam mit diesen »Freunden« die im eigenen Lager verdrängten Anteile bei den »Feinden« projektiv bekämpft. Die Spaltung der sozialen Umwelt in »Gute« und »Böse«, in »zu mir Gehörende« und »nicht zu mir Gehörende« im Bewußtsein des einzelnen ist zutiefst undemokratisch und hat auch undemokratische Verhaltensweisen wie Unterdrückung und Krieg zur Folge.

100


Das Leben riskieren — den Konflikt riskieren  

Für einen Menschen, der in einem »gespaltenen« Familienklima aufgewachsen ist, ist es besonders schwer, bei Verunsicherung nicht mit der Produktion von Feindbildern zu reagieren. Er ist es gewöhnt, sich bei einem Konflikt zwischen den Eltern sofort einem der beiden als Gefolgsmann oder Stütze zuzuordnen. Er weiß sofort, wer Freund und Feind ist, und erwirbt sich so eine Pseudostabilität, in der er aber als eigenständige dritte Person nicht wichtig ist. Wichtig ist die rasche Spaltung der Umwelt und die eigene Zuordnung zum »guten« Lager. Jede Annäherung an den »Feind« wäre für den »Freund« so gefährlich und ängstigend, daß dieser mit Kontaktabbruch drohen würde. Eine Position als dritte Person, mit einer jeweils eigenständigen Beziehung zu beiden Eltern, können Kinder aus gespaltenen Beziehungen besonders schwer einnehmen und aufrechterhalten.

Soweit ein Kind diese dritte Position einnehmen kann, muß es Vater oder Mutter weder für gut noch für böse halten. Sie sind dann eben Vater und Mutter. Mit der Fähigkeit, diese eigenständige Position einzunehmen, steht und fällt die Fähigkeit, Konflikte auszutragen, ohne sie in kriegerische Zustände übergehen zu lassen. Für die Konflikt- und Friedensfähigkeit unserer Kinder können wir deswegen nichts besseres tun, als auftretende Verunsicherungen und Schwierigkeiten mit dem Partner oder der Partnerin auszutragen und nicht die Kinder als Bundesgenossen in einem Krieg gegen den Partner zu verwenden. Die Kinder wachsen sonst in dem Bewußtsein auf, daß das Leben ein Kampf um die Bündnisposition mit dem einen gegen den anderen ist und daß die Liebe zum Feind ebensowenig sein darf wie kritische Distanz zum Freund. Geraten sie selbst in Konflikte, dann werden sie sich an spontan in ihnen entstehenden Feindbildern orientieren und nicht an den unterschiedlichen Wünschen und Ängsten aller Konfliktpartner.

101


Die Konfliktfähigkeit vieler einzelner Menschen in einer Gesellschaft ist die sicherste Garantie gegen Faschismus und Krieg. Konfliktfähige Menschen verhalten, sich entsprechend ihren eigenen Wünschen und Gefühlen. Sie bewegen sich nicht automatisch mit, wenn sich ein Führer oder eine Gruppe in einer bestimmten Richtung bewegt. Sie sind nicht starr mit ihren Führern oder Bündnispartnern verbunden und wagen es, bei entstehenden Konflikten die Ursache auch innerhalb der eigenen Person oder der eigenen Gruppe zu suchen. Diese Haltung stellt ständig Bündnisse und Loyalitäten in Frage. Dadurch entsteht eine lebendige Gruppe von Individuen, die sich ständig in Bewegung zueinander befinden, ihren jeweiligen Wünschen entsprechend. Mit einer solchen Gruppe oder auch Großgruppe, die sich die »Artenvielfalt der Meinungen und Gefühle« bewahrt hat, kann kein Krieg vorbereitet und durchgeführt werden.

Der Gegensatz dazu sieht im Extrem etwa so aus wie die Bilder der Parteitagsaufmärsche im Dritten Reich. Hier kann man deutlich den immer gleichbleibenden Abstand der marschierenden Menschen voneinander sehen, und auch wie die persönliche Eigenbewegung »zugunsten« der Regierbarkeit des Ganzen durch »den Führer« aufgegeben wurde. Die Konfliktunfähigkeit — und das ist die psychische Erkrankung — der ganzen Gesellschaft war zum damaligen Zeitpunkt schon so weit fortgeschritten, daß die Eigenbewegung eines einzelnen im großen faschistischen Kollektiv mit schwerer Strafe belegt war und deshalb kaum mehr gewagt wurde.

Die von Sigmund Freud entwickelte Methode der psychoanalytischen Behandlung psychischer oder auch psychosomatischer Erkrankungen bemüht sich um die Rückgewinnung der Eigenbeweglichkeit der Person. 

102


Deshalb ist diese Methode in totalitären Staaten verboten, und deshalb gerät der revolutionäre Anspruch dieser Methode in Vergessenheit, sobald sie sich — in kapitalistischen Ländern — als mehr oder weniger wohlfeiles Konsumgut versteht. Wesentlich für den revolutionären, grundsätzlich antifaschistischen Aspekt dieser Methode ist die Wiederkehr des Verdrängten. Wenn durch Psychoanalyse Konfliktfähigkeit entsteht oder zunimmt, dann geschieht das dadurch, daß bisher unbewußt gehaltene Anteile der Person, also zum Beispiel Ängste, Trauer, Wut, Verzweiflung, aber auch Mut und Lebenswille, ins Bewußtsein zurückkehren und für das Verhalten der Person wirksam werden.

Nun will ich hier nicht sagen, daß Friedensfähigkeit nur durch Psychoanalyse zu erreichen sei. Ich möchte vielmehr sagen, daß jeder Mensch den in der Psychoanalyse zur zentralen Methode gewordenen Vorgang der Wiederkehr des Verdrängten bei sich selbst auch ohne Psychoanalyse und ohne Psychoanalytiker zulassen und fördern kann. Man braucht nur nach Freuds genialer Idee damit zu beginnen, erst einmal möglichst vieles von dem, was einem an Einfällen in den Kopf kommt oder als Gefühl bewußt wird, für wichtig zu halten, auch freundliche Gefühle für den »Feind« und kritische Einfälle in der Beziehung zum »Freund«.

Wir haben als Kinder gelernt, daß wir im Leben am besten zurechtkommen, wenn wir die Einfälle und Gefühle möglichst früh in uns unterdrücken, die von der Familie oder in der Gesellschaft für überflüssig, lächerlich oder beschämend gehalten werden. Dadurch sind wir regierbar geworden, im weitesten Sinne des Wortes. Im Konfliktfall tendieren wir zur Unterordnung und zur Feindbildung. Das sind zwei Reaktionen, die derselben psychischen Grundstruktur entsprechen. Wir fragen uns dann nicht mehr: Was fühle ich? Was will ich? Fühle ich mich wohl? Was muß ich sagen und ändern, damit ich mich wohler fühle? Stgtt dessen fragen wir: Bin ich so richtig, wie ich bin? Habe ich richtige oder falsche Gefühle? Was muß ich tun, um nicht aufzufallen, um mich in die gemeinsame Bewegung des Ganzen möglichst gut einzuordnen?

103


Wenn man beginnt, die Frage nach der eigenen Zufriedenheit wieder an die Stelle der Frage nach der Konformität zu setzen, wird man automatisch politisch aktiver und trägt so zur Friedensfähigkeit beziehungsweise zur Kriegsunfähigkeit der Gemeinschaft bei. Dieser Gedanke setzt natürlich voraus, daß man sich nur mit den anderen, niemals gegen sie wirklich wohlfühlen kann. Die verhärteten Strukturen der Macht lösen sich auf, wenn man sie als unbefriedigenden Ersatz für mitmenschliche Zufriedenheit erkennt und deshalb auf sie verzichten kann. Der Weg der psychischen Gesundung im Prozeß einer psychoanalytischen Therapie und danach ist eine niemals endende Kette von Gewaltverzichten gegen sich selbst und gleichzeitig gegen andere.

 

Demokratisches Bewußtsein entsteht 
durch die Wiederkehr des Verdrängten

Wie entsteht nun dieses demokratische Bewußtsein? Welche psychischen Veränderungen im einzelnen und im Kollektiv sind nötig, wenn ein freieres Zusammenleben zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen möglich werden soll? Ich meine, daß es sich hier um Entwicklungsprozesse handelt, die in vielen kleinen Schritten vor sich gehen und die alle den gleichen Prinzipien folgen. Es geht immer wieder um den Vorgang der Aufhebung von Verdrängung, um die Auflösung von »Symptomen der Macht« und »Symptomen der Ohnmacht« und um die Zunahme von persönlichem Mut und persönlicher Befriedigung auf diesem Weg.

104


Über die Verdrängung bzw. die Unbewußtheit als Grundlage der Macht habe ich an anderer Stelle ausführlich geschrieben.6 Ich möchte deshalb hier nur einige Grundgedanken wiederholen. 

Der Vorgang der Verdrängung besteht darin, daß bestimmte Anteile der Realität, die dem bewußten Erleben »unerträglich« sind — wie Freud schrieb —, aus dem Bewußtsein ausgeschlossen werden und dann unbewußt, in ihrem abgespaltenen Zustand, eine meist gefährliche Aktivität entfalten. Die Ursache der Verdrängung unerträglicher Anteile ist Angst, die nach erfolgter Verdrängung zumeist nicht mehr erlebbar ist und deshalb häufig abgestritten wird. 

Das Prinzip der Verdrängung ist das der Spaltung. Hier ergibt sich die Parallele zwischen Spaltungsvorgängen im Individuum und Spaltungsvorgängen im Kollektiv. Ich habe das demokratische Bewußtsein hier als Aufhebung von Spaltungen zwischen »Gut« und »Böse«, »Richtig« und »Falsch«, »Wir« und »die anderen«, »Ich« und »Du« beschrieben. Folglich entsteht demokratisches Bewußtsein durch die »Wiederkehr des Verdrängten«, durch Bewußtwerden bisher abgespaltener, unbewußter Anteile im Individuum und in der Gesellschaft.

 

Aber was ist das Verdrängte, dessen Wiederkehr die Spaltungen im Individuum und zwischen den Personen aufhebt? Es sind scheinbar sehr unterschiedliche »Anteile«, die ins Bewußtsein zurückkehren, wenn sich »demokratisches« Bewußtsein im hier beschriebenen Sinn entwickelt. Es sind nicht nur Gefahren und Ängste, die von den Individuen wahrgenommen werden und so dem Verdrängungsdruck der Propaganda entgehen. Es sind auch emotionale und ethische Motivationsanteile, die gegen die Rationalisierungen der Machtpolitik immun werden und als wichtige Argumente in der politischen Auseinandersetzung überleben. Nicht nur Frauen »kommen endlich auch einmal an die Macht«, sondern das Verhältnis von Männern und Frauen in der Familie, Gesellschaft und Politik wird Gegenstand des Dialogs und damit weniger gewalttätig.

105


Aber auch die Integration von Minderheiten wird als eine Chance zur gesellschaftlichen Veränderung bewußt. Daraus folgt, daß Minderheiten weniger verfolgt werden und statt dessen- das Gespräch mit ihnen gesucht wird. Feindbilder in der Außen- und Innenpolitik sind Resultate von Spaltungen im Bewußtsein. Sie haben Aufrüstung und Provokation des Feindes zur Folge. Ein idealtypisch demokratischer Staat hat keine gejagten Minderheiten und keine Feinde im Innern und außerhalb.

Schließlich treten im Laufe der Entwicklung demokratischen Bewußtseins die schädlichen Abfälle und Nebenwirkungen in allen Bereichen der Wissenschaft und Technik, der Wirtschaft, der Medizin, der Psychotherapie usw. ins Bewußtsein. Gerade diese scheinbar unvermeidlichen »Abfälle« oder »Nebenwirkungen« werden im gespaltenen Bewußtsein der Machtpolitik (im weitesten Sinne) verdrängt, damit die Effektivität der Machtausübung nicht gestört wird. Im Rahmen der Machtpolitik werden die Indikatoren für Gefahren wie Unfälle, giftige Deponien oder die schleichende Vergiftung der Umwelt und der zwischenmenschlichen Beziehungen verharmlost oder vertuscht — bis diese »verdrängten Anteile« zu einer Katastrophe führen. Wenn Demokratie mit Ruhe und Ordnung oder gar mit Kapitalismus gleichgesetzt wird, gerät das Leben der Bürger in Gefahr, zumeist ohne daß diese wissen, wodurch.

Die Aufhebung der Verdrängung bewirkt auch eine Auflösung der Symptome der Macht. Im 2. Kapitel habe ich schon viele Erscheinungsformen solcher Machtsymptome aufgeführt. Ich möchte hier nur noch einmal auf die Grundprinzipien der Machtsymptomatik zurückkommen. Eines dieser Grundprinzipien in der Gesellschaft ist für mein Verständnis die Zusammenballung von Überlegenheit bei wenigen, was immer Unterlegenheit und Unterdrückung von vielen bedeutet. 

106


Ich verstehe die Produktion und die Lagerung von Waffen aller Art als Krankheitssymptome einer Gesellschaft, ebenso wie die Konzentration von wirtschaftlicher und politischer Macht und auch die zentralistische Energieproduktion in Atomkraftwerken. Andere Symptome derselben »Macht-Krankheit« sind zum Beispiel das staatlich kontrollierte Energiemonopol (wie schon erwähnt, im Jahre 1935 zur Vorbereitung des Krieges eingeführt und noch heute in der Bundesrepublik in Kraft), die Registrierung und Überwachung der Bürger durch immer deutlicher politischen Interessen dienende Nachrichtendienste und Polizeieinheiten. Anzeichen für eine weiter zunehmende Erkrankung unserer »Demokratie« sind die Notstandsgesetze und ihre Weiterführung in Form der sogenannten Sicherheitsgesetze sowie das geplante Zivilschutzgesetz. Alle diese Gesetze sichern die Zentralisierung der Gewalt in Händen von Politikern. Sie sind Ausdruck der Resignation in bezug auf die Möglichkeiten der Demokratisierung in der Bevölkerung. Wenn ihnen nicht genügend »gesunder Widerstand« entgegengebracht wird, werden sie dazu führen, daß die restlichen Freiheiten und »Menschenrechte« in den sogenannten demokratischen Staaten spätestens bei Ausbruch einer Katastrophe verlorengehen.

Die »Symptome der Macht« stehen in komplementärer Beziehung zu dem Symptomen der Ohnmacht. Diese werden sehr häufig übersehen, was dazu führt, daß die Symptome der Macht unauflösbar erscheinen. Zumeist beachtet man nicht, daß es nicht nur eine Arroganz der Macht, sondern auch eine Arroganz der Ohnmacht gibt. In beiden Fällen wird die Gegenseitigkeit der Abhängigkeit aller Menschen voneinander verleugnet7. Die Arroganz besteht jeweils darin, daß die Abhängigkeit der Starken von den Schwachen nicht zur Kenntnis genommen wird. Es scheint für beide Teile so, als hätten die einen mit den anderen nichts zu tun, weshalb die Schwachen an der Stärke der Starken auch nichts ändern könnten.

107


Die Arroganz der Schwachen besteht darin, daß sie sich selbst für unschuldig, schwach und selbstverständlich für Objekte der Mächtigen halten, Objekte, die ihre »Regierung«, nicht etwa Beauftragte, wählen, denen sie ständig auf die Finger sehen müßten. »Wir Kleinen brauchen es gar nicht zu versuchen, den Großen ins Handwerk zu pfuschen. Die sind ja doch stärker. Nein, da mischen wir uns nicht ein.« In stummer Ohnmacht und großer Distanz zum »schmutzigen Geschäft« der Politik unterwerfen sie sich den als »Sachzwän-ge« deklarierten Machtansprüchen und gefährlichen Entscheidungen ihrer »Regierung«. Aufgrund dieser Mentalität konnte die Ungleichverteilung der Macht immer wieder an den verschiedenen Stellung unserer Gesellschaft entstehen.

Eine zunehmende Gleichverteilung von Macht und Verantwortung in der Bevölkerung würde die Symptome der Macht allmählich auflösen. Dazu ist vor allem eine Bewußtseinsveränderung der bisher Schwachen nötig. Solange sie ihre persönliche Beteiligung am Entstehen der Machtsymptomatik nicht erkennen, warten sie immer — und vergeblich — darauf, daß die Mächtigen aus Einsicht ihre Macht abgeben oder durch eine Übermacht dazu gezwungen werden. Solange die sogenannten gesunden Familienmitglieder nicht sehen, wie sie selbst am Zustandekommen und an der Aufrechterhaltung der psychischen oder psychosomatischen Erkrankung eines Familienmitglieds beteiligt sind, solange sie dieses Mitglied ausstoßen oder auf andere Weise unbewußt in seiner Krankheit fixieren, anstatt ihre jeweils persönliche Beziehung zu dem Kranken zu reflektieren und zu verändern, so lange kann das Familiensystem nicht gesund werden — und der »Patient« auch nicht. Solange die Häufung von Krebserkrankungen in der Nähe von militärischen und »nicht-militärischen« Atomanlagen nicht als Folge der Passivität der

108


Bevölkerung verstanden wird, die solche Zusammenballungen von Zerstörungspotential zuläßt, wird sich an den Ursachen dieser Erkrankung nichts ändern. Dasselbe gilt für die Zusammenballung wirtschaftlicher Macht und all die anderen Symptome unserer kranken Gesellschaft.

Ich möchte noch eine Bemerkung zum Umgang mit Symptomen machen. Psychoanalytiker wissen, daß Symptome Anzeichen für eine Krankheit sind, nicht die Krankheit selbst. Sie werden in der Psychoanalyse auch nicht als Abweichungen von der Normalität verstanden, die korrigiert werden müßten. Symptome sind für den Psychoanalytiker vielmehr Kompromißbildungen, in denen der Wunsch zu leben eingeschränkt ist zugunsten von übermächtig gewordenen Sicherheitsbedürfnissen, die sich in der Vergewaltigung der eigenen Person und der Umwelt ausdrücken. Man könnte auch im Bereich psychischer Erkrankungen vom Prinzip der Zusammenballung von Macht und Gewalt und von »struktureller Verantwortungslosigkeit« sprechen, um die Parallele zwischen der Erkrankung des Individuums und der Erkrankung der Gesellschaft deutlich werden zu lassen. Unter dem Begriff »strukturelle Verantwortungslosigkeit« verstehe ich Formen von Beziehungslosigkeit, die unter dem Deckmantel von Selbstverständlichkeiten, von Sachzwängen und von Bürokratie beim Individuum und in der Gesellschaft erkennbar sind.

Psychoanalytiker wissen auch, daß die reine Symptombekämpfung (etwa durch Verbote oder »gute« Ratschläge) die Symptome verstärkt oder bestenfalls in einen anderen Ausdruck von Gewalt umwandelt (Symptomverschiebung). Gewalt in der Gesellschaft ist das Symptom einer Erkrankung, an der jedes Mitglied der Gesellschaft auf seine Weise beteiligt ist. Gewalt auf sehen der Regierung oder auch auf sehen von Demonstranten kann nicht durch Gewalt aufgelöst werden. 

109


Wer der Bewußtseinsveränderung als einziger Gesundungsmöglichkeit nicht vertraut, findet allerdings keinen anderen Weg als den der gewaltsamen Bekämpfung von Symptomen, (siehe auch Kapitel 5, in dem ich mich ausführlich mit dem Problem der Gewalt und ihrer Auflösung befasse). Je weniger ein Symptom als Ausdruck einer Erkrankung und gleichzeitig auch als Ausdruck eines Wunsches nach Veränderung verstanden wird, und je mehr es den »Therapeuten« (in der Gesellschaft: jeden einzelnen) ängstigt, desto gewalttätiger sind die Mittel, die zu seiner Bekämpfung eingesetzt werden. Dieses Prinzip ist nicht nur am Bauzaun von Wackersdorf zu erkennen, sondern ebenso in den Formulierungen der neuen Sicherheitsgesetze, beim Einsatz schädigender Medikamente in der Medizin (z.B. auch der Psychopharmaka in der Psychiatrie) und im Umgang mit Kriminellen durch die Justiz und in den Vollzugsanstalten.

Die Psychoanalyse bemüht sich darum, ein Symptom nicht als eine Gegebenheit hinzunehmen und sich auf die »Verwaltung« seiner Folgen zu beschränken. Sie bemüht sich darum, die Ursachen der Symptomatik zu erforschen und durch dieses Erforschen aufzulösen. Die Ursachen oder Grundlagen der Symptomatik werden in der Spaltung des Bewußtseins und in der Verdrängung »unerträglicher« Anteile aus dem Bewußtsein gesehen. Die im Laufe einer psychoanalytischen Therapie eintretende Bewußtseinsveränderung ist grundsätzlich als Folge von Ideologiekritik8 zu verstehen. Kritik ist hier nicht Anklage gegen bestehende Verhältnisse, sondern Erkennen des individuell und kollektiv Verdrängten. Die bloße Anklage der bestehenden Verhältnisse hat entweder Resignation oder blinden Kampf gegen Symptome zur Folge. Das Erforschen des Verdrängten dagegen kreist um die zentrale Annahme, daß jeder Mensch sowohl Produkt als auch Produzent der ihn umgebenden Verhältnisse ist. Diese Form der Analyse hat andererseits nichts mit Entschuldigung von bestehenden Machtverhältnissen zu tun, wie oft vermutet wird.

110/111

Im Gegenteil, ihr wichtigstes Element ist die Rückverteilung von Verantwortung dorthin, wo sie wirklich hingehört, was eine Freisetzung lebenserhaltender Kräfte zur Folge hat. Eine solche Analyse des Individuums und der Gesellschaft hat nicht den Kampf gegen »das System«, sondern die Auflösung der Verkrampfungen des Systems von innen her zur Folge. Ich glaube, daß wir aus dieser Haltung und Erfahrung einer wohlverstandenen Psychoanalyse als Bürger und Politiker, die an der Entwicklung demokratischen Bewußtseins interessiert sind, lernen können.

Mein relativer Optimismus in bezug auf die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Beziehungen stammt aus Erfahrungen mit politischen Gruppen, die nach lebens­erhaltenden Auswegen aus der Misere unserer gesellschaftlichen Erkrankung suchen. In solchen Gesprächen habe ich den Eindruck gewonnen, daß ein großes Bedürfnis nach Demokratisierung in der Bevölkerung besteht, das für friedliche Veränderungen genützt werden kann. Für viele geht es nicht mehr um eine politische Stärke, die durch Schulterschluß und Gleichschritt erreicht wird. Die Erfahrung, daß solche Stärke nur gewaltsame Veränderungen hervorbringen kann, haben wir in der Zeit des Nationalsozialismus gemacht. 

Immer mehr Menschen begreifen auch, daß Demokratie nicht mit Wahlen oder anderen Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip gleichzusetzen ist. Sie sehen, daß es bei solchen Abstimmungen zumeist um die Unterdrückung einer Minderheit durch die oft sehr knappe Mehrheit geht, die durch den Einfluß (ökonomischer und anderer) Machtapparate und durch raffinierte Propaganda zustande kommt. Demokratie und Machtkonzentrationen werden immer deutlicher als einander ausschließende Strukturprinzipien der Gesellschaft erkannt.

Demokratisierung ist ein unendlicher Prozeß. Sie kann nicht von außen oder von oben vorgeschrieben werden. Sie kann nur spontan (im Sinne von: nicht »gemacht«) aus dem Lebenswillen jedes einzelnen Bürger entstehen und durch »Ansteckung« zwischen den einzelnen und zwischen den Völkern verbreitet werden. Psychische Gesundheit beim Individuum und im Kollektiv entsteht zwar spontan, aber doch nicht von selbst, sie ist nicht ein selbstverständlicher Normalzustand. 

Jede zwischenmenschliche Beziehung braucht dauernd die Aufmerksamkeit, die Kraft und allen Mut der Beteiligten, wenn sie nicht verhärten soll. Dabei bieten alle Konflikte die Chance, sie als »Übungsfeld« für die Fähigkeit zu nützen, Gefahren für die Beziehung frühzeitig zu erkennen und Rettungsaktivitäten in der Form einzuleiten, daß Spaltungen nicht entstehen oder so gut wie möglich aufgelöst werden. 

Oft erreicht man auf diesem Weg der psychischen Gesundung und Gesunderhaltung von privaten und politischen Beziehungen andere Ziele, als man angestrebt hat. Dann ist es wichtig, nicht zu vergessen: Der Weg ist das Ziel.

112

#

 

 

 

 ^^^^ 

www.detopia.de 

 Thea Bauriedl    Das Leben riskieren   Psychoanalytische Perspektiven des politischen Widerstandes