Das Buch Jesaja  

(Michelangelo:) 
Der Prophet Jesaja 
(Sixt. Kapelle, Rom) 

 

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Das Buch Jesaja ist keine ursprüngliche Einheit. Die Forschung unterscheidet drei Komplexe, die in unter­schiedlichen Zeiten entstanden sind: Der erste Teil umfaßt die Kapitel 1-39. Nur hier kommt den Name Jesaja vor. 

Der politische und zeitliche Raum, auf den sich die Texte beziehen, ist die 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts in Jerusalem. Drei große Themen bestimmen Jesajas prophetische Kritik vor allem: eine soziale Anklage, die Kritik der Militär- und Bündnispolitik und eine Kultkritik. 

Jesaja meldete sich unter vier Königen (Usija, Jotam, Ahas und Hiskija) öffentlich zu Wort, ohne dabei den Prophetentitel für sich in Anspruch zu nehmen. Doch unter allen Schriftpropheten ist er der bedeutendste. Mehr als andere hat er eine weitreichende Wirkungsgeschichte ausgelöst. Religiöse Reformer haben sich immer wieder auf ihn bezogen, wie dies besonders die zwei weiteren Komplexe des Jesajabuches belegen. Auch Lk 4,16-22 belegt einen Nachhall seiner Botschaft.

Den zweiten Komplex nennt die Forschung Deuterojesaja (»Zweiter Jesaja«); er enthält in den Kapiteln 40-55 die Reden eines unbekannten Propheten im Exil. Die Entstehungszeit dieser Texte wird zwischen 546 und 539 angesetzt, das heißt in der Zeitspanne zwischen dem Beginn der Feldzüge des Kyrus und seiner Eroberung Babylons. Entstanden sind diese Schriften vermutlich in Babylonien, nicht in Jerusalem. Sie verheißen, daß Jahwe die Deportierten in die Heimat zurückführen werde. Werkzeug für die erwartete Wende ist dem Autor der Perserkönig Kyrus (Kyrus II., der Große, 559-530). 

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Nach der Rückkehr der Verbannten erwartet er die Königsherrschaft Jahwes von Jerusalem aus (52,7-10), den Wiederaufbau der Stadt (54,11-17), ein Erblühen des Landes (51,3) und des Volkes (49,19-21). In Gerichtsreden gegen die Völker und ihre Götter (z.B. 41,21-29; 43,8-13; 44,6-8) und in ermutigenden Preisreden auf Jahwe (40,12-31) bekräftigt der Prophet, daß Jahwe der einzig wirkliche Gott ist, doch wird die Polemik gegen die Herstellung von Götzenbildern und gegen deren Kult (z.B. 14,9-20; 46,5-8) nicht Deuterojesaja, sondern einem späteren Verfasser zugeschrieben. 

Umstritten ist in der Forschung die Frage, ob die <Gottesknechtlieder> (42,1-4; 49,1-6; 50,4-9; 52,13-53,12) von Deutero-Jesaja stammen und ob sie sich auf den Propheten selbst beziehen oder auf einen kommenden Messias oder auf ganz Israel.

Der dritte Teil des Buches wird als Tritojesaja (»Dritter Jesaja«) bezeichnet. Das Wirken dieses Propheten wird um 530 in Palästina vermutet. Seine Botschaft findet sich in den Kapiteln 56-66, doch wurden auch einige ältere wie jüngere Texte der Sammlung eingegliedert. Themen sind die zukünftige Herrlichkeit Jerusalems und seines Tempels, die Heimkehr der Zerstreuten und die Ankündigung des Gerichts an die Völker. 

Alle drei »Jesajas« sind gebildet, fromm, wach für die Vorgänge ihrer Zeit und couragiert. Es gibt Momente, die auf einen inneren Zusammenhang des Buches Jesaja verweisen, dennoch ist es das Resultat einer langen Entstehungsgeschichte. Die Jesaja-Handschriften aus Qumran belegen, daß zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 1. Jahrhundert n. Chr. der heutige Umfang des Buches festlag. Der Hauptteil des Tritojesaja entstand nach 520 v. Chr., auch Texte in den Kapiteln 13-35 dürften aus dieser Zeit stammen. 

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Mit einer genauen Zeitangabe beginnt Jesaja seinen Bericht; in der Ich-Form geschrieben. Es ist das letzte Regierungsjahr des Königs Usija 736/735. Über die Herkunft Jesajas ist nichts bekannt. Wenn man den ungehinderten Verkehr Jesajas mit dem König und dem Oberpriester des Jerusalemer Tempels nicht als Folge seines Prophetenamtes sehen will, ist anzunehmen, daß er selbst aus einer Familie stammt, die Thron und Altar nahe stand.

Die Datierung der Berufungsvision verweist auf ein visionäres Erlebnis, das Jesaja überfallen hat; er ist nicht durch Grübelei oder eigenen Entschluß zum Prophetenamt gekommen. Über die Natur dieses Erlebnisses reflektiert der Text nicht. Die geschilderte Gottesschau ist auch für israelitisches Empfinden ein ungeheures und außergewöhnliches Widerfahrnis, wenngleich — wie immer bei Visionen — das geschaute Bild aus dem seelischen Potential des Visionäre gespeist wird und sich hier mit der Eindrücklichkeit des Tempels verbindet. Möglicherweise befand sich Jesaja während seiner Vision im Tempel.

Im nachtschwarzen Raum, in dem nur die Kohlen des Rauchaltars glühen, strahlt plötzlich blendende Lichtfülle auf. Sie geht von Jahwe aus, der auf dem Stufenthron sitzt und dessen Mantelsaum die Tempelhalle ausfüllt. Ringsum Serafen, unter deren Gesang die Türen in den Angellöchern beben.

Babylonische Darstellungen zeigen solche Serafen auf Tempel wänden und Kultgegenständen. Ihre Schwingen dienen nicht dem Fliegen. Bei Jesaja haben sie drei Flügelpaare, die ihnen zu schweben erlauben, mit denen sie aber auch — zum Zeichen ehrfürchtiger Distanz zu Gott — Gesicht und »Beine« bedecken, was als eine Umschreibung ihrer Scham zu verstehen ist. Als Thronassistenten repräsentieren sie die göttliche Herrlichkeit. 

Im Gegensatz zu den Serafen haben die Cheruben eine ältere israelitische Tradition. Sie werden mit dem Bundeszelt (Ex 37,5-9) und dem Tempel (1 Kön 6,29-31) verbunden, wo sie mit ausgebreiteten Flügeln den Zugang zum Allerheiligsten beschirmten. Cheruben stehen auch an der Paradiespforte und bewachen den Zugang zum Baum des Lebens (Gen 3,24; => S.59). Außerdem »reitet« (2 Sam 22,11) oder »thront« (2 Kön 19,15 u. ö.) Jahwe auf ihnen.

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Denn so spricht Jahwe, der Heilige Israels:
Nur in Umkehr und Ruhe liegt eure Rettung,
Im gelassenen Abwarten und Vertrauen eure Stärke!  
(Jes 30,15)

Er meinte, der bewußte Verzicht auf militärische Aufrüstung, im Vertrauen darauf, daß Gott auch die Macht des assyrischen Weltreiches nicht ins Grenzenlose wachsen lasse, hätte das Überleben Judas sichern können. Seine Zeitgenossen konnten diese Bewertung nicht akzeptieren. Der Verlauf der Geschichte indes hat die Position Jesajas bitter bestätigt. 

Deutlich hervorzuheben ist, daß in der Prophetie Jesajas zum ersten Mal in der Religionsgeschichte Israels Jahwe in eine grundsätzliche Distanz zur staatlichen und militärischen Macht tritt. Anders formuliert: Jesaja bestreitet dem König und seiner Regierung die Vereinnahmung Jahwes für die eigenen militärpolitischen Ziele. Er bricht die Synchronschaltung von Königtum und göttlicher Weltpolitik auf: Jahwe lasse sich von den taktischen Spielen und Machtinteressen des davidischen Königs nicht in Anspruch nehmen.  

 


 

Jesaja's Friedensutopie  

 

Ernst Bloch:

"Sozialutopien kontrastierten die Welt des Lichts gegen die Nacht, malten ihr Licht-Land breit aus, worin der Unterdrückte sich erhoben, der Entbehrende sich zufrieden fühlt... Sind die Sonneninseln erreicht, so geht es auf ihnen gar nicht mehr so hoch, es geht eher normal her. 

Denn normal, denkt man, ist es doch, oder müßte es sein, daß sich Millionen Menschen nicht durch Jahrtausende von einer Handvoll Oberschicht beherrschen, ausbeuten, enterben lassen. Normal ist, daß eine so ungeheure Mehrheit es sich nicht gefallen läßt, Verdammte dieser Erde zu sein. 

Statt dessen ist gerade das Erwachen dieser Mehrheit das ganz und gar Ungewöhnliche, das Seltene in der Geschichte. Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen ... Und selbst wo sie gelungen waren, zeigten sich in der Regel die Bedrücker mehr ausgewechselt als abgeschafft. 

Ein Ende der Not: das klang durch unwahrscheinlich lange Zeit gar nicht mal normal, sondern war ein Märchen; nur als Wachtraum trat es in den Gesichtskreis."   

 

Jesaja, 11,1-9: 

  1. Ein Reis wird wachsen aus dem Baumstumpf Isais, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln hervorsprießen. 

  2. Auf ihm [wird ruhen der Geist Jahwes: Geist der Weisheit und des Verstandes, Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Gotteserkenntnis und der Furcht Jahwes. 

  3. Er richtet nicht nach dem Augenschein und entscheidet nicht nach dem Hörensagen, 

  4. sondern er wird die Hilflosen in Gerechtigkeit richten und für die Elenden des Landes entscheiden, wie es recht ist. Er schlägt den Gewalttätigen mit dem Stock seines Wortes und tötet den Übeltäter mit dem Hauch seines Mundes. 

  5. Gerechtigkeit ist der Gürtel seiner Hüften, Treue der Schurz seiner Lenden. 

  6. Dann wird der Wolf beim Lamme zu Gast sein, der Leopard beim Böckchen lagern. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Junge kann sie hüten. 

  7. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frißt Häcksel wie das Rind. 

  8. Der Säugling spielt am Schlupfloch der Natter, das Kind patscht mit der Hand in die Höhle der Schlange. 

  9. Man tut nichts Böses mehr, begeht kein Verbrechen auf meinem heiligen Berg; denn die Erde wird voll sein der Erkenntnis Jahwes, wie von Wassern, die das Meer bedecken. 

  

Michael  Prechtl (geb. 1926) 1985

Das utopische Prinzip Hoffnung wird erst wahr, wenn sich Wolf und Schaf in Liebe umarmen. 

 

Hier wird eine kühne Utopie entworfen, die in keiner Weise den Verhältnissen unter den herrschenden davidischen Königen entsprach. Ein ganz neuer Anfang soll notwendig sein, um die Friedenswelt zu ermöglichen. Das herrschende Königshaus wird wie ein Baum fallen; aus dem Wurzelstock des Geschlechts aber soll ein neuer König, ein »zweiter David« hervorgehen. So wie einst Jahwes Geist auf David ruhte, soll der göttliche Geist den neuen Herrscher für sein königliches Amt rüsten. Diesen Geist beschreiben drei Begriffspaare: Zunächst als Geist der Weisheit und des Verstandes.

Weisheit ist mehr als Klugheit: geistige Reife, Lebenserfahrung und innere Selbstgewißheit; Verstand meint hier die klare Einsicht in gegebene Verhältnisse. Beide Begabungen nehmen bereits die richterlichen Fähigkeiten des Königs in den Blick, seine innen- und außenpolitische Kompetenz. Aus der Kraft dieses Geistes wird der König allen kurzsichtigen Beratern und egoistischen Interessenvertretern überlegen sein. Der Geist des Rates und der Stärke wird den König befähigen, seine Einsichten in die Tat umzusetzen. Gotteserkenntnis und Jahwefurcht aber werden alles Tun mit Jahwe verbinden und damit das Leben aus seiner Quelle heraus sichern.

Die Folgen einer solchen Herrschaft beschreibt Jesaja in ungewöhnlichen Bildern eines paradiesischen Friedens, in denen sogar die auf Kampf und Tod gegründete Ordnung der Natur ihre Aufhebung finden soll. Dahinter steht die heute wieder mehr geteilte Einsicht, daß die Zerrissenheit und Friedlosigkeit des Menschen sich auf Natur und Landschaft, Tiere und Pflanzenwelt auswirkt. 

Wenn der indianische Häuptling Seattle um 1850 in umgekehrter Richtung warnte: »Was der Erde geschieht, geschieht allen Söhnen und Töchtern der Erde«, so war die Erfahrung vorausgegangen, daß der Mensch aus seinem verlorenen Verhältnis zu sich selbst, also auch zu Mitmenschen, Gott und Welt, den Ruin der Schöpfung betrieb. 

(Ernst Bloch: ) 

"Der Tag ist gewiß, wo der Geist der Befreiung wieder lebendig wird, Jahwe als Exodusgott. Auf ihn geht die berühmte Utopie, die bei Jesaja und dem wenig jüngeren Micha fast gleichlautend sich findet, vielleicht sogar einem noch älteren Propheten entnommen ist: 

»Von Zion wird das Gesetz ausgehen, und Jahwes Wort von Jerusalem. Und er wird richten zwischen vielen Völkern, schiedsrichtern bis in die Ferne, daß sie schmieden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert aufheben und werden fortan nicht mehr Krieg führen. Dann wohnt jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum und niemand schreckt«  (Jes 2,3 f.; Mi 4,2 ff.).

Hier ist das Urbild der pazifizierten Internationale. Mit realem Einfluß lag die Jesaja-Stelle sämtlichen christlichen Utopien zugrunde. Es ist zwar eine Frage, ob der Zukunfts-, folglich Zeitbegriff der altisraelitischen Propheten (und im weiteren Zusammenhang des Alten Orients) sich mit dem seit Augustin ausgebildeten deckt. Die Zeiterfahrung hat sicherlich viele Wandlungen  durchgemacht, das Futurum hat sich erst in neuerer Zeit um das Novum vermehrt und sich mit ihm geladen. 

Doch der Inhalt der biblisch intendierten Zukunft ist allen Sozialutopien verständlich geblieben: Israel wurde zu Armut schlechthin, Zion zu Utopia. Die Not macht messianisch: "Du Elende, über die alle Wetter gehen ... du wirst ferne sein von Gewalt und Unrecht, daß du dich davor nicht darfst fürchten" (Jes 54,11.14.) 

Eine Aura dieses Lichts in der Nacht liegt immer wieder über den Sozialutopien." 

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Der kommende Herrscher soll nicht nach »Augenschein und Hörensagen« seine Politik ausrichten, sondern unabhängig von Moden und Meinungen sein, damit er gerade den Hilflosen und Armen jenes Recht verschaffen kann, das von keinen Gegeninteressen mehr durchkreuzt wird. Mit dieser Erwartung steht Jesaja auf dem Boden der israelitischen Königsideologie, welche die eigentliche Herrschertugend darin erkennt, daß der König den Elenden und Hilflosen, den Witwen und Waisen hilft und damit die Sache Jahwes selber führt. Wenn das geschieht, »dann weiden Kalb und Löwe beieinander und ein kleiner Junge kann sie hüten«.

Hinter den kühnen Bildern dieser Erwartung steht einerseits der Glaube, am Anfang des Menschengeschlechts habe Frieden zwischen Menschen und Tieren geherrscht. Die Störung dieses Friedens schreibt Jesaja der Sünde des Menschen zu, wobei »Sünde» als die eigene Störung verstanden wird, die sich auf alle Beziehungen des Menschen auswirkt. Wie Hosea, der als Spruch Jahwes verkündete: »Ich schließe für Israel an jenem Tag einen Bund mit den Tieren des Feldes und den Vögeln des Himmels und mit allem, was auf dem Erdboden kriecht« (Hos 2,20), erwartet auch Jesaja, daß die kommende Heilszeit den Frieden zwischen Menschen und Tieren wiederherstellt.

Der heutige Leser ist versucht, gegen diese Sicht sein Wissen zu setzen, daß von Anfang an das Gesetz vom »Fressen und Gefressenwerden« galt. Dann läßt sich die Friedensvision Jesajas damit abtun, daß sie das politisch Machbare weit übersteigt. Dieser Umgang mit dem Text wäre jedoch zu eng geschnürt. Ebenso wie das Recht der Hungernden und Elenden zu sichern ist, gilt es, das Recht der Tiere zu wahren. In beiden Beziehungen geht es um die Menschlichkeit des Menschen. 

Möglicherweise hat der Text aber auch eine metaphorische Ebene. Wenn Franz von Assisi lehrte, den »Wolf zu umarmen«, war dies eine Anleitung zum Umgang mit dem Feind. Wer dessen Lehre versteht, weiß, wie man Feinde zu Freunden macht, so daß selbst kleine Kinder, die Schutzlosigkeit selbst, mit »Löwen« und »Nattern« spielen können.

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