1. Vom Leben zum Menschen - Die Ökonomie des Lebens
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Sämtliche Probleme, vor die uns das Leben stellt, sind im schwierigsten, nämlich im Problem des Anfangs allen Lebens, beschlossen. Seit ungefähr drei Milliarden Jahren gibt es Leben, wobei die Erde selber um die Hälfte älter ist. Aus der Materie, die vor ihm da war, hat das Leben seine Aufbaustoffe gewonnen. Wie ist das vor sich gegangen?
Das ist um so schwieriger zu beantworten, als die Umwelt, in die hinein es entstanden ist - dies läßt sich heute mit Sicherheit sagen -, ihm außerordentlich feind war. Um sich durchzusetzen, war es notwendig, daß das Leben im Widerstreit mit der Umwelt seine eigenen Existenzbedingungen und in gewisser Hinsicht die Voraussetzungen für sich selber schuf. Dieses Paradox bildet für die philosophische und naturwissenschaftliche Vernunft einen undurchdringlichen, dunklen Kern.
Einige Beispiele mögen dies erläutern.
Jüngste Forschungen haben ergeben, daß die Uratmosphäre große Mengen Sauerstoff und Kohlendioxid enthielt. Beide Stoffe waren in chemischen Verbindungen vorhanden. So, wie wir jedoch das Leben kennen, braucht es sowohl den einen wie den andern Stoff in ungebundenem Zustand. Tatsächlich wird in der Chlorophyll-Photosynthese die Sonnenenergie dazu verwendet, das Kohlendioxid der Luft aufzuspalten, indem der Kohlenstoff gebunden und der für das Leben unerläßliche Sauerstoff freigesetzt wird. Ebenso mußte die Sonnenenergie erst einmal vom Leben gemäßigt, gleichsam "gezähmt" werden, bevor es sie nutzen konnte. Denn das ursprüngliche, lebende Molekül konnte sich nur geschützt vor den ultravioletten Strahlen der Sonne, die für es tödlich waren, entwickeln. Eben diese Schutzfunktion hat die Ozonschicht, die die Erde umgibt, übernommen. Diese ist aber selbst erst das Ergebnis der Einwirkung dieser Strahlen auf den Sauerstoff der Luft,
der seinerseits durch das Leben entstanden ist.Man muß daher den Schluß ziehen, daß das Leben in gewisser Hinsicht sich selbst vorausgegangen ist. Jeglicher Versuch, das Leben unmittelbar aus der Materie entstehen zu lassen, scheitert aufgrund dieses fundamentalen Widerspruchs.
Die weitere Entwicklung des Lebens bestätigt und veranschaulicht dies ausdrücklich. Selbst wenn man wie J. Monod im Auftreten der Aminosäuren, die die lebende Materie konstituieren, einen Zufallseffekt sehen will, so bleibt man noch die Erklärung schuldig, wie dieser überraschende Vorgang zu einer „Notwendigkeit" geworden ist - um mit dem Autor zu sprechen. Logischerweise wiederholt sich der Zufall nämlich nicht. Vielmehr zerstört er, was er von ungefähr geschaffen hat. wikipedia Jacques_Monod 1910-1976
Andernfalls müßte ihm die Fähigkeit unterstellt werden, sich selbst im Sein zu behaupten, was ihn in sein genaues Gegenteil verkehren würde. Doch genau dies ist geschehen, als sich das lebende Molekül gegen die Umwelt wandte, aus der es hervorgegangen war, um sie durch eine andere zu ersetzen, die seinen Erfordernissen entsprach und die es fortschreitend entwickelte. Handelte es sich ursprünglich um das zufällige Zusammentreffen verschiedenartiger Elemente, so schuf dieses Molekül danach die für seine Reproduktion notwendigen Bedingungen.
Diese Umkehrung, durch die sich das Leben den Vorgang aussucht, dank dem es entstand, ist für die Vernunft nicht zu durchdringen. Trotzdem findet man ihn überall wieder. In der Photosynthese und in den zugehörigen Stoffwechselvorgängen, mit deren Hilfe die Pflanzen das Sonnenlicht dazu verwenden, die Atome des der Luft entzogenen Stickstoffs, Sauerstoffs und Wasserstoffs zu verbinden und Zucker, Fette und Eiweißstoffe zu bilden, die für ihren Fortbestand und ihr Wachstum unentbehrlich sind, wählt das Chlorophyll die langwelligen und kurzwelligen Strahlen aus und filtert die grünen, mittelwelligen Strahlen aus, indem es sie nach außen reflektiert. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, daß sich die ursprüngliche Pflanzenwelt ihre Umwelt ausgesucht und zum Beispiel den in der Atmosphäre vorhandenen Kohlenstoff jedem andern Grundstoff vorgezogen hat (die Gesamtheit der Lebewesen heute enthält lediglich 1/500 des Kohlenstoffs der Erde).
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So nährt sich das Leben von einer recht spärlichen Quelle, dem Kohlendioxid der Luft, obgleich es dadurch gezwungen ist, sich einem überaus raschatmigen Zyklus der Wiederverwendung einzuordnen, da die lebende Welt in einem Jahr die Menge an Kohlenstoff verarbeitet, die ihrer eigenen Masse gleich ist. Das Leben hat auch das im Überfluß im Ton und im Granit vorhandene Aluminium unbeachtet gelassen und statt dessen das nur verstreut und selten vorkommende Jod, das sich allein dank der Algen in einer Konzentration bis 8,5% findet, bis zum Äußersten genützt.
Weit davon entfernt, die leichteren Wege einzuschlagen, die ihm die Umwelt bot, setzte das Leben auf die seltenen Elemente und verschmähte jene, die sich ihm in großer Zahl darboten. Es mißachtete die Quantität, um dem Gesetz der Qualität zu gehorchen, wobei die Natur nach dem Prinzip des recycling, d. h. der Wiederaufbereitung von Stoffen, vorgeht. Kurz gesagt, das Leben wählte den schwierigen Weg. Wenn mit dem allgemeinen Ausdruck „Ökonomie" die Gesamtheit der Aktivitäten bezeichnet wird, durch die ein Organismus die für seinen Fortbestand unabdingbaren Elemente aus der Umwelt bezieht, so kann gesagt werden, daß das Leben von seinen einfachsten Formen an die totale Unterordnung der Ökonomie unter einen übergreifenden Endzweck darstellt.
Aus dieser Unabhängigkeit des Lebens von seiner Umwelt ergab sich eine Hypothek, die schwer auf seiner weiteren Entwicklung lasten mußte. Die Photosynthese allein - das Privileg der Pflanzenwelt - ist dazu imstande, chemischen Grundverbindungen, die zuvor sorgfältig ausgewählt wurden, eine bestimmte Umwandlung aufzuzwingen. So legte sie die Fundamente, auf denen die andern Lebensbereiche notwendig aufbauen mußten. Nur die Blaualgen und einige Bakterien sind in der Lage, den Stickstoff aus der Luft zu beziehen; bei ihrem Tod lassen sie ihn im Erdboden zurück, wo die Wurzeln der höher entwickelten Pflanzen ihn aufnehmen.
Die Chlorophyll-Assimilation ihrerseits setzt bei der Spaltung des Kohlendioxids der Luft Sauerstoff frei, den die Tiere einatmen können. Stickstoff und Sauerstoff sind demnach Nebenprodukte, die die Pflanzenwelt ohne Gegenleistung der Tierwelt zur Verfügung stellt. Aufgrund des Überflusses, den die erstere produziert, öffnet sie sich, bietet sich der zweiten dar und vermittelt ihr die Grundstoffe, die für ihren Aufbau notwendig sind. Das Tier profitiert von diesem Vorgang, ist jedoch nicht fähig, ihn nachzuvollziehen: Zu den Gesetzen der Selektion, der Seltenheit und der Wiederaufbereitung kommt das Gesetz der Hierarchie hinzu. Die höher entwickelten Lebensstufen bestehen nur, weil sie sich auf die vorhergehenden stützen können: sie folgen auf sie und sind von ihnen abhängig.
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Aus diesem Grunde kann der Begriff „Fortschritt" nur mit Vorbehalt auf die Evolution des Lebens angewendet werden, so daß er beinahe seinen Sinn verliert. Damit ein Lebensbereich sich über den andern erheben kann, muß erst einmal dieser auf seiner eigenen Stufe Bestand haben und dann jenen stützen. In dieser Hinsicht weist das Leben weniger Etappen als Stufen auf. Das am höchsten entwickelte Lebewesen, der Mensch, kann nur leben, weil neben ihm die ältesten, aber auch effizientesten Lebensformen weiterbestehen, weil die weniger entwickelte Pflanzenwelt Leistungen vollbringt, die den höher entwickelten Säugetieren versagt sind. Wenn die letzteren einmalige und völlig neue Fähigkeiten zu entwickeln vermochten, so nur weil im Laufe von mehr als drei Milliarden Jahren die früheren mit den späteren Lebensformen zusammenblieben. Das Leben hat auf seine Weise die Arbeitsteilung eingeführt und gleichzeitig als absolutes Gesetz die Interdependenz seiner Bereiche eingerichtet.
Wie ist Hunderte von Millionen Jahren nach dem Aufkommen der Pflanzenwelt das Auftreten des Tieres und bei diesem der Übergang vom Fisch, der ältesten Tierart, zum Reptil, zum Vogel, zum Frosch, zum Säugetier und schließlich zum Menschen vor sich gegangen? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, daß die Anpassung an die Umwelt die notwendige Bedingung des Lebens ist.
So haben die Umwälzungen, die den Übergang vom ersten Zeitalter zum zweiten kennzeichnen, ohne Zweifel durch das Zurückweichen der Meere dem Reich der großen Reptilien, der Saurier, ein Ende bereitet. So jedenfalls lautet die immer noch annehmbarste Hypothese, die zur Erklärung des Untergangs dieser Lebewesen angeführt wird. Wenn sie das Verschwinden der Reptilien erklärt, so läßt sie allerdings die Frage offen, weshalb und auf welche Weise die von ihnen gänzlich verschiedenen kleinen Fleischfresser erst aufgetreten sind, nachdem jene ausgestorben waren. Vielleicht haben sie ihr Ende dadurch beschleunigt, daß sie deren Eier zerstörten, die nicht mehr im Schutz tiefer Gewässer lagen. Doch woher sind diese Raubtiere gekommen?
Es fällt uns schwer, die hinreichende Begründung für die Entwicklung eines neuen Bereiches, einer neuen Abzweigung, einer neuen Spezies zu finden, und wir können uns ebensowenig erklären, was später innerhalb der Arten zu den Mutationen führte, denen sie ihre Weiterentwicklung verdanken.
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Wie weit trägt hier die Hypothese der natürlichen Selektion, wie sie Darwin vorgebracht hat? Man begreift, wie bestechend sie lange Zeit wirken mußte, schien es doch, als ob sie in der dunklen Welt des sich hervorarbeitenden Lebens, das von einem unerklärlichen Schwung vorwärtsgetrieben wird, wieder einen einfachen Mechanismus sichtbar mache, nämlich jenen der Ausmerzung des Schwachen durch den Starken, des Unfähigen durch den Fähigeren. Leider täuscht diese klare Deutung, und ihr Ursprung ist suspekt.
In der Tat hat Darwin die Theorie von der natürlichen Selektion nicht aufgrund jener sorgfältigen wissenschaftlichen Beobachtung gewonnen, die ihm die Evidenz der Evolution der Lebewesen abverlangt hatte, sondern aufgrund der Lehre von Malthus, der in seiner Eigenschaft als Nationalökonom nicht über das Leben nachgedacht hat, sondern über den Nenschen.
T. R. Malthus' These, die er in seiner Schrift <An Essay on the Principles of Population> (dt.: Über die Bedingungen und Folgen der Volksvermehrung, i Bde [1807]) darlegte, ist bekannt: Die Menschheit ist vom Hunger bedroht, weil sich die Bevölkerung in geometrischer, die Lebensmittelerzeugung jedoch nur in arithmetischer Progression vermehrt.
Darwin extrapoliert diese These und unterstellt, daß die Pflanzen- und Tierarten unter sich kämpfen mußten, um zu bestehen: diejenigen, die für den Kampf, die Jagd oder das Überleben in feindlicher Umwelt besser ausgerüstet waren, eliminierten die übrigen, da die rar gewordene Nahrung natürlich von den stärksten Tieren der Art erbeutet wurde, die so als einzige sich auch vermehren konnten. Diese Hypothese wurde jedoch niemals auch nur ansatzweise verifiziert. Gewiß spielt die natürliche Selektion eine Rolle insofern, als ein kräftigeres Individuum die Schwierigkeiten, die ihm von der Umwelt bereitet werden, besser meistert oder eine besser angepaßte Art sich rascher in einem gegebenen Milieu vermehrt. So formuliert, ist diese These kaum anzufechten, bestätigt sie doch bloß, was offensichtlich ist: Ein Lebewesen lebt nur, wenn es lebensfähig ist.
Etwas ganz anderes ist es freilich, zu glauben, daß die natürliche Selektion das Auftreten einer neuen Art oder auch die Weiterentwicklung und Vervollkommnung einer früheren Art zu bewirken vermöchte.
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Es besteht ein naturgegebener Unterschied zwischen der Eliminierung eines Lebewesens durch die Gefahren der Umwelt und seiner Selbsterhaltung, indem es seine Fähigkeiten den Gegebenheiten der Umwelt entsprechend einsetzt. Diese setzt voraus, daß es eine Anlage zur Vervollkommnung besitzt, die gefeit ist gegen eine äußere und mechanische Eliminierung. Wenn jemand daraus schließt, daß die natürliche Selektion für die Evolution der Arten verantwortlich sei, so bedient er sich zwar eines wohlfeilen Bildes, aber er formuliert keine wissenschaftliche These.(1)
Es würde zuviel und damit nichts beweisen, wollte man die natürliche Selektion zum Motor der Evolution erklären. Die für Malthus' Theorie maßgebliche Hypothese von der Knappheit der Nahrung, die den Kampf unter den Arten ausgelöst haben soll, ist nie verifiziert worden. Wenn man sie indes annimmt, so gilt sie nicht in aller Strenge für die Tausende von Arten, die wir vor Augen haben sollten, sondern nur für eine einzige. Die Lebewesen haben sich jedoch in die Elemente geteilt; im Meer finden sich zum Beispiel Zehntausende verschiedener Fischarten. Das Säugetier, das Insekt, der Vogel, der Fisch sind zu verschieden voneinander, als daß man von Rivalität unter ihnen sprechen könnte. Sie haben, ohne sich um die andern zu kümmern, ihren Weg verfolgt und ihre eigene Form verwirklicht.
Der Begriff vom Lebens- und Konkurrenzkampf zwischen den Individuen und den Arten enthält eine Voraussetzung, und zwar die einer Art anfänglicher Gleichheit zwischen den einen und den andern, aus der sich ihre Rivalität begründen und erklären ließe. Sowohl für Malthus wie für Darwin ist das Überleben vor allem eine Sache der Quantität, ob es sich nun um Nahrungsüberfluß oder um Muskelkraft handelt. Die starken Individuen eliminieren die schwachen. Aber inwiefern könnte dieser Vorgang in ihnen eine Entwicklung bewirken? Aus Mangel an Nahrung nimmt ihre Zahl ab. Das ist alles. Sie haben keinerlei Veranlassung, deshalb ihre Form zu ändern.
Indessen ist der Begriff der Gleichheit dem Leben fremd. Es war nicht darauf bedacht, die Arten und Individuen mehr oder weniger stark zu machen, sondern sie vor allen Dingen verschieden zu gestalten. Müßte man für das Leben um jeden Preis eine Motivation finden, so fiele sie wohl eher in ästhetischem Sinne aus. Von den Lebewesen sind nicht die einen stärker oder besser an die Umwelt angepaßt als die anderen.
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Die zahllosen Formen manifestieren die gemeinsame Anpassung an die Umwelt, lassen sich jedoch keineswegs aus der Umwelt erklären. So sind die Anpassungsweisen des Walfischs, der Koralle, der Meduse und des Haifischs an die Meereswelt verschieden, sie lassen sich nicht vergleichen. Es sind Tiere, die in Zeit und Raum zusammenleben. Selbst wenn sich die einen von den andern ernähren, regelt das Gesetz des Gleichgewichts und nicht das des Wettkampfs ihre Beziehung untereinander.
Die verschiedensten Arten vermögen sich in denselben Lebensraum zu teilen, wobei jede Art der ihr zunächst übergeordneten als Nahrung dient, ohne daß dies in einen Kampf ausartet oder gar zur Ausrottung einer Art führt. Obwohl es den Anschein hat, ist es nicht die Körperstärke, die in einem Tierreich die Rollen bestimmt: sonst hätten die Löwen zeitig dafür gesorgt, die Gazellen auszurotten. Man stellt vielmehr fest, daß die Proportion zwischen den einzelnen Tieren der beiden Arten konstant bleibt. Da sich die Löwen langsam und relativ wenig vermehren, wird ihre Zahl genügend niedrig gehalten im Verhältnis zu ihren Beutetieren. Dagegen scheint die Natur dafür gesorgt zu haben, daß viele Arten, die sich ganz unten auf der Stufenleiter der Nahrungshierarchie der Lebewesen befinden, dank ihrer reichen Vermehrung über genügend Überschuß verfügen, um sowohl Raubtieren als Nahrung zu dienen als auch ihr eigenes Überleben zu sichern. Sie sind mit den Reserven und überschüssigen Kräften ausgestattet, die es für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts des Ganzen braucht. Hierarchie und Komplementarität sind also die Begriffe, die die Beziehungen der Arten untereinander zutreffend bezeichnen, auf keinen Fall die Begriffe Rivalität und Konkurrenz. Das quantitative Gleichgewicht liegt der Qualität zugrunde.
Auf gleiche Weise koexistieren die unbedeutendsten, einfachsten, ältesten Organismen mit den zuletzt aufgetretenen, die auch die kompliziertesten sind, nämlich das Reptil mit dem Vogel, das Beuteltier mit dem höchstentwickelten Säugetier und bei der Flora das Moos und die Alge mit der Orchidee. Es gibt daher nicht das zeitliche Nacheinander, sondern das räumliche Nebeneinander der Arten. Selbst der Begriff der zunehmenden Verfeinerung des Organismus eines Lebewesens bedarf der Präzisierung, da schließlich Lebewesen, deren biologisches ,,Alter" am weitesten in der Zeit zurückliegt, Mittel und Wege finden, um - jedes auf seine Weise - weiterzuleben. Dabei ist die Uberlebensfähigkeit des zuletzt entwickelten Lebewesens kleiner als die des ältesten. Abhängigkeit und Verletzlichkeit sind der Preis der Komplexität.
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Die natürliche Selektion erscheint so als das gnadenlose, jedoch von außen her gefällte Urteil, das die Umwelt über jedes Einzelwesen einer Art spricht, ähnlich der Kunstkritik über den Künstler oder dem Verbraucher in der Marktwirtschaft über den Produzenten. Die mißratenen Einzelwesen werden eliminiert, und nur jene überleben, die den Typus der Spezies in seiner Fülle verkörpern. Mag die Umwelt dem Leben zu seiner Vervollkommnung auch helfen, die Inspiration dazu kommt nicht von ihr.
So traten die kleinen Fleischfresser vor oder spätestens zugleich mit dem Zurückweichen der Meere, d.h. in der zweiten Epoche, auf, weil sie mit neuen Organen versehen waren, die es ihnen ermöglichten, an der Luft zu leben. Ebenso war es notwendig, daß das Ohr - um das von Bergson angeführte Beispiel wiederaufzunehmen - seine für das Wasser geeignete Form weiterentwickelte und mit einem neuen Empfindungsvermögen für die Schwingungen der Luft ausgestattet wurde, damit sie auf das Ohr einwirken konnten.
Begegnung und Konvergenz gab es zwischen der Evolution, die das Lebewesen erfuhr, und der Veränderung der Umwelt. Überall und jederzeit mußte das betreffende Organ vor seiner Funktion dasein. Im übrigen wirkt sich die Bildung eines neuen Organs auf den ganzen Organismus aus und zieht seine Neuordnung nach sich. Die interne Beziehung geht daher notwendigerweise der Beziehung zur Umwelt voraus, ist sie doch ihre Voraussetzung. Der innere Zusammenhang geht dem äußeren voraus, und dieser Vorrang geht mit dem einig, was wir seit der allerersten Lebensstufe festgestellt haben. Beim Lebewesen hängt die Ökonomie von der Ontologie ab, falls man diesen Begriff einmal im Sinne von Phylogenese, d. h. für das Auftreten und den Ausbau der Form, verstehen darf, die der ganzen Art eigen ist. Einfacher gesagt, bedeutet dies, daß das Nützliche im Dienste des Überflusses steht.
Wie anders läßt sich denn die ungeheure Vielfalt der pflanzlichen und tierischen Formen benennen? Es scheint, daß das Leben über dem an chemischen Substanzen und ihren Affinitäten schon so reichen Universum zu seinem Vergnügen die unüberschaubare Pyramide der Arten errichtet hat, deren Anblick den Eindruck von Phantasie, Reichtum und Überfülle erweckt. Wie könnte das Gesetz der Anpassung an die Umwelt einer derart phantastischen Üppigkeit gerecht werden?
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Nein, umgekehrt scheint es, daß das Leben im Lauf der Zeiten nicht davon abließ, sich gegen die Umwelt abzuschirmen. Allerdings vermag weder die kühnste Form noch die überraschendste Farbe oder das ausgeklügeltste System jemals diese Beziehung aufzuheben. Niemals kann sich der Überfluß des Nützlichen entledigen. Das Vogelnest dient in erster Linie zum Schutz der Eier und der Jungen. Aber dieser Zweck hätte ohne die außerordentlich kunstvolle Gestaltung und Feinheit, die man an vielen Vogelnestern wahrnimmt, erreicht werden können. Dem Überleben der Art hätte auch bei einer Beschränkung der prächtigen Formen, von denen einige uns übertrieben anmuten, Genüge getan werden können. Die unerbittlichen Gesetze der Anpassung an die Umwelt und der natürlichen Selektion, die Lamarck und Darwin formulierten, helfen uns, zu verstehen, was das Leben nicht sein konnte; sie vermögen jedoch nicht zu erklären, was es ist.
Die zunehmende Mannigfaltigkeit der Arten wird im übrigen aufgrund der absoluten Einmaligkeit der genetischen Zusammensetzung, mit der jede Art ausgestattet ist, gewährleistet. Das Leben wollte, was Jacques Monod die „Invarianz" nennt, und läßt keine Vermischung zu. Andererseits ist ihre Komplementarität sehr eng - wie z.B. zwischen dem Raubtier und der Art, die ihm als Nahrung dient.
Noch staunenerregender ist die Komplementarität der Geschlechter, zwischen denen die Differenzierung bei höher entwickelten Tieren eine paradoxe Wendung nimmt: das männliche und das weibliche Tier sind selbst in dem Augenblick, da die Fortpflanzung zwischen ihnen die tiefste Intimität voraussetzt, getrennte und autonome Wesen. Eine höchst komplexe Erfindung, daß zwei Lebewesen, die in der übrigen Zeit völlig voneinander unterschieden sind, für einen kurzen Moment ein einziges Wesen sind. Bevor sie sich vereinigen, müssen sie sich entdecken und erkennen.
Wie das fleischfressende Tier über ein Empfindungssystem, das auf die kleinsten Anzeichen reagiert sowie über Einschüchterungsmöglichkeiten und ausgeklügelte Fangpraktiken verfügt, um seine bewegliche Beute ausfindig zu machen und zu erhaschen, so haben die Geschlechter bei den höher entwickelten Tieren außerordentlich hoch entwickelte Aufstöberungshilfen in ihren Geruchs-, Seh- und Hörorganen. Zu dem Gepränge kommt das Sich-zur-Schau-Stellen, Verhaltensweisen, die in der Tat dazu dienen, sich gegenseitig zu erkennen zu geben.
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Diese sexuellen Erkennungszeichen, die zu Unrecht sekundär genannt werden, da ohne sie die primären sexuellen Organe nicht in Funktion treten könnten, sind der Preis, den das Säugetier bezahlt, um sich den Luxus einer ganz vergeschlechtlichten Fortpflanzung leisten zu können.
So führt die Verschiedenartigkeit der Lebewesen, die dem Gesetz der Komplementarität unterstellt sind, unvermeidlich zu ihrer Komplexität. Man findet sie auch in der andern wichtigen Lebensfunktion: bei der Nahrungsbeschaffung. Die Pflanze haftet mit ihren Wurzeln im Erdboden: wird dieser zu karg, so kann sie sich nicht dagegen zur Wehr setzen und stirbt. Ihre Abhängigkeit von der Umwelt ist sehr eng, unablösbar.
Das Tier hingegen kann sich bewegen. Der Pflanzenfresser ändert den Standort auf der Suche nach Pflanzen und nach Wasser, die ihrerseits eine ortsgebundene Nahrung darstellen. Der Fleischfresser wiederum fällt eine bewegliche Beute an, die schwer aufzuspüren, anzuschleichen und zu ergreifen ist. Da die Beute ihrerseits beweglich ist, reagiert er selber darauf mit noch größerer Beweglichkeit.
Da er für die Jagd, den Fang und das Verschlingen der Beute weniger Zeit aufwenden muß, ist er hinsichtlich der Umwelt ungebundener als der Pflanzenfresser. Aber sein Organismus mußte außer mit der Beweglichkeit und den Verdauungsfähigkeiten mit neuen Angriffsmöglichkeiten ausgerüstet werden Fangzähne, Krallen und Hauer sind ebensosehr Waffen, die er nicht ablegen darf. Auch seine Fähigkeit zur Wachsamkeit entwik-kelt sich: auf der Jagd stöbert er seine Beute an Merkzeichen auf; er errät ihre Anwesenheit, bevor er sie sieht, und kommt ihrem Lauf zuvor.
Die Gruppenjagd der Löwinnen setzt eine regelrechte Organisation und eine Arbeitsteilung voraus zwischen jenen, die die Antilope jagen, und der einen, die sie reißt. So ist die Unabhängigkeit eines Organismus von der Umwelt nur durch die zunehmende Komplexität des Organismus möglich. Die Spezifizierung, die Mobilität und Beutefang erst ermöglicht, ist deshalb unabdingbar, weil die Beziehung zwischen dem Lebewesen und seiner Nahrung, obwohl gelok-kert, doch nicht minder zwingend geworden ist. Die scheinbaren Vorzüge haben als Kehrseite eine stets gegenwärtige Abhängigkeit2.
Das höher entwickelte Lebewesen kann sich daher dem Milieuzwang nur dadurch entziehen, daß es sich stärker an alle andern anschließt: die ökonomische Abhängigkeit wird zu einer sozialen.
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Von daher erklärt sich die Wichtigkeit seiner Erkenntnistätigkeiten. Dies ist in doppeltem Sinne als Abhängigkeit von andern Lebewesen und als Bestandsaufnahme des Milieus zu verstehen: der junge Fleischfresser muß von seinen Eltern lernen, wie ein Beutetier, das diese ihm bezeichnen, zuerst gejagt und dann gepackt wird. Das Lernen erfordert eine Reihe von „Handgriffen" und „Erkundigungen", die zunächst ohne Ergebnis verlaufen und daher einen großzügigen Energieaufwand verlangen.
Das Tier gibt sich dem Spiel hin: es hat seine Riten, die scheinbar neben den Zweckhandlungen einhergehen. In Wirklichkeit bereiten sie diese vor und bedingen sie. Das Tier übt seine Lebensaufgabe zunächst ohne Objekte ein, wie wenn es sich die seiner Art eigenen Verhaltensweisen einprägen müßte, bevor es sich den Gefahren seiner Existenz zu stellen braucht. Es ist dies das Vorrecht des jungen Lebewesens, da die Eltern auf seinen Lebensunterhalt bedacht sind, es selber noch keinen gebieterischen organischen Anreiz kennt. Wenn jedoch die Einführung in die Jagd und das Wahrnehmen der Beute der Beutenahme vorausgehen, so beweist dies, daß das soziale Element dem ökonomischen vorausgeht.
Der Weg in die Unabhängigkeit zieht folglich die Unterordnung unter andere Lebewesen mit sich. Eine Art entfernt sich nur insofern von ihrer Umwelt, als sie sich zu einem festen inneren Beziehungs-gefüge zusammenschließt. Diese paradoxe Verkettung der Innenheit und der Außenheit findet sich in sämtlichen Stadien der Entwicklung wieder. Indem das Säugetier das Meer als Umwelt verließ, blieb es doch von ihm abhängig. Mit seinem Blut hat es die frühere Umwelt - wie Claude Bernard sich ausdrückt - einfach nach innen verlagert. Es trägt das, von dem es zuvor getragen wurde. Ebenso war die Homöothermie nur mit Hilfe von gleichzeitigen inneren und äußeren Regelsystemen möglich. Um sich vor Winterkälte zu schützen, mußten die Warmblütler unter den Tieren eine ganze Reihe von Verhaltensweisen erfinden, wie z. B. die Migration der Zugvögel und den Winterschlaf. Gewiß wird dies aber am deutlichsten an der Entwicklung der Fortpflanzungssysteme der Pflanzen und Tiere sichtbar. Die Befruchtung der weiblichen Eizelle durch die männliche Samenzelle ist immer unabhängiger geworden von der Unbill der Umwelt. Bei den Moosen und Farnen, relativ einfachen Pflanzen, findet die Begegnung außerhalb der Pflanze auf dem Boden, über der Erde oder im Wasser statt.
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Bei den Angiospermen (Bedecktsamern), der obersten Stufe der pflanzlichen Entwicklung, unabhängig davon, ob sie geschlechtlich differenziert sind oder nicht, wird die Samenknospe jedoch von der Pflanze getragen und befruchtet. Sie ist mit Vorräten versehen, und wenn sie als Frucht auf den Boden fällt, so ist sie mit Nahrungssubstanzen ausgerüstet und verfügt über eine Schutzvorrichtung, die es ihr ermöglichen, oft sehr lange zu warten, bis die Bedingungen für das Keimen günstig sind.
Die gleiche Entwicklung läßt sich bei den Fischen und Insekten bis zu den Säugetieren feststellen. Bei den ersteren vollzieht sich die Vereinigung der männlichen und weiblichen Zellen im Wasser unter sehr großem Verlust an Samen und Eiern. Bei den Insekten, Fröschenund Beuteltieren findet die Begegnung der Keimzellen hingegen durch Vereinigung der Geschlechter im Körper des Weibchens statt. Dieses entledigt sich jedoch rasch danach der Eier, vertraut sie dem Boden an oder brütet sie im Nest aus.
Mit den Säugetieren wird das ganze Fortpflanzungssystem und dessen Organe nach innen verlagert: das Ei wird befruchtet und entwickelt sich im Körper der Mutter. Die Mutter trägt jetzt das ursprünglich äußere Milieu in sich, dem ein Embryo in den früheren Epochen der Evolution ausgesetzt war. Das Junge ist beim Verlassen des mütterlichen Körpers vollständig für das Leben ausgerüstet. Die Fortpflanzung vollzieht sich in größerer Sicherheit, verlangt jedoch vom weiblichen Tier entsprechende Hingabe, indem es während Wochen, Monaten und manchmal Jahren ein anderes Lebewesen in sich tragen muß. Dieses Andersseinmüssen schränkt den Sieg ein, den die Innerlichkeit des Lebewesens über das äußere Milieu davongetragen hat. Denn es dringt in sein Inneres ein, verschwindet nicht. So bezahlt das Säugetier seine Befreiung von der Umwelt mit einer neuen Belastung hinsichtlich seiner Spezies. Es erhebt sich nur, indem es eine neue Bürde auf sich nimmt.
Ein dialektisches Gesetz, das die inneren Abläufe mit den äußeren, die Selbständigkeit mit der Abhängigkeit verbindet, leitet also die Evolution des Lebens. Schon in seinen ersten Anfängen setzt das Leben einen Abstand zur Umwelt, da es sich die Elemente unbeirrbar aussucht, die es sich zunutze macht. Es zieht die Qualität der Quantität, das Seltene dem Häufigen vor, doch diese Auswahl ist nur dank dem komplexen System einer Wiederaufbereitung der chemischen Bestandteile, die das Leben begünstigt, möglich. Das Leben vermag seine ontologische Einmaligkeit nur durchzusetzen, indem es sich unter eine komplexe Ökonomie stellt, die die Bedingung dafür ist.
Ebenso haben die zuletzt entwickelten Arten nur dadurch eine größere Unabhängigkeit von der Umwelt im Vergleich zu den früheren Arten erlangt, daß sie von diesen abhängig wurden. Die sogenannten höher entwickelten Arten sind zwar von der Aufgabe befreit, die für sie notwendigen physischen Elemente direkt zu beschaffen, hängen jedoch von der Pflanzenwelt und von den niederen Arten ab, die diese Aufgabe für sie übernehmen. Die Beziehungen zwischen ihnen und den übrigen Arten werden in dem Maße enger, als sich ihre Beziehungen zur Umwelt lockern. Bei den Säugetieren werden soziale Strukturen den ökonomischen übergeordnet.
Bergson irrt also nicht, wenn er in der Geschichte des Lebens eine „schöpferische Evolution" sieht, aber der Autonomiegewinn der spät entwickelten Arten darf uns nicht täuschen. Er verurteilt sie auch dazu, zu immer raffinierteren Methoden zu greifen, um den Unterhalt zu sichern. Das Leben entzieht sich - wie der Kosmonaut im Weltall - nur scheinbar den Zwängen der Umwelt: es reproduziert sie, trägt sie mit sich und hängt weiterhin von ihr ab. Diejenigen Lebensformen, die am freiesten scheinen, bleiben an die Notwendigkeit gekettet, die biologischen und sozialen Bedingungen für ihre eigene Existenz zu schaffen.
Diesem universellen Gesetz kann sich auch der Mensch nicht entziehen, wie wir noch sehen werden.
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