2. Die vorindustrielle Gesellschaft
Der Mensch zwischen Waffe und Werkzeug
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Die Dialektik der Evolution, bei der die gegensätzlichen Prinzipien sich verbinden und verstärken, lastet schwer auf dem Geschick des zuletzt Geborenen unter den Lebewesen. Der Mensch bezieht seine Nahrung von der Pflanzenwelt und vom Tier. Er ist der Parasit einer Natur, die für ihn komplexe Nahrungsmittel ausgewählt und erarbeitet hat, die er nur noch einer letzten Assimilation zu unterziehen braucht.
Der prähistorische Jäger verteidigt sein Leben gegen ein Wild, das ihm reichlich Fleisch gibt; später geht er mit dem Wald ein widersprüchliches Bündnis der Herausforderung und Abhängigkeit ein: er gewinnt ihm Land ab, das er bebaut, um leben zu können, während der Wald ihm den Sauerstoff vermittelt, ohne den er nicht leben kann. Seine Beziehung zur Welt ist sowohl locker als engmaschig: die Nahrungssuche zwingt ihn, sich zu bewegen; die Frau aber kennt die langwierige und mühvolle Abhängigkeit aus Schwangerschaft und Kindererziehung. Das Leben wird für den Menschen zur Mühe.
Erschwert wird die Lebensmühe des Menschen dadurch, daß der Körper nicht in der Lage ist, die vielfachen Funktionen auszuüben, die seine Beziehung zur Umwelt notwendig macht. Da seine Mittel zur Erreichung der Ziele, die ihm das Leben aufnötigt, nicht ausreichen, haben gewisse Autoren in ihm „einen genetisch stabilisierten Primatenfötus" sehen wollen. Im Vergleich zum Tier erscheint er als ein körperlich Benachteiligter.
Beim Tier sind das Ergreifen der Nahrung und ihre Assimilation ein einheitlicher Akt. Die Zähne des Fleischfressers schlagen sich in die Beute, zerreißen und zerkauen sie. Beim Menschen sind im Gegensatz dazu die beiden Funktionen voneinander getrennt. Die Hand greift, nachdem sie sich mit einer Waffe oder einem Werkzeug bewehrt hat, nach der Beute und führt sie danach zum Munde. Die Nahrungsaufnahme und -verarbeitung kommen aufgrund einer ganzen Reihe von Bewegungen, die außer dem dafür geeigneten Verdauungssystem die Gesamtheit der Muskeln und Sinne, ja den ganzen Körper einbeziehen, zustande.
Das Tier paßt sich den Veränderungen seiner Umwelt spontan an. Empfindliche Wahrnehmungsorgane setzen es über die Bewegungen des Beutetieres in Kenntnis. Es meistert die durch die Jahreszeitenfolge bedingte Umstellung durch allerlei wirksame Maßnahmen - Pelz, Winterschlaf, Vogelzug -, die es vor Hunger und Kälte schützen.
Nichts von alledem findet sich beim Menschen: er muß seine schwachen Spürsinne durch die Beobachtung ergänzen, sich gegen das vorsehen, was er weder sehen noch riechen kann. So übersteht er den Winter nur, indem er eine ganze Technik des Schutzes durch Bekleidung und durch Konservierung der Lebensmittel entwickelt. Leben bedeutet für ihn, zu leben verstehen.
Das Lebensgesetz, das wir seit den Anfängen des Lebens beobachtet haben, findet solchermaßen seine Bestätigung. Es mußte ja die Bedingungen für seine eigene Entwicklung schaffen. Der Mensch verhält sich nicht anders. Mit einer Anzahl technischer Erfindungen richtet er inmitten der rauhen Natur die Umwelt her, die er für sein Überleben notwendig braucht.
Hier finden wir die anscheinend unlösbare Frage nach dem Beginn seines Lebens wieder. Wie vermochte der Mensch seine Kultur inmitten einer ihm zutiefst feindlich gesinnten Natur zu entwickeln? Wir haben darauf keine Antwort. Dagegen sehen wir, wie das Prinzip der Abkehr und der Entfremdung von der Natur, die Kehrseite des Zuges zur Selbständigkeit, die den Menschen in die Lage versetzt, über seine Umwelt zu herrschen, sich erhärtet und bestätigt. Denn nun ist er in zweifacher Hinsicht abhängig: zunächst von der Natur, von der er die Nahrung beziehen muß, dann von der Technik, seinem eigenen Erzeugnis, das zu erfinden er verurteilt war.
Dieser doppelte Zwang mußte mannigfache Folgen zeitigen.
Da die Gattung Mensch sich nur noch auf sich selber verlassen kann, widmet sie nun den größten Teil ihrer Zeit der Sicherung des Überlebens. Sie ist im wesentlichen und vor allen anderen Dingen damit beschäftigt, die Lebensprobleme zu lösen. Das Kind muß mühsam lernen, seine ursprüngliche Unbeholfenheit zu überwinden, um eine Übereinstimmung der Bewegungen zu erlangen, die für die Handhabung einer Waffe oder eines Werkzeugs notwendig ist.
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Diese Lehrzeit währt lange. Sie setzt eine längere Unterordnung unter den Willen der Eltern voraus: allein die gesellschaftliche und technische Reife kann seine angeborene Unreife auskorrigieren. Tatsächlich macht das Gehirn des Kindes dank den Informationen, die es von seiner physischen und sozialen Umwelt empfängt, seine qualitative Entwicklung lange nach der Geburt durch.
Hier taucht erneut das Prinzip auf, das aus dem Leben die Gesellschaft bildet, und zwar verstärkt, indem die Spezies Mensch nicht nur mit den andern Spezies in Symbiose lebt, sondern auch mit sich selber: Jede Generation empfängt von der vorangegangenen die Lehren, ohne die sie ihre Lebensaufgabe nicht bewältigen könnte. Die Techniken sind nicht angeboren, sondern werden aufgrund eines intensiven kulturellen Assimilationsprozesses erworben. Außerdem kommen sie an Gegenständen wie Waffen, Werkzeugen, Obdachmöglichkeiten zur Anwendung, die der Mensch erneuern, unterhalten muß im Gegensatz zum Tier, bei dem sich Organ, Abwehrkraft und Nahrungsreserve ohne sein Dazutun erneuern. Daher rührt die Unverläßlichkeit dieser künstlich geschaffenen Welt, die der Mensch mindestens ebensosehr trägt, wie er von ihr getragen wird.
Der Mensch meistert seine Umwelt durch Arbeit, hängt jedoch gerade dadurch viel stärker von ihr ab als die übrigen Lebewesen. Er erfindet das Werkzeug, das Obdach, das Gewand, später die Maschine, d.h., er borgt sich von der Umwelt einen Schutz aus, mit dem ihn sein Körper nicht ausgestattet hat.
Doch seit der erstmals von fernen Vorfahren geschwungenen Steinschleuder bis zum Kernforschungszentrum, zur Raumkapsel, zum Computer der Gegenwart bleibt ihm die ökonomische Ausrüstung äußerlich und fremd. Die Anpassung des höher entwickelten Tieres an seine Umgebung hatte sich spontan vollzogen. Der Lauf der Antilope, der Sprung des Tigers, der Flug des Adlers sind gleichzeitig nützlich und schön. Sie drücken eine innere Harmonie des Körpers aus und erfüllen gleichzeitig eine seiner Hauptfunktionen: das Fangen der Beute oder die Flucht vor dem Feind. Im Gegensatz dazu wird die Handhabung des Werkzeugs, das In-Gang-Setzen der Maschine, kurz alles, was die Arbeit des Menschen ausmacht, von ihm selber immer als Abhängigkeit empfunden.
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Beim Menschen ist die Einheit zwischen der Kraft, die er auf seine Aufgaben verwendet, und der Form seines Körpers entzweigebrochen. Gewiß, wie beim höher entwickelten Tier führt der Arm oder der Hals beim Tragen oder das Bein beim Lauf zuweilen eine Bewegung aus, die sowohl nützlich als auch spontan sein kann. Es wird die Rolle des Sports sein, dem menschlichen Körper etwas von der naturhaften Anmut des Tieres zurückzugeben. Um dies zu erreichen, muß der Mensch aber gerade den Sprung, den Lauf und das Schwimmen von jeglicher Zweckgebundenheit frei machen.
Die ursprüngliche Einheit zwischen der Form und der Funktion ist demnach zerstört; eine Trennung ist zwischen der zweckgerichteten Funktion, die den Körper zur Arbeit zwingt, und der zweckfreien Geste, die allein noch etwas von der ursprünglichen Harmonie bewahrt, eingetreten. Der Mensch hat die Erwerbstätigkeit, die auf seinem Körper lastet, ihn ermüdet, verbraucht und deformiert, immer als einen Zwang empfunden. Es scheint, daß der Mensch nur wirklich er selber sein kann, wenn er sich diesem Zwang entzieht, sich ausruht oder einem Spiel hingibt. So hat er auch immer von einer Welt geträumt, in der er sich endlich fern diesem Zwang entfalten könnte K
Bei dieser Sachlage scheint es unmöglich, mit Marx in der Arbeit den Ausdruck der Freiheit und sozusagen der Königswürde des Menschen bei seiner Tätigkeit zu sehen. Wenn er sich die Welt anpaßt, so ist der erste Grund der, daß die Natur es unterließ, ihn der Welt anzupassen. Seine emsige Aktivität verdeckt einen Urmangel. Sie ist eigentlich Passivität. Aber, wird man fragen, wenn die Bindung zwischen dem Sein und dem Tun zerstört ist, wenn der Mensch dazu verurteilt ist, tätig zu sein, um zu sein, wenn also bei ihm das Tun dem Sein vorausgeht, ist da nicht die Priorität der Ontologie vor der Ökonomie, diesem hauptsächlichen Charakteristikum des Lebewesens, in Frage gestellt?
In der Tat baut Marx auf dieser spektakulären Umkehrung seine Doktrin auf. Nach ihm ist die Arbeit nicht nur die Bedingung für das Weiterleben der menschlichen Gesellschaften, was kaum bestreitbar ist. Er dekretiert auch ihre Form: Die religiösen, politischen, juristischen, ästhetischen Einrichtungen und Aktivitäten usw. sind der Reflex der Produktionskräfte, d.h. des Standes der Techniken, und entwickeln sich mit ihnen.
Doch diese Schlußfolgerung ist überstürzt. Man kann dem Marxismus tatsächlich den oft Darwin gemachten Einwand entgegenhalten.
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Wie die natürliche Auswahl zwar die Eliminierung der unzulänglichen Individuen, nicht aber das Vollendete der Art, der sie angehören, erklärt, ebenso erbringt die Arbeit die lebensnotwendigen Mittel nur für eine zuvor bereits ausgeformte Gesellschaft. Die Beziehung zur Umwelt ist in der menschlichen Gesellschaft wie bei den Tiergattungen sekundär im Hinblick auf ihre Beziehung zu sich selber und bleibt von dieser abhängig. Die Bewegung, durch die sie ins Dasein tritt, diese geheimnisvolle Kraft des Wachstums, die ihr ihre ursprüngliche Form verleiht, vermischt sich nicht mit der ökonomischen Aktivität des Unterhalts, die ihr die Kraft gibt weiterzubestehen.
Deshalb haben ausnahmslos sämtliche menschliche Gesellschaften bei ihrer Selbstdarstellung stets die gesellschaftliche Ordnung, die ontologisch ist, von der Ökonomie unterschieden. Sie legen Wert darauf, die großen Ereignisse der Geburt, des Eintritts ins Mannesalter, der Heirat und des Todes zu feiern, die nicht allein eine Beziehung zur Umwelt, sondern eine gesellschaftliche Beziehung zwischen den Angehörigen der verschiedenen Generationen, Geschlechter usw. besiegeln.
Sie machen eine Zäsur zwischen dem Nützlichen und dem Zweckfreien, zwischen der Arbeit und dem Fest, dem Profanen und dem Heiligen, dem ökonomischen und dem Politischen. Während der erste Bereich durch Raum und Zeit hindurch eine gewisse Homogenität aufweist, erscheint der zweite als der Ort beinahe unbegrenzter Verschiedenheit von Gesellschaftsund Zivilisationsformen. Die ökonomischen Sachzwänge und der Stand der Techniken können sich durch die Jahrhunderte und Kontinente hindurch derart gleichen, daß Marx auf diese Quasi-Universa-lität der Arbeitsmethoden die Idee eines allen Menschen gemeinsamen Schicksals gründet, vor und trotz allen politischen, religiösen, psychologischen und kulturellen Verschiedenheiten, die sie trennen. Nichtsdestoweniger haben sie durch Zeit und Raum hindurch eigenständige und wirklich unvergleichbare Formen angenommen. Was Geist, Seele, Stil einer Kultur genannt wird, überschreitet die ökonomischen Beziehungen, die sie mit ihrer Umwelt unterhält.
Die augenfälligste Bestätigung für die Priorität des Ontologischen vor dem ökonomischen war in der Geschichte der Menschheit der Krieg, ein Unternehmen, in dem der Mensch das, was er hat, demjenigen, was er ist, opfert. Im Krieg triumphiert das Überleben über die Lebenserhaltung; der Lebenssinn über das Leben.
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Welcher Frevel ist doch allein schon vom ökonomischen Standpunkt aus diese Verschleuderung an Energie und Gütern, diese Opferung der jüngsten und stärksten Männer! Und trotzdem nahm der Krieg in der Erinnerung der Völker eine Vorzugsstellung ein.
Wie die Sexualität, dieses Fest des Lebens, versetzte dieses Fest des Todes sie in einen Zustand der Begeisterung und Verblendung, der sie der alltäglichen Sorgen enthob und sie in eine andere Welt zu entrücken schien. Sie waren dermaßen fasziniert von seiner Urgewalt, daß sie völlig den Preis vergaßen, den sie dafür zahlen mußten. Mit ihm schienen sie plötzlich die Einheit des Zweckfreien und des Nützlichen wiederzufinden, die sie unter dem Arbeitszwang verloren hatten.
Aus diesem Grund wurde der Krieg, obwohl er Menschen und Güter zerstört, nicht als eine erniedrigende Sklaverei empfunden. Ganz im Gegenteil wurden die Militärs für die Klasse der Freiesten gehalten. Zu allen Zeiten wurden Waffe und Uniform als Schmuck gewertet, der die Ehre derer, die ihn trugen, erhöhte. Zahllose Kunstwerke haben den Krieg zum Gegenstand; die griechische Mythologie paarte den Gott des Krieges mit der Göttin der Schönheit.
Zwischen dem Menschen und den Kriegswerkzeugen oder Kriegszeichen gab es eine Identifizierung, die in jeder Hinsicht der Abneigung entgegengesetzt ist, die der Mensch stets gegen die Werkzeuge und Zeichen der Arbeit an den Tag gelegt hat. Er erblickte in der Waffe, die eine Beziehung zu seinesgleichen verkörperte, den Ausdruck seines tiefsten Seins und seiner Freiheit, während das Werkzeug die Beziehung zur Welt darstellt und daher im Gegensatz zur ersteren ein Symbol für Abhängigkeit und Knechtschaft ist.
Das Bild des „armen, aber stolzen Volkes", der Antagonismus zwischen dem Krieger und Seßhaften, zwischen dem Adel desjenigen, der seine ganze Existenz aufs Spiel setzt, und der Mittelmäßigkeit desjenigen, der sich an seinen Besitz klammert, zeugen von einer Leidenschaft, sich zu bestätigen, die weit über jeden Eigennutz und selbst über das Leben hinausreicht. Wenn sich das Phänomen des Krieges allen ökonomischen, demographischen und biologischen Erklärungen entzieht, die man bisher zu geben versucht hat, so deshalb, weil der Krieg nicht ein Geschehen der Natur, sondern der Kultur ist.
Man mochte glauben, daß der Mangel an lebensnotwendigen Gütern die größte Zahl der Konflikte ausgelöst hat.
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Haben sich die Menschen nicht bekämpft, um Frauen, Vieh, Land, Rohstoffe an sich zu reißen oder um Verkehrswege zu kontrollieren? Die Geschichte zeigt jedoch auch, daß oft Konflikte zwischen Völkern ausgebrochen sind, die nicht des Nötigen entbehrten. Selbst wenn der Krieg auf Eroberung abzielt, kommt es selten vor, daß diese aus einer ökonomischen Berechnung resultiert. Denn der Eroberer weiß nie genau, was ihn seine Unternehmung kosten und wieviel sie ihm einbringen wird.
Jeder Krieg begreift eine Reihe von Imponderabilien ein. Er gleicht eher einer Wette oder einem Glaubensakt als einem Geschäft. Wahrscheinlich hätten viele Kriege vermieden werden können, wenn jene, die sie erklärten, wie man so sagt, „ihren Schlag besser kalkuliert hätten". Aber vermochten sie dies? Wie kann man die Feindschaft erklären, die sich manchmal zwischen Nationen bemerkbar macht, die einen beneidenswert hohen Stand des Reichtums erreicht haben und deren materielle Interessen keineswegs einander zuwiderlaufen? Wie läßt es sich überhaupt erklären, daß der Mensch sein Leben riskiert, um Güter zu erwerben, die ihm der Tod vielleicht entreißen wird? Die Gegenwart des Todes im Krieg macht jede ökonomische Erklärung wertlos.
Im Gegensatz dazu gründet Gaston Bouthoul seine Deutung des Krieges auf die Tatsache, daß der Krieg den Tod von Tausenden, manchmal von Millionen von Menschen fordert, d.h., er findet eine demographische Erklärung. Für ihn ist die Ökonomie lediglich ein Vorwand, die Rechtfertigung eines Dranges zum Krieg, der in gewissen Momenten und in gewissen Gemeinschaften aufkommt.
Die von den Regierungen oder Völkern angeführten Kriegsgründe wären nach Gaston Bouthoul nur die sekundären Wirkungen einer tieferliegenden Ursache innerhalb dieser Gesellschaften: das fehlende Gleichgewicht ihrer demographischen Struktur, hervorgerufen durch die rasche Vermehrung der Bevölkerung, genauer der jungen Männer.
Wenn diese eine das allgemeine Gleichgewicht der Gesellschaft gefährdende Zahl erreichen, so bricht zweifellos Krieg aus und reduziert ihre Zahl auf eine normale Quote. Der Krieg hätte solchermaßen die Funktion, eine demographische Regelung zu erzielen. Seine Häufigkeit stände umgekehrt proportional zu der der großen Naturkatastrophen - Epidemien und Hungersnöte -, die in der Vergangenheit regelmäßig die Völker von einer möglichen Überbevölkerung befreiten.
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Die Opfer der beiden letzten Weltkriege waren demnach die direkte Folge des Fortschritts der Medizin: der Krieg ist nichts anderes als ein <aufgesparter Kindsmord>.
Der Mensch ist das arglose Werkzeug dieser Lebenslist, die dazu dient, die Gattung auf einem quantitativ konstanten Niveau zu erhalten. Die Erregtheit, in die ihn die Aussicht auf einen Krieg stürzt, derjenigen vergleichbar, die die Liebe hervorruft, zeigt, daß er in beiden Fällen, ohne es zu wissen, einem Imperativ seiner Art gehorcht. Beide Male handelt es sich um eine ähnliche Berauschtheit, wenn auch mit entgegengesetzten Folgen.
Obwohl diese These bestechend scheint, stößt sie sich an zahlreichen Fakten. Gaston Bouthoul unterstreicht selber, daß die durch Kriege bewirkte Bevölkerungsverminderung nur von vorübergehender Dauer ist. Weniger als zwanzig fahre nach den beiden letzten Weltkriegen, die die Bevölkerung Europas grausam reduzierten, war sie jeweils größer als zuvor. Falls der Krieg ein Heilmittel für die Überbevölkerung ist, so ist es von ungenügender Wirkung.
Außerdem hat oft eine Entvölkerung ohne Krieg stattgefunden, z.B. im Römischen Reich vor dem Einfall der Barbaren oder im 18. Jahrhundert in Frankreich. Der Krieg hat in der Vergangenheit Völkergemeinschaften auseinandergerissen und dezimiert, die es schon aus ganz anderen Gründen waren: da er zu Hungersnöten und Epidemien hinzukam, stand er im Grunde ohne Beziehung zu ihnen. Glaubt man hierin den Faktor einer natürlichen Auslese zu finden, wie es der Rassismus will, so verhaspelt man sich in Widersprüche, wird doch gerade der jüngste und kraftvollste Teil der Bevölkerung ausgemerzt.
Es stimmt nicht, daß die kriegerischsten Nationen immer auch die volkreichsten waren. Die Spanier unter Pizarro gegenüber den Inkas und die Mongolen, die in Indien, oder die Barbaren, die ins Römerreich einfielen, beweisen das Gegenteil. Denn nicht allein die Anzahl der Angreifer entscheidet im Krieg. Der Sieg fällt nicht notwendig demjenigen zu, der über die größere Zahl von Kämpfern verfügt. Diese müssen materiell und psychologisch dafür vorbereitet worden sein.
Es erfordert einen politischen Apparat, der ihnen Kriegsgründe liefert, der für den Waffen- und Nahrungsnachschub sorgt, die verschiedenen Aufgaben wahrnimmt, die für eine Armee notwendig sind, die Regeln der Strategie beherrscht und anwendet. Der Krieg ist viel eher eine Kunst als ein bloßes Kraftphänomen. Nur dann bedeutet die Anzahl der Krieger Macht, wenn auch mit wachem Verstand gekämpft wird.
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Die einzelnen Gesellschaften haben sich abgelöst, weil sie nie aufgehört haben, sich zu bekämpfen. Wenn eine starb, so deshalb, weil sie unter den Schlägen eines Siegers fiel, der sie unter seine eigene Befehlsgewalt stellte. Er zwang sie entweder zur Auflösung oder dazu, Form und Seele zu ändern. Statt sich gegenseitig in den Lebensraum zu teilen, kämpften beide Völkerschaften unerbittlich darum. Massaker unter der Bevölkerung, Völkermorde, Unterdrückung der Minderheiten, und zwar in jeglicher Form: physisch, politisch und kulturell, sind heute noch geläufig. Während ein mächtiger Lenker das grandiose Zeremoniell des Lebens der Tier- und Pflanzenarten zu ordnen scheint, findet sich nichts dergleichen auf der Stufe der menschlichen Gesellschaften. Wenn zwischen einigen von ihnen Ordnung und Stabilität zu herrschen scheinen, so geschieht dies beinahe immer unter Zwang.
Der Grund für diese harte Rivalität liegt eben in ihrer Gleichartigkeit. Die Menschen greifen sich deshalb gegenseitig an, weil sie sich ähnlich sind im Gegensatz zu den Tierarten, die dazu viel zu verschiedenartig sind. Konkurrenz ist nur unter seinesgleichen möglich.
Aber - wird man sich fragen - weshalb geben sie sich nicht damit zufrieden, daß auch sie verschieden sind? Schließlich haben sich die Zivilisationen der Inkas, des Westens, Indiens, Chinas jede gemäß ihrem eigenen Genius entwickelt, ein wenig in der Art, wie die verschiedenen Gattungen der Säugetiere, Fische und Insekten im selben Element zusammenleben.
In der Tat stellt man fest, daß bisher jede Zivilisation ihren Einfluß mit Waffengewalt geltend gemacht hat, durch die oft die Ideen verbreitet wurden, und zwar soweit die materiellen Mittel es gestatteten. Wenn sich die großen politischen, kulturellen und religiösen Systeme nicht gegenseitig bekämpften, so deshalb, weil sie nichts voneinander wußten wegen der großen Entfernungen, die sie voneinander trennten, und der ungenügenden Kommunikationsmittel. Diese Situation ändert sich allmählich durch die Technik, die die physische Annäherung der Zivilisationen ermöglicht.
Vom einfachen Volksstamm bis zum kontinentalen Imperium scheint jede Menschengruppe das unwiderstehliche Bedürfnis zu haben, sich vor andern und vor sich selber in ihrer Einmaligkeit zu bestätigen; und als Mittel zu dieser Selbstbestätigung diente gewöhnlich der Krieg.
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Mit ihm dokumentierte eine Gesellschaft, was an ihr war. Sie meinte, dies nur dadurch zu können, daß ihr politisches, kulturelles, religiöses, ästhetisches System sich durch den Sieg über das ihres Gegners als überlegen erwiese. Selbst nachdem die Waffen schwiegen, versuchte sie oft, die Götter, Kultstätten und sakralen Einrichtungen des Besiegten zu zerstören. Wenn es nicht zu einer derartigen vorsätzlichen „Bekehrung" des andern kam, dann machte sich oft der Besiegte selbst zum Komplizen des Siegers. Er übernahm die Sitten, Techniken, Glaubensgewohnheiten, die in seinen Augen die Stärke des Siegers ausmachten. Er bemühte sich, ihm zu gleichen.
Es sieht aus, als ob die rivalisierenden Gesellschaften darauf warteten, daß die Geschichte jene bezeichne, die die vollendetste Form darstellt, damit alle andern diese übernähmen. Doch dieser vollendete Typus findet sich nur innerhalb einer bestimmten Gesellschaft und nicht in der Gesamtheit der Art, wie dies beim Tier der Fall ist. Die Beziehung zwischen den menschlichen Gesellschaften bestand daher in Rivalität und Mimikry. Die Mutationen, die sich in der Geschichte eines Volkes oder einer Zivilisation bemerkbar machen können, sind nicht weniger geheimnisvoll als jene, die man in der Evolution des Lebens wahrnimmt.
Das Aufkommen des homo americanus oder sovieticus ist so unberechenbar und verwirrend wie jenes der großen Reptilien und Säugetiere. Diese Mutationen kolportieren und drängen ihr Modell durch ihr Beispiel ebenso stark auf wie durch ihre militärische, finanzielle oder wirtschaftliche Stärke. Selbst jene, die unter diese Macht fallen, scheinen in ihr einen Wesenstypus, eine Einheit von Werten zu sehen, in denen sie sich wiedererkennen und die sie nachzuahmen trachten. Das ist sehr wohl der Beweis dafür, daß es sich hier um ein kulturelles Phänomen und nicht um ein bloßes Kräftespiel handelt. Die chinesische Morallehre, der Hinduismus, das Christentum und der Islam, die deutsche Philosophie, die französische Literatur, das englische politische System haben die militärische Gewalt der Völker, die sie gebracht haben, überlebt.
Wenn die Spezies Mensch sich bisher unaufhörlich in Brudermorden selber bekämpfte, so deshalb, weil sie sich auf der Suche nach einer Lebensform befindet.
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Der Konflikt innerhalb des Menschengeschlechts, der Bruch zwischen Leben und Sinn des Lebens, zwischen Sein und Seinsgrund, bezeugen mit aller Deutlichkeit, daß die Menschheitsgeschichte weder ökonomisch, demographisch noch biologisch zu erklären ist. Vielmehr ist sie ontologisch.
Die Auseinandersetzung des Menschen mit seinesgleichen, die bis heute in zahllosen Kriegen ausgetragen wurde, schneidet die Bande zwischen dem Menschen und der Natur entzwei. Der Krieg verlangt vom Menschen, daß er sich von der Natur losreißt, um dem Unbekannten ins Antlitz zu schauen. Der Soldat macht sich die Natur zunutze, er nimmt nicht auf sie Rücksicht. Zuweilen überlistet er sie durch eine technische Leistung, die den Gegner bestürzt. Der Bruch mit den gewöhnlichen Lebensgesetzen hat seinen Grund in der Todesdrohung, die jeder Gegner dem andern entgegenschleudert. Angesichts dieser Gefahr, die selbst das Leben in Frage stellt, verblaßt sein ganzer übriger Inhalt. Als totalitäres Phänomen hebt der Krieg alle übrigen Aktivitäten auf und ordnet sie sich unter. Für ein ganzes Volk zählt nur noch ein fundamentaler Trieb: der, auf jeden Fall zu überleben. Dieser Überlebenstrieb bemächtigt sich des gesamten Volkes, mobilisiert alle seine physischen und geistigen Kräfte, entfremdet es seiner natürlichen Umwelt, reißt die Familien auseinander, richtet sämtliche technischen, administrativen, ökonomischen und selbst die religiösen und künstlerischen Tätigkeiten auf ein einziges Ziel, das Überleben, aus.
In dieser Hinsicht ist der Krieg der Versuch eines ontologischen Engagements; er bedient sich der Technik, reizt sie zu Höchstleistungen, und zwar so, daß die Rationalität des ökonomischen Denkens aus den Fugen gerät. Der Mensch, der um sein Überleben kämpft, und derjenige, der arbeitet, um sein Leben zu erhalten, gehören verschiedenen Welten an.
Überleben und Lebenserhaltung
Es ist erwiesen, daß die handwerkliche Tätigkeit in den primitiven Gesellschaften von ästhetischen oder religiösen Äußerungen begleitet werden, die, obwohl sie eng mit ihr verbunden sind, sie in dem Maße überschreiten, als sie jeglicher praktischer Wirksamkeit bar zu sein scheinen.
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Diese Äußerungen erheischen Zeit und Energie, ziehen die Vernichtung von Gütern nach sich und scheinen mit der Notwendigkeit, die vordringlichsten Bedürfnisse zu befriedigen, die auf einem mangelhaft ausgestatteten und verletzlichen Wesen lasten, im Widerspruch zu stehen. Das Paradox, auf das die materialistische oder die im strengen Sinn ökonomistische Interpretation der Geschichte stößt, ist daher das folgende: Weshalb und wie kommt es, daß der Mensch zu einem Zeitpunkt, wo er gänzlich von der Besorgung des Lebensnotwendigen in Anspruch genommen zu sein scheint, sich davon löst, um sich Beschäftigungen zu widmen, die sich nicht mit dem Prinzip der Ökonomie vereinbaren lassen, das für ein Wesen ohne Mittel und Reserven allein zählen sollte?
Die Überprüfung der Mittel, deren er sich nacheinander hierzu bedient hat, wird zur Erklärung beitragen.
Das erste Mittel scheint das Sammeln gewesen zu sein, charakteristisch für die Zeit, als der Mensch sich wie der große Waldaffe in Gruppen auf der Suche nach eßbaren Pflanzen und Früchten von einem Ort zum andern begab. Dies war zwar nicht eine Zeit des Überflusses, aber doch jene, in der er die einfache und ursprüngliche Gabe empfing, die die Natur für seine Spezies geschaffen hatte. Diese Geste des Sammeins ist so leicht, die Bewegung von Baum zu Baum so natürlich, die Anpassung an die Umwelt so spontan, daß es scheint, die Spezies hätte, ohne mit einem Gegner kämpfen oder eine Herausforderung annehmen zu müssen, im Wald, der sie schützte und ernährte, immer so weiterleben können.
Warum hat sie das Wagnis unternommen, sich auf den Boden in eine unbekannte Umwelt zu begeben und sich den Angriffen der fleischfressenden Raubtiere auszusetzen? Wir wissen es ebensowenig, wie wir die Ursache kennen, weshalb Lebewesen eines Tages das Meer verließen, in dem sie zur Welt gekommen waren, und es mit der Luft und dem festen Land vertauschten. Diese Umstellung hatte ebenso wichtige Veränderungen zur Folge wie jene, die Millionen Jahre zuvor dem Übergang vom Frosch zum Säugetier gekennzeichnet hatten. Der Mensch erlangte die Fähigkeit zu aufrechtem Stand und Gang, wodurch seine vorderen Extremitäten entlastet wurden. Statt den Körper zu stützen, wurde die Hand nunmehr von ihm gestützt und für neue Obliegenheiten verfügbar, von denen die Jagd wohl die wichtigste war. Diese Emanzipation der Hand bestätigt die früher zitierte Regel; denn sie gibt keine Funktion auf, ohne sogleich eine andere nicht weniger wesentliche zu übernehmen. Die Lebensmühe ändert ihr Aussehen, verschwindet aber nicht.
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Sie wird sogar insofern erschwert, als der Mensch sich nun nicht mehr bloß ernähren, sondern sich auch noch verteidigen muß. Die bewegliche Beute, die bald in unerreichbarer Ferne ist, bald hingegen sich in bedrohlicher Nähe befindet, gibt ihm schwierige Probleme auf. Die Jagd macht die Waffe notwendig sowie die Organisation einer Gruppe, die er erfinden mußte, um es mit der Schnelligkeit und Größe des Wildes aufzunehmen und es leichter aufzuspüren. Wenn dessen Bewegungen auch nicht völlig unbestimmt, sondern von der Nahrungssuche und Zeugung geleitet werden, so sind sie doch nicht unbedingt vorauszusehen. Gegenüber seiner widerspenstigen Beute befindet sich der Mensch in einer Unterlegenheit, die er dadurch ausgleicht, daß er eine neue Beziehung zu dem wilden Tier aufgrund einer exakten Kenntnis seiner Gewohnheiten erhält. Er kann erst dann seiner habhaft werden, nachdem er sein Verhalten beobachten, begreifen und sogar voraussehen gelernt hat.2
Diese widersprüchliche, aus Äußerlichkeit und Innerlichkeit gewobene Beziehung zwischen dem Jäger und seiner Umgebung macht aus der Jagd mehr eine Kunst als eine Wissenschaft. Tatsächlich gleicht keine Nachstellung eines Wildes der andern. Die Bedingungen, unter denen es auftaucht, können nach der Anzahl, in der es auftritt, jedoch auch in bezug auf seine Größe und Lokalisierung variieren. Zu jedem einzelnen Schritt ist eine besondere Strategie notwendig, ein neuer Einfall, um sich zu nähern und das Tier zu töten. Niemals steht der Ausgang im voraus ganz fest.
Vor allen Dingen aber bestätigt die Jagd die Priorität des Tuns über das Sein. S. Marcovici3 und L. Tiger 4 haben die These verfochten, daß die Spezies Mensch deshalb den Wald mit der Savanne und das Sammeln von Früchten mit der Jagd vertauscht habe, weil „überzählige" junge Männer, die von der herrschenden männlichen Gruppe vom Kontakt mit den weiblichen Gruppenangehörigen abgehalten wurden und daher keine Nachkommenschaft hatten, gleichgeschlechtliche verwegene Banden gebildet hätten. Diese leichtfüßigen „Pioniere", die keinerlei Verantwortung für die Gruppe, in der sie geboren waren, zu tragen hatten, hätten es gewagt, von den Bäumen herunterzusteigen, und hätten in der Folge die Savanne besiedelt. Diese These ist soviel wert wie viele andere auch.
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Immerhin ist wahrscheinlich, daß beim Menschen die Jagd, wie heute noch, fast ausschließlich eine Tätigkeit des Mannes war. Während die Frau von den Mühen der Schwangerschaft und Kindererziehung in Anspruch genommen war und damit für die Fortpflanzung der Art sorgte und deren „Sein" garantierte, fanden sich männliche Individuen, die ja in dieser Hinsicht ungebunden waren, zur Jagd bereit, einem kollektiven Unternehmen, das unter ihnen eine urtümliche Beziehung schuf. Da sie von naturbedingten Pflichten befreit waren, widmeten sie sich der rein technischen Beschäftigung des Tierfangs.
Diese Unterscheidung zwischen den Geschlechtern, die für die Spezies Mensch charakteristisch ist, wurde in der Folge durch die epochale Entdeckung des Feuers noch verstärkt. Zwar kennen wir deren Ursprung und Datum nicht, doch zeugen die zahlreichen Mythen, die darüber entstanden sind, von der Einzigartigkeit dieser Entdeckung.
In erster Linie und trotz der äußeren Erscheinung handelt es sich nicht um ein Naturphänomen. Das Feuer vom Himmel in der Form des Blitzes und der Feuersbrunst, die er bewirkte, oder das Feuer als wilder Ausbruch eines Vulkans mußte wegen der zerstörerischen Auswirkung Entsetzen auslösen und die Idee eines übernatürlichen Ursprungs begünstigen. Da es entweder aus der Höhe herabfiel oder aus der Tiefe heraufstieg, gehörte es nicht zu den Dingen und Wesen, die der Mensch anschauen und an die er Hand anlegen konnte. Die griechische Mythologie, die es entweder in den Himmel oder in die Tiefen der Erde verlegt, sagt dies mit aller Klarheit. Das Feuer mag im menschlichen Bereich durch den Zusammenprall zweier Kieselsteine, durch längeres Aneinanderreihen trockenen Holzes entstanden sein, jedoch war es allein die Geschicklichkeit des Menschen, der es gelang, sich diese geheimnisvolle Gewalt, die weder eine Sache noch ein Lebewesen ist, diese furchtbare Zerstörungsmacht gefügig und dienstbar zu machen. Ob es sich um das Kochen der Speisen, die Fabrikation von Waffen, den Schutz gegen die wilden Tiere handelt - nur dank menschlicher Geschicklichkeit, die das Feuer entfacht, unterhält und auch in Grenzen hält, verwandelt sich das Schreckenszeichen, wird aus dem Feind ein Verbündeter.5) Das Bündnis zwischen dem Menschen und dem Feuer ist eine Kunst, durch die er „die Natur zwingt, die transformierenden Vorgänge zu beschleunigen".6)
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In <Schmiede und Alchemisten> hat Mircea Eliade dargetan, von welchem religiösen und magischen Glorienschein der Schmied umgeben war. Denn - um es nochmals zu sagen - es ist nicht auszumachen, ob das Feuer, das die Nacht und die Kälte besiegt, dem Nahrungsmittel und dem Metall neue Beschaffenheit vermittelt oder ob der Mensch mächtiger ist, der dank seiner Geschicklichkeit selber fähig ist, das Zeichen des Feuers zu verwandeln. In der Tat ist dies das ausschließliche Privileg des Mannes. Wohl hat die römische Vestalin mit dem Feuer zu tun, aber außer der Tatsache, daß sie jungfräulich ist, d.h. von der Natur abgetrennt, ist sie damit beschäftigt, das Feuer zu erhalten, nicht damit umzugehen.
Lange nach der Entdeckung des Feuers geht der Mensch dazu über, die Energie in Form von Wasser und Wind zu gebrauchen. Bei der schrittweisen Beherrschung der Umwelt war diese sicher bedeutsamer als die Zähmung der Tiere, die als eine natürliche Folge der Jagd erscheinen mochte. Mit den Elementen Wasser und Wind, die viel machtvoller und ohne,, Gesicht" sind, verhält es sich anders. Mit dem Segel und der Mühle hat der Mensch wahrhaftige „Fallen" erfunden, denen vergleichbar, die er den Tieren stellte, damit sie sich darin verfingen. Beim Segeln ist es ihm sogar gelungen, im Gegenwind voranzukommen, den Wind in gewisser Hinsicht gegen ihn selber zu gebrauchen. Wie das Wild ist der Wind wechselhaft, seine Stärke und Geschwindigkeit sind nicht zuverlässig vorauszusehen. Die Schifffahrt wird daher zu einer Kunst, und zwar zu einer, die allein vom Manne ausgeübt wird.
So verhält es sich mit den Techniken. Sie entstehen durch die Verbindung einer physischen Kraft mit dem menschlichen Wissen; sie dienen alle dem Zweck, etwas „einzufangen". Sie sind insofern in nichts der Natur verpflichtet, als die Umwelt, auf die sie ausgerichtet sind, das Wild, das Feuer, die Elemente, nur mittels einer schwierigen, komplexen Kunst, die der Mensch nicht aus seinem Körper, sondern aus seiner Intelligenz gewinnt, Form annimmt. Aus diesem Grund herrscht er übrigens auch niemals vollständig und endgültig über sie: Das Feuer, der Wind sind ihm nur dann dienlich, wenn er sie fortwährend beobachtet. Das ganze Problem besteht für ihn darin, sie auszuwählen und in Grenzen zu halten. Der kleinste Irrtum kann schlimme Folgen zeitigen. Es war niemals weise, „mit dem Feuer zu spielen".
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Es scheint, daß der Mensch etappenweise vom Sammeln zur Jagd, hierauf zur Nutzbarmachung des Feuers und der Elemente übergegangen ist, bevor er schließlich sehr spät zu Ackerbau und Viehzucht gelangte. Solchermaßen hat sich seine Herrschaft über die Umwelt vollzogen. Man muß sich indessen klarmachen, daß beim Übergang vom Tierfang zur Tierhaltung und zum Ackerbau sich auch die Welt des Menschen verändert hat.
In den ersten Zeitaltern waren die wenig zahlreichen Menschen von einer reichhaltigen Tier- und Pflanzenwelt umgeben, und zwar einer derart reichhaltigen, daß sie ihr das eigene Existenzrecht abringen mußten. Die Wildtiere und der Wald waren überall, sie stellten die Nahrung, waren jedoch übermächtig und bedrohlich. Der Mensch kämpfte gegen sie, sowohl um sein Leben als um seinen Lebensunterhalt. Dieser Kampf verlief für ihn erfolgreich. Der Druck der feindlichen Umgebung nahm ab; der Mensch vermehrte sich und weitete sein Territorium aus. Jedoch machte sich sehr rasch eine neue Gleichgewichtsstörung bemerkbar; das Leben des Menschen, war zwar nicht mehr bedroht, jedoch begannen ihm die Mittel für seine Erhaltung knapp zu werden. Von diesem Zeitpunkt an kam der Mensch in eine völlig neue Lage, in diejenige des Mangels. Bis dahin war das Menschengeschlecht in der Welt mangelhaft vertreten, nun begann es selber in der Welt Mangel zu leiden. Die Dialektik zwischen Beherrschung und Versklavung begann zu spielen. Nachdem der Mensch die Jagd und den Fischfang gegen den Ackerbau eingetauscht hatte, erreichte er eine Bevölkerungszahl, die nur unter der Bedingung unermüdlicher Feldarbeit am Leben erhalten werden konnte. Er vermochte nur in dem Maße den Hunger zu stillen, als er arbeitete.
Die Arbeit aber als Antwort auf den Mangel ist genau das Gegenteil von Kunst und Technik, die eine Antwort auf den Überfluß sind. Das Wild vermehrte sich selber, und zwar reichlich: für eine wenig zahlreiche Menschheit handelte es sichnur darum, dieses Wildes habhaft zu werden, wie sie das Feuer und den Wind in den Griff bekommen hatte. Indessen können die Tiere und die Pflanzen gemäß ihrem natürlichen Fortpflanzungsrhythmus der anwachsenden Menschheit nicht mehr den erforderlichen Lebensunterhalt garantieren.
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So ist es nicht mehr Aufgabe der Menschheit, sich vor dem Tier zu schützen, sondern das Tier vor seinen Verfolgern, die eßbaren Pflanzen vor den ihnen feindlichen Arten, und der Dürre und Kargheit des Bodens durch Bewässerung und Umgraben zu begegnen. Um dies zu bewerkstelligen, muß sich der Mensch des Werkzeugs bedienen, jedoch muß er vor allen Dingen die natürlichen Zyklen der Fortpflanzung beachten und den Jahreszeiten Rechnung tragen. Er bebaut also die Erde, damit sie Früchte hervorbringe, die zu ihrer regelmäßig und unverrückbar festgesetzten Zeit reifen. Das erfordert weniger Kunst als Ausdauer, weniger Kühnheit als Geduld, weniger Aufmerksamkeit als Wartezeit. Das Lebewesen wächst wie das Kind nur dank tausendfachem Einsatz. Die Jagd und der Fischfang mochten je nach Tag, Stunde und Geschicklichkeit reichlich oder mäßig sein. Die Ernte hängt gewiß auch von glücklichen Umständen ab, doch ist die reiche Ernte in erster Linie eine Folge der körperlichen Anstrengung, die sich darauf konzentriert, zu festgelegten Daten das Gestrüpp zu entfernen, zu pflügen, zu säen, zu bewässern usw.
War die Jagd ein Privileg des Mannes, so war die Bebauung des Bodens zunächst ganz natürlich eine Obliegenheit der Frau. Ihr Leben, das von den Zyklen der Fruchtbarkeit und der Schwangerschaft bestimmt, in Beschützung und Aufzucht der Kinder eingeteilt und von Generation zu Generation der Erhaltung der Art gewidmet war, stimmte mit den Arbeitsrhythmen des Ackerbaus überein. Im Gegensatz zur Jagd, die immer einmalig und ungewiß ist, bei der das Glück eines Tages mehrere erfolglose Tage wettmachen kann, erfordert der Ackerbau eine rgelmäßige, tägliche Arbeit. Die Jagd verwandelte durch einen glücklichen Lanzenstoß das große drohende Raubtier in einen Nahrungsvorrat. Das Feuer verwandelte das widerständige Metall in ein gehorsames Werkzeug. Ackerbau und Viehzucht können hingegen nur zum langsamen Reifen der Pflanzen und zum langsamen Wachstum der Tiere beitragen. In diesem neuen Dialog zwischen dem Menschen und dem Lebewesen, das er domestiziert, ist nicht mehr, trotz des äußeren Anscheins, die menschliche Anstrengung das Entscheidende, sondern diese geheimnisvolle, tätige, aber sparsame und verletzliche Kraft, die bewirkt, daß das Leben sich fortpflanzt und vermehrt.
Diese Verletzlichkeit der Güter, die durch Arbeit aus dem Boden gewonnen werden, zeigt sich auf mannigfache Weise. In zahlreichen Fällen fehlt es am nötigen Wasser für Pflanzen und Tiere. Es muß daher von Menschenhand aufgespeichert und gelenkt werden.
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Bewässerungsarbeiten werden notwendig. Die Ägypter zum Beispiel mußten das Hochwasser des Nils voraussehen und den Umkreis ihrer Felder abgrenzen. Die Astronomie diente ihnen in erster Linie zur Berechnung des Verlaufs der Jahreszeiten; die Geometrie hingegen entstand aus der notwendig gewordenen Feldvermessung. Das Korn, kaum geerntet, wird von Nagetieren bedroht; die Ernte kann von einer Gegend zur andern sehr verschieden ausfallen. Aus diesem Grund ist eine klug ausgedachte Organisation, die die Aufspeicherung und den Transport des Getreides regelt, unabdingbar, wozu ein ganzes administratives System erforderlich ist. So verhielt es sich bei den Inkas. Die Schutzmacht des Staates wurde in enger Bindung mit dem Rhythmus der Feldarbeit ausgeübt, deren Früchte sie aufzubewahren, zu schützen und zu verteilen hatte, dies galt sogar als erste Aufgabe des Staates. Vom Land zur Stadt besteht eine Kontinuität und Komplementarität. Sie können nur gemeinsam gedeihen. Der Reichtum beruht ebenso auf der gesellschaftlichen Organisation als auf der Fruchtbarkeit des Bodens.
Die primitive Gesellschaft, die eine geringe Bevölkerungszahl hat, verlegt sich, um überleben zu können, auf das technische Einfangen von unerschöpflichen Naturkräften, im Gegensatz zu der volkreich und dicht zusammenlebenden sozio-agrarischen Zivilisation. Von Mangel bedroht, widmet diese ihre Kraft ganz der Arbeit und der Organisation zum Zwecke der Lebenserhaltung.
Der Antagonismus dieser beiden Gesellschaftsformen findet sich in ihren je eigentümlichen religiösen Vorstellungen wieder. Gewiß haben die sogenannten Naturreligionen ein Merkmal gemeinsam: sie sind durch und durch utilitaristisch. Sie haben den Animismus der Stammesgemeinschaft oder das hierarchisch gestufte Pantheon des straff regierten Reiches zum Mittelpunkt, und ihre religiösen Praktiken stehen im Zusammenhang mit den grundlegenden Funktionen, die das materielle Leben der Menschen ermöglicht. So betrachtet der Ägypter den Tod als Fortsetzung des Lebens: der Verstorbene wird von seinen vertrauten Gegenständen umgeben, mit Nahrung versorgt, er wird an einem geschützten Ort beigesetzt. Wenn der Pharao zum Kultgegenstand wird, so deshalb, weil er durch seine Anwesenheit den Wechsel der Jahreszeiten, die Rückkehr des Hochwassers des Nils, kurz: den materiellen Wohlstand des Reiches, garantiert.
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Deshalb scheint die von vielen Autoren, unter ihnen auch Marx und Engels, gemachte Unterscheidung zwischen einer Naturreligion als Kennzeichen der Stammesgemeinschaft und einer Staatsreligion, die jene der großen, organisierten Reiche wäre, kaum den Tatsachen zu entsprechen.
In Wirklichkeit ist die Magie, die ein Kennzeichen der ersteren ist, keine eigentliche Naturreligion. Diese kommt erst mit den Hochkulturen auf und verbindet sich hier mit dem Staatskult. Im primitiven Stamm trotzt der Mensch Kräften, die er sich günstig zu stimmen sucht. Seine Vorstellung von der Welt ist gewiß eine animistische, wie sie oft bezeichnet worden ist. Aber diese Weltseele, dieser Große Geist der Indianer oder der Eskimojäger ist vor allem eine Kraft oder ein Verbund von Kräften. Das Wild, das Feuer und die Elemente werden mit Hilfe magischer Praktiken im Rahmen direkten Zwiegesprächs, das der Mensch mit ihnen aufnimmt, eingefangen und dienstbar gemacht. Aus dieser Komplizenschaft entsteht eine Kunst, die die Alten oder die Zauberer beherrschen und die von einer Generation an die andere überliefert wird. Diese Beziehung führt zu einem „gewußt wie", nicht zur Arbeit. Ihr rudimentärer und vager religiöser Inhalt steht in erster Linie im Dienste der Technik.
Deshalb sind Marx und Engels bei ihrem Versuch, jegliche soziale Struktur und religiöse Vorstellung ökonomisch zu erklären, auf ein unüberwindliches Hindernis gestoßen. Engels gibt dies in seinem Brief an Conrad Schmidt zu, in dem es heißt, daß obwohl kein ökonomisches Bedürfnis vorwiegend und in immer stärkerem Maße die Triebfeder zur Erkenntnis der Natur war, es nichts weniger als Pedantismus wäre, wenn man für diese ganze primitive Unwissenheit ökonomische Ursachen anführen wollte.
Bei anderer Gelegenheit präzisiert er, daß der primitive Stamm, da er die Arbeitsteilung und daher auch die Einteilung in Klassen nicht kennt, sich dem ökonomischen Determinismus entzieht. Wäre es nicht logischer, zu sagen, daß die Stammesgemeinschaft allerdings die Teilung der Pflichten kennt, die zum Beispiel zwischen Mann und Frau biologisch festgelegt ist, jedoch nicht die Teilung der Arbeit, einfach deshalb, weil die Stammesgemeinschaft die Arbeit als solche nicht kennt? Die sozialen Beziehungen, die sie schafft, spielen bei ihr in Wirklichkeit eine viel größere Rolle als der ökonomische Zwang. Als im Überfluß lebende Gesellschaft7 findet die Stammesgemeinschaft daher die Zeit, die Neigung und die Mittel, kollektive Aktivitäten auszuüben, die ausgeklügelten Riten untergeordnet sind.
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Die seit Marx und Engels über die primitiven Gesellschaften gewonnenen Erkenntnisse bestätigen im übrigen, daß es unmöglich ist, sie allein durch ökonomische Faktoren zu erklären. Es sind die „elementaren Strukturen der Verwandtschaft" und nicht die Arbeitsteilung, die die ersten sozialen Beziehungen schaffen. Das geht auch aus den Arbeiten von Claude Levi-Strauss hervor, der die von Lewis H. Morgan 1877 in „Ancient Society" dargelegte Hypothese noch vertieft, erweitert und systematisiert hat. Die vorerwähnten elementaren Strukturen beherrschen die Gesamtheit der ökonomischen Beziehungen, die nicht die Ursache, sondern die Wirkung sind. Die Tatsache, daß sie sehr verschiedene Formen annehmen können, zeugt von einer komplexen Systematisierung, die einer starken sozialen Vorstellungskraft entspringt. Wenn wir z. B. an ihrer Basis das Verbot des Inzests finden, so deshalb, weil die Beziehung zwischen Mann und Frau, die allein auf der natürlichen Komplementarität der Geschlechter zu beruhen scheint, in Wirklichkeit in hohem Maße sozial bestimmt ist, da sie die Form eines vertragsmäßigen Aus-tauschs unter gleichen Partnern, den Männern, annimmt. Die Frau ist zunächst Gegenstand eines Engagements unter gleichen und ebenbürtigen Partnern und erst danach die notwendige Ergänzung des Mannes, wie es die Natur will.
Diese bedeutsame Tatsache bekräftigt den Bruch, den das Aufkommen des gesellschaftlichen Elementes im biologischen Bereich herbeiführt. Die exogamische Heirat macht aus der Frau ein Gut, das ausgetauscht wird, bedeutet jedoch nicht einen Akt ökonomischer Art. Denn gerade diese Beziehung ist nicht ein Produktionsakt, sondern ein Akt des Austauschs. Die Frauen, die ausgetauscht worden sind, sind nicht ein Produkt menschlicher Arbeit, sondern ein Naturprodukt.
Die zeitgenössische Anthropologie hat ein anderes Merkmal der meisten primitiven Gesellschaften an den Tag gebracht, und zwar die rigorose Unterscheidung zwischen den Gütern für den Lebensunterhalt und den Prestigegütern. Die ersteren sind lebensnotwendig und bald Gemeingut, bald Gegenstand privaten Besitzes. Im letzteren Fall können sie ausgetauscht werden: der Schmied, der die Werkzeuge und Waffen herstellt, tauscht sie gegen Lebensmittel ein.
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Aber bei den Sianen von Melanesien z.B. können die Früchte des Ackerbaus, die Beute der Jagd und die Erzeugnisse des Handwerks nicht gegen Luxusgüter (Tabak, Salz, Palmöl) und noch weniger gegen Schmuckgegenstände (Muscheln, Federn von Paradiesvögeln, Kultäxte) eingetauscht werden. Diese sind wie die Frauen dafür vorbehalten, verwandtschaftliche Beziehungen, politische Beziehungen mit den Vasallengruppen oder eine religiöse Beziehung mit den Göttern zu knüpfen.
Der Primitive macht somit eine scharfe Trennung zwischen dem Tausch mit ökonomischem Zweck, der im Zeichen der biologischen Komplementarität stattfindet - Nahrung gegen Werkzeug oder Bekleidung -, und dem Tausch mit sozialem Zweck, der eine Beziehung zwischen Personen bedeutet, etwa vom Menschen zu dem Gott, den er verehrt, zu dem Gegner, den er im Krieg herausfordert, oder zu dem Fremden, mit dem er sich durch Heirat verbindet. Die zuletzt genannte Beziehung kommt mittels seltener Güter, die sehr begehrt und ohne biologischen Nutzen sind, zustande, weil sie die soziale Stellung ihres Inhabers bestimmen.
Die Güter, die der Primitive für wertvoll hält, von der Frau bis zu jenen seltsamen Gegenständen wie Muscheln und Vogelfedern, sind nicht Erzeugnisse der Arbeit, sondern Geschenke der Natur, die es zu suchen, zu finden und zu erringen galt. Ihre soziale Bedeutung ist mit derjenigen der Beziehung der Gruppe zu einem Totemtier vergleichbar. Da es sich um eine enge Assimilation des Clans an dieses oder jenes Tier handelt, könnte diese im ersten Moment als Kult gedeutet werden, den ein Jägervolk gegenüber jener Realität der Natur pflegt, die ihm am nächsten und vertrautesten ist: dem Wild. Tatsächlich hat diese Beziehung jedoch, wie Durkheim es dargelegt hat, eine vorwiegend soziale Funktion. Das betreffende Tier symbolisiert die Identität und Einheit der Glieder eines Clans. Es ist in weit stärkerem Maße das Bild, das er sich von sich selbst macht, als eine Darstellung der Umwelt, die den Clan umgibt.
Der Primitive mag folglich eine starke Hinneigung zur Natur fühlen; eine Vorstellung von ihr hat er nicht. Seine Magie ist keine Religion, weil seine Beziehung zur Umwelt auf Kunstfertigkeit, nicht auf Arbeit gründet. Es handelt sich um eine technische, nicht um eine ökonomische Beziehung. Der Zauberer ist ein Praktiker, der weiß, wie die Waffen angefertigt, die Krankheiten behandelt werden müssen usw.
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Er ist ein Spezialist. Er verfügt über ein brauchbares, aber knappes und begrenztes Wissen. Er verhilft dem menschlichen Handeln unter immerfort wechselnden Umständen zum Erfolg. Er schreibt sein Wissen nicht einer kosmischen Ordnung zu. Im Widerspruch zur marxistischen These ist es nicht die Ohnmacht des Primitiven gegenüber der Natur, die die Stärke seines religiösen Empfindens erklärt. Es ist die Geschicklichkeit, die er zu entfalten versteht, um die Kräfte der Umwelt unter seine Kontrolle zu bringen und sich dienstbar zu machen, die die Schwäche seiner Religion erklärt.
Engels stellt im übrigen wie nach ihm die Ethnologen8 fest, daß der primitive Stamm keine Priesterklasse besitzt, sondern im Gegenteil eine Art religiösen Egalitarismus' und Laizismus' praktiziert. Der wirkliche Grund dafür ist der, daß die frühe Menschheit, wie wir gesehen haben, mehr um ihr Überleben als um ihren Lebensunterhalt kämpfte. Die Vorstellung, die sie sich von sich selber machte und die präzis, streng und anspruchsvoll war, hatte für sie daher größere Bedeutung als die Vorstellung, die sie von der Natur haben konnte und die im Gegensatz dazu sehr vage blieb.
Diese Sachlage änderte sich radikal, als die Menschheit von der Jagd als Mittel des Überlebens zum Ackerbau als notwendiger Bedingung der Lebenserhaltung, also vom Tierfang zur Landwirtschaft, von der Welt des Überflusses zur Welt des Mangels überging. Dann, und erst dann, wird die eigentliche Naturreligion geschaffen. Der Mensch empfindet jetzt seine Abhängigkeit von einer Weltordnung, die er als unsicher erlebt, versucht, diese durch Kult und Darbringung von Opfern zu festigen und aufrechtzuerhalten. Auf die Fertigkeit des Jägers und Beutemachers folgt die Arbeit des Ackerbauern, der die Vermehrung der Tier- und Pflanzenarten sicherstellt. Die Magie des Zauberers und Manipulators okkulter Kräfte weicht dem Wissen des Priesters, der die Einteilung der Jahreszeiten kennt und durch die Einsetzung eines Kalenders die menschliche Tätigkeit danach ausrichtet. Nach der Formulierung von Engels handelt es sich sehr wohl um eine beinahe totale Hingabe des Menschen an die äußere Natur. Während diese der primitiven Gesellschaft unbekannt ist, charakterisiert sie die agrarische Zivilisation und nur diese.
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Man findet im übrigen diese Abhängigkeit innerhalb der Staatsreligion wieder, die, weit davon entfernt, sich der Naturreligion entgegenzustellen, diese fortsetzt und ergänzt. Die produktive Landwirtschaft, die zur Ernährung einer großen Bevölkerung unerläßlich ist, beruht auf einem gemeinsamen Werk, das eine sehr genaue und komplexe Organisation voraussetzt. In der „Deutschen Ideologie" sieht Marx hierin den Anfang der Beherrschung der Natur durch den Menschen, aber auch den Beginn des Gegensatzes zwischen der materiellen Arbeit, die für ihn allein real ist, und der intellektuellen Arbeit.
In Wirklichkeit gibt es keinen Antagonismus zwischen ihnen, sondern sie ergänzen sich: Wie könnte die Organisation im Gegensatz zur Arbeit stehen, deren Produktivität sie gewährleistet?
Im „Anti-Dühring" schreibt Engels seinerseits: „Solange die gesellschaftliche Gesamtarbeit nur einen Ertrag liefert, der das zur notdürftigen Existenz aller Erforderliche nur um wenig übersteigt, solange also die Arbeit alle oder fast alle Zeit der großen Mehrzahl der Gesellschaftsglieder in Anspruch nimmt, so lange teilt sich die Gesellschaft notwendig in Klassen. Neben dieser ausschließlich der Arbeit frönenden großen Mehrheit bildet sich eine von direkt-produktiver Arbeit befreite Klasse, die die gemeinsamen Angelegenheiten der Gesellschaft besorgt: Arbeitsteilung, Staatsgeschäfte, Justiz, Wissenschaft, Künste usw. Das Gesetz der Arbeitsteilung ist es also, was der Klassenteilung zugrunde liegt."9 Aber bedeutet das nicht das Eingeständnis, daß „die Leitung der Arbeit'', die Führung der „gemeinsamen Angelegenheiten der Gesellschaft" es erlaubt, die Arbeit über das „zur notdürftigen Existenz aller Erforderliche" hinauszubringen? Allerdings möchte Engels daraus eine Folgerung ziehen: Da die Arbeitsteilung, die den Antagonismus der Klassen bedingt, im Zusammenhang mit der Unterproduktivität der Arbeit steht, so muß, nachdem diese überwunden ist, die materiell-unproduktive Klasse verschwinden. Aber deshalb erkennt er nicht, daß gerade das Bestehen dieser Klasse diesen Sieg ermöglicht? Wenn allein die organisierte Arbeit produktiv wird, wie könnte sie das Verschwinden der Organisation veranlassen, da sie diese ja voraussetzt?
Dieser Widerspruch zeigt sich besonders deutlich bei der Rechtfertigung, die die Begründer des Marxismus für die Sklaverei anführen. In ihren Augen beruht das Anwachsen der Produktivkräfte, d. h. genauer der Produktivität der menschlichen Arbeit, sehr wohl auf einer besseren Organisation. Und diese liegt in den Händen „einer von direkt-produktiver Arbeit befreiten Klasse, die die gemeinsamen
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Angelegenheiten der Gesellschaft besorgt: Staatsgeschäfte... usw.". Der Herr übernimmt demnach eine wichtige ökonomische Aufgabe; er leitet die Arbeit der Knechte und verhilft ihr zu einer Produktivität, die höher ist als jene, die aus einer „einfachen Handarbeit" resultieren würde. Aber Marx und Engels vermengen diese Organisation betreffend die Zuweisung der Arbeiten an die Knechte, die der Gesamtheit der Arbeiten eine Effizienz verleiht, die sie bei planloser Verstreuung nie hätten und den Gegensatz zwischen den Knechten und ihren Herren darstellen, wobei die letzteren von der Ausbeutung der ersteren leben. Die Organisation der Arbeit aber ist das Gegenteil einer Ausbeutung. Wenn die Arbeit der Knechte dank der Organisatoren einen Mehrwert erhält, so scheint es berechtigt, daß dieser wenigstens zum Teil den Organisatoren zukommt. Es handelt sich ja um die Entlohnung für einen geleisteten Dienst.
Es muß schon sein, daß der organisatorische Aspekt der Sklavenhaltung bei weitem stärker war als der Aspekt der Ausbeutung, da Hunderttausende von Menschen die Befehle einer sehr kleinen Minderheit annahmen. Daher entgegnet Engels mit Recht Dühring, der allein in der Gewalt die Begründung für die Beziehung zwischen dem großen Grundherrn und seinen Knechten sah, daß „der politischen Herrschaft überall eine gesellschaftliche Amtstätigkeit zugrunde lag; und die politische Herrschaft hat auch dann nur auf die Dauer bestanden, wenn sie diese ihre gesellschaftliche Amtstätigkeit vollzog. Wie viele Despotien auch über Persien und Indien auf- oder untergegangen sind, jede wußte genau, daß sie vor allem die Gesamtunternehmerin der Berieselung der Flußtäler war, ohne die dort kein Ackerbau möglich ist."10
Daraus geht hervor, daß die Produktivität der Arbeit durch eine Organisation, die ihr von außen zugekommen ist, erhöht wurde, d. h. durch die Initiative einer dritten Klasse (Priester, Schreiber, Administratoren), deren Aufgabe genau darin bestand, die Arbeit der andern zu durchdenken, neue Produktionsverfahren zu erfinden, die Produkte auszuwählen usw. Diese Organisation ist also nicht, wie Engels meint, ein Hindernis für die soziale Entwicklung, sondern im Gegenteil ihr Motor.
Marx scheint ein klareres Bewußtsein von diesem Vorrang der Organisation über die Arbeit gehabt zu haben. In <Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie> schreibt er:
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„Ganze Gesellschaften betrachtet, scheint die Distribution nach noch einer Seite hin der Produktion vorauszugehen und sie zu bestimmen; gleichsam als ante-ökonomisches fact." Er zitiert das Beispiel eines erobernden Volkes, das dem besiegten Volk eine bestimmte Form des Grundeigentums aufzwingt und die Eroberten zu Sklaven macht. Manchmal zerschlägt ein Volk durch Revolution das große Grundeigentum in Parzellen; „gibt also durch diese neue Distribution der Produktion einen neuen Charakter". „In allen diesen Fällen", fügt er hinzu, „und sie sind alle historisch, scheint die Distribution nicht durch die Produktion, sondern umgekehrt die Produktion durch die Distribution gegliedert und bestimmt."11)
Wenn es jedoch geschieht, daß die Verteilung, d.h. genauer die Organisation der Arbeit und des Gütertauschs, von einem Volk einem andern nach einem militärischen Sieg aufgezwungen wird, so handelt es sich um eine Verteilung mit politischem Charakter. Die Form, die die Wirtschaft annimmt, ergibt sich daher nicht bloß aus den Produktionsverfahren, da diese gleichbleiben können, auch wenn sie in verschiedene Systeme eingehen, eine Evidenz, die Marx unterschreibt, wenn er sagt, daß die Organisation der Arbeit, die der Arbeit vorausgeht, als ein „ante-ökonomisches fact" gewertet werden muß. Die Logik hätte ihm verbieten müssen, die letztere als eine in sich stehende Realität zu betrachten und in ihr das einzige Fundament der Gesellschaften und den Schlüssel zu ihrer Geschichte zu sehen. In Wirklichkeit erweist sich die politische und soziale Organisation als die unerläßliche Vorbedingung jeglicher produktiver Arbeit. Sie wird nicht auf Kosten der Ökonomie, sondern für die Ökonomie ausgeübt.
Zu dieser Schlußfolgerung gelangt Joseph Needham in seiner Studie über die sozialen Grundlagen der chinesischen Ökonomie12. Das bürokratische System Chinas, gegründet auf dem Mandarinat, fand wie in Ägypten seine Rechtfertigung in einer Organisation der Arbeit, die ihrerseits durch die Gegebenheiten des Klimas und der Geographie bedingt war. Weil diese „Art asiatischer Produktion", wie Marx und Engels sie nennen, ein hervorragendes Beispiel für eine Arbeitsteilung ohne Klassengegensätze liefert, zögerten Marx und Engels immer, sie historisch richtig einzustufen, nämlich zwischen die primitive Gesellschaft, wie sie sich diese am Ursprung der Geschichte vorstellten, und die drei Etappen der Hochkulturen mit Sklavenhaltung, des Feudalismus und des bürgerlichen Kapitalismus.
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In der Tat ist diese Komplementarität des Tertiären und des Sekundären keineswegs eine Ausnahme, sondern im Gegenteil eine Konstante der Geschichte, da man sie auf jeder ihrer Stufen wiederfindet. Im Hinblick darauf ist der Kampf zwischen den Klassen ein zweitrangiges Phänomen und ein Zeichen ihrer Entwürdigung.13) Die politische und soziale Organisation wird keineswegs der Arbeit übergestülpt, sondern macht sie erst ertragreich. Denn die Arbeit hat nicht eine unmittelbare Beziehung zur Natur. Sie ist zuerst und vor allem eine Beziehung von Arbeiter zu Arbeiter. Nach ihrem Wesen, ihrer Struktur, ihrer Zielrichtung ist sie mehr sozial und politisch als ökonomisch.
Das zeigt sich noch deutlicher beim Handel. Marx schreibt ihm (1859) in der wirtschaftlichen Entwicklung eine wichtige Funktion zu, und tatsächlich spielt er in den Reichen der Ägypter und Azteken eine entscheidende Rolle.14) Mit dem Handel ersetzt der Tauschwert den Gebrauchswert. Er bringt einen Überschuß mit sich, der über die Bedürfnisse des Produzenten hinausgeht und dazu da ist, die Bedürfnisse eines andern zu befriedigen. Wir haben gesehen, der Handel begann nicht etwa mit dem Tausch von lebensnotwendigen Gütern, sondern von Prestigegütern, die leicht an Gewicht und bequem zu transportieren waren und vor allem einen hohen symbolischen und sozialen Wert besaßen. Pelze, wertvolle Steine und Metalle, Seide sind im Tausch von Handelsgütern dem Salz, den Gewürzen und dem Getreide vorausgegangen. Wie immer die quantitative Einschätzung dieser Güter, d.h. die Modalität der Festsetzung ihres Preises, sein mag, so ist dieser doch in erster Linie Funktion des Wertes, den sie in den Augen des Käufers darstellen, des psychologischen Preises, den er ihnen zubilligt.
Der Handel hat zuerst jene beschäftigt, die in einer gegebenen Gesellschaft eine soziale Funktion ausüben. Dies ist nicht allein deswegen so, weil sie allein über Mittel verfügen, die für mehr als die elementaren Lebensgüter ausreichen, so daß sie sich Überflüssiges leisten können, sondern auch deshalb, weil dieser Überschuß nicht ein bloßes „Mehr" ist. Er hat nicht quantitative, sondern qualitative Bedeutung. Modern ausgedrückt, könnte man sagen, daß der Handel, der den Austausch verschiedener Güter erlaubt, die Lebensqualität erhöht. Er wird dort eingeführt, wo man sich mehr als die bloße Lebenserhaltung leisten kann.
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Wie unter den arbeitenden Sklaven die Organisation der Arbeit ihr neue Produktivität vermittelt hatte, so beweist der Handel, daß beim Menschen nicht nur die Sorge um das Leben, sondern auch der Wunsch, dem Leben einen Glanz zu geben, vorhanden ist. Und wie die Verbesserung der Produktivität aus dem Nachdenken über die Arbeit hervorgegangen ist und nicht aus der Arbeit selber, unterscheidet sich der Handel, bei dem über die Produkte nachgedacht wird, um Tauschmöglichkeiten zwischen ihnen zu finden, von der Produktion als solcher. Damit wirkt er auf sie als Ansporn. Er wirkt demnach ebenso auf die Produktion wie die organisierte kollektive Produktion auf die Arbeit gewirkt hatte: durch eine vergleichende und kritische Überlegung zwingt sie die Produktion, sich zu übertreffen, vielleicht sich zu wandeln.
Im übrigen wäre es in einer marxistischen Geschichtsperspektive, die nicht materialistisch zu sein brauchte, nicht anders. Für Marx erklärt sich die Wandlung und danach die Aufeinanderfolge der Gesellschaftsformen durch den Druck, den die Entwicklung der Produktivkräfte in ihnen ausübt. Aber wie entwickeln sich diese Kräfte? Wenn man sie mit einem inneren Dynamismus versieht, heißt dies nicht, eine ganz andere Realität als die materielle anzuerkennen? Das sogenannte Selbstwachstum der Produktivkräfte ist in Wirklichkeit die Frucht der technischen und sozialen Neuerungen, die dazu beitragen, die Produktivität der menschlichen Arbeit zu steigern und die Lebensqualität zu verbessern. Aber ihre Evolution ist nicht die fortwährende Weiterentwicklung einer Kraft; sie erscheint als eine Reihe von Erfindungen, deren Auftreten und Periodizität nicht voraussehbar sind. Oft sogar gibt es Rückschritte: der Untergang der großen Reiche des Mittleren Orients aus militärischen und politischen Gründen hat die Preisgabe von bewährten Bewässerungsmethoden und wirtschaftlichen Systemen nach sich gezogen. Es ist hier die Politik, die das Schicksal der Wirtschaft bestimmt hat.
Marx hat sehr wohl erkannt, daß die Arbeit ohne Organisation nichts wert ist. Aber da er in seinem materialistischen oder, wenn man will, „arbeiterparteilichen" Vorurteil befangen war, hat er es sich nicht gestattet, in der Erfindung von Techniken, in der Reglementierung der Verteilung und in den rigorosen Methoden des Handels ein Zeichen des Geistes und eine Tat der Kultur zu erblicken. Ohne sie gibt es jedoch weder eine produktive Arbeit noch einen Mehrwert der Arbeit.
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Diese wird nur dann zu einer Kraft, wenn sie ihre Form von der politischen, religiösen, administrativen und sozialen Struktur empfängt.
Die Verkennung dieser wichtigen Tatsache verbot es ihm, die Macht und Stabilität der großen Religionen der Agrargesellschaften zu verstehen, die in einem und demselben Kult die Formen der Natur und der Gesellschaft vereinigen. Ihre Existenz stellt allerdings einen sehr wichtigen Einwand gegen die materialistische Geschichtstheorie dar.
Wenn diese falsche Darstellung der Natur - um mit Engels zu sprechen - die Verknechtung des Menschen an seine Umwelt widerspiegelte, so hätte sie in dem Maße, wie der Mensch dank der Organisation der Feldarbeit seine Herrschaft über sie ausdehnte, verschwinden müssen. Doch das Gegenteil hat sich ereignet. Die großen Reiche sind nicht weniger religiös, sondern religiöser als der primitive Stamm. Ägypter und Azteken pflegen einen reich entwickelten Kult, bringen nicht nur der Sonne und den Flüssen, den Grundbedingungen alles animalischen und pflanzlichen Lebens, sondern auch dem Pharao bzw. dem Inka großzügige Opfer dar. Ihnen gegenüber erscheinen der vage Animismus, die Zauberpraktiken und die Ehrfurcht vor dem Häuptling des primitiven Stammes recht farblos. Der Grund für diese Entwicklung ist klar. Der Ackerbau bedeutet, auch wenn er gut organisiert ist, nicht etwa eine kleinere, sondern eine verstärkte Abhängigkeit des Menschen einerseits von der Natur, dieser Schutzherrin, die j edes Jahr die Pflanzen- und Tierwelt erneuert, denen der Mensch seinen Lebensunterhalt verdankt, anderseits von der sozialen Organisation, die die Notlagen infolge der stets möglichen Störungen der natürlichen Zyklen zu kompensieren erlaubt. Der Mensch vereinigt sie daher in einem und demselben Kult, den er der politischen Macht darbringt, die zum Garanten und zur Ergänzung der natürlichen Ordnung geworden ist.
Es ist daher kein Zufall, daß die größten sozialen Natur-, Stadt-und Agrarreligionen in Kleinasien, Ägypten und Mexiko, d. h. an den Ufern von Flüssen und Seen, umgeben von wüstenartigen Landschaften, entstanden sind. Das Leben war hier zwar möglich, jedoch spärlich, kurzlebig und bedingt. Das Bündnis zwischen der Sonne und dem Wasser brachte nur dann Fruchtbarkeit hervor, wenn sich der Mensch ins Mittel legte, der den Samen aufbewahrt, sät, erntet, wann und wie er es für recht hält. Die Ökonomie erscheint nur dort, wo Knappheit herrscht.
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Das Wort bedeutet Regel, Ordnung, Methode, angewandt auf die Produktion, die Verteilung und den Verbrauch der Güter. Muß man da nicht über die Verwunderung von Marx erstaunen, da er feststellt, daß, je mehr der Mensch Herr über die Natur wird, er sich um so mehr von seinesgleichen und seiner eigenen Nichtsnutzigkeit leiten läßt?15 Der Ägypter verehrt in gleicher Weise die Sonne, den Nil und den Pharao, weil er ihnen zu gleichen Teilen sein Leben verdankt.
Indessen müssen wir uns mit einer letzten Schwierigkeit befassen. Wie ist es zu erklären, daß diese Gesellschafts- und Naturreligion mit wirtschaftlicher Zielrichtung sich durch Opfer seltener und kostbarer Güter - von Menschenleben und Festgewändern bei den Azteken, durch den Bau von gigantischen Totengrüften bei den Ägyptern - äußert? Diese Frage stellte sich uns schon im Blick auf die Veranstaltung von Festen in der primitiven Gesellschaft. Die Antwort war sehr einfach ausgefallen: In einer Gesellschaft ohne Ökonomie wird die Verschwendung nicht als solche empfunden. Hier verhält es sich anders. Wie kann man verstehen, daß der Mensch, der hart gegen den Mangel ankämpft, ihn herauszufordern scheint? Wie kann ein solches anti-ökonomisches Verhalten in einem System Platz finden, das ganz von den ökonomischen Forderungen beherrscht wird?
Es gibt auf diesen krassen Widerspruch nur eine Antwort: Die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung und der natürlichen Zyklen, die die Voraussetzung für die Ökonomie sind, muß Gesetzen, Vorschriften und Riten gehorchen, die ihr fremd sind. Das Opfer scheint eine Verhöhnung der Arbeit zu sein, deren Früchte es zerstört, und trotzdem ist es das Opfer, das die Fruchtbarkeit gewährleistet. Dieses Pradox erklärt sich im Lichte dessen, was wir über die Arbeit selber wissen. Ihre Effizienz ist ihr nicht immanent, sondern transzendent. Die Mühe, die sie erfordert, kann erleichtert, ihre Früchte können durch eine technische Erfindung, eine kollektive Organisation, deren Inspiration von anderswo herkommt, vervielfacht werden. Anderseits können eine plötzliche Laune der Natur, eine zu große Wassermenge oder ein Wassermangel monatelange Anstrengungen zunichte machen. Es ist eben nicht eine Technik, die die Wirksamkeit der Techniken garantieren kann. Säen bedeutet die Wärme der Sonne, das Wasser und den Reichtum des Bodens ausnützen.
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Aber man sät nicht den Frühling noch das Hochwasser des Nils. Man erbittet, erwartet, erhofft sie. Man müßte die Worte allzusehr strapazieren, um in den Riten und Opfern Techniken der Beschwörung zu finden. Die Rückkehr des Frühlings, der Regenfall, das Anschwellen der Flüsse sind nicht Dinge, die der Mensch in seiner Gewalt hat. Sie sind, könnte man mit Kant sagen, „die Bedingungen a priori" jeder möglichen Arbeit. Diese weist daher über sich hinaus. Die Ökonomie findet in der religiösen und sozialen Ordnung ihr Fundament und ihre Rechtfertigung. Es ist daher richtig, daß der religiöse Kult der Agrikultur vorausgeht.
So führt das Vorkommen der ökonomischen Funktion sowohl beim primitiven Stamm als auch in den durchorganisierten Hochkulturen zu einer Schlußfolgerung, die der materialistischen Interpretation, wie sie der Marxismus von ihr geben will, widerspricht. Der primitive Mensch fängt Kräfte ein, erfindet Techniken für Jagd und Fischfang, macht sich das Feuer zunutze, das aus dem Metall, dem Rohmaterial, ein Werkzeug oder eine Waffe macht. Er lebt nicht von einer Natur, deren Fruchtbarkeit er unterstützen müßte. Man kann demnach sagen, daß er nicht eigentlich arbeitet. Die Arbeit als solche beginnt erst mit dem Ackerbau, Wirkung und Ursache des Bevölkerungszuwachses. Aber der Mensch der Hochkulturen hat, wie groß auch immer seine Mühen waren, in ihnen nie den ausreichenden Grund für seine Wohlfahrt gesehen. Er empfindet seine Abhängigkeit sowohl von der Natur als von der sozialen Organisation, die für die kollektive Komplementarität der Aufgabe, das kontinuierliche Anlegen von Vorräten, die Aufbewahrung der Nahrungsmittel usw. sorgt. Diese Haltung ist folgerichtig. Gewiß haben die großen Religionen wie die ägyptische und die aztekische, um nur von jenen zu sprechen, die wir am besten kennen, einen ökonomischen Grund für ihre Dauerhaftigkeit. Aber bei diesen Völkern ist das Religiöse nicht ein Parasit der Wirtschaft, sondern ihre Seele. Hier widerlegt der Marxismus Marx. Denn dieser schreibt im„Kapital":„Wenn(...)derMehrwertunddaherderWert überhaupt eine ganz andere Quelle haben müßte als die Arbeit (...), fiele damit jede rationale Grundlage der politischen Ökonomie weg."16
Genau zu dieser Folgerung gelangt unsere Analyse: Die menschliche Arbeit bedeutet die notwendige Bedingung, jedoch keinesfalls die ausreichende für die ökonomische Funktion. Aus diesem Grund ist es möglich, eine rationale Erklärung für den Mehrwert, der sich davon ablöst, zu geben, ohne den wesentlichen Anteil anzuerkennen, den die Fruchtbarkeit der Natur und die soziale Organisation, die von der Religion bestätigt wird, daran haben17.
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Die biblische Synthese
In der zum Zweck ihres Lebensunterhalts organisierten Gesellschaft, die im Neolithikum nachweisbar ist, hat die agrarische Religion den ursprünglichen Glauben mit technischem und magischem Inhalt, der aus dem Paläolithikum übernommen wurde, nie ganz zum Verschwinden gebracht. Sie hat ihn verdrängen, aber nicht auslöschen können.
Die Tatsache, daß beide jahrhundertelang gemeinsam weiterleben, beweist, daß sie verschiedene Bestrebungen befriedigen. Die Priester als Beobachter der Gestirne und Herren des Kalenders weihen den Schutzgöttern, die für den festen Bestand einer als unsicher empfundenen Naturordnung bürgen, einen Kult. Sie antworten auf eine kosmische Angst. Aber neben der Priesterklasse gedeiht in Ägypten, Rom und Mexiko eine Welt von Zauberern und Wahrsagern, die jedermann aufsucht, wenn er vor einer Gefahr oder einer persönlichen Entscheidung steht: Krankheit, Krieg, Heirat, Reise usw.18. Es handelt sich nicht mehr um das Problem des Lebensunterhalts, das jetzt von der ganzen Gesellschaft bewältigt wird, sondern um die immer individuell gestellte Frage des einzelnen nach seinem Heil. Der konsultierte Zauberer übt eine Kunst des Singulären aus ohne Bezug zu dem Wissen des Universalen, das der Priester besitzt. Die Angst, die er mildert, ist nicht mehr kosmisch, sondern subjektiv und ohne ökonomische Begründung. Der Priester wacht darüber, daß die Gegenwart die Vergangenheit fortsetzt. Der Zauberer hingegen ist auf die Zukunft ausgerichtet. Er beschwört die dunklen Mächte, die das Unbekannte beherrschen, das Zukunft heißt. Dieser Gegensatz zwischen der offiziellen Religion und der geheimen Magie, dem Wissen des Allgemeinen und der Technik des Besonderen, der kosmischen Angst vor einer Welt, die zusammenbrechen kann, und der subjektiven Angst vor einer Welt, deren Mächte bedrohlich wirken, unterstreicht die Bedeutung, die innerhalb der Religion mit ökonomischer Zielsetzung die Besorgnis um das individuelle Heil bewahrt hat.
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Diese letztere bleibt allerdings im dunkeln und beinahe verschämt. Einzig ein Volk, das seine Besonderheit gegenüber den großen Reichen, die es umgaben, bewahrt hat, macht daraus die zentrale Schau der Welt, des Menschen und Gottes, nämlich das jüdische Volk. Tatsächlich bringt die Bibel eine vollständige Umkehrung in der Blickrichtung dieser drei Begriffe. Während die Religion der Ackerbaugesellschaft von der Natur und der Stadt ausging, um zum Göttlichen zu gelangen, das sie krönte, geht die jüdische Ontologie von Gott aus. Als erstes Sein, als das Absolute, in dem alles, was ist, seinen Ursprung hat und das jenseits von Raum und Zeit, denen es gebietet, in seiner Souveränität ruht, geht Gott doch mit dem Menschen eine direkte Beziehung ein, die die früheren notwendigen Vermittler - Natur und Staat - ausschaltet. Er spricht zum Menschen wie von Person zu Person, macht ihn zu seinem bevorzugten Partner. Jahwe ist der Vertraute des jüdischen Volkes, das er ausgewählt und mit einer besonderen Sendung betraut hat: der übrigen Menschheit, die von Religionen gefangen ist, die Natur und Stadt ungebührlicherweise sakralisieren, zu sagen, daß Jahwe die Menschheit zu einem über-natürlichen, ja, man könnte sagen, über-sozialen Los bestimmt hat.
Der Gott der Bibel ist daher, obwohl jenseits jeder Vorstellung, die sich der Mensch, ausgehend von natürlichen und sozialen Formen, von ihm machen könnte, weder ein abstrakter noch ein ferner Gott. Die jüdische Religion verbindet beim Menschen die Seele und den Leib eng miteinander. Die Seele, „nefesch", bedeutet Atem, ist das, was bewirkt, daß ein Wesen lebt. Sie ist vom Leib, „baßar", ihrem konkreten Ausdruck, nicht zu trennen. Der Mensch ist unauflöslich das eine wie das andere, so daß in zahlreichen Bibelstellen keine Unterscheidung zwischen den beiden Ausdrücken im Hinblick auf ein rein geistiges Weiterleben nach dem Tode möglich zu sein scheint.
Trotz dieser Einheit würde dieses gleichzeitig physische und geistige Wesen über keine Festigkeit verfügen, wenn der Geist Gottes, „ruach", die Lebenskraft aus der Höhe, ihn nicht in den Stand setzte, sich aufrecht zu halten. Der Mensch unterscheidet sich insofern von den übrigen Lebewesen, als er unmittelbarer an dieser Macht teilhat. Die Bibel verbindet solchermaßen zwei Anschauungen des Menschen, die gegensätzlich scheinen.
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Die eine davon ist materiell und sogar materialistisch, da die Seele vom Leib nicht zu trennen ist; die andere ist geistig, da die Seele nur dank dem göttlichen Impuls existiert. Selbst mit seinem ganz konkreten Verhalten manifestiert der Mensch noch die Abhängigkeit von seinem Schöpfer. Er wird nicht mehr durch die ihn umgebende Natur bestimmt, sondern durch seine zugleich leibliche und übernatürliche Seinsverfassung. Diese Abhängigkeit des Menschen von seinem Schöpfer sollte sich, so könnte man meinen, in dem Maße, als sie nicht mehr äußerlich, sondern innerlich ist, verstärken. Doch dies trifft nicht zu. Die Bibel lehrt, daß jeder zwar dazu aufgerufen ist, dieses ihm von oben eingehauchte Verlangen nach Gott anzunehmen, es jedoch verweigern kann. Allerdings: wenn er es zurückweist, stürzt er mit Leib und Seele ins Verderben. Wenn er von Gott abgetrennt ist, stellt er sich dem Nichts anheim. Diese eigentümliche Auffassung des Bösen resultiert aus der prinzipiellen Vereinigung von Seele und Leib im Menschen. Das Böse, das den Bruch mit Gott bedeutet, wird durch den ganzen Menschen begangen. Dieser kann sich dem Guten entziehen, das ihn ruft; in diesem Fall sündigt er gegen Gott. Er tut das Böse, d. h., er wählt es. Die Seele erleidet nicht etwa eine Schwere, die sie durch den Körper von unten her bekäme. Sie macht sich selber schwer. Der Widerstand des Menschen gegen den Anruf Gottes ist ein innerer. Der Mensch ist vollumfänglich für sein eigenes Unglück verantwortlich.
Die übrigen Lebewesen haben eine Natur und stellen sich unter ihre Gesetze. Allein der Mensch hat eine Berufung, und diese ist eine übernatürliche. Durch sie ist er dazu bestimmt, entweder mit Gott zusammenzuarbeiten oder, wenn er es verweigert, sich selbst zu verderben. Sein Geschick ist gleichzeitig erhebend und erschreckend. Diese beiden entgegengesetzten Eigenschaften, die seit alters dem Göttlichen zugesprochen wurden, das sowohl anzieht und erschreckt, gelten daher für den Menschen selber. Er zittert nicht mehr vor einer als unverläßlich empfundenen Naturordnung, sondern vor seiner eigenen Verantwortung. Die Naturphänomene und Naturkatastrophen, der Donner und die Sintflut sind Mahnzeichen Gottes. Sie haben vor allem sittliche Bedeutung. Vor ihnen bangt der Jude zweifellos um sein Leben oder um dasjenige seiner Herde, jedoch noch mehr um sein Heil.
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Es verhält sich ebenso mit den Feldriten, die bei diesem Volk von Hirten und Ackerbauern zahlreich sind. Denn der heidnische, sexuelle Symbolismus des Regens, der in den Boden eindringt und ihn fruchtbar macht, findet sich dort in ein anderes Bild verwandelt, das ihm eine geistige Bedeutung verleiht: Die Erde ist nicht mehr die vom Samen des kanaanäischen Baal geschwängerte Mutter, sondern sie wird die Braut des Herrn. „Selbst im Agrarbereich geht die Vorstellung des Bundes den rituellen und mythischen Begriffen voraus. Der Bund zwischen Gott und der Erde wird hier mit demselben Begriff bezeichnet wie der Bund zwischen Gott und den Menschen, mit dem der ehelichen Treue."19 Wenn im übrigen das sowohl physische als auch geistige Band, das Mann und Frau in der Ehe verbindet, das bevorzugte biblische Symbol für die Beziehung zwischen dem Menschen und Gott ist, so deshalb, weil die Vertrautheit der Körper ohne die Treue von Person zu Person nicht denkbar ist. Außer der naturbedingten Ergänzung der Geschlechter ist hier das Vertrauen, das jeder Partner in den andern hat, das Engagement, einander mit Leib und Seele anzugehören, die Treue, die sie einander gelobt haben. Ein jeder ist Antwort und Verantwortung für den andern.
Daran läßt sich erkennen, welche Umwälzung die Bibel seit der Religion der Agrargesellschaf t zustande gebracht hat. Damals war der Mensch durch die Unstabilität der Welt, die Unverläßlichkeit der Naturzyklen beunruhigt. Ihre mögliche Regelwidrigkeit, deren er stets gewärtig war- Wird die Sonne morgen aufgehen? Wird der Frühling wiederkommen? Wird es regnen? -, versucht er, durch Riten zu bannen, die ihnen Dauer und Stabilität verleihen sollten. Hier ist die Situation nun umgekehrt. Dem treuen Gott gegenüber erfährt sich der Mensch als unbeständig, dem ihm gegebenen Gesetz untreu. Die Riten sind nun nicht mehr Menschenwerk, sind nicht mehr dazu da, die Unstabilität der Welt zu bannen, sondern gehen von Gott aus. Indem der Mensch sie einhält, nimmt er an der grundlegenden Stabilität Gottes teil. Er gewinnt dadurch an Stärke. Wir finden hier denselben Verinnerlichungsprozeß wieder, der schon in bezug auf die Vorstellung des Bösen stattgefunden hatte. Die Ehrfrucht vor dem göttlichen Gesetz, zusammengefaßt in der Tora, zielt auf die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung nicht der Weltordnung, sondern der Integrität des Menschen.
Selbst wenn das Glück des Menschen materielle Wohlfahrt meint, so hat diese trotzdem eine wesentlich geistige Bedeutung.
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Sie ist ein Zeichen seiner Treue zu Gott.20) Dieser erschafft die Welt auf ihn zu und räumt ihm die Herrschaft über sie ein. Er bestimmt ihn folglich nicht zu einem Zustand, sondern zu einer Aufgabe. Er verlangt von ihm, daß er mit ihm zusammenarbeitet, ihm hilft, seine Herrlichkeit kundzutun. Mose hat den Auftrag von Gott, dem „Hause Jakob" zu sagen: „Wenn ihr von heute an auf meine Stimme hört und meinen Bund mit euch haltet, so werdet ihr unter allen Völkern mein Eigentum sein: denn die ganze Erde gehört mir. Ihr aber sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk werden" (Ex 19,3-6). So ist dieser Bund, „berit", nicht mehr die Komplizenschaft, die der Mensch in der Agrargesellschaft mit den Göttern einzugehen suchte, deren Hilfe für sein natürliches Leben unerläßlich war. Es ist im umgekehrten Sinn ein Abkommen, das Gott mit dem Menschen eingeht, den er zur Durchführung seines Schöpfungswerkes braucht. Dieses gemeinsame Unternehmen ist ein Abenteuer, ein übernatürlicher Plan, dessen Autor, Objekt und Ziel Gott ist.
Daher bekommt das Opfer einen anderen Sinn. Wenn im Ritus der Agrargesellschaft der Hirt den Göttern das erstgeborene Tier seiner Herde opferte, so erwartete er als Gegenleistung ein für ihn vorteilhaftes Anwachsen der materiellen Güter. Wenn Israel ähnliches tut, so hängt doch die Wirksamkeit des Opfers nicht von der Opfergabe als solcher ab, sondern von der Herzensreinheit desjenigen, der es darbringt, und von seiner Ehrfrucht vor der Tora, die in erster Linie ein Sittengesetz ist. Das Wohlergehen ist der Lohn für sittliche Rechtschaffenheit, für die Lauterkeit des Herzens, die Bundestreue. Bevor der Mensch sein Opfer darbringt, muß er sich Gott anheimgeben, sich in seinen Dienst stellen, sich ihm weihen. Das Alte und das Neue Testament enthalten stets wiederkehrende Ermahnungen in dieser Hinsicht. Das einzige Opfer, das vor Gott wirklich zählt, ist dasjenige, das der Mensch freiwillig darbringt. Wie das Verständnis des Ritus und des Bösen, so wird das des Opfers verinnerlicht und vergeistigt21. Es dient nicht dazu, Jahwe zu zwingen oder ein Unterpfand für künftiges Wohlergehen zu bekommen. Es bedeutet die Antwort auf eine vorausgegangene Initiative Gottes, auf einen Anruf, den man zuvor von ihm erhalten hat. Abraham gehorcht dem Befehl, seinen Sohn zu opfern. Er verwundert sich über die Widersprüchlichkeit dessen, was Gott von ihm verlangt, würde doch die Tötung Isaaks, im Gegensatz zur Opferung des erstgeborenen Tieres im
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Agrarritus, ihm nicht etwa eine zahlreiche Nachkommenschaft sichern, sondern ihn ihrer für immer berauben. Die besondere Beziehung des biblischen Menschen mit Gott steht der Naturordnung entgegen und geht nicht mehr von ihr aus.
Aber diese Beziehung übertrifft auch jegliche soziale Erwägung. Gott spricht zu seinem Volk durch einen Propheten, der aus jeder Volksschicht hervorgehen kann. Dieser strebt nicht wie der Gläubige des primitiven Mysteriums eine persönliche Verbindung mit Gott an. Der Anstoß geht immer von Gott aus, denn er ist für den Menschen ungreifbar. Der Prophet empfängt von Gott, den er nicht sieht, eine Botschaft, die er übermitteln muß. Diese besondere Offenbarung ist nicht wie in den früheren Religionen dazu bestimmt, geheim zu bleiben. Sie soll ausgerufen und von allen gehört werden. Es handelt sich um eine göttliche Weisung, um eine Aufforderung zur Tat. Das Übernatürliche tritt in eine Geschichte ein, die Menschen aus Fleisch und Blut schreiben müssen. Der Ritus und das Opfer der Agrargesellschaft dienten dazu, die Ordnung der Natur zu festigen. Die Prophetie festigt und stärkt den Willen eines Volkes.
Die Beziehung zwischen dem Sakralen und Profanen nimmt auf diese Weise in der Bibel einen völlig neuen Charakter an. Sie ist nicht mehr natürlich, sondern politischer Natur. Die früheren Religionen unterscheiden in der Umwelt des Menschen Gegenstände und Orte: Berge, Bäume, Quellen, Steine usw., die sie als heilig erklärten. Die Bibel hingegen hält fest, daß die ganze Schöpfung aus Gottes Hand hervorgegangen ist. Alle Wesen, selbst die einfachsten, sind davon gezeihnet. Kein einziges verfügt über eine besondere Fähigkeit, die es von allen andern unterscheidet. Der Gegensatz zwischen dem Sakralen und Profanen läßt sich daher nicht mehr auf die Welt anwenden. Er wird insofern menschlich, als Israel als erwähltes Volk Gottes unter allen andern Völkern ein heiliges und ausgesondertes Volk ist.
Dieses Vorrecht darf es nicht für sich behalten. Es ist ihm untersagt, sich darin zu gefallen. Als Israel nach dem Zug durch die Wüste in das verheißene Land gelangt, ist es versucht, sich in diesem Land, wo Milch und Honig fließen, einzurichten und wie seine Nachbarn den Gottheiten der Erde und des Wassers Opfer darzubringen. Die andern Völker haben das Recht, schöne Geschichten zu erzählen, in denen sie ihre Verdienste schildern und ein schmeichelhaftes Bild ihrerseits entwerfen.
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Israel darf sich den Köstlichkeiten der Kultur und dem Zauber der Natur nicht hingeben. Wie könnte es sich auf sich selber zurückziehen, da es sich dem Dienst Gottes anheimgestellt hat? Es ist in einem Zustand des Andersseins, der absoluten Öffnung. Die Bilder und Idole, die es schaffen möchte, um seine Blicke darauf ruhen zu lassen und seine Schwachheit abzustützen, werden zu Phantomen unter dem sengenden Blick Gottes. Es möchte seine Nacktheit bekleiden, Masken erfinden.
Es ist nicht unempfindlich für die Versuchung eines idyllischen, vernünftigen Lebens, aber dies ist ihm nicht bestimmt. Über dem Glück als Frucht der klugen Übereinstimmung zwischen einem Volk und seiner natürlichen Umwelt gibt es das Heil als Belohnung für seine Treue zu seiner übernatürlichen Sendung, von der es den andern Völkern Zeugnis ablegen muß. In der Bibel ist es nicht Israel, das sich ausspricht, sondern Gott, der sein Volk so beschreibt, wie er es sieht, mit seiner Begeisterung und seinen Schwächen, seinem harten Herzen und seinem „halsstarrigen Nacken".
In diesem Punkt ist der Gegensatz zwischen der Bibel und den klassischen Mythologien vollständig. Athen und Rom, ohne von Ägypten zu sprechen, verbanden ihre Götter und den Staat in einer gemeinsamen Verherrlichung. Jahwe verbindet sich mit seinem Volk, wie es noch kein Gott jemals getan hat. Aber es ist nicht eine Verbindung mit seinem Wesen, seinen Einrichtungen, seiner Gesellschaftsform, seiner Kunst, seiner Philosophie - nichts von alledem hat jemals wirklich gezählt -, sondern mit dieser geheimnisvollen, innerlichen und unantastbaren Veranlagung, die Glauben heißt. Dieser nun manifestiert sich in der Geschichte Israels, und zwar in dem, was es tut, nicht in dem, was es ist.
Denn Israel ist nicht von Natur aus heilig. Es ist seine Auserwäh-lung durch Gott, die es dazu macht. Sie bringt ihm die Verpflichtung, auf den Plan, den Gott mit ihm hat, nämlich am Ende der Geschichte die ganze Menschheit zu heiligen, mit Zustimmung zu antworten. Das Sakrale wird von einem passiven zu einem aktiven Begriff. Es steht nicht mehr im Gegensatz zum Profanen. Es mißt sich mit ihm, besiegt und entmachtet es. Diese dynamische Beziehung ist auch gleichzeitig eine polemische. Tatsächlich versucht Israel immer wieder, sich seinen Aufgaben zu entziehen. Die Natur in ihm widerstrebt der Übernatur.
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Wenn schließlich seine Verfehlung zu schwer wiegt, wird es bestraft und fällt in die Sklaverei der umliegenden Reiche. Die Strafe ist nicht mehr das, was sie für die Agrargesell-schaft war, eine Naturkatastrophe (Dürre, Überschwemmung, Erdbeben usw.), die ihr materielles Leben bedrohte. Jetzt ist es eine sowohl geistige als auch politische Katastrophe: die Niederlage vor dem Feind und der Verlust der Freiheit. So verinnerlicht sich auch die Beziehung zwischen dem Sakralen und dem Profanen. War sie zunächst als göttliche Auserwählung eines besonderen Volkes begriffen, so wird sie nun im Herzen Israels zum Konflikt zwischen seiner Berufung und seiner Natur. Gleichzeitig aber verlagert sich diese Beziehung ins Horizontale, da sie die Form einer Auseinandersetzung innerhalb der Menschheit zwischen Israel und den übrigen Völkern annimmt.
Als auserwähltes Volk kann Israel nicht in Unschuld leben. Jeden Tag wird über sein Tun das Urteil gefällt. Deshalb, weit davon entfernt, sich zu verherrlichen, wenn es von sich erzählt, zeigt es sich in aller Blöße ein wenig wie der Patient vor dem Psychoanalytiker. Wie dieser Kranke leidet es, als Abbild der ganzen Menschheit, an einer inneren Versperrtheit. Diese ist das Erbe der Ursünde, dieses weit zurückliegenden Traumas der Kindheit des Menschen, von dem er sich nur mit Gottes Hilfe befreien kann. Diese Ähnlichkeit zwischen der Bibel als kritischer und klinischer Geschichte eines Volkes, das sich gegen seine Berufung auflehnt, und der schwierigen, stockenden Berichte eines Kranken, der an seinem Wesen und seiner Identität leidet, zeigt sich in einem gemeinsamen Punkt: in beiden Fällen ist dieser Konflikt mit sich selber in erster Linie ein Konflikt mit einem andern. Wie nach Freud der Komplex die Beziehung eines Menschen zu sich selber stört, weil er im Grunde eine verfehlte Beziehung zu einem anderen Menschen bedeutet, so ist Israel jedesmal, wenn es seinem Gott untreu ist, mit sich und den anderen Völkern im Streit. Auch Israel leidet an einer ursprünglichen Identitätskrise.
Die Götter der Religion der Agrargesellschaft unterstützen die Natur und den Staat, die Voraussetzungen für das Glück des Menschen. Der Gott der Bibel sieht über diese hinweg, denn es ist nicht Sache des Menschen, zu sein, mit Gottes Hilfe muß er sein Heil erwirken. Deshalb ersetzt in der Bibel die Geschichte die Natur, die Bedürftigkeit das Genügen, der Einsatz des Glaubens die beruhigende Wirksamkeit des Opfers, die Infragestellung seiner selbst die Selbstgenügsamkeit.
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Die jüdische Religion steht solchermaßen Zug um Zug im Gegensatz zu der Religion der großen Reiche des Neolithikums. Anderseits scheint sie dem primitiven Animismus viel näher. Sowohl in der einen wie in der andern Religion beherrscht und umgreift die Beziehung zwischen dem Menschen und seinesgleichen, „Geist" oder Gott, seine Beziehung zur Natur. Für die Magie ist die Welt ein Spiel von überschäumenden Kräften, an deren Ursprung sich zweifellos die Tiere und die natürlichen Elemente: Luft, Wasser, Wald, befanden. Der Mensch bemüht sich, sie sich dienstbar zu machen. Die Gefahr rührt vor allem von seiner Unbeholfenheit, sie einzufangen, her. Für den Jäger bedeutet Leben immer ein Risiko. Die kleinste Unaufmerksamkeit kann zu seinem Verderben führen. Der Erfolg seiner Unternehmungen hängt von der genauen Einhaltung der Rezepte und Praktiken ab, die ihm die Tradition übermittelt hat. Das Interesse, das er seiner Umwelt entgegenbringt, ist nicht überflüssige Neugier, vielmehr liest er darin seine eigene Zukunft. Er richtet sein Augenmerk weniger auf die großen natürlichen Rhythmen, die für sich selber beständig und evident sind, als auf die besonderen Zeichen, Hinweise, Details, die in den ersten Zeiten die Nähe eines Beutetieres anzeigten und die später, wie der Vogelflug, die Vorhersage des eigenen Geschicks wurden.
Die Vorstellung, die sich Israel von der Welt macht, ist davon nicht grundsätzlich verschieden. Da es von Gott erschaffen wurde, nimmt es teil an der Herrschaft, Festigkeit, Beständigkeit seines Schöpfers. Daher fragt der Jude wenig nach den großen Gesetzen, die den Gang der Welt bestimmen. Er ist am Lauf der Ereignisse interessiert, die für ihn Wohlergehen oder Unglück bedeuten können. Seine Religion weist ihn nicht an, die Naturphänomene zu beobachten, sondern die Verhaltensregeln einzuhalten, die Gott ihm auferlegt hat. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf die Welt nur insofern, als es sich entweder um außergewöhnliche Zeichen und Ereignisse handelt, wie Blitz oder Sintflut, oder um einen Einschnitt in die natürliche Ordnung der Dinge, zum Beispiel die Schlange, die sich in einen Stab verwandelt, das Wasser, das in der Wüste aus dem Felsen hervorquillt, den brennenden Dornbusch, das Meer, das sich vor den flüchtenden Israeliten auftut.
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Diese seltenen oder ungewöhnlichen Phänomene lassen sich nicht durch die Natur erklären und gehören der Sprache an, in der Gott zum Menschen spricht. Sie zeigen gleichzeitig seine Allmacht und das Interesse, das er für den Menschen hegt. Israel liest darin sein eigenes Geschick. Sein Interesse für die Welt ist untrennbar von seinem Interesse für sich selbst.
In der Bibel ist wie beim primitiven Animismus die Beziehung des Menschen zur Welt zweitrangig im Vergleich zu derjenigen, die er mit den Geistern oder mit dem Geist unterhält. Der Grund dafür liegt darin, daß beide Religionen das Schicksal des Menschen im Sinne seines Heils und nicht im Sinne seiner Lebenserhaltung verstehen, im Sinne des Tuns oder, besser noch, der Sachkenntnis und nicht des Wissens. Leben bedeutet nicht, sich einer unverrückbaren kosmischen Ordnung zu unterstellen, die eine bevorzugte Kaste von Priestern hütet. Die Existenz Israels ist wie diejenige des Jägers ein Abenteuer, ein persönliches Engagement, das zum Leben, aber auch zum Tod führen kann.
Die Bibel sieht in der Arbeit, die den Menschen den Dingen unterjocht, nicht eine Gegebenheit, sondern einen Unfall seines Schicksals. Sie ist die Folge einer ursprünglichen Verweigerung des Gehorsams, den er Gott allein schuldet. Und wie der primitive Stamm der Welt, die ihn umgibt, den schützenden Schild der Riten entgegenhält, deren Zielrichtung - wie es unter anderem die Exogamie und der Totemkult beweisen - in erster Linie sozial ist, bestätigt das jüdische Volk durch seine Beziehung zu Gott seinen Zusammenhalt und seine Besonderheit. Allerdings besteht diese Beziehung nicht ohne häufige Gewitterstürme, ihre Bundestreue ist auch eine Auseinandersetzung. Häufig gleicht sie dem Krieg, in dem der Mensch alles aufs Spiel setzt. Das Leben des biblischen Menschen ist ein Kampf um den Glauben, nicht um das Leben. Er unterhält sein Leben wie die übrigen Völker nur durch die Arbeit. Aber er überlebt nur aufgrund der Treue zu Gott.
Wenn zwar ein gewisser gemeinsamer Stil die biblische Ontologie und den primitiven Animismus einander annähert und wenn beide im Gegensatz zur Religion der Agrargesellschaft stehen, so trennt sie doch eine grundsätzliche inhaltliche Verschiedenheit: die erstere erscheint tatsächlich wie die Überlieferung und geistige Verklärung der zweiten. Die Kräfte, die in der Magie die Welt heimsuchen, werden zur Allmacht eines Gottes, der die Welt transzendiert.
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Der Kampf um das physische Überleben, ständige Sorge und Handlungsziel des Jägerstammes, wird zum Streben nach Heil. Der Beutefang auf gut Glück, der für die Ernährung sorgt, verwandelt sich in die Bereitschaft zur Entgegennahme der göttlichen Auserwählung, die ebenfalls sowohl unverdient als auch notwendig ist und die mystische Berufung Israels unterstreicht. Dem Überfluß an Hilfsquellen, den die Natur dem primitiven Jäger zur Verfügung stellt, entspricht derjenige der göttlichen Gnade.
Indes unterscheidet sich Jahwe vom Großen Geist der primitiven Magie durch etwas absolut Neues, das ihn den Naturgöttern der Agrargesellschaft annähert. Er ist nämlich nicht allein der Gott der Juden, der einmal der Gott aller Menschen werden soll, sondern auch derjenige, durch den die Welt eine Ordnung erhalten hat. Der Mensch und das Universum sind von ihm und nach seinem Bild erschaffen worden. Dieser gemeinsame Ursprung erklärt die Tatsache, daß zwischen ihnen eine besondere Verbindung und eine Art Verwandtschaft besteht. In der Welt begegnet der Mensch daher auch Gott. Umgekehrt spricht Gott durch ihre Vermittlung zu ihm. Wenn er sich ihm zu erkennen gibt, so geschieht dies nicht direkt, von Angesicht zu Angesicht oder durch eine innere Erleuchtung, sondern durch die Zeichen der Zeit und die Phänomene des Raumes. Die göttliche Vorsehung wacht gleichzeitig über dem Geschick des Menschen und dem Lauf der Welt. Die scheinbare Unordnung der Menschheitsgeschichte und die unverrückbare Ordnung des Himmels entspringen demselben Plan und demselben Willen. Die biblische Ontologie vereinigt also die Sorge um das individuelle Schicksal, die im primitiven Animismus vorherrschte, mit dem Interesse an der Welt, das die Religion der Agrargesellschaft kennzeichnet. Der erstere verläßt insofern die Heimlichkeit, in der ihn die zweite gelassen hatte, als das Geschick der Menschheit sich nicht mehr vom Werden der Welt trennen läßt. Das Judentum sublimiert so das eine durch das andere, den Geist mit dem menschlichen, allzu menschlichen Antlitz des Animimus und den Gott mit dem allzu naturhaften Antlitz der Religion der Agrargesellschaft. Der Gott, der die Fehler und die Vergangenheit des Menschen auswischt, ist auch derjenige, der die Festigkeit und Beständigkeit des Universums garantiert.
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Dieser Bund und dieses Gleichgewicht, so zeigt es die Geschichte des Christentums, waren nur unter Schwierigkeiten aufrechtzuerhalten. Den Verteidigern der Ordnung des Römischen Reiches erschien es in seinen Anfängen als die Rückkehr zu den schlimmsten Versteigungen der primitiven Vorstellungskraft, als eine Herausforderung für die Staats- und Naturgesetze. Dann wechselt das Christentum mit der Bekehrung Konstantins unvermittelt zur sozialen Ordnung hinüber und wird sogar ihr alleiniger Verteidiger, als die politische und administrative Struktur des Staates unter den Schlägen der Barbaren zusammenbricht. Die Kirche setzt in ihrer hierarchischen Struktur die untergegangene weltliche Organisation des Römischen Reiches fort, von der sie sich inspirieren ließ.
Zur gleichen Zeit werfen das Veröden der großen Städte, die Zerstreuung der Siedlungen, das Aufhören des Handels, das Verschwinden der großen Dienstleistungen die Bevölkerung Westeuropas in Unsicherheit und unter die Zwänge einer Ökonomie zur Lebenserhaltung. Den Volksmengen des spätrömischen Reiches, die von Brot und Spielen übersättigt waren, hielt das Christentum ursprünglich das Ideal der Reinheit und der Askese entgegen. Vier Jahrhunderte später wird es dem Menschen der Barbarenzeit helfen, sich gegen Gewalt und Hunger zu schützen. Diese Entwicklung verstärkt im Christentum die Züge der Religion der Agrargesellschaft, die Hüterin des Reiches und der Felder war.
Die Begeisterung, die die Christen in früheren Zeiten dazu veranlaßt hatte, der politischen Ordnung zu trotzen und mit ihrem Glauben an einen menschgewordenen, gestorbenen und auferstandenen Gott den Gott der Natur herauszufordern, verliert von ihrer Glut. Allerdings vereinigt sich für das Christentum die weltliche Macht niemals mit der geistigen, wie dies früher in der Person des Pharaos der Fall war. Der Kaiser und der Papst haben verschiedene Herrschaftsbereiche. Aber die Kirche ist sowohl darum besorgt, die Seelen aus der Sünde zu retten, als auch von Gott die Fruchtbarkeit der Erde, den Schutz vor dem Feind oder die Bewahrung des Leibes vor Hunger und Tod zu erbitten. In Zeiten der Auflösung und Verwirrung gilt die Kirche als Garant für Ordnung und Beständigkeit. Insoweit sie mit der Verwaltung des irdischen Reiches beschäftigt ist, verwendet sie weniger Zeit zu Spekulationen über das Jenseits.
Trotzdem verbleibt im Herzen des europäischen Mittelalters ungeachtet des eindrucksvollen Apparates der offiziellen Kirche die Sehnsucht nach einer andern Welt, das Verlangen nach dem Übernatürlichen, was in der monastischen Bewegung, im Heldenrausch dei Kreuzzüge und im vielzähligen Aufbrechen von Häresien zum Ausdruck kommt.
Die Christenheit entwickelt solchermaßen auf ihre Weise von neuem jene Dualität zwischen den beiden rivalisierender Bestrebungen nach der Lebenserhaltung und dem Heil, die - wie wir gesehen haben - schon die Agrargesellschaft kannte.
Es gibt einzelne Menschen, die die von dem imposanten geistlichen Apparat der Kirche und ihrer Verwaltung der Sakramente gewährte Sicherheit nicht befriedigt. Sie sind von dem unerbittlichen Willen durchdrungen, „ihr Leben zu ändern", am Rande der gesellschaftlichen, kirchlichen Einrichtungen und der naturgegebenen Hierarchien einen Weg zum persönlichen Heil zu finden.
Die Gewißheit, gerettet zu sein, genügt ihnen nicht. Sie wollen ihr Heil selber wirken. In ihren Augen soll das Übernatürliche nicht allein die Natur einschränken, sondern über sie hinausweisen. Hierbei handelt es sich nicht länger um eine Flucht in die Traumwelt eines heiteren und reinen Lebens als umgekehrtes Spiegelbild einer Zeit voller Unruhe und Gewalt. Das Übernatürliche soll der Welt eine ihr gemäße Ordnung aufprägen.
Ist es nicht die heidnische Versuchung, darin bloß die Krönung der Gesellschaft und der Natur zu sehen? Wenn Gott in der Welt und in der Geschichte gegenwärtig sein soll, so kann dies, wie in der Bibel, nur durch das Handeln des Menschen geschehen, der über die sozialen Grenzen hinaus und im Widerspruch zu den Naturgesetzen Gottes Gegenwart erstrahlen läßt.
Dies ist der Sinn der drei großen Unternehmungen, nämlich der monastischen Bewegung, der höfischen Minne und des Werkes der Alchemisten. Sie entwickeln sich gleichlaufend in den Bereichen der Mystik, der Kunst und der Technik und unterstützen sich gegenseitig. Genährt vom jüdisch-christlichen Geist, wird der Impuls, der die beiden Geister des europäischen Westens zur Suche ihrer selbst und zur Gottessuche veranlaßt und ihren Willen, „die Welt zu ändern", aufrechterhält, schließlich so übermächtig, daß er die gesamte mittelalterliche Ordnung erschüttert.
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