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6.  Religion

 

 

 

 

Kirchenführer 

Gott läßt sich weder beweisen noch gegenbeweisen. Es ist daher müßig, über die Existenz zu diskutieren. Religion ist und bleibt Glaubenssache! Die Entscheidung für oder gegen Gott sollten Sie daher Ihrem persönlichen intuitivem Gefühl überlassen, denn mit der reinen Vernunft ist diese postessentielle Frage nicht entscheidbar.

Doch soviel ist klar, existierte Gott als SchöpferIn, gliche diese Rolle der von Mutter und Vater und alle Menschen und Tiere stünden geschwisterlich zueinander. Was gibt es demnach ungöttlicheres als Autorität — die Herrschaft von einem Geschöpf über das andere?

Als autoritäre Organisation kann auch die Kirche nicht im Sinne Gottes sein! Dies gilt für alle Kirchen der Weltreligionen und jede Sekte. Konsequente Gottesgläubige sind daher AnarchistInnen und PanokratInnen! Sie unterstellen sich keinem Dogma und treten keiner religiösen Organisation bei! Das heißt umgekehrt natürlich nicht, daß AnarchistInnen und PanokratInnen unbedingt TheistInnen sind. Sie können es vielmehr sein oder auch nicht — je nach persönlichem Belieben.

Wollen Sie die katholischen Kirchengeschichte zurückverfolgen, brauchen Sie nur dem Geruch der beweihräucherten Blutspur nachzuspüren. Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverbrennungen und Vernichtung vieler Hochkulturen, wie die des Languedoc, sind die bekanntesten Schandtaten in einer endlosen Liste von kirchlichen Delikten.

Aber auch ProtestantInnen sollten sich hüten, den ersten Stein auf KatholikInnen zu werfen, angesichts der schändlichen Rolle, die das Gros der Geistlichen im Nationalsozialismus spielte. Dies liegt jedoch nicht nur an der antisemitistischen Hatz von Kirchenreformator Luther. In seinen haßerfüllten Schriften können Sie schon kristallklar die Kristallnacht hören:

Erstens soll man ihre Synagogen oder Schulen anstecken ... Zum anderen soll man ihre Häuser desgleichen zerbrechen und zerstören ... Siebtens soll man den jungen, starken Juden und Jüdinnen Flegel, Axt, Spaten, Rocken, Spindel in die Hand geben und sie ihr Brot verdienen lassen ... Danach ... sie auf jeden Fall zum Land hinaustreiben.

Betrachten Sie die närrischen Glaubenskriege zwischen Schiiten und Sunniten, werden Sie zu dem Schluß kommen, daß auch die moslemischen Imame um keinen Deut besser sind als die christlichen Bischöfe. Wenn Mullahs und Imame Kurden den Hinrichtungskommandos ausliefern und Zwölfjährige in die verminten Schlachtfelder des Irak schicken, ignorieren sie schon die ersten fünf Einleitungsworte des Korans, die da heißen: Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen!

Obgleich sie sich als religiöse Führer ausgeben, oder besser gesagt gerade deswegen(!), besudeln sie die befreiende Aussage des Korans mit Blut. Dasselbe gilt auch für alle anderen KirchenführerInnen der verschiedenen Religionen und Sekten. Im Verlauf der gesamten Geschichte haben die religiösen Pseudoautoritäten immer wieder im Namen Allahs, Christus’ und Jahwes gemordet.

Es wäre falsch, die Mißgeburten der Weltkirchen und Sekten bloß als temporäre Mißstände anzuprangern, wie dies einst Luther im Ausdünstungsschatten katholischer Völlerei tat. Die Verfehlungen der Kardinäle und sonstigen Ordinate sind vielmehr ein ordinäres Kardinalprinzip.

Eine Kirche oder eine Sekte ist schon an und für sich etwas ungöttliches, da sie auf geistlichen Hierarchien oder/und Institutionen beruht. Alle ReligionsführerInnen sollten sich daher zum Teufel scheren! Ihre Predigten sind Demagogien, die von der Kanzel schon den Kindern die implizite Lehre einhämmern: Du darfst nicht zweifeln, sonst wirst du in ewige Finsternis verdammt!

Da jedoch naturgemäß niemand so besonders gerne sein postmortales Leben in ewiglicher Finsternis frönt, werden aus Furcht die hanebüchensten Glaubensdogmen eingesaugt. Diese Glaubensdogmen laufen der ursprünglichen Lehre oft diametral entgegen.

Dogmen sind sowieso nichts anderes, als ein Verbot zu denken, damit die Gläubigen in oh heiliger Einfältigkeit den klerikalen Schmarren kritiklos akzeptieren, der ihnen auf dem Altar vorgetischt wird.

Wie rein und befreiend sind die Kernaussagen eines Jesus Christus’, eines Franz von Assisis oder eines Mohammeds und was haben christliche und islamische Kirchen daraus gemacht?! Die Bischöfe haben den Platz der einstigen Pharisäer eingenommen, denen Jesus so rebellisch entgegentrat.

Im Namen des Papstes und seines Hohnes und seines hohlen Geistes. Amen!

 

Anarchistischer Glaube

oder  Der ominöse Monsieur A

Hier ein kleines Rätsel: Sie erhalten ein paar Daten über einen gewissen Herrn A und sollen erraten, wer diese Person ist, o.k.? 

Herr A hatte mit 30 eine steile Karriere hinter sich, als er plötzlich seine Stelle als Rhetorik-Professor aufgab und eine bereits beschlossene Heirat mit einer sehr reichen Frau absagte. Er plante, auszusteigen und fernab vom Weltgetriebe mit seinen besten Freunden in einer libertär-kommunistischen Wohngemeinschaft zu leben. Aufrichtige Freundschaft sollte das Privateigentum ersetzen.

Doch die anarchistische Kommune wurde nie verwirklicht. Sie scheiterte an den Frauen und Freundinnen der angehenden Kommunarden. So zog er allein aufs Land und verbrachte seitdem sein Leben zwischen Kontemplation, Studium und Schreiben. Eine Autobiographie und zwölf dicke Folianten radikalpolitischer Schriften zeugen von seinem unermüdlichen Arbeitseifer. In seinen Büchern zieht er über jede Institution der dekadent-kapitalistischen Welt her:

Doch ganz besonders vernichtend nimmt sich sein Urteil über die imperialistischen Staatssysteme aus:

Was anderes sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden? Sind doch auch Räuberbanden nichts anderes als kleine Reiche. Auch da ist eine Schar von Menschen, die unter Befehl eines Anführers steht, sich durch Verabredung zu einer Gemeinschaft zusamenschließt und nach fester Übereinkunft die Beute teilt. Wenn dieses üble Gebilde durch Zuzug verkommener Menschen so ins Große wächst, daß Ortschaften besetzt, Niederlassungen gegründet, Städte erobert, Völker unterworfen werden, nimmt es ohne weiteres den Namen Reich an, den ihm offenkundig nicht etwa hingeschwundene Habgier, sondern erlangte Straflosigkeit erwirkt.

Auch gegen die Machthaber und Geistlichen, welche die Religion als Opium für’s Volk mißbrauchen, findet er scharfe Worte:

Unter dem Namen der Religion den Völkern Dinge als Wahr einzureden, die sie selbst als falsch erkannten. Indem sie sie auf diese Weise enger zur bürgerlichen Gemeinschaft zusammenschlossen, machten sie sie dadurch, ähnlich wie die Dämonen dies tun, sich untertan.

Wer war dieser Herr A?

Ich werde Sie nicht länger auf die Folter spannen. Dieser ominöse Herr A ist Aurelius Augustinus und lebte um 354 nach Christus in der Endzeit des römischen Imperiums. Sein Leben steht als Schlußpunkt der antiken Weltreiche. Es ist sozusagen die Quintessenz der gesamten Antike.

Jener Professor hatte einundeinhalbes Jahrtausend vor Kropotkin die wichtigste Aussage des Anarchismus vorweggenommen. Doch die nächste Aussage wird Sie vom weltlichen Hocker reißen. Dieser radikalanarchistische Aurelius war zeitlebens tiefgläubiger Christ! Er beeinflußte sogar maßgebend die frühe Christenheit. 

In seinem Hauptwerk De civitate Dei gibt es viele skurrile Aussagen und Unstimmigkeiten. Trotzdem ist er in gewisser Hinsicht das Idealbild des wahren anarchistischen Gläubigen. Er verläßt sich weder auf Glaubensdogmen noch auf den Klerus. Autoritäten außer sich selbst und seiner individuellen Religion erkennt er nicht an.

Einzig und allein sein kritischer Verstand und sein intuitives Gefühl dienen ihm als Werkzeug, mit denen er seinen eigenen individuellen religiösen Leitfaden schustert. Als Rohmaterialien dienen ihm dabei die bisherigen Weltreligionen sowie das damalige Weltbild. Sie vermitteln ihm jedoch lediglich Denkanstöße und Inspirationen, die erst durch Nachdenken und Nachfühlen geformt werden müssen.

Was Aurelius Augustinus seine eigentliche Charakterstärke und persönliche Ausstrahlung verleiht, ist die praktische Umsetzung seiner individuell-gewonnenen Erkenntnisse. Er beläßt es nicht nur bei der metaphysischen Theorie, sondern lebt konsequent nach seinen eigenen religiösen Idealen.

Anstatt Aurelius Augustinus hätten auch Franziskus von Assisi, Gandhi, Martin Luther King, der Dalai Lama und viele andere charismatische Persönlichkeiten als Beispiel von wahren anarchistischen Gläubigen herhalten können. Im gewissen Sinne gelten sogar AtheistInnen, deren Gottesnegierung auf eigener Reflexion beruht, als anarchistische Gläubige.

 

Gott-Teufel-Dilemma 

oder Sex, Punk and Rock a Soul

Tier und Mensch haben zwei Haupttriebe, die nahezu unser ganzes Handeln bestimmen: den Selbsterhaltungs­trieb und den Sexualtrieb. Im Grunde genommen sind sie Zwillingstriebe, denn beide dienen dem Überleben der eigenen Gene. Wie stark der Selbsterhaltungstrieb ist, dürfte jedem bewußt sein, der einmal versucht hat, Hand an sich zu legen oder der Schwerverletzten bei Unfällen zu Hilfe eilen mußte. In jenen Extremsituationen regt sich der pure, unverschleierte Selbsterhaltungstrieb. Er wird zu jenem übermächtigen inneren Schweinehund, wie ihn die Landser im ersten Weltkrieg so treffend metaphorisch bezeichneten. Der Körper scheint dann nicht mehr dem eigenen Willen gehorchen zu wollen; er erschaudert kalt angesichts des teuflischen Todes, der an die Pforte des eigenen Daseins anklopft.

Auch in Panikreaktionen, wie sie beispielsweise in brennenden Hörsälen auftreten, wird deutlich, wie mächtig der Selbsterhaltungstrieb ist. Selbst kopflastige Professoren werden zu kopflosen Bestien, die sich mit Faust und Zeigestock den Weg zum Notausgang erkämpfen.

Nun hat die Evolution den Menschen mit Verstand ausgestattet, einem Verstand, der unter anderem das Bewußtsein der zeitlichen Begrenztheit unseres Daseins impliziert. Wir Menschen wissen eben im Unterschied zum Tier, daß wir eines jüngsten Tages zu Staub vergehen.

Glücklich sei das wilde Tier, denn sein Selbsterhaltungstrieb wurde nur in Ausnahmefällen aktiviert! Es wußte noch nichts von der Begrenztheit des Daseins. Falls es nicht gerade von einem anderen Raubtier mit fletschenden Zähnen verfolgt wurde, vegetierte es zufrieden und unbekümmert in der Gegenwart herum. Der Selbsterhaltungstrieb lag im tierischen Garten Eden fast die ganze Zeit brach.

Doch dann kam der Sündenfall. Die Urmenschen aßen von der Frucht der Erkenntnis. — Der Erkenntnis der Todesbestimmung.

Wir Menschen, die wir auch in die ferne Zukunft extrapolieren können, wissen eben, daß unser Herz nicht ewig pocht. Diese evolutionäre Neuentwicklung des Verstandes aktiviert so ständig den guten, alten Selbsterhaltungstrieb und vertreibt uns aus dem Paradies der animalischen Unbekümmertheit. Denn für einen Trieb, der in sich kein Zeitempfinden hat, ist es unerheblich, ob uns Gevatter Tod jetzt gerade oder erst in sechzig Jahren in sein dunkles Reich entführt.

Die Evolution ist beim Menschen in einer recht unvollendeten Phase steckengeblieben. Einerseits hat sie den Menschen vorschnell mit einem Verstand ausgestattet, der den Selbsterhaltungstrieb in einen pausenlosen Alarm versetzen möchte, aber andererseits hat sie vergessen, dem Verstand sein verflixtes Alarmhorn abzunehmen.

Die beiden wichtigsten Haupttriebe sind infolge unseres Verstandes in einen Konflikt geraten. Diese beiden Triebe, die ja im Grunde genommen Zwillingstriebe sind, wurden im verqueren Lauf der Evolution zu Feinden.

Dieses groteske Dilemma zwischen Todesangst und Todeswissen könnte dem Menschen einen allgegenwärtigen Psychostreß bescheren und der arme Homo Sapiens würde verrückt werden, fütterte er diesen Verstand nicht mit allerlei Selbstlügen. Menschen gaukeln daher dem unbewußten(!) Verstand ständig vor, sie seien unsterblich. Unsterblich könnten sie aber nur dann sein, wenn sie keinen Körper hätten. Somit tabuisieren die Menschen alles, was sie an unseren Körper erinnert. Die meisten Menschen tabuisieren zwangsläufig den Sex, sie tabuisieren die Wixe, die Scheiße und die Pisse, sie tabuisieren den Körpergeruch.

Über solche unanständigen Dinge zu sprechen, gehört sich daher in feineren Selbstbelügungskreisen nicht. Sie sind vulgär und rufen Ekel hervor, da sie uns an unsere eigene Sterblichkeit erinnern. Pfui Deivel! (Tut mir leid, wenn ich’s trotzdem tue.)

Das gesellschaftliche Tabu von Sex und Körperausscheidungen, die rein logisch gesehen die natürlichsten Sachen der Welt sind, ist somit in der Psyche fest fundiert. Das Tabu begründet sich in der menschlichen Situation und läßt sich durch eine freiheitliche Erziehung nicht beheben, wie viele linksliberale Pädagogen fälschlicherweise glauben. Es läßt sich höchstens mindern.

Ach ja! Wir Menschen sind halt schon arme Würstchen. Da haben wir zwar einen göttlichen Geist, sind jedoch ausgestattet mit einem animalischen Instinkt.

Gott muß ein Scherzkeks sein. Seine Kreation Mensch ist vergleichbar mit einem High-Tech-Computer, dessen Interfaceadapter noch mit Dampf betrieben werden und ständig Interrupts auslösen.

Bei Männern ist dieser innere Widerspruch stärker ausgeprägt als bei Frauen, da er (in der Regel) triebhafter veranlagt ist. Beim Mann bedarf es nur einer Zeit der sexuellen Abstinenz mit anschließender mechanischer Reizung seines Allerwertesten, und schon ist der ehrenwerte Gentleman nur noch optisch vom Wildschwein zu unterscheiden.

Männer vermögen einerseits über multidimensionale Wurmlöcher zu spekulieren, die Lichtjahre entfernt von Schwarzen Löchern generiert werden. Andererseits werden sie aber von einem körpereigenen Würmchen beherrscht, der unbedingt in ein schwarzes Loch kriechen will.

Wie demütigend ist es für das männliche Ego, diesem fetten Wurmphallus hörig zu sein. Täglich macht Wurmphall einen “Überphall” auf die Psyche und verlangt trotzig nach Streicheleinheiten, bis es sich aufbäumt und weißen Schleim kotzt.

In keinen anderen Momenten werden Mann und Frau vom Körper und damit der Sterblichkeit mehr beherrscht als in den Momenten des animalischen Stöhnens und Grunzens.

Nun dämmert Ihnen bestimmt auch, warum die meisten religiösen Autoritäten das Sexualleben ganz besonders verdammen, warum sie es in ein Korsett von Sakramenten (no sex until marriage, Zölibat) oder zumindest in einen sakralen Kontext zwängen.

Sex und Körperausscheidungen sind, wie wir gesehen haben, psychologische Synonyme für die Akzeptanz des leiblichen Todes. Die Hochstapelwürden, die mit paradoxen Predigten das Paradies für sich selbst und ihre Gefolgsleute pachten, müssen unbewußt ganz besonders starke Ängste vor dem leiblichen Tod haben, da sie ihn ja besonders aggressiv aus den lichten Gefilden ihres Bewußtseins verdrängen. Verdrängte Ängste tauchen ja bekanntlich in gestärkter, verkleideter Form wieder aus dem Unbewußten auf.

Kein Wunder Gottes also, daß die von den Kurensöhnen definierte Religion genußfeindlich ist, und jegliche Obszönitäten in den Bereich des Teufels verbannt. Mit dem wahren, anarchistischen Glauben hat dies jedoch wenig zu tun, denn diese Kirchenprüderie ist nichts anderes, als ein pathologischer Ausdruck der Todesfurcht — eine Selbstbelügung für jene, die in Wahrheit gar nicht an ein Weiterleben nach dem Tode glauben — eben eine Lüge!

 

Kollektiver Selbsterhaltungstrieb

oder Punx not Deaddy

Es gibt nur eine Angst, die stärker ist als das Zittern vor dem eigenen Tod. Es ist die Angst vor dem Tod der gesamten Welt. Die Menschen früherer Generationen konnten sich im Schatten des eigenen Todes insgeheim noch damit trösten, daß wenigstens ihre EnkelInnen überlebten. Es war gleichsam so, als ob in den Kindern und im eigenen Volk RepräsentantInnen ihrer selbst die weitere Existenz sicherten.

Dieser Trost schwindet. Es wird immer offensichtlicher, daß auch unsere Erde und damit unser ganzes Umfeld stirbt. Zumindest in jener gemütlichen Form, wie wir sie heute kennen, wird sie spätestens in einem Jahrhundert nicht mehr existieren — falls nicht die Panokratie siegen wird. Das individuelle Todesangst-Todeswissen-Dilemma wird somit überschattet von dem kollektiven Todesangst-Todeswissen-Dilemma. Nicht grausam genug, daß wir einst selbst von Würmern und Strahlenpilzen atomisiert werden, die ganze Erde könnte bald von Kakerlaken unter strahlenden Atompilzen bevölkert sein.

Die ältere Generation ist sich meist dieser Gefahr bewußt. Spätestens nach den ersten Kassandrarufen des Club of Rome am Anfang der siebziger Jahre haben viele realisiert, daß die aktuelle Zivilisation eine Sackgasse ist. Sie haben es jedoch nur auf der bewußten Ebene begriffen.

Aber die Generationen, die nach 1960 das gleißende Neonlicht der vertechnokratisierten Welt erblickten, wurden oft schon in der prägnanten infantilen Phase mit diesem Trauma konfrontiert. Zwangsläufig mußte sich unter vielen jüngeren Personen ein Charaktertyp herauskristallisiert haben, der völlig neu in der Geschichte der Menschheit sein dürfte, denn schließlich hat sich das Trauma der Globalsterblichkeit profund in ihr Unbewußtsein eingegraben. So tief, daß es im Gegensatz zu den Generationen vorher zur Haupttriebfeder des Handelns geworden sein müßte.

Dieser Wechsel der Haupttriebfeder sollte sich auch in einem Tabuwechsel äußern. Wir haben gesehen, daß das Tabu von Sex, Schweiß, Scheiße, Pisse, Kotze, usw. unbewußt durch verdrängte Todesangst hervorgerufen wird. Wenn diese individuelle Todesangst verblaßt, müßten folglich auch diese Tabuschwellen sinken. Der neue Charaktertyp würde sich nicht mehr vor diesen Dingen ekeln, sondern sein Unbewußtsein würde sich andere Ekelobjekte aussuchen, welche die Vergänglichkeit der Zivilisation symbolisieren.

Und welches Objekt des täglichen Lebens verkörpert diese zivilisatorische Sterblichkeit mehr, als der Hemdenknopf. Nein, Sie haben sich nicht verlesen: der Hemdenknopf!

 

Da Ihnen dies wahrscheinlich alles zu abstrus und an den Haaren herbeigezogen vorkommt, müssen wir an dieser Stelle etwas weiter ausholen.

Phobien werden in der Psychologie meist verbunden mit traumatischen Erlebnissen; dies mag im Einzelfall auch stimmen. Im allgemeinen kann ich diesem Erklärungsversuch jedoch nicht zustimmen, denn es ist unwahrscheinlich, daß etwa ein Drittel der Menschen traumatische Erlebnisse mit Spinnen in der infantilen Phase gemacht haben. Es ist meines Erachtens viel eher vorstellbar, daß die Angstobjekte unbewußt eine Bedeutungsgeneralisierung vom Konkreten zum Abstrakten erfahren. Freud hat hierzu schon erste Ansätze: Er brachte Angst vor Messern oder Schwertern mit Vergewaltigungsängsten in Verbindung.

Spinnenangst könnte nach diesem Abstrahierungsprinzip die unbewußte Furcht vor Demagogen und Politikern sein. Die Person hat Angst davor, von unberechenbaren Mächten hinterlistig manipuliert zu werden. Eben diesen schwarzen Mächten, die wortwörtlich alle Fäden in den Händen halten, gleichsam ins (Spinnen)-Netz zu gehen; und sich dann von ihrem schleimigen Gesabbere einwickeln zu lassen. Arachnophobie ist also die Angst davor, nichts weiter als eine unter Millionen bürgerlicher Fliegen zu sein.

Angst vor fetten Würmern dürfte ganz analog eine unbewußte Angst vor dem männlichen Geschlecht, und eine Phobie vor Höhlen oder runden Behältern eine versteckte Angst vor dem weiblichen Geschlecht bedeuten. Ekel vor bestimmten Steinen korrelierte mit Angst vor sich selbst. Scherenphobien symbolisieren analog männliche Kastrationsängste.

So weit, so gut. Warum allerdings der neue Charaktertyp sich vor Hemdenknöpfen ekeln müßte, ist nicht ganz so leicht ersichtlich.

Schauen wir erst einmal, wo uns Knöpfe überall begegnen. Würden Menschen nach der Gemütlichkeit und Robustheit gehen, bevorzugten sie T-Shirts oder Pullover anstatt Hemden. Denn Knopfleisten sind unpraktisch gegenüber Klett- und “Reiz”-Verschlüssen, die in einem Ritsch-Moment auf und zuratschen.

Hemden werden somit nur dann angezogen, wenn Institutionen, Autoritäten oder überhaupt die Gesellschaft sie implizit vorschreiben: beim Einstellungsgespräch, an der Börse, auf angesehenen Arbeitsplätzen und bei langweiligen Familienfesten. Das Zuknöpfen ist somit ein demütigender Prozeß, in der das Individuum sich offen zum unterwürfigen Schleimertum bekennen muß. Er gliedert sich durch das Hemd in die Reihe der angepaßten hohen Tiere mit zugeknöpftem Charakter ein. Die gesamte steifkragige Polithorde, die Industriemafia tragen Hemden und Anzüge. Durch die Uniformierung mit weißen Hemden verlieren sie an Individualität.

Weiterhin halten Knöpfe zwei Hälften zusammen und symbolisieren metaphorisch die Ketten der Ehe.

Der Hemdenknopf symbolisiert unbewußt also übermächtige Institutionen, Autoritäten, die Börse, das Spießbürgertum, die Lüge, die soziale Ungerechtigkeit, die Umweltverschmutzung, die Unfreiheit, veraltete Traditionen — kurzum, die gesamte dekadent-pathogene Gesellschaft und folglich den damit verbundenen Untergang der Zivilisation.

Kein anderes Objekt des täglichen Lebens konzentriert so viel niederträchtige Dekadenz und Globalsterblichkeit auf derart kleinem Volumen.

Unsere deduktive Hypothese wird durch die Empirik bestätigt. So existieren in der jüngeren Generation erstaunlich viele arme Wichte, die sich vor Knöpfen ekeln. Dies kann bei einer gravierenden Knopfphobie so weit gehen, daß sich die Person beim Anblick eines weißen Plastikknopfes übergeben muß. Es fällt dabei auf, daß erstaunlich viele Personen des neuen Charaktertyps Punk sind oder zumindest einen Punkcharakter haben.

Somit verdichtet sich die Vermutung, daß der neue Charaktertyp mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit bei Punks anzutreffen ist. Dies ist bei eingehender Überlegung auch nicht verwunderlich.

Die Geburtsstätten des Punks liegen unabhängig voneinander in Großbritannien und in Deutschland, vornehmlich in London und in Berlin. Wobei der Berliner Urpunk, der sich schon Anfang der siebziger Jahre in bestimmten besetzten Häusern entwickelte, erst um 1977 mit dem in Outfit und Philosophie verblüffend ähnlichen Londoner Punk verglichen wurde und fortan seinen Namen trug.

Auch heute dürften sich in diesen beiden Ländern die meisten Punks tummeln.

Beide Länder waren stark in den Ersten und Zweiten Weltkrieg involviert. In beiden Ländern war das Bewußtsein vorhanden, daß ein Dritter Weltkrieg in Mitteleuropa, also auf eigenem Territorium stattfinden würde. In Deutschland kam dazu, daß der Eiserne Vorhang und der Kalte Krieg sich in einer Betonmauer inkarnierte. Beide sind hochgradig industrialisiert und haben eine hohe Bevölkerungsdichte.

Es sind also die beiden Länder, in denen die Bevölkerung tagtäglich förmlich die drohende Apokalypse riechen konnten.

Auch die Geschichte des Punks ist aufschlußreich. Wir können sie in fünf Phasen einteilen:

Die ersten zaghaften Anfänge reichen bis Anfang der siebziger Jahre zurück (wenn wir diesen Punk der ersten Phase überhaupt als Punk bezeichnen wollen).

Aber erst Ende der siebziger Jahre wurde Punk durch Sham 69, X-Ray Spex, Sex Pistols oder Subway Secret in Großbritannien und durch Slime, Boskops, Bluttot (BRD) oder Schleim-Keim (DDR) in Deutschland populär und zu einem nennenswerten Phänomen. Er wurde in dieser zweiten Phase von vielen als antisoziale und antipolitische Provokation verstanden. Eine Subkultur, die jegliche Illusionen raubte, deren Motto no future prägnant die Ursache des neuen Charaktertyps verkörperte. Sie machte sich über die Tabus der ersten Generation lustig, indem sie lustvoll diese Tabuzonen verbal überschritt. Das Punk-Vokabular quoll daher geradezu über von Scheiße, Wixe und Pisse.

Schließlich wurde er Anfang der achtziger Jahre allzu populär. Er wurde vermarktet und zu einer Modeerscheinung. Eigentlich genau zu dem Ex- und Flopp-Konsum, den die Punkphilosophie verabscheute. Es war die Zeit der Pseudopunks aus gutem Hause, deren einziges Unterscheidungskriterium zum Popper der Iro war. Die echten Punks der zweiten Phase verfielen den Drogen. Sie starben an Leberzirrhose oder wurden wegen Cannabinoidschizophrenien zu goldenen Reitern. Manche, die sich geschworen hatten, ihren Iro bis ins Grabe zu tragen, erlagen schließlich genauso resigniert dem grauen Spießertum wie die Woodstock-Generation. Zu viele hatten den Irokesenkopf in den Sand gesteckt  den Sand im Getriebe  was eine allgemeine Kopflosigkeit zur Folge hatte. Die achtziger Jahre können wir daher auch als Degenerationsphase des Punks bezeichnen.

Modeerscheinungen vergehen und so starb auch der verkonsumierte Punk der achtziger Jahre. Doch dann kam das Wunder: Ein neuer Straight-Edge-Punk erhob sich wie Phönix aus der Asche von Rostock. Nicht nur in Deutschland häuften sich Ende der achtziger Jahre immer mehr die teils tödlichen Übergriffe auf Punks, initiiert von faschistoiden Schlägertrupps. Punks wurden zu Prügelknaben von links und rechts.

Dreimal täglich Szene putzen! Damit sie auch morgen noch kraftvoll ins Gras beißen! — lautete die Devise und alsbald leuchteten die Hauerchen im frischen Dr. Best-Glanz.

Die Texte der dritten Punkphase wurden sarkastisch-bissig. Emils, Toxoplasma, die Skeptiker und viele weitere Garagenbands transformierten den antipolitischen Punk zum hochpolitischen Punk. Durch die tägliche Bedrohung mußten viele Punks — die einst zu recht behaupteten, Punk sei eine Lebenseinstellung und keine politische Organisation — feststellen, daß dies auch schon wieder Politik war. Wenn versucht wird, vor der Politik zu fliehen, frißt sie einen glatt mit Haut und Iro auf.

Es entwickelte sich notgedrungen unter Punks ein ungeheures Zusammengehörigkeitsgefühl. Und der von Medien tausendfach totgesagte, da als Modebewegung mißverstandene Punk, erlebte einen Aufschwung im neuen Gewand. Es bestätigte sich mal wieder das Sprichwort, daß Totgesagte länger leben.

Wenn wir die Historik des Punks inspizieren, erkennen wir, daß es genau jene Generationen sind, die in der infantilen Phase mit den ersten Horrorprognosen des Club of Rome konfrontiert wurden. Jene Generationen, die schon als Kinder Smog inhalierten und mit saurem Regen begossen wurden, auf daß sie groß und stark werden. Jene Generationen, die das Kabel-TV in ihrer infantilen chironischen Verletzbarkeit mit Bildern von Overkillpotentialen bombardierte. Ergo genau diejenigen Personen, denen die Globalsterblichkeit förmlich auf die großen, unschuldigen Kinderaugen gedrückt wurde.

Heutige und kommende Generationen werden in weit stärkerem Maße wie bislang die Globalsterblichkeit am eigenen Leibe erfahren. Daher wird es im 21. Jahrhundert eine Renaissance des Punks geben, allerdings in etwas modifizierter Form. Jener Postpunk des kommenden Jahrtausends (keine Ahnung, wie der Punk sich dann nennen wird) wird weit konsequenter sein als der heutige Urpunk. Außerdem werden im Postpunk Alkohol und Drogen verpönt sein, denn sie sind der High-Noon-Genosse der Globalsterblichkeit.

Es gibt auch noch ein drittes Kriterium, welches unterstreicht, daß der Punk der Archetyp des neuen Charakters ist. Wie schon gesagt, müßten die konventionellen Tabuschwellen sinken. Die keuschen Tabuvorhänge, die ängstlich den Sex, vulgäre Zotenwörter und Exkremente verhüllen, sollten beim Punk geliftet werden. Und mit der Enthüllung dürfte auch die bis dato begrenzte Ästhetik mutieren, die sich ja schließlich nun der einstmals verdeckten Animalität bedienen kann.

Und dies ist tatsächlich der Fall.

Gemütlichkeit bedeutet für den Punk, wenn sich seine Ratte in einer nach Blut und Pisse stinkenden Kaschemme an ihn kuschelt, während im Hintergrund Slime dröhnt und jemand kotzt. Diese Invertierung der traditionellen Ästhetik ist für den alten Charaktertyp unverständlich und macht ihm Angst; er kann sie nur als Provokation mißverstehen.

Biederleute und Punks verhalten sich daher so inkompatibel, wie Intel-Computer mit Motorola-Rechnern. Nur mit einem gegenseitigen Transformierungsprogramm ist überhaupt eine Kommunikation möglich, schließlich sind die jeweiligen CPUs in der Kindheit intern unterschiedlich verdrahtet worden.

Punk wird somit die Religion des langsam dämmernden Wassermannzeitalters sein. Dabei können wir Punk in seiner allgemeinsten Auslegung definieren: Nicht die äußere Erscheinung wie Iro und Lederjacke sollte über die Punkzugehörigkeit entscheiden. Sie, meine verehrte LeserInnen, sind nach dieser allgemeinen Definition auch Punk, denn schließlich haben Sie’s geschafft, dieses Buch bis zu dieser Stelle durchzunudeln ohne es kopfschüttelnd in die Ecke zu werfen.

Iro, Lederjacke und Doc Martens sind nicht viel mehr als Hilfsmittel zum Einklinken in die Chreode der Vivos. Der Iro ist quasi eine Antenne, mit der Punks geeignete morphogenetische Kraftfelder empfangen.

Die Punkphilosophie besitzt alle Attribute des umrissenen anarchistischen Glaubens: individuell, international, humanistisch, undogmatisch, pluralistisch, tolerant, direkt, amaterialistisch, spirituell, antifaschistisch, anarchistisch beziehungsweise panokratisch, tabulos, körperbewußt, archaisch, antihierarchisch, antiinstitutionell, statussymbolverachtend, wahrheitsliebend.

Während die Nachkriegsgenerationen hauptsächlich auf materielle Werte fixiert waren, werden die kommenden Punk-Generationen immer mehr auf spirituelle Werte wechseln. Konventionelle Lebensziele, wie Status und Reichtum, haben schließlich in einer apokalyptischen Welt jegliche Sinnhaftigkeit verloren.

Punk ist daher wahrhaft die kommende Weltreligion. Eine Weltreligion, bei der jeder nach seiner Fasson mit seinem Gott, seinem Manitou, seinem Allah, seinen Göttern oder seinem Nichts in Beziehung tritt. Ein seliges, heiliges und produktives Nebeneinander privat-individueller Religionen, was natürlich nicht heißt, daß diese Individualreligionen nicht interagieren könnten. Punks haben eine wichtige religiöse Erkenntnis intuitiv erfaßt: Das einzige, was wir in Sachen Gott definitiv wissen, ist, daß wir nichts definitiv wissen!

Somit wären Predigten Gotteslästerungen, falls ein Gott existierte und sie wären sinnlos, falls es keinen Gott gäbe. Das gesegnete Gelabere beherbergt somit ein inneres Paradoxon. Menschen sollten eben über Gott höchstens Mutmaßungen anstellen oder ehrliche Glaubensbekenntnisse ablegen.

Der anarchistische Gläubige weiß, daß kein sterblicher Mensch sich anmaßen darf, im Besitz von mehr als einer Facette der unendlichen Wahrheit zu sein. Weder er selbst noch der Papst hochwürdenpersönlich noch sonst ein Pseudoführer! Glauben ist schließlich nicht Wissen!

Das fundamentalistische Terrorgebrüll in der christlichen und islamischen Welt sind dabei nichts anderes, als das allerletzte Todesröcheln des Age of Piscus. So  —  Pisc off, Fischezeitalter!

 

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