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 1. Millionen Kriegskinder unter uns  

 

 

Was der Kalte Krieg verhinderte

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Je länger der Berliner Mauerfall zurückliegt, desto deutlicher wird, daß die Nachkriegszeit in Deutschland erst 1989 zu Ende gegangen ist. Durch die Wiedervereinigung wurden die letzten politischen Kriegsfolgen beseitigt und — wie sich dann einige Jahre später zeigte — Raum geschaffen für gesellschaftliche Themen, die durch das Klima des Kalten Krieges nicht an die Oberfläche gedrungen waren.

Das jeweilige Auftreten der Ideologie West gegen Ideologie Ost und umgekehrt war so selbstgerecht und laut und so sehr auf Einschüchterung programmiert, daß Nachdenklichkeit, feine Schattierungen und leise Töne davon regelrecht aufgesaugt wurden. In der deutschen Bevölkerung, im Westen wie im Osten, hatte die Hochrüstung über die Jahre neue Ängste ausgelöst — vermutlich wurden auch deshalb die kollektiven Bedrohungsgefühle, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten, nicht wirklich wahrgenommen und verarbeitet.

Man kann sagen: Über fünf Jahrzehnte wurde in beiden deutschen Staaten wenig über die seelische Hinterlassenschaft des Krieges nachgedacht. Wer in den siebziger und achtziger Jahren in der Bundesrepublik von Lebensängsten geplagt wurde, der galt, je nach seiner sozialen Umgebung, als neurotisch oder als ein sensibler Zeitgenosse, der den Rüstungswahn der beiden Blöcke einfach nicht länger verdrängen konnte. In der DDR gab die SED die stramme Richtung vor, daß die Bürger gut daran täten, an die »unbesiegbare Sowjetmacht« zu glauben, denn dann gebe es auch keinen Grund, sich zu fürchten.

Auf dem Höhepunkt einer Diskussion in Köln um den sogenannten NATO-Doppelbeschluß rief eine Hausfrau ins Mikrophon: »Heutzutage kann doch schon eine Fluse im Computer den Dritten Weltkrieg auslösen!« Eine absurde Übertreibung?

Die Informationen, über die wir heute verfügen, geben der Frau im nachhinein recht. Hätte ein falscher Alarm den Befehl für einen Atombombeneinsatz ausgelöst, wären noch genau zwanzig Minuten Zeit geblieben, um die Lage einzuschätzen und den GAU zu verhindern.

Ich selbst gehöre jenem Teil der Nachkriegsgeneration an, der sich, je nachdem, welches politische Thema gerade Konjunktur hatte, zwischen »Nie wieder Krieg!« und »Nie wieder Auschwitz!« bewegte. Daß wir die Kinder des Kalten Krieges gewesen waren, wurde mir erst nach und nach bewußt, als diese Epoche endgültig vorbei war: die Einäugigkeit der Argumentation, die blinden Flecken, nicht mehr und nicht weniger als beim Rest der Gesellschaft. Zum Beispiel kann ich mich nicht erinnern, daß in der christlich geprägten Friedensgruppe, der ich einmal angehörte, jemals in Betracht gezogen wurde, ob vielleicht der Furcht »vor dem Russen« auch eine traumatische Erfahrung zugrunde lag.

 

    Ein erhellendes Seminar    

Anfang der neunziger Jahre änderte sich meine Sichtweise. Damals besuchte ich ein sehr erhellendes Seminar, und plötzlich erinnerte ich mich an eine extrem aufgeregte Frauenstimme, die ich zehn Jahre zuvor im Radio hatte sagen hören: »Ich würde alles tun, um mich vor dem Russen zu schützen. Ich würde sogar eine Rakete in meinen Vorgarten stellen!«

In diesem Seminar ging es darum, aus Anlaß der Wiedervereinigung die eigene Familiengeschichte vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte genauer zu betrachten. Ich war nicht die einzige, die befürchtete, die Nähe der eigenen Eltern und Großeltern zum Nationalsozialismus wäre größer gewesen, als sie stets behauptet hatten. Was sich dann auch im Laufe der viertägigen Veranstaltung bestätigte.

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Zur Vorbereitung hatten wir Familienforschung betrieben, das heißt, alle Daten und Fakten zusammen­getragen, die von 1930 bis 1950 innerhalb der engeren Verwandt­schaft bestimmend gewesen waren: Geburt, Krankheit, Tod, Umzüge, Berufswechsel, Fronteinsätze, Verwundungen und so weiter. Alle Teilnehmer zeigten sich erstaunt über die Tatsache, wie wenig ihnen über ihre Familien bekannt war. Das war die erste Gemeinsamkeit. Die zweite Gemeinsamkeit bestand darin, zu erkennen, daß wir zwar über die Einstellungen und Funktionen unserer Eltern in der Nazizeit recht gut Bescheid wußten, aber emotional und faktisch kaum erfassen konnten, was der Krieg in unseren Familien angerichtet hatte.

Einige Seminarteilnehmer hatten ihn noch als Kinder miterlebt. Aber auch für die später Geborenen wurde deutlich, daß der Krieg eine bestimmende Komponente in ihrer Biographie war, zum Beispiel dann, wenn die Eltern durch Flucht, Hunger, Bomben oder den Verlust von Angehörigen traumatisiert waren. Alle zwölf Teilenehmer wußten von mindestens einem Fall von Gewalt in der Familie. Die Stichworte hießen: ausgebombt, verschüttet, gefallen, vermißt, Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung, Gefangenschaft, Selbstmord. Die Zahl der Toten in der engeren Verwandtschaft, die auf das Konto Krieg ging, war jedenfalls größer als die Zahl der Teilnehmer. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, daß sie ganz durchschnittliche deutsche Familien repräsentierten und daß es sich nicht um eine extrem heimgesuchte Gruppe handelte.

 

Nazivergangenheit und Kriegsvergangenheit

Am dritten Tag hatte sich die Veranstaltung zu einem Trauerseminar entwickelt. Es wurde unendlich geweint. Zu erschütternd war das, was nach fünfzig Jahren ans Tageslicht kam. Seitdem ist mir klar, daß wir Deutschen eine Nazivergangenheit und eine Kriegsvergangenheit haben. Über die eine wird inzwischen offen gesprochen, bei der anderen fängt der Austausch gerade erst an.

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Noch sind die Kinder dieses Krieges zurückhaltend. Noch wollen sie, daß ihre Geschichte anonymisiert veröffentlicht wird.

Natürlich hat die Trennung zwischen Nazivergangenheit und Kriegsvergangenheit etwas Künstliches, aber ich glaube, wir können darauf nicht verzichten, weil das Schicksal der Kriegskinder fast 60 Jahre lang von den Verbrechen der Nazis verschattet wurde. Die Kindergeneration litt — weit mehr als die ihrer Eltern — darunter, daß sie jenem Volk angehörte, das Hitler an die Macht gebracht hatte. Scham und Schweigen erschwerten den Zugang zu den eigenen seelischen Verletzungen durch Gewalt und Verluste. Den meisten ehemaligen Kriegskindern liegt es völlig fern, sich selbst als Opfer zu sehen, auch dann nicht, wenn sie ein oder zwei Jahre lang im Luftschutzkeller gehockt haben.

Wir stehen gerade am Anfang eines gesellschaftlichen Prozesses, der darauf hinweist, daß die in den sechziger Jahren von Alexander und Margarete Mitscherlich diagnostizierte »Unfähigkeit zu trauern« bis heute nachwirkt und daß sie sich nicht nur auf die Nazizeit, sondern auch auf die Kriegsfolgen bezieht.

Wenn ich Menschen aus meinem Bekanntenkreis nach langer Zeit wiedersehe, werde ich oft gefragt: »Woran arbeitest du gerade?« Um Mißverständnissen vorzubeugen, was mir aber meistens nicht gelingt, beschreibe ich das heikle Thema immer bewußt ausführlich: »Es geht um die Frage, wie sich der Zweite Weltkrieg auf das Leben derjenigen Deutschen ausgewirkt hat, die damals Kinder waren.«

Typisch war die Reaktion eines Lehrers. Er sprudelte los, er habe gerade wieder einmal seine Schüler mit Anne Frank und den Geschwistern Scholl vertraut gemacht. Man müsse sich als Pädagoge für die Vermittlung der Nazivergangenheit viel Zeit nehmen.

Schließlich, als der Lehrer das eigentliche Thema erfaßt hatte, ging er zum Angriff über: Wie ich daraufkomme, Kriegszeit und Nazizeit zu trennen? Das sei doch unmöglich! Ob ich etwa die Seiten gewechselt hätte? Ginge es mir jetzt darum, die Deutschen als Opfer zu stilisieren?

»Du selbst wurdest doch 1940 in Berlin geboren«, sagte ich. »Was hat dich in deiner Kindheit mehr bestimmt: die Nazis oder Bomben und Hunger?«

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Mein Gegenüber wurde heftig: »Begreifst du das immer noch nicht?! Ohne die Nazis hätte es für meine Familie die ganzen Kriegserlebnisse nicht gegeben!«

»Muß ich mir das so vorstellen«, fragte ich weiter, »daß du dich später mit den Schrecken des National­sozialismus beschäftigt hast — aber nicht mit deiner eigenen Kriegskindheit?«

»Genau«, bestätigte er. »Der Krieg war vorbei, als ich acht Jahre alt war. Ehrlich, du nervst mich mit den alten Geschichten...«

Aber genau diese verschwiegenen Geschichten, die eine ganze Generation und teilweise wohl auch noch deren Kinder prägten, müssen erzählt werden. Sie sind wichtig für die einzelnen und für die Identität und die Zukunft der Deutschen als Europäer.

 

   Eine tüchtige Generation  

Warum träumt Gudrun Baumann* immer wieder, sie müsse eine Brille haben, obwohl sie längst eine besitzt? Wieso standen dem kernigen Kurt Schelling* plötzlich, mit 45 Jahren, ständig Tränen in den Augen? Wie kommt es, daß Wolfgang Kämpen* in Israel, auf dem Höhepunkt der Gewalt, keine Angst vor Selbstmordanschlägen hatte? Sonderbare Fragen tauchen auf, wenn man sich heute mit Menschen beschäftigt, die im Zweiten Weltkrieg noch Kinder waren. Davon gibt es Millionen. Sie befinden sich im Ruhestand oder nur noch wenige Jahre davon entfernt.

In der Tat ist nicht zu erkennen, daß ihnen das frühe Drama in besonderer Weise zugesetzt hätte. Offenbar ist es ihnen gut gelungen, ihre Erinnerungen an Tod, Bomben, Vertreibung und Hunger auf Distanz zu halten. Sie sind nicht kränker und auch nicht ärmer als frühere vergleichbare Altersgruppen. Im Gegenteil. Noch nie hat es in Deutschland Senioren gegeben, denen es finanziell so gut ging wie den heute 60- bis 70jährigen. Sie bauten das zerstörte Deutschland wieder auf, gründeten eigene Fami-

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