Start    Weiter

2.  Luftleerer Raum

Brandenburg-1999

 

46-72

Auf der ekliptischen Ebene in den Tiefen des Alls, 215 Millionen Kilometer von der Erde entfernt, leuchteten die Sterne wie glitzernder, blauer Staub.1) Im Radiowellenbereich des elektromagnetischen Spektrums war nichts zu hören außer dem fernen Rauschen der kosmischen Hintergrundstrahlung. Es war der Abend des 19. Juni 1976.

Plötzlich jagte, von Funksignalen begleitet, ein golden und blau schimmerndes Raumfahrzeug mit acht Kilometern pro Sekunde vorbei.* Unaufhaltsam raste es auf den stillen roten Planeten zu, der düster aus dem Sternenmeer im Hintergrund hervortrat. Der Äther war erfüllt vom hektischen Geprassel digitaler Funksignale — Anweisungen und Informationen, die zwischen der Sonde und der fernem Erde ausgetauscht wurden.

* detopia-2010:  Wozu dieser Reportagestil? ("plötzlich jagte ... ein golden.. vorbei")

Als sie sich dem Mars näherte, vollführte die Raumsonde eine elegante Drehung, bis ihre Triebwerke auf den wolkengefleckten Planeten gerichtet waren. Im richtigen Moment, nämlich exakt über dem nördlichen Pol, zündete sie ihre Bremsraketen. Einige Minuten lang schossen blaue Flammen hervor, und das Raumfahrzeug wurde gebremst, bis es tief ins Gravitationsfeld des Mars eingetaucht war. Dort beendete es seine Reise durch das innere Sonnensystem und schwenkte auf eine Umlaufbahn um den roten Planeten ein. Als sich seine Flugbahn stabilisiert hatte, fing es an zu rotieren, um seine Kameras auf den Mars auszurichten, und seine leuchtend blauen Solarsegel entfalteten sich und spreizten sich nach vier Seiten von seinem sechseckigen, goldglänzenden Rumpf ab. Unter dem Rumpf des Raumfahrzeugs befand sich eine Kuppel, die das Lande­modul enthielt.

Die Mitarbeiter im Jet Propulsion Laboratory der NASA brachen in lauten Jubel aus, als die Raumsonde die ersten Bilder von der Marsoberfläche zur Erde zurückfunkte und bestätigte, daß sie den Orbit erreicht hatte.

Die Marssonde Viking 1 hatte den Auftrag, auf dem Mars nach Spuren von Wasser und vulkanischen Aktivitäten und, was noch viel wichtiger war, von Mikroorganismen zu suchen. Sie suchte nach Spuren von Leben. Mit ihrem Landemodul VL-1 konnte sie komplizierte Experimente zur Untersuchung der Marsoberfläche an der Landestelle durchführen. Wenn ihr der Nachweis von Leben auf dem Mars gelang, würde dies die Entdeckung des Jahrhunderts, wenn nicht gar des Jahrtausends sein. Es würde das Bewußtsein der Menschheit, welche die Erde immer noch als Nabel der Welt und den Rest des Kosmos bloß als interessante Beigabe betrachtete, für immer verändern. Wir standen an der Schwelle zu völlig neuen, ebenso aufregenden wie gefährlichen Erkenntnissen. Es war eine Reise ins Ungewisse, an deren Ziel die verlockende, zugleich aber auch bedrohliche Entdeckung ungeahnter Möglichkeiten winkte. Aber so gut die Reise auch vorbereitet war, sollte sich schon bald Enttäuschung bei den Akteuren des spannenden Abenteuers einstellen.

Der Mars dachte gar nicht daran, sich den Vorstellungen seiner irdischen Erforscher entsprechend zu verhalten. Die Landung der Einheit VL-1 sollte planmäßig in Chryse Planitia an der Mündung des Canyon-Gebiets Valles Marineris unweit des Marsäquators stattfinden. Schon die ersten Aufnahmen, die Viking 1 von der Marsoberfläche lieferte, zeigten jedoch, daß dieses Gebiet sehr felsenreich war. Setzte das Landemodul auf einem Felsen auf, so bestand die Gefahr, daß es zerstört wurde. Die Landung war ursprünglich für den 4. Juli 1976, den 200. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, vorgesehen. Diesen Plan mußte man nun verwerfen. Die Viking-Kameras betrachteten den Mars mit einem um das Fünffache höheren Vergrößerungsfaktor als die Aufnahmeinstrumente der Raumsonde Mariner 9, die den Mars 1971 passiert hatte.

Die Bilder, die Mariner 9 geliefert hatte, waren ausschlaggebend für die Wahl der Landegebiete für VL-1 und seinen Zwilling VL-2 an Bord der Viking 2 gewesen, die in diesem Augenblick bereits zum Mars unterwegs war.

47


Die Landeeinheit VL-2 sollte in dem topographischen Gebiet Utopia Planitia niedergehen, das sich in der Albedoformation Cydonia befindet. Das war der Ort auf dem Mars, an denn man am ehesten Leben zu finden hoffte. Die Temperaturen und die atmosphärischen Bedingungen auf dem Mars sind in etwa mit denen der antarktischen Kältewüste am Südpol der Erde vergleichbar. Die Region Cydonia bildet insofern eine Ausnahme, als dort höhere Durchschnittstemperaturen herrschen und die Luft reicher an Wasserdampf ist als überall sonst auf dem Mars. 

Im Gebiet Cydonia verläuft eine flache Ebene von Norden nach Süden, so daß im Marssommer große Mengen Wasserdampf vom Nordpol ungehindert in die wärmeren Regionen strömen können, wo» die Temperaturen gelegentlich sogar Plusgrade erreichen. Wenn irgendwo auf dem Mars, vielleicht als Relikt einer wärmeren und feuchteren Periode, allen widrigen Umständen zum Trotz noch eine schlummernde Lebensform existierte, dann mit hoher Wahrscheinlichkeit dort. Zudem bildet die Region Cydonia den Übergang von dem zerklüfteten Hochland und den flachen Ebenen des Nordens und ist somit für Geologen und Biologen gleichermaßen interessant. Deshalb war die Wahl des Landeplatzes für das Modul VL-2 auf diese Gegend gefallen. Zunächst wollte man jedoch die weniger riskante Landung von VL-1 in Chryse Planitia abwarten.

Chryse Planitia liegt in den Ausläufern dreier ausgedehnter Schluchten, von denen man annimmt, daß dort Äonen zuvor gewaltige Mengen Wassers aus dem Canyon-Gebiet Valles Marineris und nahegelegenen Regionen zusammengeflossen waren. Es verwundert daher nicht, daß die Gegend einem ausgetrockneten ozeanischen Becken gleicht. Einige Wissenschaftler glaubten deshalb, daß es möglich sein könnte, dort lebende Mikroorganismen zu finden, die vielleicht geduldig auf die Rückkehr des Wassers warteten.

Während die einwandfrei funktionierenden Kameras der Viking 1 die Ebenen Chryse Planitia und Utopia Planitia nach einem sicheren Landeplatz absuchten, sondierten starke Radarstrahlen von der Erde die Gegend, um eine Stelle auszumachen, die frei von großen Felsen war.

48


In Chryse Planitia, westlich des ursprünglich vorgesehenen Landeplatzes, entdeckten die NASA-Wissenschaft­ler einen geeigneten Ort, und man sendete das Signal, das die beiden Sonden auf den richtigen Kurs für die Landung bringen sollte.

Viking 1 umkreiste den Mars in einer hohen Umlaufbahn und arbeitete perfekt, genau wie ihre Schwestersonde, die in wenigen Wochen ebenfalls ihren Bestimmungsort erreichen würde. Es schien, als ob die US-Raumfahrt nach jahrelanger Planung und nervenaufreibendem Warten endlich ihr ersehntes Ziel, den Mars, erreichen sollte. Die Menschheit würde endlich die Antwort auf die große Frage finden:
   Gab es einst Leben auf dem Mars?

*

Die Vorstellung vom Leben auf dem Mars beschäftigt nicht nur die Wissenschaftler seit Menschen­gedenken, sondern sie ist Teil unseres kollektiven Bewußtseins und unserer Kultur geworden. Wir haben den Namen Mars mit unzähligen Bildern assoziiert — von der schönen Prinzessin bis zur Invasion außerirdischer Wesen. Mars wurde zum Synonym für »das vollkommen Fremde«.

Wenn ein Mensch ein wenig verschroben ist, sagen wir: »Der kommt vom Mars«, und wenn etwas Unerklärliches passiert, zieht man den »Marsmenschen« als Erklärung heran. Die Menschen stellten sich den Mars gern als bewohnt vor, ähnlich der Erde, nur daß die Bewohner vielleicht keine Kleider trugen — und sie wurden in dieser Vorstellung bestärkt durch Schriftsteller wie Edgar Rice Burroughs und Percival Lowell (der den Mars als eine unheimliche Welt beschrieben hat, klimatisch der Wüste von Arizona ähnlich und trotz der dünnen Luft von Leben bewohnt).2) Dieses Bild hatte jedoch nur wenig mit den Vorstellungen zu tun, die sich die an der Viking-Mission beteiligten Wissenschaftler machten.

Die Wissenschaftler beobachteten die Ankunft des Viking-Landemoduls auf dem Mars mit gemischten Gefühlen. Einerseits gaben die vielen neuen Informationen über eine nahezu unbekannte Welt Anlaß zu überschwenglicher Begeisterung, andererseits schien das ganze Unternehmen vergebliche Liebesmühe zu sein. Die meisten Wissenschaftler hielten die Suche nach organischem Leben auf dem Mars für ein hoffnungsloses Unterfangen, das nur unnötige Erwartungen in der Öffentlichkeit weckte.

49


So räumte einer der am Viking-Projekt beteiligten Experten vor versammelten Kollegen im Raumforschungszentrum Lawrence Livermore National Laboratory ein, daß man sich eher von Lowells 1920 veröffentlichtem Buch über die Marskanäle als von wissenschaftlichen Überlegungen zu den Experimenten habe inspirieren lassen, die sich mit der Frage nach Leben auf dem Mars beschäftigten. Die für diese Experimente vorgesehenen Instrumente waren nach Meinung desselben Wissenschaftlers eine reine »Platzverschwendung im Landemodul«. Unter den NASA-Wissen­schaftlern, die mit der Viking-Mission betraut waren, herrschte die Meinung vor, daß es auf dem Mars ebensowenig Leben gab und gegeben hatte wie auf dem Mond unserer Erde. Auf dem Mars nach Leben zu suchen erschien ihnen vollkommen sinnlos.

Diese lunare Marstheorie, wie wir sie hier nennen wollen, widersprach dem Wissen, das man 1976 aufgrund des von Mariner 9 gelieferten Materials vom Mars besaß. Die Raumsonde Mariner 9, die zwischen 1971 und 1972 den Mars umkreiste und dabei 7329 Aufnahmen von seiner Oberfläche machte, hatte es den Wissenschaftlern ermöglicht, den Mars kilometergenau und in einzelnen Gebieten sogar mit einer noch wesentlich höheren Auflösung zu kartografieren. Mariner 9 entdeckte das weitläufige Canyon-System des Valles Marineris in der Äquatorregion des Mars, tiefe Schluchten mit ausgetrockneten Wasserläufen, die sich von seiner Mündung aus verästelten.

Mariner 9 hatte den Mars quasi neu entdeckt. Die Aufnahmen und Forschungsbefunde der Sonde ergaben, daß die nördliche Hemisphäre ziemlich jung und mit niedrigen Ebenen bedeckt war, die vor geologisch relativ kurzer Zeit von fließenden Gewässern neu geformt worden zu sein schienen. Das hatte man nun wirklich nicht erwartet. Die älteren Aufnahmen der südlichen Marsregionen, die vorangegangene Marsmissionen erbracht hatten, zeigten den Planeten als trockene, unfruchtbare, unserem Mond ähnliche Einöde. Die neue Erkenntnis bedeutete, daß auf dem Mars irgendwann einmal ähnliche Temperaturen und ein ähnlicher atmosphärischer Druck wie auf der Erde geherrscht haben mußten, denn sonst hätte es hier kein Wasser in flüssiger Form geben können. Die Aufnahmen von Mariner 9 bestätigten, daß das verkarstete Hochland der südlichen Marsregionen von Kratern übersät war und stark dem Hochland des Mondes glich.

50


Die Landschaft im Norden mit ihren ausgetrockneten Wasserläufen ergab jedoch ein völlig anderes Bild. Auch heute noch fällt es uns schwer, uns mit den Implikationen dieser Entdeckung anzufreunden. Auf unserem nächsten planetarischen Nachbarn — dieser gefrorenen, luftlosen Felsenkugel gleich nebenan — gab es irgendwann einmal Wasser. Der Mars war, wie die Erde, ein Planet mit dynamischen Prozessen, es gab auf ihm vor kurzem noch aktive Vulkane, und er blickte auf eine warme und wasserreiche Vergangenheit zurück.

Der Blick der Wissenschaftler war jedoch starr auf den mondähnlichen Süden des Mars gerichtet. Die Hochebenen dort glichen der Mondoberfläche in bezug auf ihr geschätztes Alter und den Grad der Verkraterung so sehr, daß es schien, als könne es in den letzten 4,5 Milliarden Jahren kein erdähnliches Klima und infolgedessen auch keine nennenswerten Erosionen gegeben haben. Dazu kamen die extremen Bedingungen auf der Oberfläche des Planeten. Sein atmosphärischer Druck entspricht 0,5 Prozent des Drucks auf der Erde. Seine Atmosphäre besteht fast vollständig aus Kohlendioxid, und keine Ozonschicht schützt ihn vor dem tödlichen Bombardement ultravioletter Strahlen, die alles Leben, wie wir es von der Erde kennen, vernichten würden. Darüber hinaus herrschen dort fast ganzjährig Temperaturen, die weit unter dem Gefrierpunkt liegen.

Auf diese beiden Voraussetzungen, das Landschaftsbild der südlichen Hemisphäre und die rauhen Umweltbedingungen des Mars, stützte sich die lunare Marstheorie: Der Mars war, genau wie der Mond unserer Erde, tot. Die geologischen wie die biologischen Befunde schienen zu beweisen, daß dies schon immer oder doch für den längsten Teil seiner Geschichte so gewesen sein mußte. Vereinzelt wurde zwar die Vermutung geäußert, in den unzähligen Wasserläufen zwischen seinen Kratern könne der Mars in seiner warmen, feuchten Phase einmal Leben beherbergt haben, von dem einige der widerstandsfähigsten Mikroorganismen vielleicht bis in die kalte, trockene Gegenwart hinein überdauert hatten, aber einige notorisch skeptische Wissenschaftskollegen bezweifelten sogar, daß die Marskanäle überhaupt unter dem Einfluß von Wasser entstanden sein konnten. Genausogut konnten irgendwelche un-

51


bekannten, exotischen Stoffe, die unter solchen Extrembedingungen flüssig blieben, dafür verantwortlich sein. Die Meinung, die das Viking-Team hinsichtlich der Möglichkeit von Leben auf dem Mars vertrat, hatte sich trotz der von Mariner 9 gelieferten Bilder im Grunde schon in den sechziger Jahren gefestigt. Zehn Jahre später war die Haltung der Wissenschaft in diesem Punkt immer noch von Zynismus geprägt.

Und dann war da noch die Frage der öffentlichen Gelder: Gab es Leben auf dem Mars, dann mußte es erforscht werden. Wenn aber Menschen zum Mars flogen, dann würde der Löwenanteil des Geldsegens an das für bemannte Raumflüge zuständige Lyndon B. Johnson Space Center der NASA in Houston gehen. War der Mars dagegen tot, so konnten die Mitarbeiter des für die Entwicklung von Raumsonden zuständigen Jet Propulsion Laboratory auf großzügige Finanzierung ihrer Arbeit hoffen. Die Suche nach Leben auf dem Mars war also für die einen mit reich sprudelnden Geldquellen und für die anderen mit gewaltigen finanziellen Einbußen verbunden.

Nun gab es aber auch eine Zeit in der Geschichte der Menschheit — und sie liegt noch gar nicht so lange zurück —, da ging es in der Wissenschaft nicht nur darum, sich Pfründe zu sichern. Es gab* damals keine öffentlichen Forschungsgelder. Forschung wurde um ihrer selbst willen betrieben. Damals gingen Wissenschaftler im allgemeinen irgendeinem Broterwerb nach und forschten in jeder freien Minute, die ihnen blieb. Sie taten dies aus dem tiefen Bedürfnis heraus, dem Wesen der Dinge auf den Grund zu gehen.

Ein solchen Wissenschaftler hatte nicht nur einen wachen Verstand, sondern er war eine unerschöpfliche Quelle kreativer Fragen und neuer Ideen, die das Bewußtsein seiner Mitmenschen bereicherten. Die Wissenschaft war mehr als abgehobenes Akademikertum. Es ging nicht um Technologiewissen und Spezialisierung. Es ging um Fragen. Fragen, die den Forscher nicht mehr losließen, ihn zwangen, bis an seine Grenzen zu gehen und selbst Offensichtliches und Anerkanntes in Frage zu stellen. Die Wissenschaft war beherrscht von begabten, engagierten Laien, für die die Frage nach dem Ursprung und der Beschaffenheit des Universums ebenso spannend war wie das Leben selbst. In jener Zeit war die Triebfeder der Wissenschaft Liebe — eine echte, leidenschaftliche Liebe zur Forschung.

 

* OD: Auch in meinem Papier-Original so. Besser wäre vielleicht: "gab keine" (?)

52


So sorgte der Unitarierpriester Joseph Priestley sicher für einiges Getuschel in seiner Gemeinde, als er sich zu der benachbarten Brauerei aufmachte, weil er sich für die Substanz interessierte, die dort in großen Holzfässern produziert wurde. Die Lästerzungen hatten vermutlich noch mehr zu erzählen, als er vollkommen nüchtern und mit offensichtlich leeren Glasflaschen zurückkehrte. »Was«, müssen sich seine Nachbarn gefragt haben, »heckt er diesmal wieder aus?«

Das Ganze spielte sich um 1770 in England ab, und es war keineswegs das erste Mal, daß sich Priestleys Nachbarn über den Mann wunderten, der das Pfarramt der Stadt Leeds übernommen hatte. Joseph Priestley war ein Mann mit Prinzipien und einem streitbaren Charakter. Schlimmer noch, seine religiösen und politischen Überzeugungen wichen in vieler Hinsicht von denen seiner Mitmenschen ab. Seine regelmäßigen Ausflüge in die Brauerei dienten nicht der religiösen Erbauung, sondern es waren Forschungsexpeditionen, denn nur dort konnte er sich mit ausreichenden Vorräten an »fester Luft« versorgen, die aus dem gärenden Gebräu aufstieg und sich im oberen Bereich der Fässer sammelte. Er benötigte diese Luft für die zahlreichen Experimente, die zu seiner Lieblingsbeschäftigung gehörten: Sein Forschungsgebiet war die pneumatische Chemie, vor allem die chemischen Vorgänge beim Atmen.

Einige Jahre zuvor war es einem Schotten namens Joseph Black erstmals gelungen, »feste Luft« zu isolieren und ihre tödliche Wirkung nachzuweisen, indem er einen Vogel in ein mit dieser Substanz gefülltes Glas setzte. Das Tier war innerhalb von zehn Sekunden tot. Joseph Black stellte auch fest, daß sich seine Lungen anfühlten, als könnten sie sich nicht mehr ausdehnen, wenn er längere Zeit in einen Beutel atmete. Daraus folgerte er, daß die Substanz, die seine Lungen »elastisch« machte, nach einigen Atemzügen aus der Luft verschwunden war, und er nahm an, daß es das war, was den Vogel getötet hatte. Obwohl diese Schlußfolgerung falsch war, gab es einen Zusammenhang zwischen den Phänomenen, die Black bei sich selbst und bei dem Vogel beobachtet hatte.

Für beide war die Substanz verantwortlich, die sich in dem Beutel gesammelt hatte.

53


Joseph Priestley, den Blacks Erkenntnisse über die unsichtbare Substanz faszinierten, fand seine Quelle für entsprechende Experimente in der benachbarten Brauerei, wo er das Gas, das sich in den Fässern sammelte, in Flaschen füllte. Priestley fand unter anderem heraus, daß sich ein Teil des Gases im Wasser auflöste und kleine Bläschen bildete, die dem Wasser einen säuerlichen Geschmack verliehen. Schwer zu sagen, wie er auf die Idee kam, das blubbernde Wasser zu probieren, in dem er die augenscheinlich stark giftige Substanz gelöst hatte. Sicher waren viele Wissenschaftler damals ihre eigenen Versuchskaninchen. Hätte Priestley dieses Experiment jedenfalls nicht überlebt, so wäre vermutlich ein ganzer Industriezweig, der sein Geld mit den blubbernden Getränken verdient, gar nicht entstanden.

Wäre Priestley bei seinen chemischen Experimenten geblieben, hätte er sich vermutlich einigen Ärger erspart. Da er sich aber mit derselben Leidenschaft, die ihn zu seinen Forschungen antrieb, zugunsten der Französischen Revolution engagierte, machte er sich beim englischen Königshaus ausgesprochen unbeliebt. Schließlich zündete ein wütender Mob sein Haus, seine Kirche und sein Laboratorium an. Man kann davon ausgehen, daß die Brauerei verschont blieb, weil selbst ein wütender Mob Prioritäten setzt. Priestley erkannte die Zeichen der Zeit und wanderte in die Vereinigten Staaten aus, wo er die erste Unitariergemeinde gründete und wo man seine Entdeckungen bis zum heutigen Tag auf eine Weise schätzt, die er sich sicher nicht hätte träumen lassen. Denn jede Flasche Limonade, die wir trinken, haben wir letztlich Joseph Priestleys Erfindergeist zu verdanken.

Obwohl viele von uns die Wissenschaft als die Domäne der festen, nüchternen Fakten betrachten, war sie immer auch geprägt von den Menschen, die sie betreiben, und das wird auch immer so sein. Denn die wissenschaftliche Auseinander­setzung wird auch von persönlichem Ansehen, von Macht und mittlerweile vom Geld bestimmt. Diese Faktoren können dazu beitragen, daß eine wissenschaftliche Diskussion sehr schnell persönliche und politische Züge annimmt, und die Frage nach Leben auf dem Mars machte da keine Ausnahme.

54


Angesichts der in Wissenschaftskreisen vorherrschenden Einstellung zu dieser Frage mußte man befürchten, als Spinner oder unwissenschaftlicher Fantast abgetan zu werden, wenn man auf dem Mars eine erdähnliche Vergangenheit vermutete.

 

Die etablierte Wissenschaft tut sich schwer damit, neue Ideen zu akzeptieren, und sie setzt sich nur ungern dem Spott der Öffentlichkeit aus. Genau diese Gefahr barg die Suche nach Leben auf dem Mars. Wer glaubt, die Erforschung des Mars sei eine rein wissenschaftliche Angelegenheit, weiß nicht, auf welche Weise die wissenschaftliche Welt oft versucht, sich durch Ableugnen, Verschleiern und Verfälschen von Informationen gegen unerwünschte Veränderungen des wissenschaftlichen Weltbildes zu sträuben. 

Die Entdeckung von Leben auf dem Mars war den NASA-Wissenschaftlern im Jet Propulsion Laboratory ungefähr so willkommen wie dem König von England Joseph Priestleys Unterstützung der Französischen Revolution — aus ähnlichen Gründen. Deshalb auch beobachteten sie die Suche der Viking-Sonden nach Leben auf dem Mars mit derartig gemischten Gefühlen. Einerseits waren sie gezwungen, der Realität ins Auge zu sehen und ihr Bild von der geologischen Geschichte des Mars zu revidieren, und andererseits fürchteten sie sich vor einer Blamage und mehr noch vor einer Kürzung der finanziellen Mittel für ihre Forschungsarbeit. 

Aber es gab noch einen anderen Grund für den Zwiespalt ihrer Gefühle. Er wurde nur selten ausgesprochen, aber der Gedanke lag in der Luft, und er beschränkte sich nicht auf wissenschaftliche Kreise. 

Wenn sich herausstellte, daß es Leben auf dem Mars gab oder irgendwann einmal gegeben hatte — mochte es auch noch so primitiv sein —, verlor der Mensch den Stellenwert, den er sich selbst im Kosmos zugeschrieben hatte. Die Entdeckung von Leben auf dem Mars würde nicht nur die Biologie, die Astronomie und zahlreiche andere Wissenschaftsgebiete revolutionieren, sondern unser gesamtes Weltbild radikal verändern — für manch einen sicher eine beunruhigende Vorstellung. Wir fürchteten ganz einfach, von einem Moment zum anderen vom Herrscher über den Kosmos zum Herrscher über ein Staubkorn degradiert zu werden.

55


Tatsächlich beherrscht der Mensch die Erde als ein vollkommen vom Rest des Kosmos isoliertes Territorium. Da wir unseren Planeten als Schauplatz aller bedeutenden Ereignisse im Universum betrachten, benehmen wir uns wie der König einer Oase mitten in der Wüste. Wir krönen jedes Jahr eine Miss Universum, ohne uns bewußt zu machen, wie absurd und lächerlich das eigentlich ist. Nicht nur interessieren wir uns nicht für den Rest des Universums, wir glauben, wir sind das Universum. Wenn wir auf dem Mars Mikroorganismen finden, warum sollte es dann nicht auch anderswo im Universum Leben geben, warum nicht gar intelligentes Leben? Viele von uns würden den Sternenhimmel mit ganz anderen Augen sehen. Aber ebenso viele würden ihn plötzlich als den Schauplatz einer finsteren Bedrohung durch feindliche, fremde Welten betrachten.

Nein, man war 1976 in den Vereinigten Staaten nicht versessen darauf, Leben auf dem Mars zu entdecken. Nach einem turbulenten Jahrzehnt, das den Vietnamkrieg, die Protestbewegung, den amerikanischen Truppenrückzug, Watergate, den Krieg im Nahen Osten und die Ölkrise gesehen hatte, sehnten sich die Menschen nach Ruhe und Beständigkeit.

Vielleicht war das der Grund, warum einige Monate zuvor sechs Wissenschaftler vor dem Kongreß der Vereinigten Staaten auf taube Ohren gestoßen waren, als sie auf die Gefahren hingewiesen hatten, die von den FCKW genannten organischen Verbindungen ausgingen, zu denen auch der Fluorchlor­kohlen­wasser­stoff gehörte, de r von der Firma DuPont vermarktet wurde.3

Ein Sprecher der Firma DuPont bezeichnete die Untersuchungen, die dem Gas die Eigenschaft attestierte, die Ozonschicht zu zerstören, als »rein spekulativ« und ein eventuell geplantes Verbot als völlig ungerechtfertigt. Die Verbraucherschutzverbände schlossen sich dieser Meinung an und lehnten ein Verbot von Sprühdosen ab, die FCKW als Treibmittel enthielten, da es ihrer Ansicht nach an Beweisen für die Schädlichkeit dieser Stoffe mangelte. Als von offizieller Seite nichts unternommen wurde, nahmen viele Verbraucher die Sache selbst in die Hand und boykottierten FCKW-haltige Produkte, lange bevor sich in den verantwortlichen Behörden oder in den produzierenden Unternehmen etwas zum Schutz der Atmosphäre unseres Planeten bewegte. 

56


Diese Untätigkeit hat vorsichtigen Schätzungen zufolge in den vergangenen 20 Jahren 6000 Opfer jährlich gefordert — Menschen, die an Hautkrebs erkrankt und an den Folgen dieser Erkrankung gestorben sind.4 Inzwischen wurde die Produktion und Verwendung von Fluor­chlor­kohlenwasser­stoffen zwar gesetzlich eingeschränkt, aber wir werden die Folgen des verspäteten Eingreifens noch jahrzehntelang spüren — und zwar sehr direkt und konkret. Die Unfähigkeit unserer gewählten Vertreter, zum Wohle aller zu handeln, betrifft uns auch alle. Die Leidtragenden dieser Unfähigkeit werden Menschen sein, die Sie kennen. Freunde und Verwandte und vielleicht Sie selbst.

Glücklicherweise war die Erforschung des Mars keine solche Bedrohung für die Menschheit. Auch wenn sich einige Wissenschaftler voreilig eine Meinung gebildet hatten und von vornherein nicht an die Möglichkeit von Leben auf dem Mars glaubten, würden die Ergebnisse der Mission keine tödlichen Konsequenzen haben. Als der Tag der Landung in der Chryse-Ebene bevorstand, waren die Vereinigten Staaten zwar im Begriff, einen Schritt zu tun, der vor ihnen noch niemandem gelungen war, aber sie waren nicht auf Ärger aus. Man suchte nach einer Bestätigung für das, was man ohnehin als gegeben annahm. Die Klagen über die Platzverschwendung für die Instrumente, mit denen nach Hinweisen auf lebendige Organismen gesucht werden sollte, hatten einen positiven Aspekt, denn sie bestärkten die Leute in der Überzeugung, daß dieser Suche kein Erfolg beschieden sein würde. Vom Börsenmakler an der Wall Street, der um die Aktienkurse fürchtete, bis zur bezaubernden Miss Universum konnten alle unbesorgt sein. Das Boot, in dem die Menschheit saß, würde die Klippen sicher umschiffen. Schließlich wußte doch jeder, daß der Mars dem Mond glich und die Suche nach Leben auf dem Mars höchstwahrscheinlich überflüssig war.

Unterdessen nahmen die Kameras an Bord der Viking 1, während die Landung in der Chryse Planitia vorbereitet wurde. Bildreihe um Bildreihe in gestochen scharfer Qualität auf, die Hinweise auf einen geeigneten Landeplatz für VL-2, das Landemodul der Viking 2, liefern sollten. Die Welt hielt den Atem an. In wenigen Stunden würden wir mit der Erforschung einer neuen Welt beginnen. Zum ersten Mal würde ein Raumfahrzeug von der Erde auf einem anderen Planeten landen.

57


Ob es Leben finden würde oder nicht, über eines waren sich die Menschen einig: Alles, was wir über den Mars wußten, sprach dafür, daß dort, verglichen mit unserer eigenen Welt, extrem unwirtliche Bedingungen herrschten.

Über dem hell leuchtenden Mars löste sich am 20. Juli 1976 das Landemodul der Viking 1 mit einer Explosion von deren Orbiter und begann seinen Fall in die dünne Atmosphäre des roten Planeten. Flammend wie eine Sternschnuppe tauchte der kleinere, gewölbte Teil der Sonde in die Ionosphäre des Mars ein, wo er durch die atmosphärische Reibung gebremst wurde. Die kleine Landeeinheit VL-1, die sich immer noch im Inneren des Transportmoduls befand, war auf dem Weg zur Westseite der Chryse Planitia, der roten »Ebene aus Gold«, wo sich vor Äonen gigantische Wassermassen ergossen hatten. In der richtigen Höhe öffnete das Transportmodul seinen Fallschirm. Schließlich, 200 Meter über dem Boden, gab es die Landeeinheit VL-1 frei, welche ihre Bremsraketen zündete, um dann auf einem Feuerkissen sanft zur Marsoberfläche zu schweben. Es war die erstaunlichste Leistung seit der Landung auf dem Mond. Noch nie zuvor hatte die Technik so fern von unserem Heimatplaneten einen solchen Triumph gefeiert.

Da stand die Menschheit also nun nach einer Ewigkeit des Wartens (die Zeit, die die Evolution benötigt hatte, um uns zu dieser Leistung zu befähigen) an der Schwelle zur Erforschung eines anderen Planeten. Was nun? Was immer es sein mochte, es würde unweigerlich in die Geschichte eingehen, denn auf diesen Augenblick hatte die Menschheit seit Tausenden von Jahren mit gespannter Erwartung geblickt. Es war ein Augenblick, in dem die Kommandos: Ton läuft! Kamera läuft! Action! hätten kommen können. Allerdings waren, anders als in dem Moment, als mit Neil Armstrong der ersten Mensch seinen Fuß auf den Mond gesetzt hatte, keine Akteure an Bord, die das Drama hätten in Szene setzen können. Aber es gab Kameras, und hätte ein großer Schriftsteller wie Jules Verne die Geschichte aufgeschrieben, so hätte sich das Ergebnis vielleicht ungefähr folgendermaßen gelesen:

58


Pschhhhh... ein letzter Luftzug entwich zischend durch das Ventil auf der Vorderseite des stählernen Helms, bevor er die Flügelschraube zudrehte und seine Atmung damit vom Rest der Welt abschnitt, einer Welt, die er nun durch ein rundes, mit mehreren Stahlstreben verstärktes Fenster aus schwerem Isolierglas betrachtete. Von einer Druckluftdichtung an sein Gesicht gepreßt, war der Helm das einzige, was ihn bei seinem Vorhaben am Leben hielt. Als er das letzte Mal ausatmete, bevor er das Ventil schloß, hatten sich zwei lederne Blasen mit Luft gefüllt, die auf der Vorderseite des Helms herunterhingen wie zwei durch eine Lederschürze geschützte Lungenflügel.

Von dem Moment an, in dem sich das Ventil schloß, hörte die normale Atmung auf. Die Luft, die der Mann mit dem Helm atmete, zirkulierte durch eine Reihe schwerer Flaschen, die er in einem 20 Kilogramm wiegenden Rucksack auf dem Rücken trug. An seinem Boden befanden sich zwei große, mit Sauerstoff gefüllte Behälter. Darüber lagerten zwei kleinere Kartuschen, die Kohlendioxid absorbierende Kaliumhydratkristalle enthielten. Verbunden durch ein bizarr anmutendes Röhrenlabyrinth, sollte dieses System die von dem Mann ausgeatmete Luft entgiften und dem Kreislauf den Stickstoff wieder zuzuführen, der zeitweilig in den ledernen Lungen gespeichert wurde. Auf diese Weise würde es dem Menschen möglich sein, unter den lebensfeindlichen Bedingungen dieser fremden Welt zu existieren.

An den Rucksäcken aller Mannschaftsmitglieder, die in derselben Weise ausgerüstet waren wie er selbst, waren Uhren befestigt. Kurz vor dem Abstieg wurden die Uhren miteinander verglichen und synchron eingestellt. Sie sollten den Männern zeigen, wieviel Luft ihnen noch zum Atmen blieb, während sie das tödliche Terrain dort unten erforschten. Dann begannen sie den Abstieg.

Obwohl immer noch eine unangenehme Hitze herrschte, war die Temperatur seit dem Ausbruch des Feuers vor einigen Wochen doch erheblich gesunken. Es hatte sich in den kohlen-haltigen Adern entzündet, die den Boden durchzogen. Geblieben waren die giftigen Gase in den Stollen, die einen Menschen innerhalb weniger Sekunden umbringen konnten. Als die Männer nun also zurückkehrten, um die Leichen ihrer Kameraden zu bergen, die in den rauchgefüllten Katakomben den Tod gefunden hatten, mußten sie sich auf die lebensfeindlichen Bedingungen dort unten vorbereiten, als würden sie eine Reise zu einem fernen Planeten unternehmen.5

59


Moment mal... Das ist der falsche Film. Das ist nicht der alptraumhafte Bericht eines Möchtegern-Jules-Verne über die Reise zum Mars. Es ist der Tatsachenbericht eines Vorfalls, der sich auf der Erde ereignet hat. Die Männer mit den Helmen waren Bergleute, die am Anfang unseres Jahrhunderts in eine Kohlengrube hinunterstiegen. Die tödlichen Gase, die ihr Leben bedrohten, waren das farb-, geschmack- und geruchlose Kohlenmonoxid, das sich manchmal mit dem hochexplosiven Methan vermischt, das färb- und geschmacklose Gas, das die Bergleute um die Jahrhundertwende als tödliches »Kohlensäuregas« kannten, und das mörderische Gemisch aus beiden Gasen, das nach einem Grubenbrand zurückbleibt.

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts trugen Bergleute spezielle Lampen, die zu flackern begannen, wenn sie mit Methangas in Berührung kamen. Um die nichtexplosiven Gase Kohlenmonoxid und Kohlendioxid aufzuspüren, nahmen die Kumpel damals, als es dafür noch keine Meßinstrumente gab, einen Käfig mit einem Kanarienvogel mit in die Grube. Kanarienvögel, die einen sensibleren Organismus haben als Menschen, hörten auf zu singen, fielen von der Stange, schnappten nach Luft und verendeten wie der Vogel in Joseph Blacks Glas, sobald der Kohlensäuregehalt der Luft auch nur geringfügig anstieg. Wenn der Kanarienvogel verstummte, war dies ein Zeichen für die Bergleute, die Mine sofort zu verlassen — wenn ihnen dazu noch genügend Zeit blieb.

 

Christy Booker war aufgeregt wie ein kleiner Vogel, was nicht daran lag, daß ein Raumschiff zum Mars flog. Sie war auf dem Weg zur Vorschule. Während die Viking-Sonden durchs All jagten, freute sich Christy auf ihren ersten Schultag. Ihre Mutter hatte sie in ihrer neuen Schuluniform fotografiert. Diese Fotos zeigten ein ganz normales fünfjähriges Mädchen, was sie die meiste Zeit auch war.

60


Solange sie sich nicht überanstrengte oder mit einem der unzähligen Allergene in Kontakt kam, die bei ihr einen Asthma­anfall auslösten, ging es ihr blendend.

Als sie fünf Jahre alt war, begann einer ihrer beiden Ärzte, bei denen Christy regelmäßig in Behandlung war, mit einer Desensibilisierungstherapie. Sie fürchtete die Tage, an denen sie die Spritze bekam, und dachte mit Schrecken an die lange, spitze Nadel, die ihr wie ein Bild aus einem Horrorfilm erschien. Diese Spritzen waren schmerzhaft und machten ihr Angst. Dennoch mußte sie die Prozedur über sich ergehen lassen, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Wenn ihre Mutter sie zum Arzt brachte, fühlte sie sich wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Alles das hielt sie in der Hoffnung aus, ihr Asthma damit in Schach zu halten. Alle diese Qualen, um endlich frei atmen zu können.

Natürlich war jede Erkältung für Christy problematischer als für ein gesundes Kind. Ein Kind hat im Alter zwischen vier und 15 Jahren durchschnittlich sechs bis zehn Erkältungen pro Jahr. Das war auch bei Christy nicht anders, nur verbrachte sie einen guten Teil ihrer Kindheit zu Hause, um sich von diesen Erkältungen zu erholen. (Asthma ist in den Vereinigten Staaten unter den chronischen Erkrankungen die Hauptursache für Fehlzeiten in der Schule.6) Wenn sie eine Erkältung hatte, war das Atmen eine mühsame Angelegenheit für sie. Auf jeden Atemzug mußte sie sich angestrengt konzentrieren. Unter der Belastung einer Infektion litt ihr Atmungssystem derartig, daß die Gefahr eines Asthmaanfalls enorm anstieg, und selbst bei einer leichten Erkältung dauerte es bei ihr wesentlich länger als bei einem, gesunden Kind, bis alle Symptome abgeklungen waren. Nach Angaben der Amerikanischen Gesellschaft für Lungenkrankheiten verursachten Asthmaerkrankungen von Schulkindern 1994 einen Gesamtverlust von 673,2 Millionen Dollar durch die Arbeitszeit, die Eltern wegen der Pflege ihres erkrankten Kindes nicht leisten konnten.

Christy wurde im Laufe ihrer Kindheit etliche Male mit akuter Atemnot zu ihrem Kinderarzt gebracht. Heute werden solche Fälle in Krankenhäusern routinemäßig in der Notaufnahme behandelt. In den siebziger Jahren war es üblich, Kindern bei Asthma­anfällen das Hormon Adrenalin durch eine subkutane Injektion zu verabreichen.

61


Christys kleiner Körper reagierte umgehend auf dieses starke Aufputschmittel. Er verhielt sich, als wäre er einem physischen Angriff ausgesetzt. Christy spürte, wie ihr Herz raste und ihre Muskeln sich anspannten wie bei einem Marathonläufer vor dem Start. Auch psychisch war sie angespannt und nervös. Und zu alledem bekam sie kaum Luft. Unter dem Einfluß des starken Medikaments konnte sie nicht mehr stillsitzen. Sie rannte in dem kleinen Behandlungszimmer hin und her, bis sich ihr künstlich stimuliertes System von selbst soweit beruhigt hatte, daß der Arzt ihr ein Gegenmittel verabreichen konnte. Dadurch ließ zwar die entsetzliche Beklemmung nach, aber sie fühlte sich müde und ausgelaugt.

Christy war genau wie alle anderen Kinder in ihrer Vorschulklasse, nun konnten sich die anderen darauf verlassen, daß ihr Körper ganz automatisch den nächsten Atemzug tat. Für Christy bedeutete das nicht selten eine unmenschliche Anstrengung, und manchmal setzte es ihren Körper, ihre Eltern und ihren Arzt in helle Aufregung und erforderte eine medizinische Intervention, vor der selbst ein Erwachsener zurückschrecken würde.

 

Als der Jubel im Kontrollraum des Jet Propulsion Laboratory abgeklungen war, erschien die erste Aufnahme der Marsober­fläche auf den Bildschirmen; darauf war eine der Kufen des Landemoduls, sicher auf dem Marsboden ruhend, in einer gestochen scharfen Nahaufnahme zu sehen. Das Bodenpersonal im Kontrollzentrum hielt den Atem an, als die Kamera hoch­schwenkte und auf den großen Projektionswänden vor ihnen ein wunderschönes Panorama in Schwarzweiß zu sehen war. Die karge Schönheit der Szene verschlug den Betrachtern den Atem. Die erste scharfe Aufnahme der Marslandschaft zeigte eine von Felsbrocken übersäte Wüste, die bis zum Horizont reichte, und darüber einen klaren Himmel. Man wunderte sich, daß das Landemodul es geschafft hatte, in diesem Geröllfeld sicher zu landen.

Auf der Erde ging die Nachricht vom Erfolg der Marsmission um die Welt. Selbst im Kreml sah man das eine oder andere Lächeln and anerkennende Nicken. Die Staaten des Warschauer Pakts korrigierten angesichts der Tatsache, daß die Vereinigten Staaten der Sowjetunion in der Raumfahrt — wie bei der Mondlandung — wieder einmal einen Schritt voraus war, stillschweigend ihre Einschätzung der NATO.

62


Auch der nächste Tag, an dem die ersten Farbaufnahmen vom Mars zur Erde gefunkt wurden, begann für die Leute im Kontrollzentrum vielversprechend. Der Mars präsentierte sich den Beobachtern, die sich um die Monitore drängten, in Farben, die an eine Postkarte aus Arizona erinnerten: strahlender Sonnenschein, blauer Himmel mit Spuren vereinzelter Wolken, rotbraune Erde und graue Felsen. Die Wissenschaftler, Techniker und Medienvertreter waren fasziniert. Es sah aus wie zu Hause — zumindest mußte das jeder so empfinden, der schon einmal in den Wüstengebieten im Südwesten der Vereinigten Staaten gewesen war. Wer hätte geahnt, daß unser erster Eindruck von einer fremden Welt so irdisch sein würde? Die Fahne der Vereinigten Staaten prangte auf einer Kuppel des Landemoduls. Nie zuvor hatten ihre Farben so geleuchtet wie an diesem Tag unter dem Himmel des Mars. Zum ersten Mal erblickten die Menschen den Himmel eines fremden Planeten — und dieser Himmel war beruhigend blau.

 

Unter den Feiernden im Kontrollzentrum des Jet Propulsion Laboratory war ein staunender Abiturient namens Ron Levin. Über zwei Stunden lang sah sich Ron zusammen mit den anderen die farbigen Bilder an, die das Landemodul zur Bodenstation sendete. Ron war der Sohn des Wissenschaftlers Gilbert Levin, der für eines der biologischen Experimente in der Landeeinheit zuständig war, und er war zutiefst beeindruckt. Wie alle anderen sah Ron auf den ersten Farbaufnahmen den »blauen Himmel« des Mars. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen glaubte er auf einigen der Felsen auch grünliche Flecken zu erkennen. Noch während er die Aufnahmen näher betrachtete, änderte einer der Bildtechniker die Farbeinstellung aller Monitore im Raum, indem er den Rotanteil erhöhte. Dadurch verlor der Himmel sein Blau, und die Farbe der Felsen verwandelte sich von einem erdigen Rotbraun in ein sehr außerirdisches dunkles Rostrot. Als Ron versuchte, an seinem Monitor die ursprüngliche Einstellung wieder herzustellen, drohte man ihm an, ihn hinauszuwerfen.

63


Bis zum heutigen Tage ist es dem mittlerweile promovierten Physiker Ron Levin unverständlich, warum die Farbeinstellung der Monitore geändert wurde. Seiner Ansicht nach gab es dafür keinen plausiblen Grund.7 Er nimmt an, daß die Wissenschaftler die grünlichen Flecken auf den Felsen ebenfalls bemerkt hatten und befürchteten, die Öffentlichkeit könnte daraus auf die Existenz einer primitiven pflanzlichen Lebensform schließen. Seit dieser Zeit war aus dem blauen Himmel des Mars ein roter geworden.8,9

Während die Bildspezialisten des Forschungszentrums an den Marsfarben herumbastelten, versuchte das VL-1 eine Antwort auf die Frage zu finden, die uns alle beschäftigte — gibt es Leben auf dem Mars? Ein Roboterarm nahm eine Bodenprobe und verstaute sie in einem Behälter der Landeeinheit. Bald würde die Welt wissen, ob es auf dem Mars Leben gab — und sei es auch nur in Form von Sporen.

Die Tests waren sehr komplex und so ausgeklügelt, daß das gesamte Spektrum möglicher biologischer Aktivität auf dem Mars- damit erforscht werden konnte. Bei zwei der Experimente wurden mit radioaktivem C-14 markierte Nährstoffe verwendet, mit denen nachgewiesen werden konnte, ob sich im Marsboden Substanzen befanden, die über einen Metabolismus verfügten; denn bei der Verarbeitung der Nährstoffe oder Gase würden diese feste oder gasförmige Ausscheidungsprodukte produzieren, die sich wiederum durch das C-14 nachweisen ließen. Mit dem dritten Experiment sollte ebenfalls nach ausgeschiedenen Gasen gesucht werden, allerdings ohne die Hilfe radioaktiver Markierung. Aber es war ja schließlich eine »Tatsache«, daß der Mars tot und das ganze Experiment ohnehin »vergebene Liebesmühe« war.

Leider verhielt sich der Mars nicht wie geplant. Sein Boden setzte beim Kontakt mit Wasser Sauerstoff frei. Wie in »Robinson Crusoe on Mars«, einem Science-fiction-Film aus den sechziger Jahren, in dem ein schiffbrüchiger Astronaut sein Leben retten kann, weil er im Marsboden Sauerstoff entdeckt, war der in der Chryse-Ebene getestete Boden reich an Sauerstoff und chemisch sehr aktiv, was die Biologen in Panik versetzte. Es bedeutete, daß sich die Interpretation der biologischen Experimente als äußerst schwierig gestalten würde, denn was dabei auch gesucht wurde, fand sich sofort: chemische Aktivität.

64


Es bedeutete außerdem, daß die positiven Ergebnisse der biologischen Experimente zwiespältig waren: ein Alptraum für alle beteiligten Wissenschaftler. Fast augenblicklich setzte eine öffentliche Diskussion unter Wissenschaftlern ein, wie die Ergebnisse der Tests zu interpretieren seien.

Während die Experimente in der Chryse-Ebene ihren Lauf nahmen und auf der Erde der Streit über deren Ergebnisse entbrannte, umkreiste der Orbiter der Viking 1 den Mars und machte auf der Suche nach einem geeigneten Landeplatz für die Viking 2 ständig neue Aufnahmen. Fünf Tage nach der Landung der VL-1 schloß der Orbiter seine Suche ab. Ohne einmal mit der mechanischen Wimper zu zucken, hatten ihre Kameras die Marsoberfläche systematisch abgesucht und die Daten digital gespeichert. Dabei entstand eine sehr seltsame Aufnahme.

Das Foto wurde von Tobias Owen entdeckt, als er auf der Suche nach einem geeigneten Landeplatz die Marslandschaft mit einer Lupe absuchte. Auf Bild 35A72, der 72. Aufnahme der 35. Marsumrundung der Viking 1, entdeckte er etwas, das einem menschlichen »Gesicht« ähnelte. Es sah aus, als wäre es aus einem Plateau herausgemeißelt, und es hatte einen Durchmesser von mehr als einem Kilometer. Er zeigte die Aufnahme Harold Masursky, einem der wissenschaftlichen Leiter der Mission, der sie auf der täglichen Pressekonferenz vorstellte. Das Bild schlug ein wie eine Bombe.

Die Entdeckung des mysteriösen »Gesichts« platzte genau in den Streit über die Interpretation der Testergebnisse. Die Wissenschaftler fühlten sich durch die öffentliche Diskussion über ein mögliches »Leben auf dem Mars« in ihrer eigentlichen Mission, der Bestätigung lunarer Verhältnisse auf dem Mars, gestört. Also mußte sie schnellstens beendet werden. Daher wurde der Presse mitgeteilt, Viking 1 habe einige Stunden nach der ersten Aufnahme eine zweite gemacht, auf der das Gesicht nicht mehr zu sehen sei. Man sei einer optischen Täuschung aufgesessen, die auf das Zusammenspiel von »Licht und Schatten« zurückzuführen sei. Die Aufnahme 35A72 war bei Sonnenuntergang entstanden, so daß auf einer zu einem späteren Zeitpunkt gemachten Aufnahme ohnehin nur noch Dunkelheit zu sehen sein konnte.10 Aber das wußte im Pressezentrum natürlich kein Mensch, und so stellte man die Verlautbarung nicht in Frage. Obwohl diese Fehldarstellung noch jahrzehntelang Anlaß für Verschwörungstheorien sein würde, war das Problem damit erst einmal vom Tisch.

65


Im Pressezentrum rückten die Ergebnisse der Lebenssuche auf dem Mars wieder in der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Es entstand eine angespannte Situation, als sich unter den an der Mission beteiligten Wissenschaftlern zwei Fraktionen bildeten. Wenn man die Maßstäbe anlegte, die vor der Marsmission festgelegt worden waren, dann lieferten zwei der drei Tests positive Resultate, und damit war eigentlich ein eindeutiges Urteil gefällt. Im Führungsausschuß der Marsmission waren Gilbert Levin, der einen der beiden zu positiven Ergebnissen führenden Tests entwickelt hatte, sowie sein Kollege Robert Jastrow der Meinung, daß man Leben entdeckt hatte. Diese Sicht empfanden die Anhänger der lunaren Marstheorie vermutlich als so bedrohlich, daß sie alles daran setzten, das Ruder wieder an sich zu reißen.

Um das Problem zu lösen, wurde ein neues Instrument zum Nachweis organischen Lebens zu Rate gezogen, nämlich der Gas-Chromatograph. Er suchte nicht nach lebenden Organismen, sondern nach den dafür erforderlichen organischen Chemikalien. Die Untersuchungen mit diesem Gerät zeigten eindeutig, daß der Marsboden steril war, steriler als der Boden des Mondes, in dem organische Materie aus den Meteoriten gefunden werden kann, die dort seit Äonen einschlagen. Darüber hinaus ergaben die Tests mit dem Gas-Chromatographen, daß im Marsboden ein dem Wasserstoffperoxid ähnlicher Stoff vorhanden war. Der Marsboden war nicht nur frei von jeglicher organischer Materie, sondern dieser gegenüber offensichtlich so abweisend, daß er sie, hätte sie sich ansiedeln wollen, sogar chemisch angegriffen hätte wie Bleiche. Damit war das Problem gelöst. Der Boden war vollkommen steril. Er konnte kein Leben enthalten.

Daß der Gas-Chromatograph (wie bei einem ähnlichen Test mit einer Bodenprobe aus der Antarktis geschehen) ohne weiteres ein paar widerstandsfähige Bakterien übersehen konnte, die in den anderen Experimenten zu positiven Ergebnissen geführt hätten, kehrte man unter den Tisch.11  Der Befund, daß es auf dem Mars kein Leben geben könne, wurde von vielen der am Viking-Projekt beteiligten Wissenschaftler mit großer Erleichterung aufgenommen.

66


Der Gas-Chromatograph glich den Punktestand wieder aus. Das Fehlen jeglichen Lebens schien plausibel erklärt, und damit war das Kapitel abgeschlossen: Der Mars war wie der Mond, genau wie es die meisten Wissenschaftler erwartet hatten.

Am 2. August 1976 trat Viking 2 in die Marsumlaufbahn ein. Nun galt es nur noch, einen Landeplatz für die VL-2-Einheit zu finden, der eine maximale Ausbeute an wissenschaftlichen Daten versprach. Der Landeplatz in der Chryse-Ebene war gut, aber ein großer Felsblock ganz in der Nähe, den man Big Joe getauft hatte, hatte den Beobachtern auf der Erde Sorgen gemacht. Wenn sich ein solcher Felsen bei der Landung unmittelbar unter der Landeeinheit befand, konnte er sie beim Aufsetzen zerstören. Mit Hilfe von Radarmessungen fand man schließlich einen geeigneten Ort, der frei von Felsen zu sein schien. Obwohl sich der Landeplatz mitten in einem Trümmerfeld in der Nähe des Kraters Mie befand, ergaben die Radarmessungen, daß der Ort von einer mehr als zehn Meter dicken Sandschicht bedeckt war. Die endgültige Entscheidung für den Landeplatz in der Umgebung des Kraters Mie in der Ebene Utopia Planitia wurde getroffen.

Die langersehnte Landung war ein Erfolg. Als die Kameras des Landers ihre Umgebung jedoch in Augenschein nahmen, verwandelte sich die ausgelassene Fröhlichkeit im Kontrollzentrum in ungläubiges Staunen. Dem Landemodul war es auf wundersame Weise gelungen, sicher in einem Geröllfeld zu landen, das sich in alle Richtungen erstreckte, soweit das Auge reichte. Später fand man heraus, daß die Radarmessungen, aufgrund derer der Landeplatz in der Utopia Planitia gewählt worden war, aus den Tiefen des Alls stammten. Die Radarantenne hatte sich verklemmt und war zum Zeitpunkt der Messung längst nicht mehr auf den Mars gerichtet. Und so verhielt es sich mit der Utopia Planitia wie mit den meisten Utopien — sie sahen nur aus der Entfernung gut aus.

Während die Monate verstrichen, machten die beiden Landemodule Aufnahmen vom Sonnenauf- und Sonnenuntergang auf dem Mars, von Staubstürmen und vom Morgenfrost. Sie nahmen sogar Bilder von einer durch den Marsmond Phobos verursachten totalen Sonnenfinsternis auf. Währenddessen ging das Leben auf der Erde wieder seinen gewohnten Gang. Miß Universum 1976 beendete ihre Regentschaft.

67


 Die Vorstellung, daß der »Mars dem Mond glich«, war gesichert und somit auch das Selbstwertgefühl der Menschheit. Die zweifelhaften Details der biologischen Experimente auf dem Mars, die ungeklärte Frage des blauen Himmels und alle anderen Ungereimtheiten traten in den Hintergrund neben dem beruhigenden Gefühl, es geschafft zu haben — nur Gilbert Levin war mehr denn je überzeugt davon, daß die positiven Ergebnisse des von ihm entwickelten Experiments genau das bedeuteten, was sie auszusagen schienen.

Die Viking-Landemodule arbeiteten mehrere Jahre lang, bevor die Verbindung abriß. Alles in allem war die Mission ein spektakulärer Erfolg. Es war den Menschen gelungen, eine Forschungseinheit auf den Mars zu schicken, sie hatten große Fragen gestellt und Antworten bekommen. Der Erfolg der Viking-Expedition bestätigte einmal mehr die Leistungsfähigkeit des Jet Proplusion Laboratory, und die Verantwortlichen in der Regierung der Vereinigten Staaten waren zufrieden, daß sich die enorme Investition ausgezahlt hatte.

Aber die Wissenschaftler an der Spitze des Viking-Teams lenkten von Anfang an die Interpretation des gesammelten Datenmaterials in die von ihnen gewünschte Richtung: Dieser Interpretation zufolge glich der Mars seit Anbeginn seiner Existenz dem Mond und nicht der Erde. Es gab kein Leben auf dem Mars und hatte es wahrscheinlich dort auch nie gegeben. Man hatte diese Frage zu den Akten gelegt und auf diese Weise ein drohendes Gespenst verjagt: das Gespenst der Mikroben auf dem Mars und der Bedrohung, die sie für das Selbstverständnis der Menschen bedeuteten. 

Die Viking-Sonden lieferten eine derartige Datenflut, daß Jahrzehnte vergingen, bis man sich einen vollständigen Überblick verschafft hatte. Und mit der Zeit begannen diese Daten eine andere Geschichte zu erzählen als das, was die anfängliche Interpretation suggeriert hatte. Mit der Zeit kamen die Ungereimtheiten zum Vorschein. Das Bild des seit jeher toten Mars begann zu wanken.

Der Mars war nicht der einzige Ort, an dem wichtige planetare Daten gesammelt wurden. Zu dem Zeitpunkt, als die Viking-Sonden 1975 starteten, wurden auf der Erde schon seit über zwei Jahrzehnten Untersuchungen zur Luftbeschaffenheit angestellt.

68


Eine der wichtigsten Beobachtungsstationen befand sich auf einer Insel mitten im pazifischen Ozean auf dem Gipfel eines Vulkans. Den Standort für das Mauna Loa Observatorium auf Hawaii hatte man wegen seiner geographischen Lage ausgewählt. Es liegt mehr als 3200 Kilometer von der nächsten größeren Landmasse entfernt in einer Höhe von 4100 Metern über dem Meeresspiegel.

Das erste Gebäude, das die für Klimaforschungen zuständige US-Behörde der Vereinigten Staaten auf Mauna Loa errichtete, war eine zweieinhalb mal drei Meter kleine Hütte, die ursprünglich nur als Wetterstation dienen sollte.12 Um den Gipfel zu erreichen, mußte man über eine Schotterpiste bis auf 3100 Meter Höhe fahren. Von dort aus ging es über eine immer steiler werdende, von Geröll übersäte Strecke nur mit dem Geländewagen weiter. Manchmal machten schlechte Witterungsverhältnisse und gelegentliche Schneefälle den Weg zum Gipfel noch gefährlicher.

Die Seeluft, die Hawaii mit den nordöstlichen Winden erreicht, ist für gewöhnlich seit Wochen keinen Einflüssen vom Land ausgesetzt. Aus diesem Grund ist die Luft, die man auf dem Mauna Loa untersucht, so rein, wie man sie auf der Erde sonst nirgends finden kann. Luftproben werden an mehreren Stellen in der Nähe des Gipfels genommen und regelmäßig analysiert. Man trifft alle erdenklichen Vorkehrungen, um die Luftmessungen vor einer möglichen Manipulation zu schützen. Die Meßstationen sind umzäunt, und die Zuleitungen zu den empfindlichen Meßinstrumenten werden ständig gereinigt. Alle diese Anstrengungen unternimmt man, um die Zuverlässigkeit des »Richtwertes« zu garantieren, der von der Klimastation auf dem Mauna Loa bestimmt wird. Die Messungen dort geben den Standard vor, an dem sich alle anderen Luftmessungen orientieren. Aus diesem Grund bemüht man sich besonders, alle Veränderungen der Umweltbedingungen zu vermeiden, welche die Qualität der Messungen dort beeinflussen könnten.

Es gab nur ein Problem mit dieser theoretischen Reinheit. Wann immer sich ein Fahrzeug mit einem neuen Team oder frischen Vorräten den Berg hinaufquälte, reagierten die Meßgeräte mit einem schlagartigen Anstieg sämtlicher Kurven auf das Kohlen­dioxid und andere Schmutzpartikel.13

69


An den windigen Hängen dieses abgelegenen Vulkans reichten also die Abgase eines einzigen Fahrzeugs aus, um die Zusammen­setzung der »globalen« Luft, die man hier maß, zu verändern.

»Es ist lebensnotwendig für uns, die Natur dort oben so sauber wie möglich zu erhalten«, erklärte Dr. Pueschel, der Leiter der Klimastation Mauna Loa, vor Pressevertretern anläßlich der Lieferung eines neuen, mit Flüssiggas betriebenen Fahrzeugs. Dieses Fahrzeug sollte helfen, eine weitere Verfälschung der Meßdaten zu verhindern.14  Tatsächlich gelang es auf diese Weise, den Ausstoß an Schmutzpartikeln, Kohlenwasserstoffen und Kohlen­monoxid erheblich zu verringern.

Was aber hatte Dr. Pueschel gemeint, als er das Wort »lebensnotwendig« benutzte? Sprach er da von der Notwendigkeit, die Luft rein zu halten, damit der Fortbestand der Luftmeßstation und die weitere Finanzierung der Forschungsarbeiten auf dem Mauna Loa gesichert waren? Oder meinte er, es sei notwendig, die Reinheit unserer Atmosphäre zu erhalten, um das Überleben der Menschheit zu sichern? Der Reporter hielt sich an die erste Interpretation. Jetzt, da wir mehr wissen, scheint uns dies nicht mehr so offensichtlich.

Ausgestattet mit den nötigen finanziellen Mitteln, konnten die Wissenschaftler auf dem Mauna Loa nachweisen, daß von den ersten Messungen im Jahr 1955 bis heute der Kohlendioxidgehalt der Luft jährlich um 0,5 bis 2 Partikel pro Million zugenommen hat. Die Kurve steigt von Jahr zu Jahr weiter an.15 Gleichgültig, ob Fahrzeuge den Berg hinauffahren oder nicht — Jahr für Jahr steigt der Kohlendioxidgehalt der Luft weltweit ein wenig. Der Zuwachs, der allein 1998 gemessen wurde, war so hoch wie noch nie zuvor.

Später, als immer häufiger Fahrzeuge den Berg hinauffuhren und die Reinheit der Luft darum ohnehin nicht mehr wie bisher gewährleistet war, schaffte das Observatorium das propangasbetriebene Fahrzeug wieder ab. Obwohl flüssiges Propangas 1972 nicht überall erhältlich und verglichen mit Benzin relativ teuer war und die Umrüstung eines einzigen Fahrzeugs etwa 600 Dollar kostete, vertrat Dr. Pueschel den Standpunkt, daß sich die Investition im Grunde auch für private Autobesitzer gelohnt hätte. Denn Dr. Pueschel wußte aus eigener Anschauung, was außer ihm kaum jemandem bewußt war — in welchem Maße ein einziges Auto die Qualität der Luft verändern konnte.

70/71

Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie stark ein einziges Auto die Messungen beeinflußte. »Eines Tages müssen wir dafür bezahlen, und es wird nicht billig«, prophezeite Dr. Pueschel, der über 20 Jahre hinweg den ständigen Anstieg des Kohlendioxidgehalts in der Luft mitverfolgt hatte. Konnte seine Warnung noch deutlicher sein? »Wir betrachten die Luft als ein Allgemeingut, das uns selbstverständlich und gratis zur Verfügung steht, aber eines Tages wird sie nicht mehr da sein.«16 Diese weisen Worte machen deutlich, was er wirklich meinte, als er dem Zeitungsreporter sagte: »Es ist lebensnotwendig für uns, die Natur dort oben so sauber wie möglich zu erhalten.«

 

Nach und nach und in zunehmendem Maße verändern wir die Atmosphäre der Erde. Sind wir dabei, unsere atembare Luft in ein tödliches Gas zu verwandeln, wie es die Atmosphäre des Mars enthält? Dem Chemiker Joseph Black, der als erster ein atmosphärisches Gas isolierte, wäre die Atmosphäre des Mars sehr vertraut vorgekommen. Auch Joseph Priestley hätte sie wiedererkannt. Ebenso wie die Bergleute zu Anfang des Jahrhunderts und ihr sterbender Kanarienvogel am Boden des Käfigs, denn die Atmosphäre des Mars besteht aus fester Luft, aus »Kohlensäuregas«. Die Substanz, aus der die Atmosphäre des Mars besteht, hat viele Namen, die sich auf ihren giftigen Charakter beziehen.

Und während wir sie heute als »Kohlendioxid« bezeichnen (in dem wir ein harmloses Produkt unserer Atmung beziehungsweise die prickelnden Bläschen in der Limonade sehen),17 wurde sie in der Vergangenheit beileibe nicht immer als harmloses Gas betrachtet. Und wir sollten diesen Fehler auch in der Zukunft nicht begehen, sondern uns bewußt machen, daß diese Substanz eine unsichtbare und gefährliche Seite hat. Solange die Instrumente in einer einsamen Meßstation auf dem Gipfel eines erloschenen Vulkans auf Hawaii eine stetig ansteigende Linie aufzeichnen, welche die Jahr für Jahr bedrohlich zunehmende Menge an Kohlendioxid in unserer Atmosphäre dokumentiert, müssen wir uns das vor Augen halten.

Dies ist keine Spekulation. Es ist eine wissenschaftlich gesicherte Tatsache, die auf zahlreichen Studien namhafter Experten basiert.18,19,20,21 Die überwältigende Mehrheit der Wissenschaftler ist sich einig: Die Atmosphäre der Erde enthält mittlerweile viel zuviel tödliches Kohlendioxid. Es erwärmt unseren Planeten in einem Maße, daß unser Leben bedroht ist. Wir müssen schnell und effektiv handeln, um dieser lebensbedrohlichen Gefahr zu begegnen. Wir mögen unsere Spezies für noch so erfolgreich und intelligent halten — dieser Verantwortung können wir uns ebensowenig entziehen wie der Notwendigkeit zu atmen.

71-72

 #

 

www.detopia.de    ^^^^