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3.  Ein ganz neues Universum  

Brandenburg-1999

 

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Es dauerte Wochen, bis das Geschenk als Sondersendung eintraf, und hätte Robert Kochs Frau gewußt, wieviel Zeit ihr Mann vor dem seltsamen Gerät verbringen würde, dann hätte sie ihre Ersparnisse wahrscheinlich für etwas anderes ausgegeben. Was nicht heißt, daß Emmy Adolphine Josephine Koch ihrem Mann zu seinem 28. Geburtstag das falsche Geschenk gemacht hätte. 

Das heißbegehrte Hartnack-Mikroskop, das er am 11. Dezember 1871 auspackte, kam nicht einen Moment zu früh an, denn am darauffolgenden Morgen gab es, wie vorhergesagt, eine Sonnenfinsternis, und eine Sonnenfinsternis bedeutet nach Auffassung der Astrologen stets eine einschneidende Veränderung im Leben. Als die Sonne — und mit ihr das Licht — zurückkehrte, saß der Physiker Robert Koch über sein nagelneues Mikroskop gebeugt und starrte durch die Linse auf ein paar winzige zappelnde Tierchen. 

Kurze Zeit später gab es in dem kleinen Haus, das die Eheleute mit ihrer vier Jahre alten Tochter Gertrude zur Miete bewohnten, ein provisorisches Laboratorium. Obwohl das Haus nur vier Räume und ein kleines Arbeits­zimmer hatte, in dem sich Bücher und Zeitschriften stapelten, war es hell, und durch das große Erkerfenster im Speisezimmer hatte man nach drei Seiten hin einen herrlichen Blick über die Stadt Wollstein (heute Wolsztyn in der polnischen Provinz Posen).   wikipedia  Robert_Koch  (1843-1910)

Gertrude beschrieb das Labor ihres Vaters folgendermaßen:

»Meine Mutter teilte das große Zimmer mit einem braunen Vorhang in zwei Hälften. Den hinteren, kleineren Teil des Raums richtete sich mein Vater als Arbeitszimmer ein. Es war sein erstes Labor, und er konnte dort mehr oder weniger ungestört arbeiten. Am Fenster hatte er seine Ausrüstung für die Mikrofotografie, und er ließ einen Zimmermann kommen, der ihm die benötigte Dunkelkammer baute. Sie sah aus wie ein großer Schrank, vor dem ein schwarzer Vorhang hing. Neben der Dunkelkammer befand sich ein Inkubator. Auf der gegenüber­liegenden Seite stand ein kleiner Tisch, der völlig überladen war mit fotografischem Zubehör, einem Mikroskop und etlichen verschlossenen Glasbehältern. In jedem dieser Behälter befand sich eine weiße Maus, die er für verschiedene Experimente brauchte.«1

Emmy, die sich von Zeit zu Zeit als Laborassistentin ihres Mannes betätigte, hatte eine Engelsgeduld. Nicht nur verzichtete sie für das Labor ihres Mannes auf mehr Wohnraum im Haus, sie fand sich auch mit den ätzenden Chemikalien in der Dunkelkammer ab und teilte ihr Heim mit einer Schar weißer Mäuse und wer weiß wie vielen Millionen winziger zappelnder Lebewesen (unter ihnen so unangenehme Zeitgenossen wie der Bacillus anthracis), die nur unter der Linse des neuen Mikroskops sichtbar wurden.

 

Während die Vorstellung, mit dem Milzbranderreger unter einem Dach zu leben, heute sicher bei jedermann blankes Entsetzen auslöst, war im Jahr 1870 die Möglichkeit einer Ansteckung, noch dazu durch unsichtbare Erreger, nicht nur eine unbewiesene Spekulation, sie erschien den Menschen geradezu absurd. Der Gedanke, daß man sich durch ein winziges, buchstäblich unsichtbares Tierchen» mit einer tödlichen Krankheit infizieren konnte, muß den Menschen der damaligen Zeit wie ein haarsträubendes Lügenmärchen vorgekommen sein, mit dem man höchstens geistig Umnachtete hinters Licht hätte führen können. Während wir also im nachhinein die edle Motivation ihres Mannes sehr gut nachvollziehen können, wird es Emmy nicht leichtgefallen sein, ihre Freunde und Verwandten davon zu überzeugen, daß sich ihr Mann die vielen Nächte, die er über das Mikroskop gebeugt verbrachte, keineswegs sinnlos um die Ohren schlug.

Während Robert Koch damit beschäftigt war, den Beweis zu erbringen, daß diese winzigen Tierchen tatsächlich Krankheiten übertragen konnten (was ihm als erstem gelang), führte Emmy den Haushalt, assistierte ihrem Mann und hatte alle Hände voll zu tun, um ihre Familie über Wasser zu halten.

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Denn bis der junge Bakteriologe nachweisen konnte, daß die kleinen Kreaturen (Mikroben) Krankheiten verursachten — wofür er viele Jahre benötigte —, mußte er seine gesamte Forschung selbst finanzieren. Mikroben jagte er aus persönlicher Begeisterung für die Sache in seiner Freizeit, und es dauerte neun Jahre, bis seine Pionierarbeit endlich von Erfolg gekrönt wurde und er in das Kaiserliche Gesundheitsamt in Berlin berufen wurde. Dieser Posten brachte ihm ein gut ausgestattetes Laboratorium und zwei Assistenten ein.2

 

Im Laufe seiner außergewöhnlichen beruflichen Laufbahn unternahm Robert Koch Expeditionen in viele Länder der Erde, um die Mikroben aufzuspüren, die bei den Menschen Krankheiten wie Tuberkulose und Cholera auslösten. Oft fand er auch geeignete Methoden zur Heilung oder Vorbeugung. Ein ums andere Mal ging er von Berlin aus auf die Reise: nach Alexandria, wo er auf Bitten der ägyptischen Regierung hin half, eine Choleraepidemie einzudämmen; nach Kalkutta in Indien, wo es ihm gelang, den Erreger dieser Krankheit zu isolieren und verunreinigtes Wasser als dessen Ursprung zu identifizieren; nach Afrika, wo er die Ursache einer Rinderseuche erforschte, und ein zweites Mal nach Afrika, um ein Mittel gegen die Schlafkrankheit zu finden — um nur einige seiner Leistungen zu nennen. 1905 wurde Robert Koch, einen Tag nach seinem 62. Geburtstag, für seine heraus­ragenden Dienste an der Menschheit mit dem Friedens­nobelpreis ausgezeichnet.

Während seiner Arbeit für das renommierte Kaiserliche Gesundheitsamt machte Robert Koch die Bekannt­schaft eines lästigen Phänomens, das mit der Finanzierung seiner Arbeit durch den Kaiser unweigerlich verbunden war: Sein Labor wurde in regelmäßigen Abständen von Revisoren heimgesucht. Bei einer solchen Gelegenheit konnte der leitende Buchprüfer wohlwollend feststellen, daß die kaiserlichen Gelder zur Zufriedenheit verwendet wurden. Im Labor wurde hart gearbeitet. Die einen waren damit beschäftigt, tote Tiere zu sezieren, andere fütterten die lebenden. Wieder andere verabreichten Medikamente oder waren über Mikroskope und Petrischalen gebeugt.

Nur ein Mann wanderte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, untätig im Korridor auf und ab. Der Revisor wunderte sich darüber und fragte seinen Begleiter: »Was in Gottes Namen treibt dieser Mann? Müßte er nicht arbeiten wie alle anderen?« - »Dr. Koch?« gab sein Begleiter zurück. »Der erledigt die wichtigste Arbeit hier. Er denkt!«3

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Obwohl das Denken zu den wichtigsten Tätigkeiten eines Wissenschaftlers zählt (was immer ein eifriger Revisor davon halten mag), würde sicher jeder Wissenschaftler bestätigen, daß es zuweilen seine Existenz gefährden und ihn auf steinige Wege führen kann. Es ist wie ein Virus. Haben sich bestimmte Gedanken erst einmal eingeschlichen, ist man infiziert. Robert Koch finanzierte neun Jahre lang seine Forschungs­arbeit selbst und errang letztlich einen triumphalen Sieg, aber für manche dauert der Kampf länger, der Erfolg ist weniger gewiß und das wissenschaftliche Streben setzt wahres Heldentum voraus, weil es an politischen und gesellschaftlichen Tabus rührt. (Man denke nur an Galilei.) Mit dem Denken begannt also der Ärger, und doch folgen manche unbeirrbar ihren Ideen, ganz gleich, wohin sie auch führen mögen. Vincent DiPietro könnte ein Lied davon singen. Er hat immerhin das Glück, daß im späten zwanzigsten Jahrhundert kein Wissenschaftler mehr wegen seiner ketzerischen Gedanken gefoltert wird.

Vielleicht steckte er sich bei seinem Kollegen im Goddard Raumfahrtzentrum mit dem Gedankenvirus an. Vince, wie ihn seine Freunde nannten, ein Ingenieur italienischer Herkunft und Spezialist für Satelliten­kommunikation im Forschungszentrum der NASA, stand an einem trüben Dezembermorgen im Jahr 1979 in der Werkstatt und führte Routinetests mit einer neu entwickelten Platine durch, als sein Kollege Ben zu ihm trat, mit dem er sich oft über Gott und die Welt zu unterhalten pflegte. Aber der sonst so ruhige Ben war an diesem Tag völlig aufgedreht. Er schien über irgend etwas schier aus dem Häuschen zu sein.

Ben sprudelte seine Geschichte so aufgeregt heraus, daß selbst Vince (der ein so abenteuerliches Märchen normalerweise mit einem Schulterzucken abgetan hätte) nicht umhin konnte, sie bis zum Ende anzuhören. Schweigend, wenn auch ein wenig ungläubig, hörte er zu, während Ben wild gestikulierend erzählte und dann eine kleine Skizze auf einen Schmierzettel kritzelte, um Vince zu verdeutlichen, was er gesehen hatte. »Es ist ein Gesicht, ein riesiges Gesicht!« behauptete er. »Auf der Oberfläche des Mars. Das ist kein Witz!«

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Vince wollte dem Kollegen zwar gern glauben, aber er fand die Geschichte einfach zu absurd. Ben bemerkte das wohl. »Geh und sieh es dir selbst an, wenn du mir nicht glaubst«, schlug er vor. Aber Vince war klar, daß er sich bei den Kollegen zum Gespött machen würde, wenn er das tat. Deshalb beließ er es dabei, seinem Freund zuzuhören.

Die Vorsehung wollte es jedoch anders: Als er einige Wochen später in einem Kaufhaus auf seine Frau wartete, die Kleider anprobierte, blätterte er in der Bücherabteilung in ein paar Zeitschriften herum. Dabei stieß er zufällig auf ein Titelblatt, das »Bilder vom Mars« versprach, und als er den Artikel aufschlug, sprang ihm sofort ein einzelnes Foto ins Auge. Er sah ein »Gesicht«. Wie gebannt starrte er auf die Schwarzweißaufnahme eines Gesichts mit ernsten menschlichen Zügen, das sich von der Marsoberfläche abhob. War es das, wovon Ben gesprochen hatte?

Vince sagte sich, daß dieses »Gesicht« ohne weiteres in die Aufnahme, die tatsächlich eine Marsebene zeigte, hineinmontiert worden sein konnte. Eine interessante Fotomontage, dachte er. Er betrachtete die anderen Bilder in dem Artikel. Sie sahen aus wie die Standardaufnahmen, die mit den Kameras der Viking-Sonden gemacht worden waren, aber in den Bildunterschriften wimmelte es von Fehlern und Ungenauigkeiten, die ihm nicht entgingen. Er schloß daraus, daß hier entweder ein übereifriger, schlecht informierter Schreiber am Werk gewesen war oder einer, der sich eine Geschichte aus den Fingern gesogen hatte. Er legte die Zeitschrift zurück und machte sich auf die Suche nach seiner Frau. Ihm war dabei nicht bewußt, daß das Mem, der »Gedankenvirus«, mit dem Ben ihn infiziert hatte, bereits zu wirken begann.4 Er hatte sich eingenistet. Vince dachte. Und es waren die Gedanken eines neugierigen Technologen des Raumfahrtzeitalters.

In gewisser Weise repräsentieren unsere modernen Einkaufszentren, wie sie in den letzten 25 Jahren in Asien, Europa, Nordamerika und anderswo entstanden sind, die Technologie des Raumfahrtzeitalters. Sie gleichen den Bauwerken in Science-fiction-Welten. In großen, imposanten Komplexen mit Glaskuppeln und -wänden. Marmorböden und Geländern aus glänzendem Edelstahl müssen die Menschen nur auf einen Knopf drücken, um elegant in gläsernen Fahrstuhlkabinen durch baumbewachsene Atrien zu schweben und auf lautlosen Rolltreppen elegant hinauf und hinunter zu gleiten.

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Diese Einkaufszentren sind klimatisiert, so daß darin immer Idealtemperaturen herrschen. An eiskalten Wintertagen, wie im heißesten Sommer kann man sich dort behaglich aufhalten, ohne zu frieren oder in Schweiß auszubrechen. Die Wunder des Raumfahrtzeitalters begegnen dem Besucher auf Schritt und Tritt: Türen, die sich automatisch öffnen, wenn sich jemand nähert, Hähne, aus denen wohltemperiertes Wasser fließt, sobald man die Hände darunter hält.

Die Vielfalt der Waren, die in den Geschäften eines Einkaufszentrums angeboten werden, ist so überwältigend, daß es einem Besucher aus dem vorigen Jahrhundert vermutlich den Verstand geraubt hätte; Farben, Formen und Funktionen, die Zeugnis ablegen vom Fortschritt der letzten 100 Jahre. Selbst die Materialien wären einem solchen Besucher fremd: Chips aus Silikon, magnetische Datenspeicher, modernste Kunststoffe und exotische Synthetikgewebe.

Nahezu alles an einem modernen Einkaufszentrum müßte einem solchen Besucher unglaublich futuristisch erscheinen. Sie würden ihm alles erklären müssen: die Autos auf dem Parkplatz, den Strichcodescanner, die Sicherheitssysteme, die Kreditkarten und den Händetrockner auf der Toilette. Irgendwann würde dieser Besucher Sie wahrscheinlich mit großen Augen ansehen und fragen: »Was ermöglicht all diese Wunder? Welche Kraft steckt dahinter?«

Sie würden versuchen, es ihm zu erklären, indem Sie auf Lichtschalter drucken und ihm die Steckdosen zeigen, und er würde wahrscheinlich entgegnen, daß er das nicht habe wissen wollen. »Wo ist Ihr Dynamo? Ihr Generator?« würde er geduldig fragen. Und jetzt verstehen Sie, was er meint. Sie führen Ihren Gast zum Parkplatz hinaus. Dann gehen Sie mit ihm zur Rückseite des Gebäudes, vorbei an den Mülltonnen, zu einem Ort, auf den nur selten jemand auch nur einen Blick wirft. (An diesem Punkt müssen Sie Ihre Fantasie spielen lassen, denn normalerweise ist dieser Ort weiter entfernt.)

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Dort befindet sich hinter einem Maschendrahtzaun, neben einem Backsteingebäude mit einem hohen Schornstein, ein dunkler Schacht im Boden. In diesem Schacht verschwinden Kabel, Gleise und ein Förderband. Sie zeigen auf den Schacht und erklären, daß die ganze erstaunliche Technologie ihre Antriebskraft von einer schwarzen Substanz bezieht, die man tief in der Erde findet.

Ihr Besucher würde Sie ungläubig ansehen und fragen: »Ihr treibt eure Wunderwerke mit Kohle an? Ihr verwendet immer noch Kohle?«

Sie nicken bestätigend. »Sehen Sie, wie die Kohle in das Kraftwerk befördert wird?« Sie zeigen auf das Backsteingebäude neben der Mine. Ein mit Kohle beladenes Förderband führt direkt in das Gebäude.

»Ihr habt diese ganze erstaunliche Technologie und betreibt eure Turbinenkraftwerke noch immer mit Kohle?« fragt der Gast und bemüht sich sichtlich, seine Belustigung zu verbergen.

»Haben Sie damit ein Problem?« fragen Sie leicht gekränkt zurück. »Mit Kohle erzeugen wir diese tolle Sache namens >Elektrizität<. Sehen Sie diese Kabel hier...« Auf einmal bemerken Sie pikiert, daß Ihr Gast über Sie lacht. Vor Ihnen steht einer, der noch nicht einmal wußte, wie man den Händetrockner auf der Toilette bedient, und jetzt macht sich dieser Mensch über Sie lustig. Warum tut er auf einmal so gescheit, wo doch die Hälfte der Leute, mit denen Sie im Gymnasium die Schulbank gedrückt haben, keine Ahnung davon hat, wie mit Hilfe von Kohle Elektrizität erzeugt wird? Das Rätsel ist nicht schwer zu lösen. Sie müssen sich lediglich vor Augen führen, daß die Menschen seit über 100 Jahren auf fast unveränderte Weise durch die Verbrennung von Kohle Elektrizität gewinnen. Diese Vorstellung ist Ihrem Gast demnach vertraut.

Elektrisches Licht gibt es seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Anfangs mußten Geschäfts­leute und wohlhabende Bürger, die ihre Fabriken, Läden und Häuser mit elektrischem Licht beleuchten wollten, über einen eigenen Generator verfügen. Als elektrisches Licht aber an Popularität gewann, baute man immer mehr Kohlekraftwerke, um die benötigte Energie zu erzeugen. Schon bald waren die Städte von elektrischen Leitungen durchzogen, und dicke Rauchschwaden erfüllten die Luft.5

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Die Beschreibung eines modernen Kraftwerks liest sich so: »In der 1969 gebauten Anlage 3 der United Illuminating Company im Hafen von Bridgeport, Connecticut, wird Kohle aus Kentucky auf einem Fließband zu einem von fünf großen Silos transportiert, von denen jedes 700 Tonnen faßt. Dann wird sie staubfein zermahlen und bei einer Temperatur von ca. 1370 Grad Celsius verbrannt. Das Produkt ist Wasserdampf, der eine Turbine von General Electric mit einer Geschwindigkeit von 3600 Umdrehungen pro Minute antreibt und 400 Megawatt Leistung für die Bevölkerung der Region liefert.«6

Paradoxerweise verbirgt sich hinter der glänzenden Fassade unseres hochmodernen, mit neuester Technik ausgestatteten Einkaufszentrums eine antiquierte, 100 Jahre alte Technologie der Stromversorgung: eine Dampfturbine. Es ist beschämend, in welchem Maße die technischen Errungenschaften unseres modernen »Raumzeitalters« auf veraltete, Schmutz erzeugende Technologien bauen. Dieses Fundament beginnt nun zu bröckeln, und wenn es einstürzt, wird es viele unserer geliebten technischen Errungenschaften mit sich reißen. Wenn wir unsere Energiegewinnung im gleichen Maß modernisiert hätten wie unsere Konsumgüter, dann würden wir heute über saubere, billige und, was am wichtigsten ist, fast ohne Kohle und Öl produzierte Energie verfügen. 

Wir haben es jedoch vorgezogen, unseren Erfindergeist ganz auf die Entwicklung moderner Konsumgüter zu konzentrieren, und darüber die Suche nach sauberen Energiequellen vernachlässigt. Zwar haben wir moderne Methoden der Energiegewinnung wie beispielsweise die Kernspaltung gefunden, aber wir haben wenig dafür getan, daß diese auch sauber und sicher funktionieren. Und selbst wo wir saubere und sichere Methoden auf diesem Gebiet entwickelt haben, wenden wir sie nicht an.7 Deshalb ist unser vielbestauntes futuristisches Bauwerk nur eine Fassade, hinter der sich die düstere Wahrheit verbirgt, daß vor unserer Haustür ein riesiges, antiquiertes Kohlekraftwerk steht, in dem wir unsere Reserven an fossilen Brennstoffen verheizen.

Natürlich ist im Umkreis unserer Einkaufszentren weit und breit kein Kohlebergwerk zu sehen. Auch kein Kohlekraftwerk. Sicher gibt es ein paar solcher Zentren, die nicht mit Strom aus Kohlekraftwerken versorgt werden, aber sie sind in der Minderzahl.

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Einem Bericht des World Resources Institute zufolge bezogen die Vereinigten Staaten ihre Energie im Jahr 1995 aus folgenden Quellen: 70,11 Prozent aus Kohle und Gas; 9,22 Prozent aus Wasserkraft (Staudämme); 20,13 Prozent aus der Kernenergie; und 0,54 Prozent aus natürlichen, geothermischen Quellen.8

Die Energiegewinnung geschieht unsichtbar für die meisten Bewohner der westlichen Welt. Wir können ein Leben lang in einer pulsierenden Metropole wohnen, ohne je ein Kohlekraftwerk oder ein Bergwerk gesehen zu haben. Aber es gibt sie. Sie mögen für uns unsichtbar sein, aber irgendwo »hinter den Mülltonnen« steht das Kohlekraftwerk, das den Laden am Laufen hält. Was wir zu Gesicht bekommen, ist im allgemeinen die Stromrechnung. Alles andere — die 6305 Millionen Tonnen Kohlendioxid beispielsweise, die wir im Laufe eines einzigen Jahres in die Atmosphäre abgeben — sehen wir nicht."

Der Umstand, daß Kohlendioxid unsichtbar ist, ändert nichts an seiner stofflichen Beschaffenheit. Es löst sich nicht einfach »in Nichts« auf. Materie kann ihren Zustand verändern — manchmal so, daß man sie nicht mehr als das erkennen kann, was sie einmal war —, aber sie hört nicht einfach auf zu existieren. Sie besteht in irgendeiner Form weiter. Einerseits ist das offensichtlich, andererseits wieder nicht. »Wohin verschwindet sie, und was bewirkt sie?« Das sind Fragen, die wir uns stellen müssen, bevor wir eine Chemikalie oder eine Mikrobe auf einen Planeten loslassen.

In unserem Sprachgebrauch spiegelt sich unsere merkwürdige Sicht des Unsichtbaren. Wenn Materie von einem sichtbaren in einen unsichtbaren Zustand übergeht, sprechen wir davon, als wäre sie »verschwunden«. Wenn wir eine Kerzenflamme ausblasen, sehen wir, daß die Kerze kürzer ist als zuvor, aber wir denken nicht daran, daß sie den Raum mit Rauch gefüllt hat. Wenn Eis schmilzt, ist es »weg«. Wir werfen unseren Müll »weg«. Eine Flasche ist »leer«, nicht mit einer unsichtbaren Substanz gefüllt. Wenn wir den Stöpsel aus der Badewanne ziehen, sagen wir kaum, daß wir Luft in die Wanne lassen. Wenn wir ein Feuer im Kamin machen, verwandelt sich das Holz nicht in Wärme und Rauch, sondern es »verschwindet«.

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Und obwohl das sicher keine spektakuläre Neuigkeit ist und eine leere Flasche nichts sonderlich Bedrohliches hat, müssen wir uns doch vor Augen führen, wie sehr wir uns von unserer Sicht der Dinge täuschen lassen. Unser ganzes Denken setzt sich aus Hunderten dieser unauffälligen kleinen Fehlinter­pretationen zusammen.

Vielleicht brauchen wir die Gewohnheit, über unsichtbare Dinge so zu sprechen, als würden sie nicht existieren, weil wir uns so einen »gemeinsamen Nenner« schaffen, ohne den die gewohnte Kommunikation mit anderen Menschen nicht funktionieren würde. Niemand würde uns beispielsweise verstehen, wenn wir um ein mit Luft gefülltes Glas bitten, auch wenn es im eigentlichen Wortsinn genau das ist, was wir haben wollen.

Solch ein gemeinsamer Nenner hat jedoch eine gefährliche Eigenschaft: Unsere Selbsttäuschung hat zur Folge, daß wir auch sehr schädliche Substanzen zu ignorieren pflegen. Solange wir sie nicht »sehen«, dürfen sie in Massen um uns herum sein, uns krank machen und uns sogar umbringen, ohne daß wir uns ihrer Existenz je bewußt werden. Wir nehmen sie auf vielerlei Arten zu uns. Wir atmen sie ein oder trinken sie, wir tragen sie auf unsere Haut auf, behandeln unsere Kleidung, unsere Möbel und den Boden in unseren Häusern damit. Auf verschiedenste Weise erlauben wir diesen Giftstoffen, mit uns und unseren Kindern in Kontakt zu gelangen. So können die Produzenten dieser Gifte ihre Geschäfte auch weiterhin mit gewaltigem Profit betreiben. Ihre Verbrechen an der Umwelt bleiben unentdeckt und ungeahndet. Wenn etwas unsichtbar ist, dringt es nicht in unser Bewußtsein. Wenn wir etwas nicht sehen können, tun wir in unserer unglaublichen Naivität (um nicht zu sagen: Ignoranz) am liebsten so, als wäre es nicht vorhanden. Und so bewirkt unsere gestörte Wahrnehmung und unsere kulturell ererbte Selbsttäuschung, daß wir anderen schaden und uns schaden lassen — direkt, indem wir unseren Körper vergiften und indirekt, indem wir unsere Umwelt vergiften.

Der Verbraucheranwalt Ralph Nader drückte es vor fast einem Vierteljahrhundert so aus: »Von Natur aus hat der Mensch die Fähigkeit, bestimmte Gefahren mit Hilfe seiner Sinne zu registrieren — durch Riechen, Sehen, Hören, Schmecken und das Empfinden von Schmerz.

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Ein Feuer brennt. Man fühlt den Schmerz und rennt davon oder löscht es. Aber nun entfacht der Mensch Feuer, die lange Zeit brennen werden und auf die wir nicht vorbereitet sind. Wir müssen Methoden entwickeln — rechtliche, medizinische, politische —, damit wir diese Gefahren aufspüren und bekämpfen können, bevor es für viele Menschen zu spät ist.«10

Unsere verfälschte Interpretation des Unsichtbaren gilt für vieles, aber insbesondere trifft sie auf unser Verständnis der Luft zu. Wir spüren den Wind, wir nehmen Wärme und Kälte wahr, wir können die Wolken sehen, aber Luft ist für uns »nichts«. Sie ist kein durchsichtiger Stoff wie farbloses Glas. Sie ist die Leere, die alle Gegenstände umgibt, durch die diese Gegenstände vielleicht voneinander getrennt sind, die aber für uns nichts »Dingliches ist — für uns ist sie eben »Luft«. Bestenfalls ist sie für uns »Luft«, im allgemeinen ist sie einfach »überhaupt nicht«.

Stellen Sie sich vor. Sie würden die Luft als etwas Gegenständliches wahrnehmen, und führen Sie den Gedanken weiter. Machen Sie sich bewußt, was Ihre Lungen füllt, was Ihren Körper umgibt, was zwischen Ihnen und allen anderen Dingen ist. Fühlen Sie ihre Präsenz? Ist Ihnen bewußt, wie lebensnotwendig sie für jeden von uns ist?
     Wir sind wie Fische im Wasser. Wir schwimmen in Luft.

 

Eine der wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen der letzten Jahre war um so bemerkenswerter, weil sie im Zusammenhang stand mit der Suche nach einer unsichtbaren Substanz (einer vorn Menschen geschaffenen Chemikalie), die in einer anderen unsichtbaren Substanz (der Atmosphäre) enthalten ist. Die Wissenschaftler waren perplex, als sie feststellten, daß die unsichtbare Substanz, die sie gesucht hatten, ein unsichtbares, aber tödliches Loch in die sie enthaltende unsichtbare Substanz gefressen hatte.

1973 war der Chemiker Mario J. Molina, nachdem er seine Promotion erfolgreich abgeschlossen hatte, nach Irvine in Kalifornien gegangen, um an der dortigen Universität mit dem Radiochemiker F. Sherwood Rowland zusammenzuarbeiten. Wie 100 Jahre vor ihnen die Mikrobenjäger waren Rowland und Molina auf der Suche nach etwas Unsichtbarem. Ihre Suche galt einer Gruppe chemischer Stoffe, die allgemein als FCKW oder Fluorchlorkohlenwasserstoffe, eine Form von Chlorgas, bekannt sind.

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FCKW wurde und wird in der Industrie als Treibmittel für Sprühdosen aller Art — vom Haarspray bis zur Sprühfarbe — verwendet. Damals wurden jährlich etwa eine Milliarde Sprühdosen produziert.11 Fluorchlorkohlenwasserstoffe fanden auf mannigfaltige Weise Verwendung, weil sie chemisch »stabil« sind, das heißt, sie zerfallen nicht. Außerdem schienen sie mit keiner anderen Substanzen zu reagieren, so daß sie die Stoffe, für die sie als Treibgas dienten, nicht veränderten. Genau diese Stabilität ist ein Teil des Problems. Andere Chemikalien zerfallen beim Kontakt mit Wasser und Luft in weniger schädliche Spaltprodukte, aber nicht so FCKW.

Während diese Tatsache allein schon bemerkenswert ist, schien eine wissenschaftliche Studie zu belegen, daß FCKW nahezu unzerstörbar ist. Eine vor kurzem durchgeführte Analyse atmosphärisch er Gase läßt den Schluß zu, daß sich sämtliche Fluor­chlor­kohlen­wasserstoffe, die je in die Atmosphäre gelangt sind, immer noch dort befinden.

Rowland war jedoch der Meinung, daß früher oder später irgend etwas mit den FCKW passieren mußte, und er entschloß sich herauszufinden, was es war. Er bat Molina, ihn bei seiner Suche zu unterstützen. Die beiden stellten fest, daß die FCKW über mehrere Jahre in die oberen Schichten der Atmosphäre aufsteigen, wo sie eine katalytische Kettenreaktion auslösen, in deren Verlauf jedes einzelne FCKW-Molekül 100.000 Ozonmoleküle zerstört. Die Ozonschicht, welche die Erde vor der tödlichen ultravioletten Strahlung der Sonne schützt, wird im Rundumschlag zerstört.

Während es angesichts der Proteste von seiten der Industrie Jahre dauerte, bis sich einzelne Staaten dazu bewegen ließen, die Produktion und Verwendung von FCKW gesetzlichen Einschränkungen zu unterwerfen, formierte sich eine interessante Allianz aus Wissenschaftlern und Konsumenten, die beachtliche Erfolge für sich verbuchen konnte. F. Sherwood Rowland und Mario Molina sowie Paul Crutzen vom deutschen Max-Planck-Institut warnten vor den Gefahren der Fluorchlorkohlenwasserstoffe, und sie erhoben ihre Stimme so laut und mit solchem Nachdruck, daß der Öffentlichkeit bewußt wurde, was auf dem Spiel stand. Die Industrie war dagegen machtlos. Die Wissenschaft wurde zu einem Machtfaktor, mit dem man rechnen mußte.

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Seit Rachel Carson 1962 mit dem Buch Der stumme Frühling (dt. 1963) ein aufrüttelndes Plädoyer gegen die ungebremste Verwendung des Pestizids DDT geschrieben hatte, hatte kein Umweltthema die Welt derartig in Aufregung versetzt. Die Konsumenten handelten, indem sie FCKW-haltige Produkte boykottierten, noch bevor die Industrie gesetzlich gezwungen war, diese vom Markt zu nehmen. Sie machten damit unmißverständlich klar, daß sie nicht gewillt waren, die weitere Zerstörung der Ozonschicht hinzunehmen. Gemeinsam erreichten Konsumenten und Wissenschaftler, daß das Problem in den Medien thematisiert wurde. Die konzertierte Aktion hatte Erfolg. Sprühdosen, die FCKW enthielten, verschwanden aus den Regalen, weil wir in diesem Fall ausnahmsweise einmal so handelten, als wäre uns die Gesundheit der Menschen und die Sicherheit unseres Planeten wichtiger als die Profite der Industrie. Das schnelle Handeln rettete das Leben vieler Menschen. Wer weiß, vielleicht gehören Sie auch dazu.

Während eine Gruppe von Wissenschaftlern sich mit den Schädigungen an der Erdatmosphäre beschäftigten, untersuchte eine andere die älteste und kleinste Atmosphäre, die je entdeckt worden war.

Wie Archäologen bei dem Versuch, fremde Hieroglyphen zu entziffern, versuchte ein Team aus Wissenschaftlern der National Science Foundation, der NASA und der Smithsonian Institution den Herkunftsort eines Meteoriten zu ergründen, der mehr als 10.000 Jahre lang im Schnee und Eis der Antarktis gelegen hatte. Man nannte ihn EETA79001, und er war der erste 1979 in Elephant Morraine in der Antarktis gefundene Meteorit, ein sehr seltenes Fundstück. 

Anders als die meisten Meteorite, die Chondriten sind, also vorwiegend aus zusammengepreßten silicaten Gesteinstrümmern und kosmischem Staub bestehen und aus der Zeit stammen, als das Sonnensystem entstand, war EETA79001 ein Achondrit. Er war kein Konglomerat verschiedener Gesteine, sondern bestand aus vulkanischer Lava. Mehr noch, er wies zwei verschiedene Lavagesteinsschichten auf, die durch eine Kalzitschicht voneinander getrennt waren. Seine Außenfläche war mit einer Glasschicht überzogen, die sich gebildet hatte, als er aus einem größeren Himmelskörper herausgerissen wurde. In der Glasschicht eingeschlossen waren zahlreiche Gasbläschen, die 1983 entdeckt wurden und möglicherweise Auskunft geben konnten über die Herkunft des Meteoriten.12

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Noch interessanter war, daß dieser Gesteinsbrocken Hinweise enthielt, die dazu beitragen konnten, das Rätsel einer ganzen Gruppe geheimnisvoller Meteoriten zu lösen, zu denen er gehörte. Sie wurden als SNC-Meteorite bezeichnet — benannt nach den Fundstätten der drei prominentesten Vertreter ihrer Art, Shergotty, Nakhla und Chassigny. Shergotty ging in Indien nieder und war aus stark eisenhaltigem Basalt, ähnlich dem Lavagestein von Hawaii. Nakhla bestand aus kalziumreichem Lavagestein und Chassigny aus Olivin, einem grünen, edelsteinartigen Vulkanstein. Die SNC-Metecrite waren nach kosmischen Maßstäben vergleichsweise jung;. Man bestimmte ihr Alter, indem man ihre Radioisotope maß. Anders als bei anderen Meteoriten, deren Alter meist etwa 4,5 Milliarden Jahre beträgt, rangierte das Alter der SNC zwischen 1,3 Milliarden und 160 Millionen Jahren, was nach geologischen Maßstäben »jung« ist. Sie mußten von einem Himmelskörper im Sonnensystem stammen, der bis vor relativ kurzer Zeit vulkaniserte Aktivitäten aufgewiesen hatte. Man vermutete, es könne sich um den Mars handeln.

Die Bilder, die die Mariner- und Viking-Sonden geliefert hatten, bewiesen, daß es auf dem Mars junge Vulkane gab. Dennoch schien es unglaublich, daß die Wucht eines Einschlags in der Lage gewesen sein sollte, Gesteinsbrocken aus der Oberfläche eines Planeten von der Größe des Mars herauszureißen und ins All zu schleudern. Noch schwerer konnte man sich vorstellen, daß diese Gesteinsbrocken, nachdem sie Milliarden von Kilometern auf einer Umlaufbahn um die Sonne zurückgelegt hatten, auf der Erde gelandet sein sollten. Überdies hätte die Energie, die beim Einschlag eines größeren Körpers auf dem Mars freigesetzt wurde, einen Felsbrocken eher verdampft, als ihn in eine Umlaufbahn um die Sonne zu schleudern. Und so nahm man an, daß die Meteorite aus dem Asteroidengürtel des Sonnensystems stammten.

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Als im Mai 1981 in der Antarktis ein Stück Mondgestein entdeckt wurde, war die Behauptung, ein Mars­meteorit könne unmöglich auf der Erde zu finden sein, allerdings gründlich widerlegt. Der in der Antarktis gefundene Gesteinsbrocken war nahezu identisch mit den Steinen, die die Apollo-Astronauten vom Mond mitgebracht hatten, aber er war nicht in einem Raumfahrzeug zur Erde gelangt, sondern offensichtlich durch einen Meteoriteneinschlag vom Mond abgesprengt worden. Auf einmal schien die Vorstellung nicht mehr so abwegig zu sein, daß große Objekte (wie Asteroiden oder Kometen), wenn sie auf einen Planeten trafen, Gesteinsbrocken ins All schleudern konnten, ohne sie zu pulverisieren. Auf dem Mond war dies ja offensichtlich auch geschehen.

Die Theorie, die SNC-Meteorite könnten vom Mars stammen, erhielt neuen Auftrieb. Als man das Gas, das sich in den winzigen Blasen in der Glasschicht von EETA79001 befand, einer Analyse unterzog und feststellte, daß es in seiner Zusammensetzung den Proben entsprach, die Viking 1 und 2 von der Marsatmosphäre genommen hatten, wurde klar, daß dieser kleine Besucher aus dem All tatsächlich ein Stück des Mars war.

Wenn jemals ein eindeutiger Beweis dafür erbracht wurde, daß Luft, wiewohl unsichtbar, alles andere als »nichts« ist, dann jetzt. Die Luft in der winzigen Gasblase eines Meteoriten enthielt so viele Informationen, daß sie Aufschluß über seine Herkunft von einem hunderte Millionen Kilometer entfernten Planeten geben konnte. Wenn eine so geringe Menge Luft ausreicht, dies festzustellen, dann bedenken Sie nur, wieviel uns der Inhalt einer menschlichen Lunge sagen kann.

 

Als Christy Booker in die Grundschule kam, erhielt sie ein neues Medikament gegen ihr Asthma, das sie von da an viele Jahre lang regelmäßig einnehmen sollte: Theophyllin. Zwar konnte sie damit erfolgreich akute Asthmaanfälle bekämpfen, ohne jedesmal ins Krankenhaus fahren zu müssen, aber das Medikament hatte, ähnlich dem Adrenalin, das ihr der Arzt früher in Krisenfällen verabreicht hatte, eine stark aufputschende Wirkung. Sie fühlte sich, wie sie es ausdrückte, nach der Einnahme, als müßte sie »die Wände hochgehen«.

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In gewisser Weise waren die Nebenwirkungen beim Theophyllin in der Form, wie es damals verabreicht wurde, unerträglicher als nach der Einnahme von Adrenalin, bei der ihr der Arzt stets ein Gegenmittel injiziert hatte. Die Wirkung des Theophyllin mußte sie dagegen, aushalten. Sie mußte das Medikament über einen Zeitraum von zwei Wochen hinweg alle zwölf bis 24 Stunden in steigender Dosierung einnehmen. Nach diesen zwei Wochen entnahm ihr der Arzt eine Blutprobe, um die Konzentration des Medikaments im Blut zu überprüfen. Oft wurde danach die Dosierung erhöht. Während dieser ganzen Zeit fühlte sich Christy, als stünde sie unter Strom.

So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte in der Schule nicht stillsitzen. Ihre schulischen Leistungen litten darunter, daß sie sich nicht konzentrieren und keine Aufgabe zu Ende bringen konnte.

Oft wäre Christy am liebsten aufgesprungen und herumgerannt, so aufgeputscht war sie von den Medikamenten. Ironischerweise waren ihr aber schnelles Laufen und jede sportliche Anstrengung verboten. Wie viele Kinder, die unter Asthma leiden, saß sie in den Pausen und Sportstunden untätig herum und sah den anderen Kindern beim Spielen und Herumtoben zu. Durch die unfreiwillige Isolation, in die Christy durch ihre Krankheit und die Wirkung der Medikamente geriet, litt auch die Entwicklung ihres Sozialverhaltens. Man attestierte ihr schon bald schwerwiegende Verhaltensstörungen und einen Mangel an Selbstdisziplin. Hätte Christy nicht ständig unter dem Einfluß von Medikamenten gestanden, wäre ihre Schulzeit sicher anders verlaufen. Aber die stimmungsverändernden Medikamente waren ein Teil ihrer Kindheit, und sie wird nie erfahren, wie das Leben ohne sie gewesen wäre.
  
Andererseits, was wir nicht wissen, wissen wir nun einmal nicht.

Es gibt in der menschlichen Entwicklung ein Phänomen, das uns befähigt, offensichtliche Gefahren zu ignorieren und so zu tun, als gäbe es sie nicht. Wir Menschen unterscheiden zwischen zwei Kategorien von »Dingen«. Es gibt greifbare Gegenstände wie Tische, Stühle und Bäume. Und es gibt abstrakte Dinge wie die Liebe zu unserer Mutter, Entscheidungen über unsere persönliche Zukunft und die Erkenntnis, daß Sklaverei etwas Verwerfliches ist. Wir leben in einer Welt, in der wir ständig mit beiden Kategorien von »Dingen« konfrontiert sind.

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Der schweizerische Psychologe Jean Piaget (1896-1980) lieferte mit seinen Arbeiten wesentliche Erkenntnisse über die Lernprozesse, die unseren Umgang mit den greifbaren wie den abstrakten Dingen prägen. Seine Theorien über die Stadien kognitiver Entwicklung in der frühen Kindheit machen deutlich, wie sich die Denkmuster des erwachsenen Menschen herausbilden. Piaget stellte fest, daß Kinder mit zunehmendem Alter nicht nur Wissen erwerben, sondern das, was sie wissen, auch intellektuell anders verarbeiten. Mit der Zeit gelang es ihm, die verschiedenen Entwicklungsstadien kindlichen Denkens zu spezifizieren.

Piaget bezeichnete die Resultate dieser sich entwickelnden Differenzierung, die sich automatisch einstellt, wenn Kinder mit zunehmendem Alter mehr von der Außenwelt wahrnehmen, als »Schablone« oder innere »Landkarte« der Welt, die sich mit zunehmendem Verstehen durch Erfahrung verändert. Bei einem Kleinkind ist diese Schablone hoch nahezu unentwickelt. Daher verarbeitet ein Erwachsener, der über eine weitgehend ausgeprägte Schablone verfügt, Informationen völlig anders als ein Kind.

Zu den Hauptmerkmalen eines sehr frühen Entwicklungsstadiums gehört der Mangel an objektbezogener Erinnerung beim Kind. Die Redensart »Aus den Augen, aus dem Sinn« trifft dieses Phänomen ziemlich genau. Um uns an einen Gegenstand zu erinnern, müssen wir uns ein Bild von diesem machen können, und dazu ist ein Kleinkind noch nicht in der Lage. Wenn man einem sehr kleinen Kind einen Gegenstand zeigt, der seine Aufmerksamkeit erregt, und ihn dann verbirgt, wird es so reagieren, als hätte es ihn nie gegeben. Es wird keinen Versuch unternehmen, ihn zu finden, selbst wenn es sich dabei um ein Lieblingsspielzeug handelt. So können Eltern ihr Baby endlos lange unterhalten, indem sie einen Gegenstand einfach »erscheinen« und wieder »verschwinden« lassen.

Noch mehr Spaß macht dieses Spiel, wenn das Kind zu verstehen beginnt, daß der Gegenstand nicht einfach verschwindet, denn dann fängt es an, nach dem versteckten Objekt zu suchen. Piaget beobachtete, daß sein Sohn Laurent, als er genau sieben Monate und 13 Tage alt war, seine Hand beiseite schob, um an eine dahinter verborgene Streichholzschachtel zu gelangen. Eine eindeutige Weiterentwicklung gegenüber früheren Spielen dieser Art, bei denen Laurent nie einen solchen Versuch unternommen hatte.13

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In einem späteren Stadium wird ein Kind einen Gegenstand an dem Ort suchen, an dem es diesen aus Erfahrung vermutet, selbst wenn es mit eigenen Augen gesehen hat, daß er diesmal anderswo versteckt wurde. Wenn man also ein Spielzeug wiederholt unter einem blauen Tuch und danach ganz offen unter einem roten Tuch versteckt, wird das Kind zuerst unter dem blauen Tuch nachsehen. Erst in einem späteren Stadium wird das Kind dort nachsehen, wo der Gegenstand zuletzt versteckt wurde.

Es vergehen Jahre, bis der Mensch in seiner Entwicklung so weit ist, zu begreifen, daß Dinge nicht aufhören zu existieren, nur weil wir sie nicht mehr sehen. Aber ganz scheint diese objektbezogene Erinnerungsfähigkeit nie Einzug in unsere Realität zu halten. Wir sind zwar nicht so leicht hinters Licht zu führen wie Kinder, die dem Zauberkünstler glauben, daß er das Kaninchen tatsächlich »verschwinden« läßt, aber wir neigen immer noch dazu, Dinge, die sich unserer Wahrnehmung entziehen, als nicht existent zu betrachten. Wenn die Müllabfuhr unsere Abfalltonnen leert oder wenn wir die Spülung der Toilette betätigen, verschwinden Müll und Fäkalien vor unseren Augen, und wir verschwenden nie wieder einen Gedanken daran.

Die objektbezogene Erinnerung hat aber noch einen anderen Aspekt. Wie gehen wir mit dem Unsichtbaren um? Wohin verschwindet ein unsichtbares Objekt, wenn man es versteckt? Bleibt es da, wo es war? Wie kann man das wissen? Wie gehen wir mit einem Ding um, das sich unserer gewohnten Wahrnehmung entzieht? Wir behandeln es, als wäre es nicht vorhanden. Wie ein Kleinkind, dem der Sinn für eine drohende Gefahr fehlt, würden wir noch nicht einmal blinzeln, bevor wir von einem nicht bemerkten — und deshalb unsichtbaren — Meteor getroffen würden.

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Unsere Wahrnehmung ist begrenzt, das ist der springende Punkt. Einigen drohenden Gefahren gegenüber sind wir einfach blind. So kommt es, daß wir tonnenweise giftige Abgase tolerieren, die täglich von den Autos um uns herum produziert werden. Wenn wir sie sehen könnten, wenn sie wie Giftpfeile aus den Schloten und Auspuffanlagen schössen, würden wir mit unseren Kindern ins Haus flüchten und die Polizei alarmieren. Statt dessen trinken wir mit Chemikalien versetztes Wasser und geben unseren Kindern hormonverseuchtes Fleisch zu essen, ohne uns auch nur einen Gedanken darüber zu machen. Unbedarft stopfen wir es in uns hinein und riskieren dabei, an Krebs und Asthma zu erkranken — oder eben unseren Planeten mit dem Treibhauseffekt zu vernichten. Wir sehen nicht den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Unsere eingeschränkte Wahrnehmung macht uns gleichgültig, verwundbar und leicht auszubeuten.

Piaget zufolge ist die letzte Stufe der kognitiven Entwicklung beim Menschen die Befähigung zur Abstraktion. Das ist der Punkt, an dem wir beginnen, Konzepte und Ideen zu entwickeln — Dinge, die nicht Teil der physischen Welt sind. Mit der Fähigkeit zum abstrakten Denken erweitern sich unsere kognitiven Möglichkeiten um die nichtphysische Wirklichkeit. Die Fähigkeit, uns etwas vorzustellen, versetzt uns in die Lage, vor unserem inneren Auge Bilder zu erzeugen. Wir lernen, mit dem Geist Dinge zu »sehen«, die dem Auge verborgen bleiben.

Wir können unsichtbaren Gefahren nur begegnen, wenn wir lernen, uns gedanklich mit ihnen auseinander­zusetzen und so zu handeln, als wären sie greifbar. Es ist wie mit einer ansteckenden Krankheit. Ein Bakterium oder ein Virus können wir mit bloßen Augen nicht erkennen. Würde unser Handeln allein durch die physische Realität bestimmt, so würden wir bedenkenlos Wasser trinken, das mit Cholerabakterien verseucht ist, oder mit einem Aids-infizierten Partner Sex haben. Also haben wir gelernt, unsichtbare Gefahren als reale Bedrohung zu erkennen, obwohl sie sich der visuellen Wahrnehmung entziehen. Wir haben gelernt, uns aus Gründen der Hygiene die Hände zu waschen, unseren Körper zu pflegen und unsere Kleidung sauberzuhalten. Wir haben gelernt, unsauberes Wasser zu meiden. Wir haben gelernt, uns mit Kondomen gegen unsichtbare Viren zu schützen. Und wir haben auch gelernt, andere zu schützen, indem wir uns die Hand vor den Mund halten, wenn wir husten, oder ein Taschentuch zu benutzen, wenn wir niesen. Wir lassen unsere Kinder impfen, verbinden ihre Wunden und bringen ihnen Körperpflege bei.

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Daß uns all das selbstverständlich und alltäglich erscheint, liegt nur daran, daß es sich unserem Denken als Gewohnheit eingeprägt hat. Man braucht nur eine Mutter zu fragen, wie schwer es ist, einem Kind alle Aspekte der Körperpflege beizubringen. Vor gar nicht langer Zeit hätte man alles, was wir heute als Voraussetzung für eine gesunde Lebensführung betrachten, für überflüssig gehalten, weil es sich gegen Bedrohungen richtet, die dem bloßen Auge verborgen bleiben.

Wir müssen lernen, unsichtbare Umweltverschmutzungen mit derselben Vehemenz zu bekämpfen wie den Ruhrerreger. Wir müssen lernen, Kohlendioxid als ein schädliches Abfallprodukt zu behandeln. Unsere Kinder müssen lernen, sich vor gesund­heitsschädigenden chemischen Stoffen ebenso zu schützen wie vor Krankheitserregern. Wir müssen andere ermutigen, unserem Beispiel zu folgen. Wir müssen diejenigen, die uns mit Giftstoffen verseuchen, so behandeln wie einen Menschen, der uns bewußt mit Aids infiziert. Wir können unsere Gesellschaft verändern, wenn wir es nur wollen, und es gibt keine Entschuldigung dafür, es nicht zu tun. Eine solche Gleichgültigkeit dürfen wir nicht länger hinnehmen — weder bei uns selbst noch bei anderen. Dies ist die Voraussetzung, wollen wir den nächsten Schritt in der Evolution der Menschheit noch erleben.

Es ist zum Beispiel noch nicht lange her, da konnte es passieren, daß ein Arzt, der gerade eine Autopsie durchgeführt hatte, bei einer Geburt half, ohne sich vorher die Hände gewaschen zu haben. Heute, da uns die Folgen einer solchen Nachlässigkeit bekannt sind, könnte es keine Entschuldigung für diesen Arzt geben.

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Während die Erde ein Stück Mars eingefangen hatte, schien auch der Mars etwas von der Erde auf sich gezogen zu haben — nämlich die Aufmerksamkeit von Vince DiPietro. Seine Suche nach der Wahrheit machte Fortschritte, auch wenn es am Mittag dieses regnerischen Wintertags so aussah, als würde er nur einen kurzen Spaziergang zum Gebäude Nummer 26 des National Space Science Data Center (NSSDC) machen.

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Seit er in der Buchabteilung des Kaufhauses jene Bilder vom Mars in einer Zeitschrift gesehen hatte, waren einige Tage vergangen, aber das Gesehene ließ ihn nicht mehr los. Also beschloß er, der Sache auf den Grund zu gehen. Um seine Neugier zu befriedigen, wollte er die Archive der Viking-Mission durchstöbern, um herauszufinden, was es mit dem »Gesicht« auf dem Mars auf sich hatte. Als er aber sah, wie viele tausend Akten und wieviel Filmmaterial dort der Sichtung harrten, beschloß er, ein andermal wiederzukommen und mehr Zeit für die offensichtlich aufwendige Suche mitzubringen. Er nahm sich am nächsten Tag frei und verbrachte diesen freien Tag im düsteren Keller des NSSDC, wo er eifrig in den Archiven der Viking-Mission stöberte.

Und seine Mühe wurde belohnt. Er stieß auf ein offizielles Pressefoto, das dem Bild in der Zeitschrift aufs Haar glich. War es am Ende etwa doch keine Fälschung? Da war es, fein säuberlich archiviert unter der Nummer 76H593/17384, versehen mit einem einzigen erklärenden Wort: KOPF. Die Mitarbeiter des NSSDC erwiesen sich als äußerst kooperativ. Schon nach kurzer Zeit saß er vor einem Bildbetrachtungsgerät und musterte eingehend Bild Nummer 35A72, auf dem dasselbe Motiv wesentlich schärfer und detailgenauer zu sehen war. Auch auf diesem sehr deutlichen Bild waren die menschlichen Gesichtszüge klar zu erkennen. Obwohl ihn das Gesicht reizte, genauere Nachforschungen anzustellen, war Vince andererseits erleichtert, daß er die Angelegenheit bei der NASA in besten Händen wußte. Man wußte dort um die Existenz der Aufnahme und würde sich der Sache zweifellos mit der gewohnten Professionalität und Gründlichkeit annehmen. Bevor er ging, bestellte er noch eine Vergrößerung der Aufnahme, die ihm später zugeschickt werden sollte. Dann machte er sich, zufrieden, daß er seinen Teil der Mission erledigt hatte, auf den Heimweg.

Nachdem Vince DiPietro die angeforderte Vergrößerung erhalten hatte, kam er sehr schnell zu dem verblüffenden Schluß, daß sich vor ihm noch niemand dieses Gesicht genauer angesehen hatte, das ihm da so deutlich entgegenzublicken schien. Seit dem Tag, an dem die ungewöhnliche Aufnahme zur Erde gefunkt worden war, hatte sich niemand die Mühe gemacht, sie einer genaueren Untersuchung zu unterziehen.

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Nur Tobias Owen hatte, auf der Suche nach einem geeigneten Landeplatz für das Landemodul, einen eher flüchtigen Blick durch seine Lupe darauf geworfen. Noch am Tag seiner Entdeckung hatte Gerald Soffen das »Gesicht« als »optische Täuschung« abgetan, die in einer zweiten, wenige Stunden später gemachten Aufnahme nicht mehr zu sehen war. Danach legte man die Angelegenheit zu den Akten.

Vince fand ein offenes Ohr bei seinem Kollegen Greg Molenaar, einem schwedischstämmigen Experten für Datenverarbeitung, der wie er selbst ein glühender Anhänger des Raumfahrtprogramms war. Sie betrachteten die Aufnahme noch einmal sehr genau, und allmählich machte sich ein Gefühl der Aufregung in ihnen breit. Da sich noch nie jemand die Mühe gemacht hatte, die Authentizität des Bildes zu prüfen, hielten sie es für ihre Aufgabe, dies nachzuholen. Eine große Mission war geboren, die bei den beiden Männer gespannte Erwartung auslöste. So wie sie mochten sich die Mitglieder der Apollo-Mission gefühlt haben, als sie sich anschickten, auf dem Mond zu landen. Vince und Greg waren fest entschlossen, im Alleingang die Marsoberfläche zu erforschen.

Greg schlug vor, die Bildqualität mit Hilfe eines Computers zu verbessern. Genaugenommen sind Bilder aus dem All keine »Fotografien« (das heißt belichtete und entwickelte Filme), sondern eine Reihe von Kameras aufgezeichneter und zur Erde gefunkter elektronischer Daten, die Informationen über die Werte von Bildpunkten enthalten. Greg und Vince forderten die Computeraufzeichnungen vom Jet Propulsion Laboratory (JPL) in Kalifornien an, um die Daten Pixel für Pixel zu studieren. Noch während sie darauf warteten, die Daten endlich auswerten zu können, beschlich sie eine eigenartige Unruhe. Fast hatten sie das Gefühl, als würden sie mit ihrer geplanten Untersuchung etwas Verbotenes tun. Doch es gab kein Zurück mehr.

Wie bei einer seriösen wissenschaftlichen Untersuchung üblich, mußten erst einmal Informationen zusammengetragen werden. Als das angeforderte Datenmaterial endlich ankam, war die Zeit der Spekulationen vorbei. Greg und Vince konzentrierten sich jetzt darauf, Antworten zu finden. Vor ihnen lag ein gewaltiger Berg an Arbeit.

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Auf ihre Bitte hin gestattete man den beiden, Geräte der NASA im Goddard Space Flight Center zu benutzen — einen Computer, der dem Ende eines langen Lebens im Dienste der Wissenschaft entgegensah, und ein spezielles Bildver­arbeitungs­gerät. Der Beamte, der ihnen die Genehmigung erteilte, bestand halb neugierig und halb amüsiert darauf, dies in schriftlicher Form zu tun: »Wer weiß, wozu Sie es einmal brauchen werden«, bemerkte er mit verschmitztem Lächeln. Ohne sich ernsthafte Gedanken über die Folgen zu machen, begannen Vince und Greg mit der ersten seriösen wissenschaftlichen Suche nach außerirdischer Intelligenz (SETI: Search For Extra-Terrestrial Intelligence). Sie untersuchten ein Phänomen, bei dem es sich möglicherweise um einen außerirdischen Artefakt handelte — und sie taten dies mit offizieller Genehmigung im Herzen der Luft- und Raum­fahrt­industrie.

Eingepfercht in ein winziges Arbeitszimmer, das ungefähr so anheimelnd war wie die Kabine eines Lastenaufzugs, bastelten Vince und Greg aus den verschiedensten reichlich bejahrten Teilen eine funktionierende Ausrüstung zusammen, mit deren Hilfe sie digitale Bilder einlesen, bearbeiten und speichern konnten. Nun konnten sie das eingetroffene Datenmaterial überspielen und auf ihrem Computer speichern, der ein angeschlossenes Filmaufnahmegerät steuerte. Ihr Bildschirm war eine Kathodenstrahl­röhre mit 256 Grautönen und acht Bit pro Pixel. Verglichen mit heutigen Rechnern waren 1979 selbst die modernsten Computer langsam und klobig, und das Gerät, an dem Vince und Greg arbeiteten, war ein veraltetes Modell. Aber es funktionierte, und schon nach kurzer Zeit waren die beiden soweit, daß sie die Aufnahme bearbeiten und nach der richtigen Einstellung für die Entwicklung des Films suchen konnten.

Das erste Bild, das sie erhielten, war grau in grau, mit einer schwachen Auflösung und einer »Salz-und-Pfeffer-Körnung«, die auf Fehler bei der ursprünglichen Satellitenübertragung der Daten vom Mars zurückzuführen war. Nach Dutzenden von Experimenten gelang es ihnen, den Kontrast zu erhöhen und einige der Übertragungsfehler auszugleichen. Leider hatten sie weiterhin Probleme mit der Auflösung.

Molenaar und DiPietro entwickelten eine völlig neue Bildbearbeitungstechnik, die sie Starburst Pixel Interleaving Technique (SPIT) nannten, da die Übertragungsfehler wie Lichtstrahlen akzentuiert waren. Die SPIT-Technik basiert auf einer statistischen Analyse der Bilddaten und ermöglicht eine sehr viel höhere Auflösung als andere Verfahren.14 Während sie jedoch die nunmehr schärfere Aufnahme des inzwischen so vertrauten »Gesichts« eingehender betrachteten, wuchs in ihnen der Wunsch nach einem weiteren Beweis seiner Echtheit. Sie mußten irgendwie in den Besitz einer zweiten Aufnahme kommen.

Der Wunsch nach weiteren Informationen veranlaßte Vince, noch einmal in den Archiven der Viking-Mission zu stöbern, in der Hoffnung, dort auf eine zweite Aufnahme zu stoßen. Es kostete ihn einen Monat seiner Freizeit, bis er endlich ein zweites, relativ scharfes Bild des »Gesichts« fand. Es war 35 Tage nach der ersten Aufnahme entstanden. Da es aus einem anderen Winkel aufgenommen worden war, enthielt es neben sämtlichen Details der ersten Aufnahme Informationen, die auf dem ersten Bild fehlten. Nun gab es keinen Zweifel mehr — auf der Oberfläche des Mars existierte ein Gebilde, das aussah wie ein menschliches »Gesicht«. Es war kein durch Licht und Schatten erzeugtes Trugbild, wie man es der Presse hatte einreden wollen. Er forderte das Datenmaterial dieser zweiten Aufnahme umgehend vom Jet Propulsion Laboratory (JPL) an.

Obwohl Vince froh war über die Entdeckung der zweiten Aufnahme, welche die Existenz des ungewöhn­lichen Gebildes bestätigte, plagte in eine ungelöste Frage: Was war mit der Aufnahme geschehen, die nach Gerald Soffens Aussage bewiesen hatte, daß das »Gesicht« einige Stunden später unter veränderten Lichtbedingungen verschwunden war? Er sollte später erfahren, daß es an jenem Tag überhaupt keine zweite Aufnahme gegeben hatte. Es war Nacht geworden in Cydonia auf dem Mars, nachdem das Bild Nummer 35A72 zur Erde gefunkt worden war — das »Gesicht« war also im Anschluß an die erste Aufnahme für viele Stunden von der Dunkelheit verschluckt worden. Die Dunkelheit läßt alle Dinge verschwinden, aber die Tatsache, daß Vince und Greg nun ein zweites Foto dieser bemerkenswerten und außergewöhnlichen Erscheinung in Händen hielten, war unwiderlegbar. Sie konnte geeignet sein, unsere Vorstellung vom Kosmos für immer zu verändern.

Andererseits spielte es keine Rolle, als was sich das »Gesicht« auf dem Mars herausstellen würde, denn es hatte sich bereits dauerhaft in das Denkschema der Menschen eingenistet. Die Vorstellung vom Leben auf der Erde hatte sich der Vorstellung vom Leben im Kosmos geöffnet, und gemeinsam betraten unsere beiden Marsforscher das geheimnisvolle und aufregende Neuland.

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