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10. Toter Mars  

Brandenburg-1999

 

 

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1995 bot man mir an, in einem NASA-Beratergremium für Fragen des Raumtransports mitzu­arbeiten. Es ging insbesondere darum, daß potentielle Risiken erkannt und beseitigt würden. Das Angebot ehrte mich sehr. Etwa zur selben Zeit lernte Vince DiPietro während einer Tagung im Goddard-Space-Flight-Center den NASA-Direktor Dan Goldin kennen und zeigte ihm unser Material über die Mikro­fossilien­funde in den CI-Meteoriten (kohlige Chondrite). Goldin war sehr interessiert und schlug Vince ein Treffen vor, aber es erwies sich als schwierig, einen Termin zu arrangieren. 

Anfang Mai 1996 lernte ich Goldin bei einer der Sitzungen unseres Beratergremiums ebenfalls kennen. Eine Zeitschrift hatte inzwischen meinen Artikel über die CI-Meteorite abgedruckt. Ich gab Goldin ein Exemplar und erklärte dazu, daß wir den Beweis für ein früheres Leben auf dem Mars antreten konnten. Er schien völlig perplex.

Es war nicht einfach gewesen, die Veröffentlichung des Artikels zu erreichen. Ich hatte ein Jahr lang mit den wissen­schaftlichen Beratern der Zeitschrift (einige davon Mitarbeiter des Lunar-and-Planetary-Institute in Houston) über verschiedene Aspekte des Artikels korrespondiert und war dabei auf alle vorgebrachten Bedenken eingegangen. 

Schließlich waren alle Vorbehalte ausgeräumt, und mein Artikel wurde zur Publikation angenommen. Als ich diese gute Nachricht erfuhr, rief ich sofort Bartholomew Nagy an, denn er war ja eigentlich der Mann, der das Leben auf dem Mars entdeckt hatte, als er fossile Reste mikrobischen Lebens auf den CI-Meteoriten nachgewiesen hatte, lange bevor es auf den Meteoriten der SNC-Kategorie identifiziert wurde. 2) Er klang erfreut, reagierte aber sehr zurückhaltend. Ich schickte ihm den Artikel, aber als ich drei Monate später bei ihm anrief, um mich nach seiner Meinung zu erkundigen, erfuhr ich zu meinem Bedauern, daß er einen Monat zuvor verstorben war. Immerhin war er in dem Wissen gestorben, daß er, soweit es in meiner Macht stand, rehabilitiert worden war.

Die Publikation unserer Erkenntnisse über die Herkunft der CI-Meteoriten vom Mars bedeutete natürlich noch lange nicht, daß nun jedermann diese Vorstellung akzeptierte.3 Ein Kollege war über meinen Artikel dermaßen empört, daß er mich am Telefon beschimpfte und mir unwissenschaftliches Verhalten vorwarf. Da traf mich also diese besondere Art von Feindseligkeit, die immer dann auftritt, wenn an das Paradigma der Einzig­artigkeit des Menschen gerührt wird.

Aus meiner Frustration wurde jedoch ein wunderbares Triumph­gefühl, als sich das Blatt noch im selben Jahr von Grund auf wendete: Im August gab die NASA bekannt, daß man im Meteoriten ALH84001, dem ersten alten Meteoriten vom Mars, Mikrofossilien gefunden hatte. Wir hatten es also doch geschafft! Wir hatten etwas bewirkt. Indem wir die Marsherkunft der CI-Meteoriten zur Diskussion gestellt hatten, hatten wir gezeigt, daß es gar nicht so »gefährlich« war, Leben auf dem Mars zu entdecken.

An dem Tag, als die NASA die Nachricht vom Leben auf dem Mars verkündete, saß ich mit Vince im Konferenzsaal, und gemeinsam erlebten wir mit, wie vor unseren Augen Geschichte geschrieben wurde. Dan Goldin stand, ein Gremium von Wissenschaftlern im Rücken, sehr aufrecht in seinen Cowboystiefeln da und verkündete die Neuigkeit über den ALH84001. So, wie Goldin die Leistung der NASA in dieser Sache herausstrich, erkannte ich darin den geschickten Schachzug des klugen Spielers und der geborenen Führungspersönlichkeit.

Das Budget der NASA war aus Gründen des Etatausgleichs gravierend gekürzt worden. Bald würde die NASA nicht mehr über die notwendigen Mittel verfügen, um größere neue Projekte in Angriff zu nehmen, aber sie war auf solche neuen Projekte unbedingt angewiesen. Wenn es Leben auf dem Mars gab, dann hatte die NASA wieder eine Mission. Goldin war wie ein König in einer belagerten Stadt, der eines Nachts aus der Sicherheit der Stadtmauern heraus mit seinen Männern einen kühnen Ausfall wagt und die feindliche Streitmacht in ihren Zelten schlafend überrumpelt. Nach seiner Presseerklärung stieg Goldin vom Podium herunter und schüttelte mir wortlos die Hand. Ich war verblüfft, empfand aber auch Genugtuung.

Mit den CI-Meteoriten in der Hinterhand wußte er vielleicht, daß die ALH84001-Entdeckung letztlich bestätigt werden würde, was auch geschehen sollte. Inzwischen jedoch sind die NASA-Mitarbeiter in Houston, denen die Entdeckung der Lebensspuren vom Mars zu verdanken ist, den Anfeindungen derjenigen ausgesetzt, die ihr Paradigma der Einzigartigkeit des Menschen mit Klauen und Zähnen verteidigen.

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Carl Sagan war schon unheilbar krank, aber es war ihm vergönnt, die Presseerklärung der NASA noch zu erleben. Leider starb er kurz darauf, nicht ohne das erhebende Wissen jedoch, daß sein Lebenswerk den Erfolg der NASA mit ermöglicht hatte. Auch wenn er in öffentlichen Verlautbarungen nie einen Hehl aus seinen Zweifeln an den Cydonia-Hypothesen gemacht hatte, empfanden wir sein stilles, unauffälliges Interesse an der Arbeit der unabhängigen Marsforschungs­gruppe als sehr ermutigend.

Carl Sagan hatte sich erstaunlicherweise vor allem durch die Erforschung des Treibhauseffekts einen Ruf als hervorragender Wissenschaftler erworben. Der Treibhauseffekt beherrscht in seiner schlimmsten Ausprägung heute die Klimaverhältnisse auf dem Planeten Venus. Einiges deutet darauf hin, daß es früher auf der Venus Meere gab, genau wie auf dem Mars und wie heute auf der Erde. Als sich unsere Sonne aber immer mehr erhitzte, fiel die Venus einem galoppierenden Treibhauseffekt zum Opfer, wie er stets dann auftritt, wenn die vom Treibhauseffekt verursachte Erwärmung auf sich selbst zurückwirkt. 

Wenn es auf der Venus Meere gab, dann hätten sie sich unter dem Einfluß des rasch um sich greifenden Treibhauseffekts deutlich angehoben. Weil warmes Wasser weniger Kohlendioxid aufnehmen kann als kaltes, wäre durch die Erwärmung noch mehr gelöstes Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangt, das hätte wiederum den Treibhauseffekt verstärkt, und die Temperaturen wären weiter gestiegen. Nun hätten die Meere noch mehr Wasserdampf abgegeben, der als Treibhausgas 100mal stärker wirkt als Kohlendioxid. Das Ganze wäre ein tödlicher Kreislauf einander dramatisch beschleunigender Effekte gewesen.4

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Vielleicht gab es auf der Venus sogar Mikroorganismen, bevor die Temperaturen dort sprunghaft anstiegen. Wir können ein solches mikrobisches Leben auf der Venus voraussetzen, weil sowohl Erde als auch Mars in ihrer Frühzeit offenbar Leben aufwiesen, und zwar so früh, daß es ungewiß ist, ob das Leben auf den einzelnen Planeten spontan aus der Ursuppe entstehen konnte. Es gibt eine Theorie, der zufolge das Leben nicht auf der Erde selbst entstanden ist. Diese Theorie geht davon aus, daß Mikroorganismen aus dem All mit dem kosmischen Staub auf die drei Planeten Erde, Mars und Venus gelangt seien. Die Theorie wurde gestützt durch die Entdeckung von Mikrofossilien im Murchison-Meteoriten.5  

Der Murchison-Meteorit gehört nicht zur CI-, sondern zur CM-Gruppe, also zur zweiten Kategorie der kohligen Chondriten. Als er im Jahr 1969 die Erde als Feuerball erreichte, zerbarst er in Hunderte von Gesteins­brocken, die über dem südostaustralischen Staat Victoria niederprasselten. Er kam wahrscheinlich aus dem Asteroidengürtel, aber gewiß nicht vom Mars. Mit diesem neuerlichen Auftauchen eines Meteoriten, der Mikrofossilien enthielt, sieht es plötzlich so aus, als gedeihe mikrobisches Leben fast überall in unserem Sonnensystem.

*

Zu den ersten, die einen interplanetarischen Transfer von Mikroorganismen vorhersagten, gehörte Svante August Arrhenius, der 1903 für seine Forschungsarbeit über elektrolytische Dissoziation den Chemie-Nobelpreis erhielt. Seine Hypothese vom »lebendigen« Kosmos wurde »Panspermie« genannt.

Arrhenius war der Auffassung, der Kosmos wimmle von Leben, das, vom Strahlungsdruck getragen, durch Sporen von Planet zu Planet (und sogar von Stern zu Stern) verbreitet würde. Zwar galt seine Theorie viele Jahrzehnte lang als sehr unwahrscheinlich, aber inzwischen zeichnen sich Indizien dafür ab, daß Arrhenius ein größerer Kopf war, als wir dachten, und daß — mit Meteoriten als »Transportmittel« — das Leben vermutlich von Planet zu Planet reist und vielleicht sogar von Sonnensystem zu Sonnensystem.

Interessanterweise war Arrhenius auch der Urheber einer anderen eindrucksvollen und ernüchternden Prognose, nämlich der, daß unter einer isolierenden Kohlendioxidschicht die Sonnenwärme gefangen bleiben könnte. Was Arrhenius beschrieb, war nichts anderes als der Treibhauseffekt.

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Er war der erste, der vorhersagte, daß die Menschen durch den Verbrauch fossiler Brennstoffe, durch den große Mengen Kohlendioxids in die Atmosphäre gelangen, das thermische Gleichgewicht der Erde verändern und eine globale Erwärmung bewirken können.

 

Carl Sagan stellte als erster fest, daß die Atmosphäre des Mars in zwei stabilen Zuständen existieren konnte. In einem der Zustände war der Planet kalt und hatte eine Atmosphäre mit wenig Kohlendioxid, da die Hälfte von dessen gesamter Menge in gefrorener Form an den Polen des Mars konzentriert war. Es gab keinen Treibhauseffekt, weil die Atmosphäre so dünn war. Im zweiten stabilen Zustand hatte die Atmosphäre des Mars ungefähr den gleichen Druck und einen ähnlichen Kohlendioxidgehalt wie die der Erde. Das Kohlendioxid fing so viel Wärme ein, daß die Temperaturen denen auf der Erde ähnelten und freies Wasser existieren und auf der Oberfläche fließen konnte. Der dadurch entstehende Wasserdampf trug das Seine zum Treibhauseffekt bei. 

(Gerade jetzt, während dieses Buch in Druck geht, erfährt die Vermutung, daß es auf dem Mars einmal Wasser im flüssigen Zustand gegeben haben muß, starken Auftrieb durch die vom Mars-Orbital-Laser-Altimeter des Global-Surveyor gelieferten Informationen, denn diesen Daten zufolge gab es im Norden des Mars einmal einen riesigen Urozean.6)

Die beiden stabilen Zustände waren deutlich voneinander abgegrenzt. Wenn der Mars sich in einem der Zustände befand, glich er sozusagen einem Stein am Rand einer Klippe. Wenn der Stein durch irgend etwas bewegt wird, kann er von der Klippe herunterfallen. Der Mars war in keinem der beiden Zustände - gefrorene Wüste oder Treibhaus - ganz stabil. Aber durch ein gewaltiges Naturereignis, etwa einen Asteroideneinschlag, konnte das Marsklima plötzlich destabilisiert werden. In der Hesperia-Periode traten auf dem Mars anscheinend gewaltige Überschwemmungen auf, in deren Anschluß sich Kanäle bildeten, wie man sie auf den Aufnahmen der Viking-Sonde von der Chryse-Ebene erkennt. Es sieht also so aus, als hätte der Mars seinen stärksten Treibhauseffekt kurz vor dem großen Lyot-Einschlag erlebt und wäre dann relativ abrupt in den zweiten stabilen Zustand übergegangen, nämlich den Kältezustand, in dem wir ihn heute kennen.7

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Während das passierte, ging ein großer Teil des Kohlendioxids aus der Atmosphäre des Mars verloren, so daß nun nicht mehr genügend Kohlendioxid für eine neuerliche Erwärmung durch den Treibhauseffekt vorhanden war.8) Der Mars sollte auf ewig gefroren bleiben.

Der Mars Global Surveyor, mit dem die NASA nach über 20 Jahren zum ersten Mal wieder eine Mission zum Vermessen und Analysieren der Marsoberfläche unternahm, erreichte Anfang September 1997 den Mars. Die Sonde sollte im März 1998 beginnen, Aufnahmen von der Marsoberfläche zu machen. Die Beschädigung eines Solarpaneels machte dann aber eine Änderung des ursprünglichen Flugplans erforderlich, denn das Bremsmanöver mußte nun sehr viel behutsamer durchgeführt werden. Die Vermessung der Oberfläche wurde auf 1999 verschoben. Dennoch konnte die Kamera an Bord sofort beginnen, ihre zum Teil spektakulären Aufnahmen zu machen.

Nach vielem Lavieren seitens der NASA und einem Sturm öffentlicher Fragen verkündeten die Verantwortlichen endlich, daß an den drei Tagen, an denen die Voraussetzungen dafür gegeben waren, nämlich am 5., 14. und 21. April, Aufnahmen von der Cydonia-Region gemacht werden sollten. Angesichts der kontroversen Meinungen zu diesem Thema wurde vor Vertretern der unabhängigen Marsforschung die Zusage gemacht, daß sich das JPL bei der Veröffentlichung der Aufnahmen erst einmal eines offiziellen Kommentars enthalten werde." Die NASA ließ die Cydonia-Aufnahmen gegen die Einwände des Vertragsunternehmens machen, das die Kamera des Mars Global Surveyor konstruiert hatte und ihre Funktionen vom Boden aus überwachte. Es war wie schon bei der Viking-Suche nach Leben auf dem Mars: Viele Wissenschaftler hielten die neuerlichen Aufnahmen der Cydonia-Region für ein sinnloses Unterfangen, obwohl sie sich die vorhandenen Daten nie ernsthaft angesehen hatten. Als schließlich das »Gesicht« aufgenommen wurde, geschah dies unter Bedingungen, die wesentlich ungünstiger waren als 1976, zum Zeitpunkt der beiden Viking-Aufnahmen. Dennoch, es waren neue Daten, und diese hart erkämpfte Chance ließ die Herzen aller höher schlagen, die über 20 Jahre lang darauf gewartet hatten.

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Als nach 22 Jahren die ersten neuen Bilder von Cydonia veröffentlicht wurden, führte ich gerade zusammen mit Vince DiPietro in New Hampshire Experimente durch. Wir wollten an unsere früheren Erfolge anknüpfen und mit Hilfe eines industriellen Mikrowellenofens in größerem Maßstab künstliche Kugelblitze erzeugen. Als wir nach einem langen, anstrengenden und wenig erfolgreichen Tag spät abends ins Hotel zurückkehrten, hörten wir in den Nachrichten, daß ein neues Bild vom »Gesicht« aufgenommen und dieses bereits als erodierter Tafelberg interpretiert worden sei - wie es Malin und andere Kritiker seit zwei Jahrzehnten behauptet hatten. Wie in einer alptraumhaften Wiederholung der Vorgänge vom Juli 1976, als man nach der Entdeckung des »Gesichts« eine überstürzte wissenschaftliche Bewertung getroffen hatte, lieferte man auch diesmal mit unwissenschaftlicher Eile eine abschließende Erklärung, die jede Chance auf eine sorgfältige Untersuchung der neuen Daten und Fakten zunichte machte.

Vince und ich versuchten vergeblich, die Internetseite mit den neuesten Informationen der NASA auf unseren Laptop herunterzuladen. Schließlich gingen wir in ein nahegelegenes Restaurant, aßen eine Kleinigkeit, unterhielten uns und tranken ein paar Bier und dann noch ein paar. Uns war zum Heulen zumute. Niemand laßt sich gern einen Irrtum nachweisen. Wir kehrten ins Hotel zurück und sahen das Bild, um das wir uns so bemüht hatten, einige Sekunden lang im fernsehen. Es sah völlig anders aus, als wir erwartet hatten. So deprimiert wir auch waren, wußten wir doch, daß man in der Wissenschaft nach bestem Wissen eine Hypothese aufstellt und dann versucht, sie zu beweisen oder zu widerlegen. Wir hatten buchstäblich Jahre auf diesen Moment gewartet.

Als Vince wieder in seinem Hotelzimmer war, erhielt er einen Anruf von einem New Yorker Talk-Moderator, der boshaft kicherte und ihn voller Häme auf das »Gesicht« ansprach. »Kommen Sie sich jetzt nicht vor wie ein Idiot?« fragte der Anrufer. Vince knallte den Hörer auf und brachte den Moderator und seine Gäste so um ihr gehässiges Vergnügen. Es gelang mir schließlich, das Bild aus dem Internet herunterzuladen, so daß ich es mir endlich genauer ansehen konnte. Es schien einen Trümmerhaufen zu zeigen. 

Mit meinen Gedanken allein, mußte ich der Möglichkeit ins Auge sehen, daß alle meine

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Bemühungen, aller Spott, den ich ertragen hatte, sinnlos gewesen waren. 

Schließlich schob ich diese deprimierenden Gedanken beiseite. Ich hatte meine Marsreise in Cydonia begonnen und war in die Amazonien-Ebene gelangt. Die Suche nach der Wahrheit hatte mich auf eine Entdeckungsreise geführt, auf der ich tiefere Einsichten über die Erde gewonnen und eine ganz neue Fürsorge für unseren eigenen Planeten entdeckt hatte.

Vince kam wieder zu mir aufs Zimmer. Wir sahen uns ein CNN-Interview mit einem der wissenschaft­lichen Leiter der Mars-Global-Surveyor-Mission an. Es war einer der beiden Männer, die eine Woche zuvor versprochen hatten, sich mit Kommentaren zu den Aufnahmen zurückzuhalten.10 Er war unverkennbar angespannt und nervös. Er betonte, daß das abgebildete Objekt noch nie etwas anderes als ein Tafelberg gewesen sei, aber er wirkte dabei mürrisch und gereizt - keineswegs wie der fröhlich triumphierende Mann, den zu sehen ich erwartet hätte. Ich wandte mich an Vince und fragte erstaunt: •»'Wieso freut sich der Kerl nicht? Er sieht aus, als hätte er ein Gespenst gesehen.«

»Ja, du hast recht«, entgegnete Vince ebenso verdutzt wie ich. »Warum freut er sich nicht?«

Wir rätselten noch ein bißchen herum und unterhielten uns dann wieder über die Plasmaexperimente, die wir für den nächsten Tag geplant hatten. Vince kehrte in sein Zimmer zurück, und ich ging zu Bett, konnte aber nicht einschlafen. Ich fragte mich immer noch, warum dieser Wissenschaftler so unglücklich gewirkt hatte. Schließlich stand ich auf und sah mir das Bild auf dem Laptop noch einmal genauer an. Gab es da etwas, das dem Mann so gründlich die Laune hatte verderben können?

 

Der riesige Asteroid war erbarmungslos auf den Mars zugestürzt. Der Planet, in dessen Gravitationsfeld er geraten war, verfügte nicht über die technischen Mittel, seine Bahn zu berechnen oder sich vor dem Aufprall zu schützen. Er konnte ihm keine Atomraketen entgegenschicken, die ihn hätten ablenken oder zerstören können. Der Asteroid näherte sich dem Planeten von der Nachtseite, der sonnenabgewandten Seite.

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Wenn Asteroiden Verstand hätten, so hätte dieser Angst gehabt, und wenn sie ein Herz hätten, so hätte dieser geweint. Aber es sind nur leblose Steine. Als der Himmelskörper am Ende seiner Reise durch die Atmosphäre des Planeten raste, erstrahlte er noch einmal zu blendender Glut und bohrte sich dann, an der Grenze zwischen Land und Meer, mit einer unvorstellbaren Wucht in den Fels. Aus der Ferne hätte man einen gleißenden Feuerball gesehen, der aufstieg und größer wurde wie eine aufgehende Sonne. Das Licht, das von ihm ausging, brannte so heiß, daß es augenblicklich alles organische Material in seiner Reichweite in Brand gesetzt hätte. Die Druckwelle, die sich vom Einschlagort ausbreitete, erzeugte eine kuppelförmige Dunst- und Staubwolke, die die Landschaft verdunkelte, bevor sie sich mit der sich weiter ausbreitenden Welle ausdehnte. Im Meer zerschmetterte die Druckwelle wie ein Dampfhammer alles Leben. Über der Dunstwolke erschien ein neuerlicher gleißender Feuerball. Dann stieg eine Fontäne bläulich-weißer Gesteinstrümmer wie eine Säule in den Himmel, während sich die Druckwelle fortpflanzte und alle Vegetation, die es auf dem Mars gegeben haben mochte, zermalmte; bis das Vakuum, das entstanden war, als die Detonation ein riesiges Loch in die Atmosphäre gerissen hatte, alles in sich aufsaugte und dafür kosmische Kälte einströmte, die das Werk der Zerstörung vollendete. Ein weißglühender Trümmerschauer folgte der Druckwelle, die über den Planeten raste, und setzte alles in Brand. Der Himmel war jetzt ein glühender Ofen. Die Druckwelle, die an einem Unglückspunkt auf der südlichen Hemisphäre südlich der Amazonien-Ebene zusammenlief, wurde mit einer Wucht zu ihrem Ausgangspunkt zurückgeworfen, die tödlich gewesen wäre, hätte es noch eine Spur von Leben auf dem Planeten gegeben.

Der Mars wurde also erst geröstet und dann tiefgefroren. Seine Meere wurden zu Eis, das atmosphärische Kohlendioxid fiel gefroren, wie gebrochenes Glas, herunter und sammelte sich schließlich an den Polen.11 Der atmosphärische Sauerstoff verband sich wieder mit dem Boden und dem bloßliegenden organischen Material, und die ultravioletten Strahlen der Sonne brannten unbarmherzig herunter und töteten auch das letzte bißchen Leben, das auf dem Mars noch übrig war.

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Sogar das Wasser zersetzte sich durch die Strahlung und entwich in die Weite des Alls. Und nun oxidierte der Mars, seine Oberfläche färbte sich rot, und der Wasserstoff verlor sich auf ewig zwischen den Planeten.

So nahm der Mars seinen Platz unter den toten und unfruchtbaren Planeten des Universums ein, und während die Staubstürme wüteten, starrte ein einsamer Tafelberg, der wie ein »Gesicht« aussah, mit leblosen Augen in den Weltraum. Die Überreste des großen Nordmeeres gefroren auf dem Mars und zogen sich dann langsam zum Nordpol hin und ins Innere des Planeten zurück. Übrig blieb die Amazonien-Ebene, eine gefrorene Wüste unter regungslosen Sternen. Die Unterseite der kilometerdicken Eisschicht schmolz und zwang das Wasser in den Boden, wo es sich mit gefrorenem Kohlendioxid (Trockeneis) zu gewaltigen unterirdischen Carbonatablagerungen vermischte, die die Silikate verdrängten. Das nun freie Siliziumdioxid der Gesteine bildete um die Polkappe ein riesiges Sandmeer, größer als die Sahara - ein Meer von Dünen, die gewaltiger waren als alles Vergleichbare auf der Erde.

 

 

Als ich auf dieses alte, verwitterte Gebilde auf meinem Computerbildschirm starrte, beschlich mich plötzlich ein vertrautes Gefühl der Beklemmung. War diese Lyot-Katastrophe über vernunftbegabte Wesen hereingebrochen? Was, wenn wir auf der Erde etwas Ähnliches erleben würden? Es war ein erschreckender Gedanke und zugleich eine eindringliche Mahnung: Planeten leben, und Planeten sterben. Die einen sterben durch einen unberechenbaren Akt kosmischer Gewalt, die anderen vielleicht durch die zerstörerischen Kräfte, die von den eigenen Bewohnern unbeabsichtigt entfesselt werden.

Ich hatte versucht, die Zusammensetzung der Marsatmosphäre vor und nach deren Zerstörung zu simulieren. Dabei kam mir eine schockierende Erkenntnis über unsere Erde. Ich stellte mir vor, daß die Atmosphäre des Mars vor der Katastrophe derjenigen der Erde geglichen hätte, jedoch mit Kohlendioxid anstatt Stickstoff als Hauptbestandteil (zwei Drittel). Außerdem enthielt sie Wasserdampf und Sauerstoff (ungefähr ein Fünftel) sowie Stickstoff (vermutlich ein Zehntel).

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Damit ein möglichst starker Treibhauseffekt eintritt, muß Kohlendioxid unter Druckverhältnissen, wie sie in der Erdatmosphäre herrschen, vorhanden sein, so daß Wasser bei gewöhnlichen Temperaturen verdunsten und seinen Teil zur Erwärmung beitragen kann. Ich hatte mir vor der Katastrophe einen grünen, fruchtbaren Mars vorgestellt, mit einer Ozonschicht oder vielleicht, wie kürzlich postuliert, mit einer Schicht gefrorenen Kohlendioxids. Aber in jedem fall könnte er ein ebenso üppiges Leben beherbergt haben wie heute die Erde.12

Dann kam der Asteroid und mit ihm der ewige Winter. Kohlendioxid und Wasserdampf gefroren, verschwanden also aus der Atmosphäre, so daß der Treibhauseffekt für immer unterbunden war. Abgesehen von mikrobischen Spuren einer Biosphäre, war alles Leben vernichtet. Zurück blieb der Hauch einer Atmosphäre mit einem Rest von Stickstoff und Sauerstoff, die dem allmählichen Verfall preisgegeben war. Der Stickstoff ist nicht zersetzbar und blieb bestehen, aber der Sauerstoff ist reaktiv; er konnte sich mit dem Boden verbinden, so daß die rötliche Färbung des Mars entstand, die wir heute sehen. Aber wie schnell verschwand die Sauerstoffatmosphäre? Die Frage hatte mich den Winter über, der den Cydonia-Aufnahmen des Mars Global Surveyor vorausging, nicht in Ruhe gelassen. Ich fragte mich, warum ich mich an diesem Problem festbiß, da es doch unwichtig schien.

Schätzungen zufolge würde es nur eine Million Jahre dauern, bis die Erdatmosphäre zerfiele, wenn es kein Leben mehr auf dem Planeten gab — also einen winzigen Augenblick gemessen an der geologischen Zeit, in der eine Milliarde Jahre eine kurze Zeitspanne sind. Überträgt man diese Schätzung auf den Sauerstoff in der Marsatmosphäre, dann müßte er pro Jahr um ein Millionstel abgenommen haben. Ich dachte an den einzigen Planeten, von dem ich wußte, daß er eine Sauerstoffatmosphäre hatte. Und ich fragte mich: Wie lang dauerte sein Zyklus, und von welchen Vorgängen wurde dieser gesteuert? Irgendwann einmal wies mich Stephen Corrick auf die Tatsache hin, daß in einigen japanischen Städten der Sauerstoffgehalt der Luft zeitweise so niedrig ist, daß ihre Bewohner kaum atmen können. Und meine Co-Autorin, Monica Rix Paxson, äußerte ihre Beunruhigung über den Anstieg des Kohlendioxidgehalts in der Luft mit seinen zum Teil unerwarteten Folgen.

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Wir wußten außerdem, daß der Sauerstoffgehalt des Meerwassers abnehmen muß, wenn dieses mehr Kohlendioxid aufnimmt. Als mir das alles so durch den Kopf ging, wurde mir plötzlich klar, daß die Erde wohl im Begriff ist, eine schicksalhafte Schwelle zu überschreiten.

Der Sauerstoffgehalt der Erdatmosphäre, so überlegte ich, muß sinken - wenn nicht jetzt, dann in naher Zukunft. Ich wußte, daß der Regenwald am Amazonas einen großen Teil unseres Sauerstoffs produziert und daß bereits ein nicht mehr zu übersehender Anteil aller Regenwälder der Welt abgeholzt oder durch Brandrodung vernichtet worden war. Wie ich herausfand, beträgt die Geschwindigkeit, mit der der Kohlendioxidanteil der Atmosphäre zunimmt, derzeit etwa 1,5 ppm (Teile auf eine Million) pro Jahr und nimmt in geometrischer folge zu. Dann betrachtete ich die Auswirkung geologischer Prozesse, die Reaktion von Kohlensäure mit Gestein, wobei Sand und Carbonate entstehen, außerdem die vulkanische Emission von Kohlendioxid aus unterirdischen Carbonaten.

Zu jener Zeit kam Monica Rix Paxson zu der Erkenntnis, daß bestimmte Klimasimulationen überflüssig waren, wenn man die Tatsache bedachte, daß alle Kohlendioxiddepots ihre Kapazität voll ausschöpften. Sie nannte diese Entdeckung »Überlaufsenke« (»All Sinks Plus«). Gleichgültig, wieviel Kohlenstoff die Biosphäre verarbeitete oder aufnahm - in jedem Jahr seit 1750 wurde die Gesamtkapazität aller Senken durch die ständig steigende Abgabe von Kohlendioxid an die Atmosphäre überschritten. Nimmt man an, daß die Geschwindigkeit der Carbonatbildung und der vulkanischen Emissionen einander ungefähr ausgleichen, dann bleibt die 'Nettogeschwindigkeit übrig, mit der in der Biosphäre durch das Verbrennen von Sauerstoff und den Verbrauch von Kohlendioxid in der Photosynthese letztlich immer mehr Kohlendioxid erzeugt wird. So dient die Geschwindigkeit, mit der der Kohlendioxidanteil steigt, als Maßstab, an dem wir ablesen können, um welchen Wert die von uns produzierte Menge an Kohlendioxid die Fähigkeit der Biosphäre, dieses zu verbrauchen oder zu lagern, übersteigt. Weil Sauerstoff und Kohlendioxid im Grunde Gegenspieler sind, bedeutet das auch, daß wir den Sauerstoff schneller verbrauchen, als die Pflanzen ihn erzeugen können. Ich rechnete nach und kam zu dem Schluß, daß der Sauerstoffanteil bereits sinken mußte und daß dies meßbar sein müßte. Ich rief in der Wetterstation Mauna Loa auf Hawaii an, wo atmosphärische Veränderungen beobachtet und gemessen werden, und erkundigte mich, ob man dort

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Messungen des Sauerstoffanteils in der Luft durchgeführt habe. Wir schrieben den Juni 1998 ...

»Ja, wir haben gerade vor einigen Wochen zusammen mit dem Scripps Oceanographic Institute solche Messungen durchgeführt«, beantwortete ein Mitarbeiter meine Frage.
»Und wie sind die Werte im Vergleich zu den Standardwerten von 1958?«
»Oh! Sie liegen niedriger!« rief er plötzlich aus.
»Um wieviel? Um mehrere ppm?«
»Es besteht kein Gesundheitsrisiko! Niemand ist in Gefahr!«
»Ist die Abnahme also gering?«
»Sie können es selbst ausrechnen! Wir verbrauchen ihn schneller, als er neu entsteht!«
Der Mitarbeiter fand seine Fassung plötzlich wieder, empfahl mir, einen Mr. Keeling bei Scripps anzurufen, und legte dann auf.

 

 

Christy Booker zog, während sie noch die High School besuchte, für zwei Jahre von St. Louis weg, und etwas Merkwürdiges geschah. In diesen zwei Jahren war sie gesund und hatte kein einziges Mal mit den Asthmaanfällen zu kämpfen, die ihr bisheriges Leben überschattet hatten. In diesen zwei Jahren, die sie in Philadelphia verbrachte, mußte sie keines ihrer gewohnten Medikamente nehmen. Wir können zwar nicht mit Sicherheit sagen, was die Veränderung bewirkte, aber Christy selbst vermutet, daß es an der Luftqualität lag.

Asthmatiker reagieren im allgemeinen empfindlich auf Schadstoffe in der Luft. Auch bei Christy hatten die Allergietests, die sie als kleines Kind über sich hatte ergehen lassen müssen, zu dem Ergebnis geführt, daß sie gegen eine ganze Reihe von Schadstoffen in der Luft allergisch war. Christy brauchte die Hinweise für Allergiker nicht, die regelmäßig in Presse, Funk und Fernsehen veröffentlicht wurden. Wozu auch, da ihr Körper ihr stets genau sagte, wie es mit der Luftqualität bestellt war? Die in den Medien veröffentlichten Berichte über den Grad der Belastung der Luft mit Schadstoffen und Allergenen bestätigte nur das, was sie ohnehin schon wußte.

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Ihr Körper war also ein empfindliches »Meßinstrument«, das auch sehr geringe Veränderungen der Luftqualität registrierte. Wenn sie daher sagt, daß sie besser atmen konnte, nachdem sie St. Louis verlassen hatte, weil die Luftqualität in Philadelphia besser für sie war, müssen wir diese Beobachtung ernstnehmen. Es war fast so, als wäre sie auf einen anderen Planeten umgezogen.

Gegenwärtig überwacht die amerikanische Umweltschutzbehörde (Environmental Protection Agency, EPA) die Luft auf sechs Schadstoffe hin: Kohlenmonoxid, Ozon, Stickstoffdioxid, Schwefeldioxid, Schwebeteilchen und Blei.13 Kohlendioxid wird, wie Wasserstoff, Stickstoff, Helium und Sauerstoff, sozusagen als natürliches Hintergrundgas angesehen und gilt nicht als »Luftverschmutzung«. Die meisten Wissenschaftler sehen im Kohlendioxid nur insofern eine Gefahr, als es den Treibhauseffekt und damit die globale Erwärmung vorantreibt.

Dieses Gas »besetzt« also einen immer größeren Teil unserer Atemluft. Ist es da nicht angebracht, seinen Status als »harmloses« Hintergrundgas zu überprüfen? Wie Studien der Medizinischen Fakultät der Wayne State University ergaben, tritt Kohlendioxid selten in toxischen Konzentrationen auf, erhöht aber die Toxizität anderer Gase, darunter Kohlenmonoxid, und verschlimmert den Effekt der Sauerstoffabnahme.14 Obwohl dieser sehr geringe Sauerstoffschwund (Oxygen Inventory Depletion, OID) und der steigende Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre keine uns bekannten negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen haben, dürfen wir diese potentiell gefährliche Entwicklung auf keinen Fall ignorieren.

Es herrscht keine Einigkeit darüber, wieviel Kohlendioxid in der Luft unser Körper unbeschadet verkraftet. Während die amerikanische Gesundheitsbehörde OSHA (Occupational Safety and Health Administration) den Grenzwert für langzeitige Exposition bei 10.000 ppm ansetzt, nimmt die American Conference of Governmental Industriell Hygienists an, daß eine gesundheitliche Gefährdung schon bei der Hälfte des Wertes gegeben ist.15

Die komplexen Auswirkungen des Kohlendioxids auf den menschlichen Organismus sind bei den Atemweg­spezialisten unter den Medizinern schon lange bekannt. Das Standardwerk »Carbon Dioxide«, erschienen in der Cyclopedia of Mediane, beschreibt seine Bedeutung so: »Kohlendioxid ist das wichtigste direkte Atmungshormon.«16

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Unser Atmungsmechanismus wird demnach weniger durch das Bedürfnis, Sauerstoff aufzunehmen, stimuliert, sondern eher durch den Drang, Kohlendioxid abzugeben.

Kohlendioxid in leicht erhöhten Konzentrationen kann auch die Fähigkeit der Zellen beeinträchtigen, den Sauerstoff zu nutzen. Europäische Wissenschaftler, die diese Tatsache entdeckten, warnen in ihrem Bericht: »Die Ergebnisse sind wahrscheinlich signifikant für die Analyse wichtiger bioökologischer Probleme wie der Zunahme der Konzentration des Kohlendioxids in der Atmosphäre und seiner Wirkung auf Menschen und Tiere.«17 Schon eine leicht erhöhte Kohlendioxidkonzentration verändert unsere normale Atmung.18 Außerdem reagiert nicht jeder Mensch gleich darauf. Beispielsweise atmeten bei einem Experiment drei Männer drei Stunden lang Luft mit drei Prozent Kohlendioxidanteil; zwei schienen sich daran zu gewöhnen, der dritte aber nicht.19 Wird es sich ähnlich verhalten mit der verdreifachten Kohlendioxidkonzentration (ungefähr 740 ppm) in der Erdatmosphäre, wie sie derzeit prognostiziert wird?20

Wie Sie sich vorstellen können, macht man sich viele Gedanken über das richtige Gasgemisch in Raumfahrzeugen. Zum Beispiel wäre es durch die infolge einer technischen Störung aufgetretene Erhöhung der Kohlendioxidkonzentration an Bord von Apollo 13 um ein Haar zu einer Tragödie gekommen. Wie verschiedene Untersuchungen ergaben, kann die Besatzung eines Raumfahrzeugs eine Kohlendioxidkonzentration von etwa einem Prozent über mehrere Wochen hinweg verkraften, aber biologische Experimente reagieren bei diesen Konzentrationen unter Umständen empfindlich auf das Kohlendioxid.21

Stellen Sie sich nun vor, was geschähe, wenn alle Organismen auf der Erde — also auch wir, die wir den physiologischen Belastungen eines Raumflugs nicht gewachsen sind — höheren Konzentrationen von Kohlendioxid ausgesetzt wären. Sind die Asthmatiker unter den Kindern und Erwachsenen dann etwa »die empfindlich reagierenden biologischen Experimente« an Bord unseres Raumschiffs, der Erde? Und was ist mit all den anderen Lebewesen? Führen wir da nicht ein gefährliches Experiment mit Gasen in der Atmosphäre durch — hier und jetzt?

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Ein voller Atemzug mit überdurchschnittlicher Kohlendioxidkonzentration kann bewirken, daß wir nach Luft ringen und einen Würgereiz spüren. Nicht nur Asthmatiker wissen, wie unangenehm das ist. Ähnlich wie unverträgliche Inhaltsstoffe bei einer Nahrungsmittelallergie kann hier das Kohlendioxid den Selbstschutzmechanismus des asthmaanfälligen Organismus auslösen.

Wenn das Kohlendioxid bei einer bestimmten Konzentration ein harmloses Hintergrundgas ist, bei einer anderen aber ein tödliches Gift — wo liegt dann der Grenzwert, bei dem es zur Bedrohung wird? Zwar ist die Antwort auf diese Frage noch unklar, aber sollen wir einfach der konventionellen Sicht folgen und annehmen, daß eine jährliche Erhöhung der Kohlendioxid­konzentration, kombiniert mit einer sinkenden Sauerstoffkonzentration, keine Gesundheitsschäden mit sich bringt? Wir interessieren uns für die medizinischen Antworten auf diese Fragen und nicht für die vorschnellen Beschwichtigungsversuche von Experten für die Chemie der Atmosphäre, denn diese tun sich nicht gerade mit der Veröffentlichung wichtiger Befunde hervor.22

Wenn sich die Menschen die potentielle Gefahr des Kohlendioxids ausmalen wollen, fällt es ihnen meist schwer, einem unsichtbaren Gas ein physikalisches Gewicht zuzuschreiben. Die Mengen an Treibhausgasen in der Luft werden gewöhnlich in Tonnen angegeben, aber damit können wir nicht viel anfangen. Besser wäre es, das Gewicht in das entsprechende Volumen umzurechnen, damit wir uns vorstellen können, um welche Mengen es geht.23

1997 wurden weltweit insgesamt 6305 Million Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre eingebracht.24 Wenn sich diese Menge des freigesetzten Kohlendioxids mit einer 100prozentigen Konzentration in einem drei Meter hohen quadratischen Behälter befände, würde seine Grundfläche eine Kantenlänge von 1120 Kilometern haben; wäre also dreieinhalbmal so groß wie ganz Deutschland.

Aber auch das vermittelt uns bei weitem noch keinen Eindruck davon, wie giftig eine solche Menge des unsichtbaren Gases sein kann. Um das besser zu verstehen, kann man sich beispielsweise vor Augen halten, daß die US-amerikanische Gesundheits­behörde OSHA eine Kohlendioxidkonzentration von drei Prozent (30.000 ppm) als für den Menschen sehr gefährlich einstuft, wenn sie länger als einige Minuten eingeatmet wird.25

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Bei einer solchen Konzentration ergäbe das Kohlendioxid, das wir allein im Jahre 1997 in die Atmosphäre abgegeben haben, eine unsichtbare giftige Wolke mit einem Volumen, das gut 33mal größer ist als der eben erwähnte Behälter. Sie würde bei einer Höhe von drei Metern eine Fläche von 41,8 Millionen Quadratkilometern bedecken, also nicht viel weniger als ganz Asien. (Bedenken wir dabei, daß die atmosphärische Kohlendioxidwolke bei diesem Gedankenexperiment vermutlich nicht in Asien hätte erzeugt werden können, weil der Ausstoß an Kohlendioxid pro Kopf der Bevölkerung in China und in Indien nur einen kleinen Bruchteil dessen ausmacht, was in den Industrieländern freigesetzt wird.26) Offenbar verteilt sich das Kohlendioxid in der Atmosphäre, so daß deutlich geringere Konzentrationen erreicht werden, und ein großer Teil davon gelangt in den Stoffkreislauf von Pflanzen und Meeren. Aber diese Beispiele vermitteln einen Eindruck von den enormen Mengen, um die es geht.

 

Bald nach der Veröffentlichung der drei Bilder, die der Mars Global Surveyor von der Cydonia-Region gemacht hatte, nahmen Horace Crater, Mitchell Swartz, Vince DiPietro und ich in Boston an der Frühjahrstagung 1998 der Amerikanischen Geophysikalischen Gesellschaft (AGU) teil. Zusammen mit Mark Carlotto, Stanley McDaniel und Harry Moore hatten wir, noch vor der Entscheidung der NASA, diese Aufnahmen zu machen, Beiträge zum Thema Cydonia eingereicht. In den wenigen Wochen, seitdem uns die neuen Bilder zur Verfügung standen, hatten wir fieberhaft an ihrer Auswertung gearbeitet.

Als das JPL die erste neue Cydonia-Aufnahme veröffentlicht hatte, waren darauf der rechte und der linke Rand vertauscht, und sie wies eine so geringe Tiefenschärfe auf, daß das Objekt wie ein Fußabdruck in einer Schneeverwehung aussah. Mit einem Bild dieser Qualität hätte man sich nicht einmal um eine Fotografenlehre bewerben können. Ein Mann, der sich mit dem Kamerasystem an Bord der Sonde auskannte, äußerte die Vermutung, man habe die

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Vergrößerung gering gehalten, um die Aufnahme machen zu können. Wie dem auch sei, auf dem Bild war fast nichts zu erkennen, und in unserer Gruppe wurde von ihm aus naheliegenden Gründen bald nur noch als dem »Katzenklo« gesprochen. Am Nachmittag nach der Veröffentlichung dieser so unglaublich schlechten Aufnahme erklärten gewisse, nicht der NASA angehörende JPL-Mitarbeiter vor den Medien, diese Aufnahme beweise, daß das Gebiet nicht künstlich gestaltet worden sei. Sie schlössen ihre Erklärung mit der Teststellung, daß keine weitere Untersuchung notwendig sei. Dann, um 17.30 Uhr kalifornischer Zeit, als die Medien an der Westküste die Story längst verbreitet hatten und das Bild weltweit ausgestrahlt worden war, ersetzte das JPL es auf der offiziellen Website der Regierung durch eine deutlichere Aufnahme. Aber das erste Bild und die damit verbundene Botschaft hatten sich schon eingeprägt: »Das >Gesicht< auf dem Mars ist nichts als ein Geröllhaufen.« Sie waren schließlich das JPL. Und wer waren wir, daß wir ihnen hätten widersprechen dürfen - auch wenn wir auf eine 20jährige Erfahrung auf diesem Gebiet zurückblickten?

Michael Malin vom NASA-Vertragspartner Malin Space Science Systems in San Diego, Kalifornien, war für das fragwürdige Bild verantwortlich, weil nur er die Kamera an Bord des MGS steuerte und damit Einfluß auf alle Bilder hatte, die sie aufnahm. Er hatte für Cydonia noch nie etwas anderes als Spott übrig gehabt und das Bild nur auf Druck der NASA wie auch der interessierten Öffentlichkeit hin aufgenommen. Es war derselbe Michael Malin, der mir als mein Standnachbar während der Mars-Konferenz in Boulder, Colorado, so furchtbar auf die Nerven gegangen war. Jahrelang hatte er auf seiner Website Stimmung gegen die Erforschung des »Gesichts« gemacht. Es war offensichtlich, daß er in der Cydonia-Frage sehr engstirnig war. Aber, Gegner oder nicht, Michael Malin besaß die Rechte an der Kamera sowie für sechs Monate auch an allen Analysen der mit ihr aufgenommenen Bilder. Wie der Sprecher in der alten Fernsehserie »Outer Limits« konnte er »die Horizontale und die Vertikale kontrollieren«, was er - möglicherweise unbeabsichtigt - auch buchstäblich tat.

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Wie eine unserer Messungen ergab, war das eben erwähnte schlechte Bild um 17 Grad in der Vertikalen und um 20 Grad in der Horizontalen verdreht und hatte so wenig Tiefenschärfe, daß der rund 180 Meter hohe Tafelberg, auf dem sich das »Gesicht« befand, wie eine flache Sanddüne aussah.

Ich spielte zuerst mit dem Gedanken, unsere für die Tagung der AGU eingereichten Beiträge zurückzuziehen. Aber als wir das korrigierte Bild näher untersuchten, stellten wir fest, daß alles, was wir erhofft hatten - und noch mehr - auf diesem Bild erkennbar war. Das »Gesicht« war zwar sehr verwittert, jedoch anatomisch vollständig, mit zwei Augenhöhlen, Nase und Mund. Umgeben war es von einem unglaublich glatten und gleichmäßig geformten, symmetrischen Sockel, so daß der Eindruck eines behelmten Kopfes mit symmetrischen Ornamenten entstand. Außerdem entdeckten wir in der Cydonia-Ebene mehrere neue, faszinierende Details. Wir entschlossen uns, nicht klein beizugeben, unsere Berichte zu präsentieren und die bestmögliche Analyse eines Objekts zu liefern, von dem sich die Welt schon abgewandt hatte.

Kaum etwas fürchtet ein Wissenschaftler mehr, als sich lächerlich zu machen, indem er eine Auffassung vertritt, die bereits widerlegt ist. Aber wir gehörten zu den Menschen, die gegen den Strom schwimmen. Wir waren nicht mehr nur Vincent DiPietro und John Brandenburg. Die unabhängige Marsforschung hatte im Lauf der Jahre an Gewicht gewonnen. Wir waren jetzt die Societyfor Planetary SETI Research (SPSR, Gesellschaft zur Suche und Erforschung außerplanetarischer Intelligenz), eine angesehene Gruppe von Wissenschaftlern und Ingenieuren, die sich zusammengetan hatten, um unter Zuhilfenahme aller wissenschaftlichen Möglichkeiten die Erforschung des Cydonia-Phänomens voranzutreiben. (Zu uns gehörten 14 promovierte Wissenschaftler, einige leitende Mitarbeiter von NASA-nahen Unternehmen, ein ehemaliger Astronaut der NASA und der Vorsitzende der UN-Kommission für die friedliche Nutzung des Weltraums.) Gemeinsam hatten wir ein Buch verfaßt und damit die öffentliche Meinung verändert. Gemeinsam hatten wir darauf hingewirkt, daß die NASA das JPL beauftragt hatte, mit einer von diesem gesteuerten Raumsonde Aufnahmen von der Cydonia-Region zu machen, genau die Aufnahmen also, die das JPL so hartnäckig als überflüssig bezeichnet hatte.17 Es war also kein Wunder, daß gerade das JPL nach der Veröffentlichung der Aufnahmen so negativ reagierte. Das sollte für uns jedenfalls kein Grund sein, unsere Bemühungen aufzugeben.

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In der Zeit nach der Veröffentlichung der Bilder und der ablehnenden Reaktion darauf erholten wir uns allmählich von dem Schock, machten uns gegenseitig Mut, krempelten die Ärmel hoch und begannen mit der wissenschaftlichen Arbeit, die in den Augen der Steuerzahler von den Wissenschaftlern, die vom Staat dafür bezahlt wurden, schon erledigt worden war. Wir unterzogen die Aufnahmen einer sehr gründlichen Untersuchung, nicht nur das »Gesicht«, sondern die ganze Cydonia-Region.28 Was sich unseren Augen bot, verdient das Prädikat »unirdisch«. Zum Glück ist Mark Carlotto, Mitglied der SPSR, wahrscheinlich der weltweit beste Spezialist für Bildbearbeitung am Computer. Bald hatten wir Computersimulationen der Viking-Daten mit derselben Blickrichtung und den gleichen Beleuchtungsbedingungen wie in der Surveyor-Aufnahme des »Gesichts«. Es ergab sich eine fast perfekte Übereinstimmung. Außerdem hatten wir eine Drehung der Aufnahme als dreidimensionales Objekt erstellt; liier erschien es so, als würde es von oben betrachtet. Carlotto stellte fest, daß das Objekt zu 92 bis 99 Prozent symmetrisch war.29

Auch die Geologen unter uns machten interessante Entdeckungen. Der Geologe Harry Moore fand auf einem der Bilder etwas, das aussah wie Wassereis am Boden der Krater (eine unerwartete und aufregende Entdeckung). Einem anderen SPSR-Mitglied fiel auf, daß von den vereisten Kraterböden Sonnenlicht reflektiert und auf die Kraterwände geworfen werde, und wir entdeckten auf einer der anderen Aufnahmen einen ähnlichen gefüllten Krater.10 Dies war der erste Hinweis darauf, daß es außer in den Polargebieten bioverfüg-bares Wasser auf der Marsoberfläche geben könnte. James Erjavec, Geochemiker und ebenfalls SPSR-Mitglied, fand auch Hinweise auf wellenbedingte Terrassenformationen, die vermuten ließen, daß die Landschaft, in der sich das »Gesicht« befand, vielleicht zu irgendeiner früheren Zeit der Marsgeschichte »mitten in einem Urozean« lag; zudem fand er an den Rändern des »Gesichts«-Plateaus Anzeichen für eine mögliche, geologisch junge niederschlagsbedingte Erosion.

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Wir versammelten uns also an einem sonnigen Vormittag im Foyer des Tagungsgebäudes und stellten am vereinbarten Platz unsere Poster nebeneinander auf, wie es die AGU dankenswerterweise arrangiert hatte. Bald kamen die ersten Tagungsteilnehmer und betrachteten nachdenklich unsere Präsentation. Horace Crater und Mitchell Swartz übernahmen die Erklärung der Poster, der Marsaufnahmen und unserer geologischen Befunde. Ich war für das Poster über die CI-Meteoriten vom Mars verantwortlich, Vince DiPietro sollte unsere Cydonia-Hypothese erklären.

Ich war sehr stolz auf unsere Arbeit. Die gesamte Präsentation war beeindruckend. Die meisten Besucher reagierten erstaunt. Car-lottos Bildbearbeitungen des »Gesichts« kamen sehr schön zur Geltung. Wir hatten auch eine Vergrößerung der Surveyor-Aufnahme gemacht, wobei der Drehwinkel so gewählt war, daß man von oben darauf zu blicken schien. Daneben hingen die beiden Viking-Aufnahmen und Erläuterungen zu Harry Moores Eisfunden in den Marskratern und anderen in der Cydonia-Region entdeckten Anomalien.32 Zwischen den beiden Cydonia-Dokumentationen präsentierte ich die neuesten Fakten über die CI-Meteoriten. Wir hatten eine fast perfekte Übereinstimmung zwischen den Sauerstoffisotopen im CI-Meteoriten und jenen festgestellt, die im AI.H84001 gefunden worden waren, dem Steinbrocken, der vom »Leben auf dem Mars« kündete. Das Material, das Vince und ich vorstellten, enthielt Aufnahmen von Cydonia, einen Überblick über geochemische Daten, die vom Mars Global Surveyor und vom Mars Pathfinder aufgenommen worden waren, sowie eine Analyse der Surveyor-Aufnahme des »Gesichts«, in der wir auf den eigenartigen Mangel an Kontrast in der ersten veröffentlichten Version hinwiesen.33 Unsere Präsentationen wirkten keinesfalls wie das letzte Aufbäumen einer schon besiegten Guerillatruppe. Die Kunde von unserer Präsentation sprach sich offensichtlich schnell herum.

Als der Publikumsandrang zeitweise nachließ, entfernte ich mich für einen Moment von unserem Stand, um mir das Poster eines Studenten anzusehen, während Vince sich hinsetzte. Bei meiner Rückkehr stand ein Mann vor unserem Poster der Surveyor-Aufnahme und sah sich das Bild sehr aufmerksam an. Er wirkte irgendwie aufgebracht.

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Es war derselbe NASA-Mitarbeiter, der bei der Veröffentlichung der Aufnahme in den CNN-Nachrichten einen so mürrischen Eindruck gemacht hatte. Er starrte unsere gedrehte Version der Aufiwhme an. Ich hatte vorgeschlagen, den Namen »Cydon« darunter schreiben lassen, des legendären Gründers von Cydonia im alten Kreta. Von der Reaktion des Wissenschaftlers befremdet, bemühte ich mich dennoch, ihn so freundlich wie möglich zu begrüßen.

»Sie sagen, es sei künstlich angelegt!« sagte er wütend und zeigte auf das mittels Computer gedrehte Bild.

»Nein«, widersprach ich. »Wir sagen nur, daß es uns als künstlich angelegt erscheint, soweit wir aus unseren gründlichen Untersuchungen folgern können. Es scheint Augen, Mund und einen Helm zu haben. Und sehen Sie, hier kann man auch zwei 'Nasenlöcher erkennen, die auf den Viking-Aufnahmen nicht sichtbar waren.«

»'Nein, Sie behaupten, es sei künstlich angelegt!« insistierte er, sich immer mehr in seine Rage hineinsteigernd. Allmählich verlor ich selbst ein wenig die Geduld.

»Nein, die SPSR hat nie bestritten, daß das >Gesicht< auch natürlichen Ursprungs sein könnte. Wohingegen eure Leute niemals, nicht für einen Augenblick, zugegeben haben, daß es auch künstlich angelegt sein könnte«, erwiderte ich. Statt mir eine Antwort zu geben, starrte er mich nur erzürnt an. Er war offensichtlich kein Mann, der Widerspruch gewöhnt war. Vince trat hinzu und mischte sich ein.

»Die Grauabstufungen auf der Surveyor-Aufnahme scheinen geringer zu sein, als wir erwartet hatten. Daher ist der Kontrast so schwach. Warum ist die Grauskala auf dieser Aufnahme kleiner als auf allen anderen Viking-Aufnahmen?« wollte Vince wissen. Der Mann drehte sich abrupt zu Vince um, dann wandte er sich wieder an mich und sagte in einem fast müden Tonfall: »Wir haben die Aufnahmen so gründlich bearbeitet, wie wir nur konnten.«

»Gut«, fuhr Vince fort, »mit dieser eingeschränkten Grauskala verlieren Sie an effektiver Auflösung. Benachbarte Pixel nehmen dadurch fast gleiche Werte an und verschwimmen zu einem großen Pixel.« Dies war tatsächlich so. Vince und ich hatten vor der Tagung noch gründlich darüber gesprochen. Wir verglichen das Phänomen mit dem Zusammenbinden von Baumstämmen zu einem Floß, weil benachbarte Pixel bei einer zu engen Grauskala zusammenrücken,

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also denselben Grauwert annehmen, so daß Kontrast verlorengeht; es wirkt insgesamt so, als würden die Pixel größer.

»Sie wissen ja nicht, wovon Sie reden!« schrie der Mann Vince an.

Bei diesem plötzlichen Wutausbruch fuhren die Köpfe der Leute an den anderen Ständen herum. Hier spielte sich die ganze Cydo-nia-Kontroverse noch einmal im kleinen ab. Vince DiPietro, ein begabter Ingenieur und couragierter Forscher, jedoch »nur« ein Elektronikingenieur ohne bedeutende Referenzen, hohe institutionelle Autorität oder ein großzügiges Salär aus den Taschen der Steuerzahler, und ihm gegenüber - hier, in den heiligen Hallen der Wissenschaft - der ehemalige wissenschaftliche Leiter des Jet Propulsion Laboratory. Vince warf mir einen erschrockenen Blick zu. Ich nickte ermutigend. Er wandte sich wieder an sein Gegenüber und sagte fast bescheiden: »Doch, das weiß ich...«

»Wollen Sie damit sagen, daß ich ein Lügner bin?« schrie der andere und ballte die Fäuste. »Sie mache ich fertig!« Unter den Augen der Umstehenden, die wie gelähmt waren vor Schreck, machte er Anstalten, sich auf Vince zu stürzen. Ich erholte mich von meinem ersten Schock und ging dazwischen. Vince blieb einfach so stehen. Ich bewunderte ihn sehr dafür, daß er wahrend dieses Auftritts so ruhig blieb, kein Wort sagte und keinen Finger rührte. Sein Angreifer stieß mit mir zusammen, weil ich mich in den Weg gestellt hatte. »Bitte beruhigen Sie sich, Sir«, sagte ich schnell und ergriff ihn am Arm, um ihn beiseite zuführen, während Vince immer noch ruhig dastand. Vince sollte mir später Vorwürfe machen, weil ich den Mann daran gehindert hatte, ihn zu schlagen, aber ich glaube immer noch, daß es so besser war. In meinen Augen war Vince an jenem Tag ein echter Held: standhaft und durch keinen noch so heftigen Angriff zu erschüttern. In diesem Moment zeigte sich, was wahre Vornehmheit ist: ein einfacher Mann, der in Würde für die Wahrheiten geradesteht, wie er sie sieht, wahrend der mächtige, graubärtige Weise vor ihm zetert und tobt. Vince DiPietro erwies sich auch an diesem Tag als der wahre Mann der Wissenschaft, als den ich ihn seit nunmehr 20 Jahren kenne.34 Dieser Vorfall, vor allem die Reaktion auf unsere Analyse, überzeugte mich davon, daß die Informationen, mit denen wir uns befaßten, von höchster Bedeutung waren.

Mit unserer Präsentation hatten wir den bewußten Versuch vereitelt, die Surveyor-Daten über die Cydonia-Region in Bausch und Bogen abzuqualifizieren. Man wollte offenbar gar nicht, daß wir sie einer sorgfältigen Analyse unterzogen. Etwas erstaunt über die Wendung der Ereignisse, sagte ich: »Dies bedeutet, daß die Sache noch nicht zu Ende ist, Vince. Es fängt gerade erst an.«

 

Der Streit um Cydonia tobt noch immer, denn nach 20 Jahren läßt er sich nicht einfach durch eine Aufnahme beenden, auch nicht durch drei. Es müssen mehr Bilder gemacht werden, und sie werden gemacht werden. Irgendwann wird für alle der Augenblick der Wahrheit kommen. Einige von uns sind überzeugt, daß wir bereits einen Schimmer der Wahrheit gesehen haben. Als Wissenschaftler haben wir die Aufgabe, im Ausguck des großen Schiffes der Menschheit zu sitzen und Dinge zu sehen, die noch so fern sind, daß man sie nicht klar erkennen kann; Warnsignale zu geben, auch wenn sie manchmal unbeachtet bleiben; auf großartige Aussichten hinzuweisen, auch wenn die Leute an Deck zu beschäftigt sind, sie zu beachten. Manchmal haben wir recht, und manchmal irren wir uns. Selbst wenn es auf dem Mars einmal eine steinzeitliche Zivilisation gegeben haben sollte — untergegangen, als durch den Lyot-Einschlag die ganze Biosphäre des Mars vernichtet wurde —, ist die Menschheit vielleicht noch nicht bereit, das herauszufinden. 

Wer die Realität einer solche Katastrophe anerkennt, muß bereit sein, die ganze Verantwortung zu übernehmen, die ein solches Wissen mit sich bringt. Wenn sich aber auf dem Mars eine so tragische Wahrheit verbirgt, vertrauen wir zuversichtlich darauf, daß die Menschheit ihr eines Tages ins Auge blicken wird, ohne davor zurückzuschrecken, auch wenn sich unsere Augen dabei mit Tränen füllen, weil wir uns bei allen unseren Fehlern, unseren Ängsten und Träumen stets nach der Wahrheit sehnen werden, ohne die wir letztlich nicht leben können.

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