Teil 2 - Die Nacht nach der Schlacht gehört den Marodeuren
2.1 Wieder in der Lubjanka
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Zu diesem ganzen Berg von Dokumenten kam ich ganz zufällig, als ich nach vielen Monaten vergeblicher Mühen kaum noch daran glaubte, irgend etwas zu Gesicht zu bekommen. Die Euphorie von 1991 hatte sich schon verflüchtigt, die Hoffnungen auf baldige Veränderungen — wenn schon nicht auf eine Wiedergeburt des Landes, so doch wenigstens auf den Sieg der Vernunft oder einfach des Anstands — waren zerstoben. Die Restauration, das heißt die Wiederherstellung der Macht der Nomenklatura, war in vollem Gang, und ich hatte mich schon entschlossen, nicht mehr nach Moskau zu fahren. Ich wollte mich nicht mehr dem Anblick dieser hoffnungslosen Erbärmlichkeit aussetzen.
Aber auch zu Hause in Cambridge fand ich keine Ruhe. Die alte, mir vertraute Welt veränderte sich zusehends. Wie von den gewaltigen Stürmen der Neuordnung, die vom Zerfall der kolossalen Strukturen im Osten ausgingen, erschüttert, mußte sie sich neu orientieren.
Für Rußland wurde alles zu einer abgeschmackten Tragikomödie, in der ehemalige Parteibosse der milderen Ränge und Generäle des KGB die Rolle der führenden Demokraten und Retter des Landes vom Kommunismus spielen. Es kroch all das Widerwärtige, Verdorbene und Gemeine ans Licht, das sich so lange in den Ritzen des kommunistischen Kerkers verborgen gehalten und nur deshalb überlebt hatte, weil auch der letzte Rest von Anstand und Gewissen beseitigt worden war. Es sind diejenigen, welche in der Gaunersprache Schakale genannt werden. Solange echte Diebe in der Zelle sitzen, sieht und hört man sie nicht, sie halten sich irgendwo unter den Pritschen auf. Wenn aber die Diebe ins Lager abmarschiert sind, zeigen sich sogleich die Schakale.
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Sie verlieren alle Hemmungen und treiben es auf ihre Ganovenart. Wenn dann wieder ein echter Dieb kommt, sind sie wie vom Erdboden verschwunden und halten sich erneut unter den Pritschen versteckt. Wenn ich mir diese »Schakaldemokratie« betrachte, denke ich unwillkürlich an Wyssozkis prophetische Verse:1
»Ich lebe, doch mich umgeben Wölfe,
die keine Wolfsnamen haben.
Es sind Hunde, unsre fernen Verwandten,
die wir früher für Beute hielten.«
Es war eigentlich nur die alte Gewohnheit, wider aller Vernunftgründe nicht aufzugeben, die mich bewog, erneut nach Moskau zu fahren. Ich hatte mich schließlich das ganze Leben auf hoffnungslose Unternehmen eingelassen. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Mit dem Gedanken, daß das ganze Leben umsonst und alle Anstrengungen und Opfer vergebens waren, söhnt man sich nur schwer aus.
So geschah es denn, daß ich die Zähne zusammenbiß, meinen Ekel überwand und immer wieder nach Moskau fuhr, zu den neuen »demokratischen« Behörden vordrang, um sie zu überreden, die Parteiarchive zu öffnen. Je länger sich das hinzog, desto schwerer wurde es mir, von diesem meinem Vorhaben abzulassen, obwohl sich die Erfolgschancen mit jeder Reise verringerten.
Bevor noch der sogenannte »Putsch« vom August 1991 zu Ende war, befand ich mich bereits in Moskau und versuchte die neuen Herren über das Geschick Rußlands davon zu überzeugen, daß es in ihrem Interesse läge, meinem Wunsche zu entsprechen. Das verwundete Tier muß man töten, bevor es seinen Schock überwunden hat. Das Wichtigste ist, es nicht wieder zu Kräften kommen zu lassen. Ich schlug vor, eine Kommission zur Untersuchung aller Verbrechen des Kommunismus zu bilden — am besten eine internationale, damit niemand sie tendenziöser Mogelei beschuldigen könne. Man müsse das Gericht über die »Putschisten« zu einem Prozeß gegen die KPdSU erweitern. Die Sache müsse ohne Aufschub in aller Öffentlichkeit, direkt im Scheinwerferlicht und vor den Fernsehkameras, verhandelt werden, so wie es in den Untersuchungsausschüssen des amerikanischen Kongresses der Brauch ist.
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Der Augenblick war sehr günstig, alles war möglich. Die kopflose Nomenklatura war mit allem einverstanden, weil sie nur eines fürchtete — die Selbstjustiz, die Abrechnung direkt auf der Straße. Beim Anblick des in der Stahlschlinge baumelnden »Eisernen Felix« stockte ihr der Atem (gemeint ist das Denkmal Felix Dserschinskis, des Gründers der sowjetischen Geheimpolizei vor dem Sitz des KGB, das nach dem Putschversuch vom August 1991 demontiert worden war).
In dieser Situation hätte man eine Art Nürnberger Prozeß oder ein ähnliches Gerichtsverfahren dieser Art führen können, das auf unsere verkommene Welt eine noch stärkere Wirkung als dieser ausgeübt hätte. Auf jeden Fall wäre der »Ruck nach rechts« nach einem solchen Prozeß nicht geringer gewesen als der »Ruck nach links« nach dem Nürnberger Prozeß.
Das Erstaunlichste ist, daß das fast gelungen wäre. Berauscht von ihrem unerwarteten Sieg, blickte die russische Führung nicht sehr weit in die Zukunft und nahm die äußere Welt nicht zur Kenntnis. Der Gedanke, den unmittelbaren Gegner zu erledigen, schien ihr logisch und verlockend. »Kein schlechter Gedanke«, sagte man mir, »nur sollte er nicht von uns, nicht von der Regierung kommen. Bringe du ihn doch vor!«
So wurde dann auch vorgegangen. Der eilig herbeigerufene Direktor des Zentralen Fernsehens Jegor Jakowlew schlug vor, wie man die Idee auf die sensationellste Weise publik machen könnte — in einem Fernsehgespräch mit dem neu ernannten KGB-Chef Wadim Bakatin.
Es war Anfang September, Moskau hatte sich noch nicht ganz vom »Putsch« erholt, am »Weißen Haus« waren die Barrikaden noch nicht weggeräumt, und am Gartenring lagen Blumen zum Gedenken an die drei umgekommenen jungen Männer, als wir — das Fernseh-Aufnahmeteam, Jakowlew und ich — zu dem berühmten Gebäude an der Lubjanka fuhren.
Hier war alles noch so wie in den frühen Tagen meiner Jugend: Das Kaufhaus »Die Welt des Kindes«, das düstere Gebäude des KGB im Zentrum und gegenüber auf der anderen Seite die Metrostation »Dserschinskaja«; und nur der verwaiste Sockel des »Eisernen Felix« erinnerte an die Ereignisse, die sich hier vor kurzem abgespielt hatten.
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Es war schon ungewöhnlich, dort Aufschriften, wie »Nieder mit der KPdSU!« oder ein Hakenkreuz und Hammer und Sichel, mit einem Gleichheitszeichen dazwischen, zu sehen. Die Aufschriften verschwanden über Nacht, eine ordnungsliebende Hand kratzte sie ab. Aber am Tage erschienen sie stets wieder. So ging das einige Wochen. Dann erschien auf dem sauber gewaschenen Sockel die akkurate Aufschrift in weißer Farbe: »Verzeih, Felix, daß wir dich nicht gerettet haben.« Trotz allem behielt der KGB das letzte Wort.
Die Wachtposten an den Türen präsentierten die Gewehre — ob deshalb, weil uns der Assistent Bakatins begleitete oder weil »Ehrengäste« stets auf diese Weise begrüßt wurden, weiß ich nicht. Ich erinnerte mich plötzlich, wie ich vor 28 Jahren hierher gebracht wurde, ohne jegliches Zeremoniell und nicht durch den Paradeeingang, sondern durch das Tor auf der anderen Seite, wo der Diensthabende, zu dem ich geführt wurde, sich nur für den Inhalt meiner Taschen interessierte. Ein ganzes Leben war zwischen diesen beiden Besuchen vergangen, wenn nicht eine ganze Epoche. Doch diese Erinnerung rief in mir weder Freude noch das Gefühl des Triumphes hervor, eher nahm das Bewußtsein von der eigenen Machtlosigkeit und des vertanen Lebens konkrete Formen an. »Das ganze Leben habe ich damit verbracht, gegen diese Institution zu kämpfen, doch sie steht immer noch«, dachte ich, »und es ist noch ungewiß, wer wen überlebt.«
Natürlich hatte mich Bakatin nicht zufällig zum Gesprächspartner gewählt. Es war bekannt, daß er eine sehr entschiedene Haltung einnahm und daß er — obwohl er unter Gorbatschow die übliche Karriere vom Sekretär eines Gebietskomitees der Partei bis zum Innenminister durchlaufen hatte — die Institution, an deren Spitze er jetzt stand, nicht ausstehen konnte. Als Gorbatschow gleich nach dem »Putsch« im Rat der Präsidenten der Unionsrepubliken ihm dieses Amt anbot, lehnte er zunächst ab, weil »diese Organisation überhaupt aufgelöst werden« müsse. »Und gerade diese Aufgabe übertragen wir Ihnen«, entgegnete Jelzin.2
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Zum Zeitpunkt unserer Begegnung war er etwas mehr als eine Woche im Amt, hatte aber bereits eine ganze Reihe von Dienstbereichen aus dem KGB ausgegliedert und anderen Ministerien übertragen. Die berüchtigte Verwaltung Drei, die Nachfolgerin der Fünften Hauptverwaltung, die sich mit politischer Repression befaßte, hatte er gänzlich abgeschafft. Er fühlte sich fremd hier in seinem großen Dienstzimmer. Als ich ihn fragte, wer sein Vorgänger in diesem Büro war, suchte er lange — wie ein Schuljunge, dem ein neues elektronisches Spielzeug geschenkt wurde — den richtigen Knopf auf seinem Pult, um den Assistenten herbeizurufen.
Wie es sich für einen Tschekisten gehört, erschien dieser völlig geräuschlos, wie herbeigezaubert.
»Berichten Sie über die Geschichte dieses Büros!«
Nein, Andropow hatte nicht hier als Chef gesessen, sondern in einem anderen Gebäude. Hier hatten Tschebrikow und danach Krjutschkow gearbeitet.
Bakatin war angesichts seiner neuen Stellung, meines Besuchs und insbesondere unseres bevorstehenden Gesprächs sichtlich aufgeregt. Natürlich wußte er im voraus, worüber wir sprechen würden, und er hatte keineswegs zu befürchten, daß ich ihn auf irgendeine Weise hereinlegen würde. Aber da war die Fernsehkamera. Was würde die wohl alles aufnehmen?
»Was - alles? Auch meine Socken?«
Ich hatte mir vorgenommen, das Gespräch in drei Themen aufzuteilen, die mir die Möglichkeit geben würden, den Plan einer internationalen Kommission ausführlich zu begründen und zwar so, daß die Zahl ihrer Gegner auf ein Minimum reduziert werden würde. Ich wußte, daß sich Bakatin auf einer Pressekonferenz gegen die öffentliche Entlarvung der »Spitzel«, das heißt der geheimen Informanten des KGB ausgesprochen hatte. Das war auch meine Meinung.
In einem Land, in dem, wenn auch vielleicht nicht jeder zehnte Bewohner, wie in der DDR, so doch zumindest jeder zwanzigste Spitzeldienste geleistet hat, war ihre Entlarvung unmöglich und sinnlos.
Welches Urteil sollte denn dann über alle gewöhnlichen Mitglieder der KPdSU gefällt werden? Sinnlos war dies vor allem deshalb, weil es keine klare Grenze gab zwischen einem Parteimitglied und einem Nichtmitglied, zwischen einem Spitzel und einem gewöhnlichen sowjetischen Konformisten.
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Außer uns, jener Handvoll »Abtrünniger«, war das ganze Land verdorben. Und was — bitte schön — sollte denn mit all diesen Leuten geschehen? Sollte ein neuer GULAG geschaffen werden?
Angesichts der rein juristischen Schwierigkeiten, des enormen Umfangs des ganzen Problems und des Widerstands seitens jener ehemaligen Spitzel und ihrer Auftraggeber, die in allen Etagen der gegenwärtigen Staatsmacht saßen, war es einfach unmöglich, gerichtlich gegen sie vorzugehen. Selbst in Tschechien, dem einzigen der ehemals kommunistischen Länder, das es gewagt hatte, eine solche Läuterungsprozedur (durch das Lustrationsgesetz) in Gang zu setzen, war die Reaktion der Gesellschaft äußerst negativ, und die Sache geriet hoffnungslos ins Stocken, gerade wegen des Problems der Spitzel.
Schließlich wäre so etwas auch völlig unnötig, ja sogar schädlich gewesen. Die Aufgabe bestand doch nicht darin, die weniger Schuldigen von den Schuldigeren zu trennen und die letzteren ausnahmslos zu bestrafen, sondern darin, den Prozeß einer moralischen Reinigung der Gesellschaft in Gang zu setzen, also keine Massenhysterie und Rache, keine Denunziationen und Selbstmorde, die unweigerlich die Folge einer solchen juristischen Behandlung des Problems gewesen wären, sondern Reue. Zu diesem Zweck gehörte das ganze System mit all seinen Verbrechen auf die Anklagebank, es genügte indes völlig, nur die Anführer abzuurteilen, die sich wegen der Anzettelung des »Putsches« ohnehin bereits im Gefängnis befanden.
In dieser Frage waren Bakatin und ich völlig einer Meinung, und ich begann bewußt unser Gespräch damit, um zu demonstrieren, daß ich seine Position unterstützte, und um dem Gespräch gleichzeitig den richtigen Ton zu geben. Ich hielt es für wichtig, den Millionen Zuschauern zu zeigen, daß wir, die früheren politischen Häftlinge und Dissidenten, trotz abweichender Ansichten nicht nach Rache dürsteten, daß meine Vorschläge nicht vom Wunsch nach Vergeltung, sondern von viel wichtigeren und keineswegs persönlichen Motiven bestimmt waren. Ich heuchelte hier absolut nicht. Ich bin wirklich nicht von Haß oder Rachegelüsten beseelt, weil ich völlig freiwillig und im vollen Bewußtsein der Folgen meinen Weg selbst gewählt habe.
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Auch wäre es töricht, an den Zuträgern Rache zu nehmen. Im Gegensatz zu den meisten meiner Mitbürger (einschließlich Bakatin) kannte ich diese Leute. Sowohl in der Haft als auch in der Freiheit waren sie auf uns angesetzt worden. Ich wußte, daß die meisten von ihnen gebrochene, jämmerliche Existenzen waren, die oft durch Erpressung oder Drohung zur Mitarbeit im KGB gezwungen worden waren. Niemand weiß im voraus, wie er sich verhält, wenn er starkem Druck ausgesetzt ist, und deshalb sollte derjenige, der das nicht durchgemacht hat, auch nicht Richter sein. Wer es aber durchgemacht hat, der will in der Regel nicht richten.
Wenn ich in dieser Frage für äußerste Milde plädieren konnte, verlangten die anderen beiden Themen äußerste Härte. Unsere Pflicht vor der Geschichte war es, alle in den Archiven versteckten Geheimnisse offenzulegen. Diesem Zweck sollte auch der Vorschlag dienen, eine internationale Kommission aus bekannten in- und ausländischen Historikern zu bilden. An dem Punkt erwähnte ich bewußt in einem Atemzug den Mord an Kirow, den an Kennedy und das Attentat auf den Papst, um einen Übergang zum letzten und wichtigsten Thema zu haben - den internationalen Verbrechen der KPdSU und des KGB. Dieses Thema war in der Sowjetunion noch ein heißes Eisen. Der Sowjetbürger wurde in dem Glauben gehalten, daß die Kommunisten sich zwar Verbrechen am eigenen Volk, Repressionen und den Ruin der Wirtschaft hätten zuschulden kommen lassen, im internationalen Bereich aber »wie alle« waren, weder besser noch schlechter. Krieg war eben Krieg. Die Amerikaner waren auch keine Engel. Und was die Spionage angeht — betreibt sie nicht ein jeder, auch ein demokratischer Staat?
Dieser gefährliche Mythos, der damals intensiv von der Presse wie auch der politischen Führung kultiviert wurde, mußte zusammen mit dem Mythos vom heldenhaften sowjetischen »Kundschafter«, der ein Held und Patriot war, ein für allemal aus der Welt geschafft werden. Es mußte unmißverständlich gezeigt werden, daß die Sowjetunion keine »normale« Außenpolitik betrieben hatte, sondern daß das, was sie so genannt hatte, ein jahrzehntelang dauerndes Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen war.
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Ich sparte mir dieses Thema bis zuletzt auf. Als unser Dialog den Charakter eines offenen Gesprächs zweier Freunde angenommen hatte, die sich in allem einig waren, brachte ich die dem sowjetischen Publikum unbekannten Dinge vor: die Organisation des internationalen Terrorismus, Drogengeschäfte, Bestechung und Erpressung westlicher Politiker, Geschäftsleute und Kulturschaffender, das kolossale System der Desinformation, das der KGB im Ausland geschaffen hatte.
»Verstehen Sie«, betonte ich, »mit Aufklärung befaßt sich bei uns außer dem KGB noch die GRU, also die militärische Aufklärung, die sich in der Tat mit rein militärischen Fragen befaßt. Beim KGB haben wir es mit politischer Spionage zu tun. Hier waren eine Menge ausländischer Politiker, die bestochen oder erpreßt wurden, betroffen. Das können wir nicht einfach übergehen, aber ich sehe auch alle Schwierigkeiten, die mit der Demontage dieses Systems verbunden sind. Nie wird Vertrauen zu unserem Lande entstehen können, wenn wir es weiter existieren lassen. Die Menschen werden kaum wie in einem normalen Staat leben können, wenn der KGB bei Ihnen weiterbestehen wird ... Auch gegenüber der internationalen Gemeinschaft, gegenüber anderen Staaten, besteht die Verpflichtung, ihnen zu helfen, damit sie sich von diesem ganzen Übel befreien können.«
»Schließlich«, drohte ich, »geht es hier auch noch um die Sicherheit unseres Staates. Kenner der Materie im Westen sind zum Beispiel der Meinung, daß der KGB im Ausland mit seinen Banken, durch Strohmänner betriebenen Einrichtungen und Unternehmen solche Reichtümer angehäuft hat, daß dieser nach seiner Liquidierung in Moskau noch zehn Jahre existieren und funktionieren könnte. Sie können das natürlich nicht unbeachtet lassen, denn hieraus kann Ihnen ein Feind erwachsen.«
Man muß anerkennen, daß Bakatin nichts abstritt oder widersprach, und wenn er antwortete, wies er im allgemeinen auf seine völlige Unkenntnis in diesem Bereich hin. Er sei ja erst eine Woche im Amt.
»Das Thema der Aufklärung ist für mich das schwierigste«, brummte er. Seine Sprechweise war recht komisch — ein Gemurmel ohne Punkt und Komma, Anfang und Ende.
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»Im gegebenen Fall habe ich in meiner Handlungsplanung, also dem Zeitplan, dem persönlichen Zeitplan, die Aufklärung etwas in den Hintergrund gerückt. Ich glaube nicht, daß es irgendwelche Dokumente über diese verbrecherische Tätigkeit gibt, von der Sie sprechen. Wenn es auch irgendwelche Fakten geben sollte, von denen ich absolut nichts weiß, daß sich irgendwer vom KGB, ich weiß es nicht, aber angenommen, daß sich jemand von ihnen konkret damit befaßte ... Zum Beispiel mit dem Drogenhandel oder der Unterstützung des Terrorismus, wenn das so ist, so muß alles untersucht und liquidiert werden ... Und das ist sehr ernst. Was sie da im Ausland treiben, wissen wir nur sehr unzureichend ...«
Er war offensichtlich beunruhigt, wenn nicht gar erschrocken über meine Mitteilung, daß der KGB im Ausland große Summen angehäuft hätte, und wiederholte ständig, daß er das nicht unbeachtet lassen könne, daß alles aufgeklärt werden müsse, und — was am wichtigsten war — er unterstützte meine Idee uneingeschränkt:
»Ich bin im Prinzip mit Ihnen einverstanden, daß die Wahrheit aufgedeckt werden muß. Man muß sie zumindest erfahren. Aber jetzt im Augenblick kann ich die Modalitäten für die Bildung einer internationalen Kommission nicht mit Ihnen besprechen. Hier gibt es noch rechtliche Aspekte, die beachtet werden müssen. Es lag im Interesse unserer Behörde, alles geheimzuhalten, deshalb wußten viele nichts davon. Deshalb muß eine solche Konzeption im Grundsatz ausgearbeitet werden, im Grundsatz. Wir müssen uns Gedanken machen, welche Form wir ihr geben.«3
»Wadim Wiktorowitsch«, schloß ich und gab ihm die Hand, »ich möchte Ihnen Erfolg wünschen, meine Sympathie ausdrücken und dem ersten Chef des KGB, den ich in meinem Leben von Angesicht zu Angesicht sehe, die Hand reichen ...«
Ich bekenne, daß ich einen Augenblick sogar daran glaubte, daß alles so kommen würde. Wir würden uns noch einmal treffen, ohne Fernsehen, die juristische Seite erörtern, die Aufgaben formulieren und ans Werk gehen ... Jelzin würde einen Ukas liefern, ich würde die mit mir befreundeten Historiker und Kenner der Sowjetunion der Hoover Institution, wie Robert Conquest, und die Jungens von
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Memorial herbeiholen, wir würden ihnen Studenten des Archivwissenschaftlichen Instituts als Helfer zur Seite stellen und mit der Freilegung der papiernen Schatzkammern beginnen. Alles schien damals möglich, angesichts des Hakenkreuzes auf dem verwaisten Sockel mitten auf dem Dserschinski-Platz, das von der Hand des Volkes dem Hammer-und-Sichel-Symbol gleichgesetzt worden war.
Für einen Augenblick stellte ich mir vor, wie diese einfache Gleichung in unserer Welt schließlich zu dem wird, was sie stets sein müßte — zu einer selbstverständlichen Wahrheit, wie Orwells »2 + 2 = 4«. Nur so wenig war nötig, und so einfach war alles, und um wieviel ehrlicher würde unser Leben ...
Doch schon im nächsten Augenblick verschwand diese Vision und machte der Realität Platz. »Kann denn dieser sympathische Schwätzer, der sich schämte, den Fernsehzuschauern seine Socken zu zeigen, mit diesem Monster fertig werden? Er wird nie erfahren, was hinter seinem Rücken vorgeht.«
Ein Freund, der nach dem Gespräch auf mich gewartet hatte, zog lakonisch und schonungslos die Bilanz: »Hier werden Leute wie du und nicht solche wie er gebraucht.«
2. DER UNSTERBLICHE KGB
Unser Gespräch wurde am 9. September gleich nach den 21-Uhr-Nachrichten gesendet. Es wurde nur unwesentlich redaktionell gekürzt und dauerte etwa 20 Minuten. Das Echo darauf war ziemlich stark. Der Ton in der Presse war im großen und ganzen wohlwollend. Das Ungewöhnliche unseres Gesprächs wurde hervorgehoben und was für eine Zeit nun angebrochen sei, welche Veränderungen vor sich gingen. Die zu der Zeit beliebtesten Presseorgane — die Zeitung »Iswestija« und die Zeitschrift »Ogonjok« — brachten Berichte über das Ereignis mit meinen Kommentaren, in denen ich das Thema weiterentwickelte.4 Es fanden sich natürlich auch einige Dummköpfe, die mir zu große Milde gegenüber den Spitzeln vorwarfen und besonders erbost waren, weil ich dem Chef des KGB die Hand geschüttelt hatte.
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Weit wichtiger war, daß mein zutrauliches Schnurren nicht die Wachsamkeit derjenigen eingeschläfert hatte, die es »von Berufs wegen« betraf. Sie begriffen sehr wohl, was ich vorhatte, und ich glaube, mein ruhiger, freundschaftlicher Ton beunruhigte sie weit mehr als irgendwelche Haßtiraden und Forderungen nach Rache. Bereits einige Tage später erschien auf dem Bildschirm der damalige Chef der Ersten Hauptabteilung des KGB General Schebarschin und versicherte den Zuschauern, ohne im mindesten unseren Fernsehdialog zu erwähnen, daß keine sensationellen Enthüllungen über die Arbeit der Aufklärung zu erwarten seien. Er gab hiermit ein deutliches Signal an »seine Leute« im Ausland zu dem Zweck, die aufgestörten »Partner« zu beruhigen.5
Es folgten Berichte ehemaliger Offiziere der Aufklärung mit »demokratischer Reputation«, in denen diese versuchten zu beweisen, daß meine Vorstellungen vom Ausmaß ihrer Tätigkeit stark übertrieben waren.
»... sogar der Veteran des Dissidententums Wladimir Bukowski, der den KGB nicht nur theoretisch kennt, stellte nebenbei in seinem epochalen Interview mit Bakatin fest, daß sich unser Land am besten nur mit militärischer Aufklärung befassen und die politische sowie jede andere überhaupt einstellen sollte«, schrieb in »Ogonjok« der pensionierte Kundschafter Michail Ljubimow. "Ein weiser und fortschrittlicher Gedanke, es fragt sich nur, ob ihn sich auch die westlichen Regierungen zu eigen machen, die außer der militärischen Aufklärung noch die CIA, den CIC, den Bundesnachrichtendienst und den Mossad haben. Bei Bukowski klang die These von einer kolossalen Desinformation durch, die die äußere Aufklärung des KGB im Ausland betreibe.«
Natürlich folgte eine ausführliche Erläuterung, daß ein derartiges kolossales System nicht existiere. Es habe sich nur um ein paar klägliche Versuche, ein paar gefälschte Dokumente gehandelt, auf die keiner hereingefallen sei, sondern die nur »Haß auf ihre Urheber erzeugt haben«.
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"Ich hatte genügend Einblick in die >aktiven Maßnahmen<, um behaupten zu können, daß Fälschungen nur ein verschwindend geringer Teil der aufklärerischen Arbeit waren, der Großteil entfiel auf das Nachbeten unserer Propaganda, der ein westlicher Anstrich verliehen wurde ... Der Großteil dieser sogenannten Arbeit waren nur kleine Nadelstiche, die im riesigen Informationsstrom des Westens niemand bemerkte und den außenpolitischen Interessen der UdSSR in keiner Weise förderlich waren. Die stümperhafte und undurchsichtige Politik trieb auf den Abgrund zu, und Propaganda und Agitation aus >westlichen Quellen< konnten ihr auch nicht mehr helfen."6
Also gab es kein System der Desinformation, keine Einflußagenten, keine »Kräfte des Friedens, des Fortschritts und des Sozialismus«. Zur Untermauerung dieser These erschien sogleich in der »Los Angeles Times« der Artikel eines bekannten amerikanischen Politologen (der unverzüglich in der sowjetischen Zeitung »Kultura« abgedruckt wurde) mit den typischen verlogenen KGB-Klischees über die Dissidenten. Sie seien alle Extremisten, und Bukowski treibe es sogar so weit, daß er »mit der neuen Führung des KGB Gespräche führt, als ob ihn dazu irgend jemand ermächtigt hätte, und vorschlägt, alle alten Archive des KGB zu vernichten, damit die Namen der Informanten nie bekannt werden.«7
Es war nicht ganz klar, ob dieser in den USA hochgeachtete Mann selbst ein Einflußagent war oder diese Informationen von einem solchen erhalten hatte, doch die Redaktion der »Kultura« dürfte kaum zu den Abonnenten der »Los Angeles Times« gehören. Bei meinem späteren Versuch, den Artikel im Original zu finden, stellte sich heraus, daß die Los Angeles Times einen solchen Artikel nie veröffentlicht hatte.
Schließlich wurde die Erste Hauptverwaltung (eben die für Aufklärung) aus dem KGB ausgegliedert und in einen eigens geschaffenen Zentralen Aufklärungsdienst umgewandelt, der unmittelbar Gorbatschow unterstellt wurde. An seine Spitze trat Gorbatschows Freund Primakow. Selbstverständlich gab es dafür gewichtigere Gründe als mein Gespräch mit Bakatin, vor allem die drohende Auflösung aller zentralen Unionsstrukturen infolge des Zerfalls der Sowjetunion.
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Schließlich gab es für diese Entscheidung auch ein anderes Motiv, und zwar den Wunsch, die Erste Hauptverwaltung gegen jede Art von Untersuchungen und Reformen abzuschirmen oder — wie es die Anhänger einer solchen Umstrukturierung selbst ausdrückten — »sich des KGB-Anhangs zu entledigen.« So entschlüpften sie mit all ihren Geheimnissen hinter den breiten Rücken des Präsidenten.
Bakatin aber, der, wie wir uns erinnern, dieses Problem »in seinem persönlichen Zeitplan« immer wieder auf die lange Bank geschoben hatte, war vermutlich froh, es loszuwerden. Man muß ihm zugestehen, daß er ehrlich darum bemüht war, jene Verbrechen seiner Behörde, von denen ich ihm erzählt hatte, aufzudecken. Aber erstaunlicherweise konnte er nichts Wesentliches finden. Selbst bei sehr alten Vorgängen, die nur noch historisches Interesse hatten, wie die Ermordung Kennedys oder das Attentat auf den Papst, ergab es sich, daß der KGB damit nichts zu tun hatte. Sogar über die Repressionen gegen Sacharow und Solschenizyn fand sich nichts Neues. Nachdem lange darüber gestritten und schließlich geleugnet wurde, daß es überhaupt irgendwelche Dokumente hierzu gebe, »stellte es sich« plötzlich »heraus«, daß viele hundert Bände mit Aktenmaterial angeblich im Jahre 1990 verbrannt worden waren.
Es gelang Bakatin nicht einmal, für das wenige, das er fand, die Genehmigung für die Aufhebung des Geheimhaltungsstatus zu bekommen. So blieb zum Beispiel das völlig harmlose Dossier über die Beobachtung von Lee Harvey Oswald während eines Aufenthalts in der UdSSR vor 35 Jahren zunächst in einer Unzahl von Kommissionen hängen und befand sich dann plötzlich in Weißrußland in der Hand des nun bereits unabhängigen KGB der unabhängigen Republik. So blieb es bis zur Ablösung von Bakatin. Der Apparat des KGB stellte sich dumm und kümmerte sich wenig darum, ob ihm geglaubt wurde oder nicht.
Ich weiß nicht, ob Bakatin verstand, daß er zum Narren gehalten wurde. Seine Memoiren mit dem Titel »Im Innern des KGB« klingen jedenfalls sehr naiv. Man hat sich sehr schnell von ihm getrennt, aber der KGB blieb.
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Ihn in verschiedene Behörden und Dienste aufzugliedern, womit Bakatin sich in den 107 Tagen seiner Herrschaft beschäftigte, ist ein ebenso aussichtsloses Unterfangen, wie einer Eidechse den Schwanz abzuschneiden oder einen Regenwurm in mehrere Teile zu zerlegen. Im Ergebnis entsteht aus jedem Teil wieder ein ganzer Körper, wie in dem Märchen, wo aus jedem Drachenzahn ein neuer Drachen wächst.
Die Archive waren das Innerste des KGB, das Herz des Drachen, verborgen unter sieben Siegeln. Den Drachen konnte nur derjenige töten, der bis dorthin vordrang. Jelzin, der gleich nach dem »Putsch« einen Ukas über die Übergabe der KGB-Archive an die Russische Archivverwaltung erließ, verlor anscheinend jegliches Interesse an der Sache (wie übrigens auch an allen anderen Belangen des Landes).
Eine zwischenbehördliche Kommission für die Übergabe der Archive wurde gebildet, in der die Mitarbeiter des KGB mit wichtigen Mienen die Probleme der Übergabe erörterten, aber selbstverständlich nicht lösen konnten. Eine Kommission des Obersten Sowjets mit dem General und Historiker Dmitri Wolkogonow wurde eingesetzt. Man brauchte doch eine »rechtliche Basis«, ein Gesetz. Wie sollte es ohne Gesetz gehen? Es war ja kein einfaches Problem, ob alles für 30 oder 70 Jahre der Geheimhaltung unterliegen sollte. So begannen die Mühlen der Bürokratie zu mahlen, und sie mahlen heute noch. Bis heute sind die Dokumente nicht übergeben worden. Unterdessen entstanden um die Archive herum irgendwelche geheimnisvollen »kommerziellen Einrichtungen«. Ein lebhafter Handel mit den Dokumenten begann, aber nur mit solchen, deren Veröffentlichung für den KGB von Vorteil war, und nur durch diejenigen, die dem KGB genehm sind. Über die ganze Welt ergoß sich ein Schwall sowjetischer Desinformation unter der Maske der historischen Wahrheit.
3. Im Inneren des Drachen
Ich ließ mich jedoch nicht entmutigen. Ich hatte mir schon vor der Begegnung mit Bakatin nicht viel Hoffnung auf die Archive des KGB gemacht, sondern meine Bemühungen auf die Archive des ZK der KPdSU konzentriert, die gleich nach dem »Putsch« zusammen mit dem ZK-Gebäude auf dem Alten Platz (Starajaploschtschad) versiegelt worden waren.
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Erstens befanden sie sich bereits in der Hand der russischen Führung, zu der ich immerhin einige Kontakte hatte, und zweitens ahnte ich, daß in diesen Archiven alles zu finden sein mußte, darunter auch die Berichte des KGB, der bekanntlich nur »das strafende Schwert«, »die bewaffnete Truppe« der Partei darstellte. Zumindest in der nachstalinistischen Ära befand sich der KGB unter der strengen Kontrolle der Partei und konnte ohne die Zustimmung des ZK nichts Entscheidendes unternehmen.
Schon einige Tage nach meiner Ankunft in Moskau, im August 1991, traf ich dank meiner Kontakte zur russischen Führung mit dem Leiter des Komitees für Archivangelegenheiten bei der Regierung Rußlands Rudolf Germanowitsch Pichoja zusammen, um mit ihm die Bedingungen für die Arbeit der zu bildenden internationalen Kommission zu besprechen. Bereits zwei Tage später betrat ich, leicht erregt, das ZK-Gebäude in der Kuibyschew-Straße 12, wo sich sowohl die Archive als auch die Archivverwaltung befanden. Der riesige Komplex, dessen einzelne Gebäude durch unendliche Korridore, Übergänge und Treppen miteinander verbunden waren, war ohne Leben. Die Archivverwaltung nahm nur eine Etage des Hauses Nummer 12 ein, der Rest war wie das Labyrinth des Minotaurus, wo ohne Ariadnefaden weder Ein- noch Ausgang zu finden war.
Das prachtvolle Parkett der Korridore führte ins Unbekannte, vorbei an versiegelten Bürotüren, an denen noch die Namen ihrer früheren Chefs, dereinst allmächtiger Apparatschiks, hingen. Hier und da lagen auf dem Fußboden Stapel von Ordnern und Papieren mit der Aufschrift »streng geheim«. Ich hob einen auf, es war der Bericht eines Gebietskomitees über die Jugendarbeit. Eine Sekunde lang hatte ich einen schrecklichen Gedanken: Wenn hier nichts weiter zu finden wäre als die unendlichen Berichte über Planerfüllung und propagandistische Maßnahmen? Wenn es sich erweisen sollte, daß alles Wesentliche entweder im letzten Moment vernichtet oder irgendwohin verbracht worden war? Moskau war voller Gerüchte über die massenhafte Vernichtung von Dokumenten, über irgendwelche geheimnisvollen Lastwagen, die einige Nächte lang nach dem »Putsch« Berge von Papier weggebracht haben ...
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Pichoja beruhigte mich jedoch. Ja, einige Papiere konnten vernichtet werden, aber das war offensichtlich die den »Putsch« betreffende operative Dokumentation. Soweit man urteilen könne, hätten die Archive selbst keinen Schaden erlitten. Der Ukas über die Beschlagnahme der Parteiarchive wurde von Jelzin am 24. August unterzeichnet, und sogleich, noch in der Nacht, erschien im ZK eine Kommission zusammen mit einer neuen Wachmannschaft. Als erstes stellten sie den Strom ab, damit die Reißwölfe nicht mehr arbeiten konnten, dann mußten sie ihn aber wieder einschalten: In der Dunkelheit konnten sie sich nicht zurechtfinden. Die Reißwölfe funktionierten sowieso nicht mehr, da sie in aller Eile mit Dokumenten vollgestopft wurden.
»Zunächst haben wir alle Türen versiegelt«, erzählte Pichoja, »jetzt tragen wir alle Papiere aus den Büros in einen großen Raum, numerieren und sortieren sie. Niemand kann hier etwas herausholen, sogar die ehemaligen Mitarbeiter kommen nicht mehr hinein, nicht einmal, um ihre persönlichen Sachen zu holen. Die Wachmannschaften wurden völlig ausgewechselt, es sind jetzt Offiziersschüler aus Wologda oder Wolgograd für den Wachdienst eingesetzt.«
In der Tat wurden alle Ein- und Ausgänge von jungen kräftigen Burschen mit Maschinenpistolen bewacht. Mit einem von ihnen, einem kräftigen Kerl mit einem verdutzten Kindergesicht, stießen wir zusammen, als wir um die Ecke des Korridors bogen.
»Können Sie mir sagen, wo hier die Kantine ist?« fragte er kläglich, »ich irre schon eine halbe Stunde herum ...«
Die Kantine des ZK gab es noch, aber es gab keine der früher hier erhältlichen Mangelwaren mehr. Die Mitarbeiter des ZK hatten also noch daran gedacht, die Räucherwürste mitzunehmen.
Wie sich herausstellte, war es fast unmöglich, in den Archiven des ZK irgend etwas selektiv zu vernichten, wie übrigens auch selektiv zu fälschen. Vor allem, weil es bei exakter Zählung 162 Archive gab, die untereinander weder durch eine Kartothek noch durch einen Computer verbunden waren. Die kommunistische Macht hatte niemandem getraut, nicht einmal dem eigenen Apparat. Allein um festzustellen, ob es Kopien der Dokumente eines Archivs in einem anderen oder Hinweise auf ein Dokument aus einem Archiv in dem Dokument eines anderen gibt, wären viele Monate Arbeit erforderlich.
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Selbst wenn man so etwas herausgefunden hätte, wäre es schwierig gewesen, etwas zu ändern. Jedes Archiv hatte eine »Inventarliste«, die Dokumente trugen eine durchgehende Numerierung und Chiffren, und es wurde über die ein- und ausgehenden Dokumente Buch geführt. Der bürokratische Staat geizte nicht mit Papier; wahrscheinlich war es deshalb immer knapp. Allein das Archiv, in dem ausnahmslos alle Parteimitglieder (seit Anbeginn) registriert waren (intern als »Einheitsparteiausweis« bezeichnet), zählte 40 Millionen Verwahrungseinheiten. Im ganzen Land wurden in den Parteiarchiven Millionen von Dokumenten aufbewahrt.
In das Archiv der Personalakten der Nomenklatura des ZK ging ich aus Neugier, zusammen mit einer Gruppe von Journalisten, die von Pichoja eingeladen worden waren. Der hohe Raum mit den Stuckdecken — vor der Revolution hatte sich hier eine Versicherungsgesellschaft oder eine Bank befunden — war vollgestellt mit Metallschränken auf Schienen. Die zentrale Schaltstelle, die sich auf einer Erhöhung am Eingang befand, hatte Dutzende Knöpfe. Ein Knopfdruck, und ein bestimmter Schrank schob sich langsam heraus und gab die Regale mit den Personalakten frei. Es gab hier fast eine Million Personalakten von Lebenden und Verstorbenen, von Mitgliedern des Politbüros bis zu einfachen Angestellten des ZK.
Dieses Archiv war schnell zu einem »Vorzeigearchiv« geworden. Man führte Ausländer, Journalisten und hohe Besucher hierher, um die Kühnheit und die demokratische Gesinnung der neuen Hüter der Parteigeheimnisse zu demonstrieren. Den Journalisten wurden, scheinbar ohne Hintergedanken, meist die Akten von Woroschilow, Mikojan und manchmal von Scholochow gezeigt. Das zeigte Wirkung und war ungefährlich.
Die Archivverwaltung beeilte sich keinesfalls, die ihr zugefallenen Dokumente allgemein zugänglich zu machen, und sie setzte sich erst recht nicht für deren Publikation ein. Das waren keine Kämpfer für eine Idee, sondern typische sowjetische Beamte, die unter dem alten Regime Karriere gemacht hatten — feige und tückisch, wie Sklaven eben sind. Die Obrigkeit flößte ihnen sowohl Schrecken als auch Haß ein, und je größer der Schrecken, desto größer auch der Haß und der Wunsch, die Obrigkeit zu betrügen.
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Die Schätze, die in ihre Hände gelegt waren, betrachteten sie als ihr Eigentum und hüteten sie eifrig vor »Unbefugten«.
Dieselben Typen von Beamten, die überall in den sowjetischen Behörden zu finden waren, gab es auch bei ihnen. Einer spielte die Rolle des unbestechlichen Orthodoxen, der unversöhnlich gegen die »Korruption« kämpfte, aber selber beim Verkauf von Dokumenten an Journalisten ertappt wurde. Ein anderer, ein gebildeter, zivilisierter Mann, ließ sich gern über die menschlichen Werte und über unsere Verantwortung vor der Geschichte aus, aber es war bekannt, daß er ausländischen Kollegen gern einen Blick in einige »Geheimpapiere« erlaubte im Tausch gegen Einladungen zu internationalen Konferenzen, auf denen er Vorträge hielt und sich damit den Ruf eines »namhaften Historikers« erwarb. Niemand hielt das für unehrenhaft, schändlich oder einfach tadelnswert, der Sowjetmensch hat nun einmal kein Gewissen. In seinem Gehirn ist kein Fäserchen übriggeblieben, das irgendwelche Spuren moralischer Normen hätte bewahren können.
Ich war für sie jener »Unbefugte«, eine Art Dieb, der sich an ihren Reichtümern vergreifen wollte und gegen den sie gemeinsam ihr »Eigentum« verteidigten. Sie konnten gar nicht verstehen, was ich eigentlich vorhatte. Wollte ich auch in dem Geschäft mitmischen? Einfach so, ohne politischen Vorteil der Welt den ganzen Reichtum zu übergeben, erschien ihnen ein ebenso wahnwitziges Unterfangen, als ob ein Bankier seinen ganzen Reichtum auf der Straße verschenkt.
Da ich von den neuen »Herren« zu ihnen kam, war ihr Verhalten mir gegenüber dementsprechend. Sie wagten nicht, sich geradeheraus zu weigern — weiß der Teufel, wen er hinter sich hat! —, und erklärten für alle Fälle ihre Zustimmung, erfanden aber täglich immer wieder neue Ausflüchte. Es gebe noch kein Gesetz über die Staatsgeheimnisse, man müsse warten, bis der Gesetzgeber in Gang komme. Unsere Vereinbarung über die Schaffung einer internationalen Kommission müsse ebenfalls unbedingt die Zustimmung des Gesetzgebers erhalten.
Ihr Hauptanliegen war, die Sache den unaufhörlich tagenden Kommissionen des Obersten Sowjets zu übertragen, wo sie in unendlichen Debatten ehemaliger Parteifunktionäre, nunmehr »Volksvertreter«, im Sand verlaufen wäre.
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Schließlich konnte ich mich nicht länger beherrschen, zumal die Zeit drängte. Ich redete offen und deutlich mit Pichoja, erklärte ihm, daß es kein Urheberrecht auf Geschichte gibt und nie geben wird. Er verteidigte sich nur schwach, im wesentlichen beharrte er darauf, daß erst ein »Gesetz« geschaffen werden müsse. Er sprach von der dreißigjährigen Geheimhaltungsfrist, die in der ganzen Welt, zum Beispiel auch in England, gelte. Das Unglück mit den Sowjetmenschen ist, daß sie alles über den Westen wissen — besonders das, was sie nicht wissen sollten. Aber zum Schluß unterzeichnete er die Vereinbarung, ersichtlich ohne jede Begeisterung.
"Über die Internationale Kommission zum Studium der Tätigkeit der Parteistrukturen und der Organe der Staatssicherheit in der UdSSR
1. Durch die Erlasse des Präsidenten von Russland vom 24.08.91 Nummer 82, 83 wurde das Archivmaterial über die Tätigkeit der KPdSU und der Staatssicherheit zugänglich. Bekanntlich hatte die Tätigkeit dieser Organisationen internationalen Charakter und berührte die Interessen vieler Länder. Angesichts dessen würden die Kräfte der inländischen Forscher für das Studium des gesamten Problemkomplexes nicht ausreichen, um so weniger, als es in ausländischen Archiven zusätzliches Material gibt, das es erlauben würde, die Geschichte der oben genannten Einrichtungen so umfassend wie möglich zu erforschen. Außerdem würde die Einbeziehung ausländischer Forscher einem möglichen Mißtrauen gegenüber den Ergebnissen der Arbeit der Kommission vorbeugen. Im Hinblick auf das oben Gesagte sind auf Initiative des Komitees für Archivangelegenheiten beim Ministerrat der RSFSR
der Internationale Archivrat (Paris),
die Hoover Institution on War, Revolution and Peace (Stanford, California),
das American Enterprise Institute (Washington),
die Forschungsabteilung von Radio Liberty (München),
die Russische Humanistische Universität,
das Wissenschaftliche Informations- und Aufklärungszentrum MEMORIAL übereingekommen, eine Kommission zu gründen, die die Aufgabe hat, das zugänglich gewordene Material so umfassend und detailliert wie möglich zu sichten.
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Die Kommission beabsichtigt, zu ihrer Arbeit eine Reihe von in- und ausländischen Experten vorübergehend oder ständig hinzuzuziehen.
Die Tätigkeit der Kommission hat nicht zum Ziel, aktuelle Verteidigungsfragen zu berühren, einzelne Personen aufgrund ihrer früheren Tätigkeit zu verfolgen oder irgendeinem Staat Schaden zuzufügen.
Ihre Aufgabe ist es, das genannte Material objektiv und umfassend zu erforschen und es dem Urteil der Geschichte zu überantworten.
Zur Durchführung ihrer Aufgabe behält sich die Kommission das Recht des Zugriffs auf Material an anderen Aufbewahrungsorten (Archiven) vor.2. Organisationsprinzipien.
Die eigentliche Kommission, die aus Vertretern der Einrichtungen ihrer Gründer besteht und alle administrativen und finanziellen Fragen zu entscheiden hat.
Arbeitsgruppen, die für die verschiedenen Aufgabenbereiche (thematische, chronologische und so weiter) gebildet werden und zu deren Tätigkeit erforderlichenfalls weitere Fachleute heranpezopen werden können.3. Tätigkeit.
Die Gründerorganisationen verpflichten sich, das gesamte Programm zu finanzieren und alles zu tun, damit das der Kommission zur Verfügung gestellte Material in unversehrtem Zustand erhalten bleibt.
Die Kommission verpflichtet sich, eventuelle Einkünfte aus Publikationen des Materials zur Finanzierung ihrer Arbeit und zur Unterstützung des Archivwesens zu verwenden.Ergebnis der Forschungen soll laut Vorschlag der Kommission die Übertragung des Archivmaterials auf elektronische Datenträger und seine anschließende Publikation in Form von Dokumentensammlungen und Monographien sein.
R. G. Pichoja
W. K. Bukowski
11.09.91"
Ob die Kommission nun zustande kommt oder nicht, die »Initiative« sollte auf jeden Fall von seinem Komitee ausgehen. Nach dem Motto: Trotz allem ist es mein Eigentum, ich bin hier der Herr!
Nach einem Monat fieberhafter Lauferei in Moskau flog ich mit einer nur schwachen Hoffnung, daß meine Anstrengungen von Erfolg gekrönt sein würden, nach Hause. Es gab keine endgültige Entscheidung, es war kein Verlaß auf die Leute, mit denen das Schicksal mich zusammengeführt hatte, und ich hatte keine Gesinnungsgenossen. Nur ein Blatt Papier mit der Unterschrift Pichojas, was war das wohl wert?
Aber mehr konnte ich nicht erreichen. In diesem Geisterreich war alles ungesichert und vorläufig. In jeder Minute konnte sich alles ändern. Ein Wort, ein Versprechen, sogar ein öffentlich gegebenes, bedeutete nichts, verpflichtete zu nichts. Keiner konnte sagen, wer heute die Macht im Lande darstellt, und erst recht nicht, wer sie morgen darstellen wird. Auch wußte keiner, was zu entscheiden war. In der damaligen Situation schien nur Jelzin unerschütterlich fest dazustehen.
»Jetzt liegt es an Jelzin«, sagte ich den Journalisten vor dem Abflug, »sobald er eine Entscheidung fällt, beginnen wir mit der Arbeit.«8
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