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2.4  Besäufnis auf der Hochzeit

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Aber die Zeit verging, und nichts wurde besser. Die russische Führung war paralysiert, als ob sie ihre ganze Energie in den drei Tagen des »Putsches« verausgabt hätte. Ein einzigartiger Fall in der Geschichte – in den ersten hundert Tagen seiner Macht tat Jelzin absolut nichts. Für einige Zeit verschwand er ganz. Einige sagten, er habe sich betrunken, andere, er sei in den Urlaub gefahren. Auch als er dann später wieder auftauchte, konnte er weder ein Aktionsprogramm vorlegen noch ein exaktes Ziel bestimmen. Er würfelte den alten Bürokratenapparat durcheinander, wodurch sich dieser nur noch mehr aufblähte. 

Später fuhr er mit all seinen Leuten in den Kaukasus, um die Armenier mit den Aserbaidschanern zu versöhnen, dann rief er den Ausnahmezustand für Tschetschenien aus und hob ihn anschließend wieder auf. 

Das Land trieb wie ein Schiff ohne Steuer und Segel dahin. Oder besser – es ähnelte einem Hochzeitszug, dessen betrunkene Teilnehmer mit Musik und Zigeunern durch die Stadt von einer Kneipe zur anderen ziehen. Fast der gesamte Mitarbeiterstab Jelzins zog von einem Empfang zum nächsten, von einem Fest zum anderen. Es war völlig unmöglich, sie an ihrem Arbeitsplatz oder zu Hause anzutreffen. Wochenlang versuchte ich vergeblich, jemanden von ihnen telefonisch zu erreichen, und bekam schon Schwielen an den Fingern vom Wählen, bis ich ganz zufällig das System dieser Art von Lotterleben entdeckte. Ich sah, daß Moskau im Rausche der »Präsentationen« lebte. Dieses neue russische Wort, das aus dem Englischen stammt, bezeichnete hier auf russischem Boden fast jedes öffentliche Besäufnis, aus welchem Grund auch immer – anläßlich der Eröffnung eines neuen Zentrums, der Bildung einer neuen Organisation oder irgendeines Jahrestages. Aber konnte man sich dort, zwischen geräucherten Fischen und Trinksprüchen, über irgendwelche ernsten Fragen einigen?

Inzwischen nahmen die Dinge den für mich ungünstigsten Verlauf. Die alte Nomenklatura erwachte sichtlich wieder zum Leben und füllte das Machtvakuum aus. Das geschah ganz offen, begleitet von Überlegungen in der Presse, daß die Leitung des Landes in den Händen der »Fachleute« bleiben sollte. Dies betonte sie sogar mit besonderem Nachdruck: Früher habe die Partei den »Fachleuten« nicht die Möglichkeit gegeben, die Dinge zu regeln, und nun verfahre die neue Macht genauso. Dabei wurde ganz vergessen, daß es in der UdSSR außer den professionellen Erbauern des Kommunismus, das heißt der Nomenklatura, nie irgendwelche anderen »Fachleute« in der Führung gegeben hatte. Sie haben das Land ruiniert, die Wirtschaft zerrüttet und konnten schließlich nicht einmal einen Putsch richtig organisieren.

Dementsprechend verliefen auch die Ermittlungen gegen die Putschisten im Sande. Bevor ich im September abreiste, lief noch eine Fernsehsendung von mir mit dem Titel »Zwei Fragen an den Präsidenten«. Ich wollte der Forderung nach einer öffentlichen Untersuchung »in Sachen KPdSU« Nachdruck verleihen. 

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Wir führten gleichsam eine Untersuchung nach dem Modell von Watergate durch, dort lautete bekanntlich die zweite, entscheidende Frage: Was wußte der Präsident (in unserem Fall - Gorbatschow), und seit wann wußte er es? Diese Frage war keinesfalls überflüssig, weil immer mehr Fakten an den Tag kamen, die darauf hindeuteten, daß Gorbatschow alles vorher gewußt hatte und der sogenannte »Putsch« nur sein Versuch gewesen war, den Ausnahmezustand im Land auszurufen und sich dabei hinter seinen Kumpanen zu verstecken. So brachte unsere Sendung, die den Vergleich mit Watergate zog, dem Zuschauer nahe, daß hier eine ebensolche öffentliche Untersuchung wie im Fall Watergate erforderlich sei.

Aber auch dieser anscheinend selbstverständliche Gedanke ging in dem ungeheuren russischen Saustall unter. Einerseits brachte es Jelzin nicht über sich, eine Entscheidung zu fällen, andererseits ertränkte die wiedererstarkende Nomenklatura, auch aus Jelzins Garde, alles in »Untersuchungs­kommissionen«, die die Angelegenheit unendlich in die Länge zogen und in denen selbstverständlich die »Fachleute« den Ton angaben. Im Ergebnis sind die Anführer des August-»Putsches« heute auf freiem Fuß. Im Oktober 1991 fanden im Obersten Sowjet einige Anhörungen statt, wo ein paar Abgeordnete eine ausführlichere Erörterung der Umstände des »Putsches« und sogar eine Untersuchung der gesamten Tätigkeit der KPdSU forderten, aber ihre kommunistischen Kollegen waren selbstverständlich dagegen. Es war nur Theater. Seit wann muß man die Zustimmung der Verbrecher einholen, bevor man sie auf die Anklagebank setzt?

Es verwundert, daß die Aussicht auf eine Untersuchung der verbrecherischen Aktivitäten der KPdSU nicht einmal bei der Mehrheit der »Gemäßigten« Begeisterung hervorrief. Aus irgendeinem Grund beunruhigte sie der internationale Aspekt. Einiges war schon bei den Anhörungen deutlich geworden — im wesentlichen Dinge, die die ausländischen kommunistischen Parteien betrafen, und weniger Bedeutendes, wie zum Beispiel der Transfer von vielen Millionen Dollar aus der Staatskasse an »Firmen der Freunde«.9 Aber schon das sorgte für genügend Aufregung.


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»Nach allem zu urteilen, werden im Laufe der Untersuchungen noch zahlreiche Dokumente dieser Art ans Tageslicht gefördert werden«, schrieb die Zeitung »Iswestija«,10) »und heute kann man sich nur schwer die Folgen dieser Arbeit vorstellen, weil der Skandal auf die internationale Arena überzuschwappen droht. Dies könnte die Karriere vieler Politiker beeinflussen, folgen auch für die Tätigkeit ausländischer kommunistischer Parteien sowie viele kommerzielle Strukturen, die auf der finanziellen Hefe der KPdSU hochgezogen worden sind, haben.«

Der Sowjetmensch kann das Wort »Ausland« nicht hören, ohne die Hosen voll zu haben. Jelzin war hier keine Ausnahme. Am 14. Januar 1992 unterschrieb er den Erlaß »Über den Schutz der Staatsgeheimnisse der Russischen Föderation«, mit dem alle Geheimhaltungsnormen der ehemaligen UdSSR wieder­hergestellt wurden. Als ich im März wieder nach Moskau kam, erlebte ich ein typisch sowjetisches Täuschungsmanöver. Zum einen wurde das »Zentrum für die Aufbewahrung zeitgenössischer Dokumentation« beim Archivkomitee feierlich eröffnet, wohin angeblich die Parteiarchive für die allgemeine Nutzung kommen sollten. Das hatte – dank Pichojas Bemühungen – die russische und westliche Presse bereits als Errungenschaft der neuen Demokratie in die Welt hinausposaunt. 

In der Tat durfte man, nachdem man einen Passierschein erhalten hatte, in die zweite Etage des ehemaligen ZK-Gebäudes, in den Lesesaal dieses Zentrums, hinaufsteigen und sich sogar das Verzeichnis der Dokumente ansehen. Aber damit endete die demokratische Gesinnung der neuen russischen Machthaber, denn kein Dokument von einiger Bedeutung durfte eingesehen werden. Noch bevor man das Verzeichnis zu Gesicht bekam, mußte man sich mit den für das Zentrum geltenden »Bestimmungen« vertraut machen, aus denen hervorging, daß gemäß Jelzins Erlaß von der Nutzung ausgeschlossen waren:

1. Alle Dokumente aus der Zeit nach 1981.
2. Alles Material zu Beschlüssen des Sekretariats des ZK aus der Zeit nach 1961.
3. Alles Material in einer »Sonderakte«.
4. Alles Material der Internationalen Abteilung, der Abteilung für Auslandskader, der Abteilung für Internationale Information, der Abteilung für die Administrativen Organe, der Abteilung des ZK für die Rüstungsindustrie; die Dokumente des KGB und der GRU - aus der Zeit nach 1961.


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Nun kann man sich, wenn man will, mit dem Plenum über die Landwirtschaft oder den Berichten über die Planerfüllung befassen. Ich war nicht einmal berechtigt, Dokumente, die mich persönlich, mein Schicksal, mein Leben betrafen, zu sehen. Nichts war es mit einer »internationalen Kommission«! Vergeblich hielt ich Pichoja unseren Vertrag unter die Nase und zeigte mit dem Finger auf seine Unterschrift. Seine Augen versteckten sich hinter seiner Brille: »Das ist ungültig.« 

»Ungültig« waren jetzt auch seine Unterschriften unter die Vereinbarung mit der Delegation unserer »Gründer­institutionen«, die ich ihm kurz nach meiner Abreise im Oktober zugeschickt hatte. Natürlich galt dies auch für seine »Vereinbarungen« mit anderen Organisationen, denen er hinter unserem Rücken dieselbe »Ware« verkaufen wollte. Es waren ein gutes Dutzend. Jedesmal hatte die so beglückte Institution freudig der Presse berichtet, daß sie (und nur sie) jetzt den Zugang zu den Parteigeheimnissen bekommen würde. Aber einen Monat später trat die nächste – nicht weniger glücklich – mit derselben Mitteilung an die Öffentlichkeit. Der Traum Pichojas war offensichtlich ebenso simpel wie unerfüllbar - sehr viel Geld zu bekommen, ohne seine Reichtümer aus der Hand zu geben und ohne von oben eins verpaßt zu bekommen. Es schwante ihm etwas von Millionen im Tausch gegen Berichte eines Gebietskomitees über die Arbeit mit der Jugend, die er dann auch noch mit gönnerhafter Miene an jeden einzeln verkaufen wollte. Da er nun aber, nachdem er die halbe Welt in Aufregung versetzt hatte, leer ausging, ist es nicht verwunderlich, daß er großen Zorn auf den gesamten Westen hatte.

»Diese Schweinehunde«, beklagte er sich bei mir (!), »alle wollen sie Exklusivrechte. Nun, jetzt kriegt keiner etwas von mir.«

»Verkaufen« konnte er nur das, was unter Verschluß ist, nur das wurde sein »Eigentum«. Das Freigegebene hätte er für ein Dankeschön ohne Vorteil für sich herausgeben müssen. Natürlich kam die von ihm so geliebte dreißigjährige Geheimhaltungsfrist — »wie in England« — auf einen Hinweis von ihm in Jelzins Erlaß.


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So starb noch vor ihrer Geburt meine Idee von einem »historischen Nürnberg«.

Als ich Ende März 1992 Moskau verließ, gab ich einige äußerst scharfe Interviews, die wie Ohrfeigen wirken sollten. »So sieht also eure >Demokratie< aus«, sagte ich, »daß sie sich schützend vor die kommunistischen Geheimnisse stellt.«11)

»Können Sie sich vorstellen, daß nach der Niederschlagung Deutschlands die ganze faschistische Dokumentation auf dreißig Jahre für geheim erklärt worden wäre? Das neue Deutschland versteckte nicht die fremden Geheimnisse. Will man ernsthaft mit der Vergangenheit brechen, darf man sie nicht verbergen.«

Sogar die »Iswestija« brauchte zwei Wochen, bis sie sich entschloß, mein Interview zu drucken.12) Ich dachte schon, sie würde es gar nicht bringen. »Nun, der Teufel soll sie holen«, resignierte ich. Eine Ohrfeige kann man sowieso nur dem geben, der sich das Ehrgefühl bewahrt hat, und davon gab es hier niemanden.

Ich hatte, ehrlich gesagt, die Absicht, nicht mehr nach Rußland zu fahren.

 

  

5. Dialektik nicht nach Hegel

 

 

Aber es gibt kein Unglück ohne Glück. Im Frühjahr 1992 erdreisteten sich die Kommunisten, vor dem Verfassungsgericht gegen Jelzins Dekrete, mit denen er die KPdSU verboten hatte, zu klagen.

Von außen sah das zweifellos wie ein schlechter Witz aus. Eine Gruppe ehemaliger Kommunisten geht vor Gericht gegen eine andere Gruppe derselben Kommunisten und bestreitet die Verfassungsmäßigkeit des Verbots der ehemaligen Partei, wobei das Gericht ebenfalls aus ehemaligen Kommunisten besteht. Das alles zudem noch in einem Land, in dem es eine Verfassung als solche nicht gab. Es gab die alte sowjetische Verfassung, die abzuschaffen und durch eine neue zu ersetzen man nicht die Kraft fand und die man daher unablässig mit Korrekturen versah. 

Was sind dagegen Kafka mit seiner schwachen Phantasie oder Hegel mit seiner kindlichen Auffassung von Dialektik!


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Doch Jelzin und seiner Umgebung war nicht zum Lachen zumute. Eine Niederlage vor Gericht war durchaus nicht auszuschließen (mindestens sieben von zwölf Richtern sympathisierten offen mit der KPdSU), und das hätte fatale Folgen gehabt. Einmal abgesehen von den rein politischen Konsequenzen — es hätte das soeben »aufgeteilte« ehemalige Parteivermögen zurückgegeben werden müssen (einschließlich der ZK-Gebäude am Alten Platz, wo gerade erst die russische Führung eingezogen war), bis hin zu den Archiven. Nicht zufällig nannte Jelzin in einer Rede vor dem amerikanischen Kongreß im Sommer 1992 dieses Verfahren eines der größten politischen Probleme, vor denen das Land stehe.

Jelzin und seine Mannen war also beunruhigt, vielleicht sogar in Panik. Ein Ergebnis, das ich seit fast einem Jahr ohne Erfolg angestrebt hatte, war die Öffnung der Archive der KPdSU, wenigstens einen Spalt weit. Ich wurde als Zeuge und Experte eiligst zur Mitwirkung hinzugezogen. Meine unumstößliche Bedingung oder, wenn man so will, der Lohn für meinen Auftritt in diesem absurden Theater war der Zugang zu den Archiven.

Natürlich hatten wir nicht ganz die gleichen Interessen. Die Kommission, die die Dokumente in den Archiven auswählte, wollte lediglich die »Verfassungswidrigkeit« der Handlungen der ehemaligen Parteiführung illustrieren, daher reichte das Material nicht für eine systematische Untersuchung. Es war eine Sammlung von aus verschiedenen Perioden stammenden Dokumenten, die ziemlich willkürlich nach sehr allgemeinen Kriterien in 48 Bänden zusammengestellt wurden: »Verletzung der Menschenrechte«, »Terrorismus«, »Korruption« und so weiter.

Auch in der Zusammensetzung der Kommission und in ihren Methoden zeigte sich deutlich die Unentschlossenheit und Gespaltenheit, in der sich das Land befand. Wenn schon weder der russische Präsident noch die Regierung klar und deutlich die nationalen Interessen des neuen russischen Staates definieren konnte, dann wurde natürlich die Frage, was noch als Staatsgeheimnis anzusehen ist und was nicht, von diesen Beamten mit Parteivergangenheit völlig willkürlich und oft auf Grund völlig unsinniger Erwägungen entschieden. Zum Beispiel erführ ich zufällig, daß die Liste der westlichen Journalisten, die mit dem KGB zusammengearbeitet hatten, nicht freigegeben wurde. Ich fragte natürlich nach.


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»Nun denk doch mal, wie könnten wir das tun?« antwortete man mir, »die Leute leben doch noch ...«

Am meisten entsetzte mich ihre völlige Unwissenheit und ihr erschreckender Provinzialismus. Diese Leute, die die neue politische Elite, das Hirn der Jelzin-Mannschaft, seine engste Umgebung, die sein höchstes Vertrauen genoß, darstellten, wußten absolut nichts von der restlichen Welt. Zufällig fiel mir ein Sitzungsprotokoll der Kommission in die Hände, aus dem hervorging, daß beschlossen worden war, die Dokumente über die finanzielle Hilfe des KGB für Rajiv Gandhi nicht freizugeben. Wie sich herausstellte, wußten sie einfach nicht, daß Rajiv Gandhi schon lange nicht mehr am Leben war, und befürchteten, Unruhen in Indien auszulösen.

Schließlich sah diese Kommission nur das, was man ihr zeigte. Oder genauer, was man nicht vor ihr verbergen konnte. In der geisterhaften Welt der kommunistischen Abenddämmerung war nicht alles so, wie es schien. So waren die Archivmitarbeiter, ohne die keiner irgend etwas finden konnte, früher häufig selbst Angestellte für technische Aufgaben beim ZK, das heißt sie haben diese Arbeit in den Archiven dank Verbindungen zur obersten Parteiführung oder verwandtschaftlicher Beziehungen bekommen. Ihre Gewohnheiten, die sie in jahrelangem Dienst an der geheimsten Stelle des geheimen Staates angenommen und zu Pawlowschen Reflexen entwickelt haben, sind nicht leicht zu überwinden. Als Folge stieß jede Suche in den Archiven auf den schweigenden, aber beharrlichen Widerstand, ja fast schon auf Sabotage seitens vieler Archivmitarbeiter.

Die allgemein verbreitete Neigung, Schätze die man in der Hand hat, nicht herauszurücken – entweder aus Furcht oder aus dem für den Sowjetmenschen typischen Drang, aus allem, was er in seiner Verfügungsgewalt hat, Vorteil zu schlagen (und dabei den Preis so hoch wie möglich zu treiben), oder aus politischen Motiven oder schließlich aus dem Wunsch des kleinen Beamten, seine Wichtigkeit zu demonstrieren und den Bittsteller zu erniedrigen — wurde zu einem unüberwindlichen Hindernis. Normale Menschen, die bereitwillig und wohlwollend mit Forschern zusammenarbeiten, sind dort eine Seltenheit.


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Man kann sich vorstellen, welche Mühe es die Kommission kostete, die 48 Bände zusammenzustellen. Sie begann ihre Arbeit im April, kurz nachdem die Klage vom Verfassungsgericht angenommen worden war, und bei meiner Ankunft Ende Juni war sie kaum vorangekommen. Erst im Laufe des Sommers und Herbstes wurden viele Dokumente herausgegeben, einige wurden erst gegen Ende des Prozesses – nur durch Jelzins Eingreifen – »aufgefunden«. Einige wurden überhaupt »nicht gefunden«. Die ganzen Schwierigkeiten der »Suche« konnte ich erst einschätzen, als ich zusätzliche Dokumente anforderte, da ich mich mit dem, was die Kommission gefunden hatte, nicht begnügte. Obwohl mir niemand mein Verlangen direkt abschlug, gelang es mir nicht, an die Dokumente heranzukommen oder die für die Verhinderung Verantwortlichen ausfindig zu machen. Was konnte man tun? Sie wurden eben nicht gefunden. In der Tat war es nicht leicht, etwas aufzufinden; in den Archiven der KPdSU lagerten einige Milliarden Dokumente.

Die Suche komplizierte sich noch dadurch, daß das Archiv des ZK aufgeteilt war und der wichtigste Teil – das Archiv des Politbüros mit allen Beschlüssen und Sitzungsprotokollen seit 1919 – im Jahr 1990 in den Kreml überführt und dem Präsidentenarchiv Gorbatschows angegliedert worden war. Schon dorthin zu gelangen war ohne Sondergenehmigung Jelzins, der es Ende 1991 zusammen mit dem ganzen Kreml geerbt hatte, nicht möglich. Während man im Hauptarchiv des ZK wenigstens das Findbuch der Dokumente (eine Art Katalog oder Register, in dem Datum, Chiffre und Bezeichnung des Beschlusses angegeben waren) einsehen konnte, bevor man sie anforderte, war das Archiv des Politbüros überhaupt unzugänglich. Wie sollte man ein Dokument anfordern, ohne zu wissen, ob es überhaupt existierte? Die Mitarbeiter des Präsidentenarchivs machten sich ganz offensichtlich über mich lustig, indem sie auf meine ausführlichen Anfragen lakonisch und unverschämt antworteten: »Das Dokument wurde nicht gefunden. Nennen Sie Chiffre und Datum«, wohl wissend, daß mir weder das eine noch das andere bekannt sein konnte.


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Auch das Archiv des ZK war nicht viel übersichtlicher, ein Findbuch gibt ja nur eine sehr ungefähre Vorstellung von dem Dokument, oft nur seine offizielle Bezeichnung, wie etwa »Anfrage der Internationalen Abteilung« oder »Schreiben des KGB vom ...«. Nun kann man rätseln, brauchte man das Dokument? Lohnte sich dafür der Einsatz von Kraft und Verbindungen? Lohnten sich die Wochen und Monate beharrlichen Kampfes? In den meisten Fällen erwies sich, nachdem alle Hürden genommen waren, daß es sich nicht gelohnt hatte. Wie in dem Märchen vom Fischer und dem Fischlein:

Der Fischer warf sein Netz ins blaue Meer, und im Netz war nur Seetang ...

 

Hier half mir meine im Gefängnis erworbene Erfahrung im systematischen Kampf mit der Bürokratie. Immer wieder mußte ich bis ganz nach »oben« vordringen, von dort Druck machen lassen und Gründe erfinden, warum das eine oder andere Papier für meine Aussagen vor Gericht unbedingt notwendig sei. Was habe ich nicht alles ausprobiert! Aus dem ganzen Repertoire unserer Gefängnistricks habe ich nur einen nicht angewandt – die Bestechung. Vielleicht war das falsch, aber ich empfand es als erniedrigend, ebenso wie es wahrscheinlich ein ehemaliger Häftling der Nazis als Erniedrigung empfunden hätte, von den SS-Leuten Dokumente über die Repressionen zu kaufen. Der Gedanke, daß derselbe Abschaum, der damals seinen Wohlstand auf unseren Knochen errichtet hatte, auch jetzt noch Profit aus seiner früheren Tätigkeit schlagen sollte, war mir unerträglich.

Ich weiß nicht, ob ich nicht mehr an die Sklavenattitüden, die Lügen und die Eigenschaft der Sowjetmenschen, sich nur der Gewalt zu unterwerfen, gewohnt war oder ob die letzten fünfzehn Jahre, in denen ich nicht mehr unter ihnen gelebt hatte, sie endgültig verdorben hatten.

Es war nur eine Minderheit, die mich haßte und eine andere die heimlich mit mir sympathisierte. Die meisten, diese unausrottbare schweigende Mehrheit der Archivmitarbeiter, waren von seltener Gleichgültigkeit für meine Arbeit in den Archiven.


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Selbst die ungewöhnliche Tatsache meiner Anwesenheit im Gebäude des ehemaligen ZK, wo sich die Archivverwaltung seit dem August-»Putsch« befand, wo immer noch die Porträts von Marx und Engels an den Wänden und Schilder wie »Stellv. Sektionsleiter Gen. G. W. Perepelkin« an den Türen hingen, hatte sie offensichtlich in keiner Weise berührt, wie wohl auch die Veränderungen im Lande für sie nichts weiter bedeuteten als ein ganz gewöhnlicher Wechsel der Vorgesetzten. 

Auf jeden Fall begriff ich bald, daß die Schwankungen in ihrem Verhalten mir gegenüber – an einem Tag waren sie einschmeichelnd-kriecherisch, am nächsten höflich-gleichgültig, am dritten kalt-offiziell – nichts Persönliches offenbarten, sondern nur mit der Genauigkeit eines Wetterhahns die Windrichtung in den oberen Etagen der Macht angaben. Mit der Zeit las ich an ihrem Verhalten die politische Wetterlage im Land ab und konnte mit ungewöhnlicher Genauigkeit sagen, welche Seite im permanenten Kampf um die Macht in Rußland im Augenblick die Oberhand hatte. Andererseits erriet ich, wenn ich die aktuellen Macht­konstellationen kannte, ob ich ein Dokument bekommen würde oder nicht.

Jetzt, da der Prozeß vor dem Verfassungsgericht bevorstand, forderte der »Chef« ungeachtet seines eigenen Erlasses und der von ihm favorisierten dreißigjährigen Geheimhaltungsfrist, daß die Schatzkammern sich öffneten, und der arme Pichoja fühlte sich wie ein Bauer, der enteignet wurde und sich von »seinem« Eigentum trennen mußte. Er war und blieb eben doch nur ein Schatzverwalter, ein Hüter fremden Eigentums.

Er machte einen kläglichen Eindruck, und ich dachte, er würde an einem Herzschlag sterben. Er war nahe dran, sich mit einem Herzinfarkt ins Bett zu legen, oder verstellte er sich nur, um sich irgendwie aus der Sache herauszuhalten? Wer weiß? Aber die erbarmungslose Obrigkeit zerrte ihn aus dem Bett, schleppte ihn in die Archive und befahl ihm: Mach auf und suche! Wann hatte die russische Obrigkeit je Rücksicht auf Infarkte genommen? Er begann zu suchen, griff sich jeden Augenblick ans Herz und schluckte Tabletten. Über seine Vorgesetzten, von denen ich mir zuvor für meine Mitwirkung am Prozeß die Öffnung der Archive ausbedungen hatte, rang ich ihm immer wieder neue Dokumente ab.


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Vier Monate zuvor hatte er mir nicht einmal das gezeigt, was mich persönlich betraf — die Beschlüsse des ZK, aufgrund deren man mich ins Gefängnis steckte und aus dem Land wies. Jetzt öffnete er mir dienstwillig und fast ohne Widerstand sogar »Sonderakten«, Berichte des KGB und der Internationalen Abteilung – das Allerheiligste des ZK.

»Nun, Rudolf Germanowitsch«, konnte ich mich nicht zurückhalten, als ich mich allein mit ihm im Erholungs­raum des Verfassungs­gerichts befand, »niemals, niemals haben Sie gesagt ... Was hat der ganze Widerstand genützt, wenn Sie mir jetzt doch alles herausgeben?«

»Nun wenn schon«, brummte er verdrossen, »der ganze Wahnsinn wird irgendwann mit dem Prozeß enden. Alles wird wieder werden, wie es war.«

Natürlich hatte er recht. Der Prozeß war vorbei, und im Frühjahr 1993 endete für mich der »Goldregen« ebenso plötzlich, wie er begonnen hatte. Die Archive wurden wieder dicht verschlossen, die dreißigjährige Geheimhaltungsfrist trat erneut in Kraft, und sogar das, was ich in der tollen Zeit des Prozesses hatte herausholen können, alle die Bände von Dokumenten, die die Kommission zusammengestellt hatte, wurden auch für geheim erklärt – wer weiß, vielleicht für immer.

Da ich zu demselben Schluß wie Pichoj gekommen war und mich darauf eingestellt hatte, daß man mir nicht erlauben würde, Kopien zu machen – zum Beispiel unter dem Vorwand, daß es keine Kopiergeräte gebe, daß für jedes Blatt Papier eine Sondergenehmigung eingeholt werden müsse oder was ihnen sonst noch einfiel – hatte ich mir ein kleines Wunder der japanischen Technik, einen tragbaren Computer mit einem Hand-Scanner, mitgebracht. Dieser war selbst für den Westen eine Neuheit, und für russische Verhältnisse war es ein unerhörtes Wunder. So saß ich jetzt vor aller Augen und scannte alles nacheinander ein, Seite für Seite, ohne mich um die Gaffer zu kümmern, die sich am Anblick meines Geräts weideten.

»Da schau her«, ertönten hinter meinem Rücken die begeisterten Summen der Führer des demokratischen Rußlands, »bestimmt ein teures Stück?«


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Niemand begriff, was ich da bis zum Ende des Prozesses, bis zum Dezember 1992, trieb, bis plötzlich einer, von einem schrecklichen Verdacht gepackt, durch den ganzen Saal rief:

»Ja, aber er kopiert doch alles!!!«
Es trat eine unheilvolle Stille ein. Ich scannte weiter, als ob ich nichts gehört hätte.
»Er wird DORT alles veröffentlichen!!!«

Ich beendete meine Arbeit, legte den Computer zusammen und ging ruhig zur Tür, ohne irgend jemanden anzusehen. Nur mit einem halben Auge sah ich die vor Schreck erstarrten Gesichter der neuen »Elite« Jelzins und den gekränkten Gesichtsausdruck Pichojas, der zu sagen schien: »Na, und wenn schon. Das geschieht euch allen recht.«

Keiner sagte ein Wort, während ich zur Tür ging. Sie überschlugen wohl, wie viele Millionen ich im Westen dafür einstreichen würde.

So gelangte dieser Berg von Dokumenten mit den Vermerken »geheim«, »streng geheim«, »von besonderer Wichtigkeit« und »Sonderakte« in meine Hände. Einige tausend Seiten unserer Geschichte von unschätzbarem Wert.

 

  

6. Das Gericht tagt

 

 

Am 7. Juli 1992 wurden mit großem Pomp die Verhandlungen vor dem Verfassungsgericht in der »Sache KPdSU« eröffnet. Die in ihre speziell geschneiderten schwarzen Roben gekleideten Richter waren in der Vergangenheit alle Parteimitglieder gewesen. Die »geschädigte Seite« – ehemalige Sekretäre des ZK und Mitglieder des Politbüros – die »beklagte Seite« – die Mannschaft des Präsidenten, Vize-Premiers, Minister –, waren ebenfalls früher alle Parteifunktionäre gewesen, aber von niedrigerem Rang als ihre Prozeßgegner. Sogar die Gutachter waren dereinst Professoren an Parteiinstituten. Zu erwähnen sei noch, daß die ganze Show im Gebäude der ehemaligen Parteikontrollkommission beim ZK der KPdSU stattfand. Das Ganze wirkte wie eine innerparteiliche Auseinandersetzung wegen ausstehender Mitgliedsbeiträge.


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Der Vorsitzende des Gerichts Waleri Sorkin, ebenfalls in einer schwarzen Robe und dazu noch mit einer vergoldeten Kette um den Hals, betrachtete aufmerksam den vor ihm auf dem Tisch stehenden kupfernen Gong und überlegte sich, wie er mit dem Hämmerchen auf ihn schlagen sollte, ohne die ganze Konstruktion umzuwerfen.

»Nun, ist das wenigstens ein ehrlicher und anständiger Mann?« fragte ich skeptisch meinen Nachbarn, einen Vertreter der »Präsidentenseite«.
»O ja«, antwortete dieser freudig, »das ist unser Mann. Ein hervorragender Mann, früher Professor der Akademie des Innenministeriums.«

Ich biß mir auf die Zunge. Das geschah mir recht, wenn ich so dumme Fragen stellte. Die Begriffe »der unsere – der ihre«, »anständig – unanständig« verstanden wir offensichtlich auf verschiedene Weise.

Natürlich war dieses Gerichtsverfahren, seinem Wesen nach der Streit zweier Teile der gespaltenen KPdSU um das Vermögen ihrer ehemaligen Partei, eine klägliche Parodie auf meine Vorstellung von einem »historischen Nürnberg«, und meine Teilnahme an ihm mußte unsinnig erscheinen. Schon die Tatsache, daß das Verfassungsgericht und nicht ein Strafgericht mit der Angelegenheit betraut wurde, war ein Kompromiß, der den Prozeßteilnehmern die Hände band. Alle, einschließlich des Präsidenten, verstanden sehr wohl, daß die KPdSU vor allem deshalb verboten werden mußte, weil diese Organisation verbrecherisch tätig war, und nicht deshalb, weil sich ihre Tätigkeit angeblich gegen die von ihr selbst geschaffene Verfassung richtete. Das letztere juristisch zu beweisen war ebenso unmöglich, wie zu bestimmen, was eher da war — das Ei oder die Henne, um so mehr als die Verfassung über hundert Änderungen enthielt, die die Kommunisten nur deshalb eingebracht hatten, um sie ihren Bedürfnissen anzupassen. Gegen welche Verfassung verstieß denn die Tätigkeit der KPdSU — gegen die ursprüngliche ohne Änderungen oder die heute gültige mit den Änderungen, durch die ihre Tätigkeit verfassungsfeindlich wurde? Ein einziger Wirrwarr!


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Natürlich haben die Presse und das Publikum diese Ungereimtheiten sogleich bemerkt. Die Russen sind vielleicht passiv und schlampig, aber dumm waren sie noch nie. Die Zeitungen fragten – scheinbar verständnislos –, warum man sich nicht des Völkerrechts bediene, das hier völlig ausreichen würde:

»Es gibt das Londoner Abkommen über die gerichtliche Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Achsenmächte vom 8. August 1945, das Urteil des Internationalen Nürnberger Militärtribunals vom 1. Oktober 1946, die Resolution der Generalversammlung der UNO vom 11. Dezember 1946 über die Anerkennung der Prinzipien, die im Statut und im Urteil des Nürnberger Tribunals enthalten sind als gültige Normen des Völkerrechts. Es gibt die internationale Konvention >Über die Aufhebung der Verjährung für Kriegverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit<«, schrieb zum Beispiel die Zeitung »Wetschernjaja Moskwa«.13)

»Zum erstenmal fanden die in den genannten Quellen enthaltenen Normen in Bezug auf den deutschen Nationalsozialismus ihre Anwendung. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß die heutige Situation auf dem Territorium der UdSSR sich prinzipiell von derjenigen unterscheidet, die im Urteil des Nürnberger Tribunals von 1946 ihre Bewertung erfuhr. Beide Staaten - sowohl Deutschland als auch die UdSSR - waren, wie sich herausstellte, am Überfall auf Polen im September 1939 beteiligt. Danach überfiel die Sowjetunion, sich auf geheime Abmachungen mit der politischen Führung Deutschlands stützend, Finnland, annektierte Litauen, Lettland und Estland sowie einen Teil Rumäniens. Und die Vernichtung Tausender polnischer Soldaten, die während des Angriffs auf Polen gefangengenommen worden waren – ist das nicht ein in seinem Zynismus und seiner Unmenschlichkeit einmaliges Kriegsverbrechen?

Die verbrecherische Organisation, die die Staatsmacht in der UdSSR bildete, zog aus den Ergebnissen des Nürnberger Prozesses, wo auf Grund der historischen Gegebenheiten nur die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei auf der Anklagebank saß, für sich keine Konsequenzen. Man erinnere sich: 1950Teilnahme an der Entfesselung des Krieges auf der Koreanischen Halbinsel; 1956 — bewaffnete Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ungarns; 1968 — bewaffnete Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei und schließlich 1979 — die Entfesselung des Krieges in Afghanistan.«


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Nichts schien einfacher, überzeugender und logischer zu sein als das. Aber nein, dazu konnte man sich nicht entschließen. Die ehemaligen Kommunisten schreckten vor einem solchen Schritt zurück. Weder Jelzin noch seine Umgebung wollten als Komplizen bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit dastehen. Deshalb dachten sie sich diese peinliche und verworrene Posse aus. Es sollte der Beweis erbracht werden, daß die KPdSU »sich an die Stelle des Staates gesetzt hat« und deshalb verfassungs­feindlich sei. Gott behüte, nicht verbrecherisch, das Gericht verbot strengstens, diesen Ausdruck zu verwenden. Es war doch ein Verfassungsgericht, das für die Untersuchung von Verbrechen nicht zuständig war.

Es versteht sich, daß die Vertreter der KPdSU sich diese Schwäche so weit wie möglich zunutze machten. Am Tage des Prozeßbeginns widmete die Zeitung »Prawda« ihr die ganze erste Seite. Äußerungen von Personen aus der Umgebung des Präsidenten aus ihrer Zeit als Parteifunktionäre wurden den heutigen Aussagen gegenübergestellt — all das unter der Überschrift: »Meine Herren! Wann haben Sie die Wahrheit gesagt? Gestern oder heute?«

Die meisten Zeugen der Präsidentenseite waren ehemalige Parteimitglieder oder sogar Parteiführer. Deshalb stellten die Anhänger der KPdSU allen ein und dieselbe taktische Frage: »Sind Sie der Meinung, daß alle Mitglieder der Partei die Verantwortung für die Handlungen der Partei tragen sollen?« Was sollten diese ehemaligen Parteimitglieder antworten? Keiner wollte die Verant­wortung mit seiner ehemaligen Partei teilen.

»Aha«, jubelte die KPdSU-Seite, »aber die Partei, das sind doch vor allem die 18 Millionen Mitglieder und nicht die Handvoll Parteioberen.« Triumphierend führten sie ihre Zeugen vor - Genossen aus der Provinz, die unter Eid (und völlig aufrichtig) dem Gericht versicherten, daß sie sich niemals an verfassungsfeindlichen Aktivitäten beteiligt hätten. Nun ja, die Mitglieder der KPdSU aus dem Gebiet Wologda befaßten sich weder mit internationalem Terrorismus noch mit Aggressionen gegen Nachbarländer und auch nicht mit der Verfolgung Andersdenkender. Sie befaßten sich mit der Einbringung der Ernte und der Erfüllung der Fünfjahrespläne.


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Weiterhin – denn sie waren ja Dialektiker – brachten die Vertreter der KPdSU vor, daß sich die Partei nach einem bestimmten Parteitag/ Plenum/Beschluß, mit dem die frühere Tätigkeit verurteilt wurde, jeweils vollständig gewandelt hätte und daher keine Verantwortung für die Vergangenheit mehr zu tragen habe. Nun, unter Stalin wurden Millionen und aber Millionen Menschen ermordet, das war ein Verbrechen, doch dann, auf dem 20. Parteitag, wurden diese Taten verurteilt. Sowohl Chruschtschow als auch Breschnew haben Dummheiten gemacht, aber auch sie wurden im Nachhinein kritisiert. Das letztemal kritisierten sie alle möglichen »Fehler« im Jahre 1991 und wurden gleichsam neu geboren. Jetzt heiße es weiterleben und handeln — nein, sie würden für nichts und wieder nichts verboten.

Das schien ein schwaches Argument zu sein, aber auch hierauf fanden die Vertreter der »Präsidentenseite« keine passende Antwort. Auch sie waren im Geiste des dialektischen Materialismus erzogen worden und meinten, da sie vor zwei Jahren aus der Partei ausgetreten waren und sich von ihr distanziert hatten, würden sie keine Verantwortung für die Vergangenheit tragen. Sie fühlten sich jetzt sogar berechtigt, über ihre weniger wendigen Kollegen zu Gericht zu sitzen und ein Urteil über sie zu sprechen. Für sie war daher meine Teilnahme und die zwei bis drei weiterer Dissidenten als Zeugen erforderlich. Wir waren nicht von der Parteidialektik gefesselt und konnten in unseren Antworten auf die Fragen des Gerichts das sagen, was keiner von ihnen sagen konnte.

Schon unsere bloße Anwesenheit verlieh dem ganzen Geschehen einen Sinn. Das fühlten – wenn vielleicht auch nur unbewußt – sogar die Richter und die KPdSU-Leute, die uns mit großem Respekt behandelten. Offensichtlich ärgerte das den einen oder anderen aus der Präsidentenriege, obwohl die Betreffenden den Grund für ihr Unbehagen wohl kaum verstanden. Einer von ihnen erklärte mir völlig unvermittelt und ohne geringsten Anlaß meinerseits stolz, daß er am ersten Tag des »Putsches«, am 19. August, demonstrativ aus der Partei ausgetreten sei. Er wollte mich anscheinend mit seiner Kühnheit beeindrucken. Ein anderer erzählte in einem geeigneten Augenblick lang und breit, wie grausam und ungerecht er für seine liberale Gesinnung leiden müßte.


Er, der Arme, wurde nicht Sekretär des ZK, sondern auf einen Botschafterposten in ein westliches Land »abgeschoben«. Hier gab es keine Spuren eines schlechten Gewissens, sondern es war so etwas wie der verborgene Neid des Affen beim Anblick seines schwanzlosen, aufrecht gehenden Verwandten.

Es ist interessant, daß sowohl die Beteiligten als auch die Zuschauer gegenüber dieser Farce größten Ernst an den Tag legten. Kein Quentchen Ironie, nicht die kleinste Andeutung, daß einer die Absurdität der Situation verstand. Jeden Morgen versammelte sich vor dem Gerichtsgebäude eine Volksmenge, die von der Miliz zurückgehalten wurde, mit roten Tüchern auf der einen Seite und dreifarbigen auf der anderen. Der Saal war voll von Presseleuten und Anhängern der beiden Seiten – links vom Gang die Seite der KPdSU und rechts die Seite des Präsidenten. Gott behüte, daß man sich auf die falsche Seite setzte. Ehemalige ZK-Sekretäre, Politbüromitglieder, Männer, die noch vor kurzem die Geschicke der Welt bestimmt hatten, und solche, die es jetzt taten, saßen stundenlang in diesem stickigen Saal und hörten gespannt zu. Was erwarteten sie wohl zu hören, welche Wahrheit wollten sie für sich entdecken?

Im Zeugenstand verlegten sie sich auf eine schäbige und dumme Art aufs Leugnen, ereiferten sich und schimpften wie unerfahrene Diebe, die auf frischer Tat ertappt worden waren. Die Hand ans Ohr gelegt, um besser zu hören, und ganz nach vorn gebeugt, – so saß viele Wochen hindurch der einst allmächtige Ligatschow. Wie ein kleiner Junge, der die Wahrheit nicht zugeben will, wirkte das ehemalige Politbüromitglied Dsasochow, als er seine Unterschrift unter einem Dokument nicht anerkennen wollte. Wie eine Schlange wand sich der aus Deutschland herbeigerufene Falin.

Das waren alles keine Schwächlinge gewesen; ich habe ihre Unterschriften unter den schrecklichsten Dokumenten und Beschlüssen gesehen, die vielen Menschen das Leben kosteten. In meiner Vorstellung standen sie als tückische allmächtige Bösewichter da, aber bei näherer Betrachtung erwiesen sie sich einfach als Dummköpfe, halbgebildet, stammelnd und unfähig, anders zu denken als in den Klischees der »Prawda«.

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Wladi Bukowski und seine Abrechnung mit Moskau