Teil 3 - Zurück in die Zukunft
3.1 Worin haben wir uns geirrt?
119-128
Seltsamerweise erschien mir ein solches Ende der Sowjetunion so lange unwahrscheinlich, bis Gorbatschow mit seiner Glasnost auf den Plan trat. Bis dahin hatte ich angenommen, daß der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes zehn Jahre später, gegen Ende dieses Jahrhunderts erfolgen würde, aber weit radikaler, als er sich dann schließlich abspielte. An der Unausweichlichkeit des Zusammenbruchs hatte ich keine Zweifel, nur sein Zeitpunkt und seine Form waren ungewiß.
Vor zehn bis fünfzehn Jahren hatte diese Frage eher akademischen Charakter. Ich erinnere mich an Diskussionen in den siebziger Jahren über Amalriks »Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?«, der völlig logisch und — wie wir jetzt sehen — richtig das Szenarium des Zerfalls der UdSSR in einzelne Republiken beschrieb. Weniger wichtig ist, daß der Anstoß zum Zerfall bei ihm ein Krieg mit China sein sollte, der nicht stattfand; weit wichtiger ist seine Grundthese, nach der das Regime altersschwach wird, die Opposition (darunter auch die nationalistische) wächst und die UdSSR eine ernsthafte Krise nicht mehr überleben kann.
Davon handelten auch viele andere Bücher aus jener Zeit — von Solschenizyns »Die Eiche und das Kalb« bis zu meinem »Wind vor dem Eisgang«.
Die Frage war jedoch viel aktueller, als es damals schien. Das begriff ich erst im Westen. Das, was für uns Dissidenten aufgrund unserer Erfahrung selbstverständlich war, wurde hier stark bezweifelt, ja für absurde und gefährliche Hirngespinste von Emigranten gehalten, so wie der Glaube der kubanischen Antikommunisten an einen leichten Sieg bei der Landung in der Schweinebucht. Der Westen wollte uns nicht ernst nehmen. Im besten Fall betrachtete man uns als Kuriosum und reagierte dem feinen Vergleich Amalriks zufolge wie ein Ichthyologe, der plötzlich mit einem sprechenden Fisch konfrontiert wird, aber der Überzeugung ist, in jedem Fall weit mehr über den Fisch zu wissen, als dieser ihm erzählen kann.
Indessen hing die ganze Politik des Westens gegenüber dem Sowjetblock von dieser Frage ab, und wenn wir recht hatten, daß das Regime altersschwach geworden und keiner ernsthaften Anstrengung mehr gewachsen war, dann hätte der Westen bewußt Spannungen erzeugen müssen, die das Regime gezwungen hätten, sich bis zum letzten zu verausgaben. So geschah es Anfang der achtziger Jahre, als Reagans und Margaret Thatchers härtere Politik (die dazu noch mit den Krisen in Polen und Afghanistan zusammenfiel) das Regime dazu zwang, sich zu übernehmen, was den Zusammenbruch förderte.
Aber zehn bis fünfzehn entscheidende Jahre waren verloren. Wäre der Westen unserem Rat gefolgt, hätte er auf Zuspitzung und nicht auf »Entspannung« gesetzt und sich vor allem eine erfolgreiche Taktik des »ideologischen Kampfes« zugelegt, dann wäre die Sowjetunion ein Jahrzehnt früher zusammengebrochen, und das Ergebnis hätte völlig anders ausgesehen. Es hätte zumindest kein Zweifel darüber geherrscht, wer Sieger und wer Verlierer war, und der Genesungsprozeß würde in Rußland ähnlich erfolgreich verlaufen wie in Tschechien.
In den siebziger Jahren konnte man jedoch lediglich davon träumen, eher war das Gegenteil zu befürchten — die völlige Kapitulation des Westens vor dem sowjetischen Monstrum.* Während wir Emigranten uns in dieser Frage mehr oder weniger einig waren und nach Kräften gegen den Kleinmut des Westens ankämpften, so war auch unter uns die Frage, auf welche Weise der Zusammenbruch des Regimes erfolgen würde, umstritten.
Der in den siebziger Jahren aufsehenerregende »Brief an die sowjetische Führung« von Solschenizyn, in dem ein gewisser Einfluß von Amalriks Buch zu spüren und in dem erstmalig von einer Übergangsperiode vom Totalitarismus zur Demokratie die Rede war, rief einen Proteststurm hervor. Wie lächerlich erscheinen heute die Angriffe auf Solschenizyn, der es wagte anzunehmen, daß eine solche Periode unausweichlich kommen mußte, weil er am augenblicklichen Triumph der Demokratie nach so vielen Jahren völliger Unfreiheit zweifelte.
* (d-2012:) Ich bin auch heute noch der Meinung, dass dies richtig gewesen wäre, WEIL ich an die reale Möglichkeit der Vernichtung durch einen Atomkrieg glaube. Dies ist durch neuere Forschungen gestützt. (General Butler Rede 1999; Klimasimulation durch Atomkrieg). Man kann einwenden, dass die Unterwerfung unter die Sowjetunion uns auch in die Vernichtung geführt hätte.
121
Wessen bezichtigten ihn die Demagogen verschiedenster Couleur — westliche wie auch Emigranten — nicht alles: des Monarchismus, des »Chomeinismus« und sogar des »Versuchs der Machtergreifung«. In Wirklichkeit wollte er, der in das Studium der Geschichte der Revolution von 1917 vertieft war, davor warnen, daß sich dasselbe Szenarium in der Sowjetunion wiederholen könnte. (Wie wir heute sehen, war er der Wahrheit näher als seine Opponenten.)
Meine Teilnahme an diesem Streit war eher zufällig und zum Teil wurde sie mir aufgezwungen. Zur Zeit meiner Entlassung aus dem Gefängnis und meiner Ausweisung hatte sich dieser Streit zu einer wahren Hetzjagd gegen Solschenizyn entwickelt, die mich wegen ihrer Absurdität wütend machte. Damals diskutierte ich nicht gern über die Zukunft, weil ich eine solche Beschäftigung nicht nur für sinnlos, sondern auch für schädlich hielt, weil sie lediglich dazu führte, daß unsere ohnehin äußerst geringen Kräfte noch mehr zersplittert wurden. Was hätte es denn für einen Sinn gehabt, darüber zu streiten, wer nach den Kommunisten kommen würde, da diese keine Anstalten machten abzutreten.
Aber so ist nun mal die Intelligenzija — für sie gibt es keine andere Freude im Leben als die Selbstdarstellung, keine höheren Werte als sich selbst, und in diesem Fall konnte ihr keiner verbieten, nach Herzenslust über die Zukunft zu reden, ob das nun nützte oder schadete. Nachdem sie eine Diskussion begonnen hatten, steigerten sie sich zu gegenseitigen Bezichtigungen, unsaubere Absichten zu hegen.
Nachdem sich nun die Intellektuellen bis zur Ermattung gestritten und Solschenizyn aller erdenklichen Sünden bezichtigt hatten, verfielen sie auf die Idee, daß etwas getan werden müßte, sonst würde sich der Kommunismus in ein noch schrecklicheres Monstrum, den National-Bolschewismus, verwandeln, den der arglistige Solschenizyn anstrebe. Der geschätzte Professor für Logik Alexander Sinowjew erklärte mit der für sein Fachgebiet charakteristischen Unerbittlichkeit: »Wenn man mich morgen zwischen der Sowjetmacht und der Macht Solschenizyns wählen ließe, würde ich die erstere vorziehen.«
Muß man erwähnen, daß eine solche Schlußfolgerung dem westlichen Establishment, welches diese Diskussion in jeder Weise anheizte, sehr zustatten kam?
122
Die Sowjetmacht nahm sich im Ergebnis gar nicht so schlecht aus, und der Kampf gegen sie erschien nicht nur unnötig, sondern sogar schädlich. Vor allem aber, so wurde geurteilt, seien die Dissidenten zerstritten; sie wüßten selbst nicht, was sie wollten, und der Westen sollte nicht auf sie hören.
Ich bemühte mich sehr, nicht in diese sinnlosen Streitigkeiten hineingezogen zu werden, doch rein praktische Erwägungen erforderten meine Einmischung, um wenigstens zu erreichen, daß dieses Gezänk, das uns so sehr schadete, aufhörte. Es war so, als ob mitten im Krieg Truppen von der Front zur Unterdrückung eines Aufstandes ins Hinterland abgezogen werden müßten. Wenn ich mir jetzt ansehe, was damals geschrieben wurde, finde ich es sehr interessant, was ich 1979 über die »Übergangsperiode« dachte:
»Zweifellos sind alle Voraussagen über eine baldige Revolution in der UdSSR unsinnig und ihre Propagierung ebenso verbrecherisch wie die Propagierung des Terrors. Nur sentimentale Schriftsteller behaupten, daß Elend und Rechtlosigkeit des Volkes die Ursachen einer Revolution sind — daß sie ausbricht, wenn das Volk zum Äußersten getrieben wird. Letztlich weiß niemand genau, was sie verursacht, aber Not und Hunger führen eher zu Diebstahl, zu individueller Rebellion oder zu dumpfer Unterwürfigkeit.
In der Rechtlosigkeit weiß der Mensch nichts von seinem Recht und ist zu sehr gedemütigt, um irgendein Recht einzufordern. Eine geschickte Regierung kann sich aus dieser uneinigen und verbitterten Masse stets leicht die Begabtesten und Tatkräftigsten kaufen. Mit einem Wort, Not und Rechtlosigkeit führten zu Stagnation und Fäulnis, wie wir in der UdSSR sahen. Wenn in diesem Zustand irgendeine Wunder wirkende äußere Kraft das existierende Herrschaftssystem beseitigte, würde das zu einer totalen Katastrophe, Anarchie und Selbstzerstörung führen.
Eine Revolution bricht zumeist dann aus, wenn wirkliches Elend und wirkliche Rechtlosigkeit schon längst überstanden sind, aber der aufgestaute Zorn und das Mißtrauen gegenüber der Staatsmacht bewirken, daß jegliche Reform nur Haß und Unzufriedenheit hervorruft. In dieser Lage ist eine unentschlossene und unfähige Regierung der beste Garant für eine Revolution.
123
Von der Revolution Gerechtigkeit und Freiheit zu erwarten, zeugt von großer Naivität. Jede gesellschaftliche Erschütterung bringt den Bodensatz der Gesellschaft an die Oberfläche — >Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger, alles zu werden, strömt zuhauf!< — In der Revolution kommen die grausamsten, niederträchtigsten und blutrünstigsten Menschen mit einem starken, despotischen Charakter nach oben — Räuberhäuptlinge. Nachdem sie sich untereinander eine Zeitlang bis aufs Messer befehdet haben, konzentriert der grausamste und gerissenste von ihnen alle Macht in seinen Händen, das heißt, die Revolution endet stets mit Tyrannei, nie mit Freiheit und Gerechtigkeit.
Wird es in der UdSSR so kommen? Leider, aber kaum in nächster Zukunft. Im Augenblick ist das dort existierende System noch stark genug, um sich jeglicher Reform zu verweigern. Sogar den lahmen Reformen Kossygins wurden noch die Flügel beschnitten. Die Machthaber verstehen, daß der gegenwärtige unbewegliche bürokratische Apparat nicht dem Ansturm der Urgewalten widerstehen könnte, den radikale Reformen hervorrufen würden. Die draufgängerischen Burschen mit ihren Mauserpistolen, die mit solchen Urgewalten fertig werden könnten, gibt es nicht mehr. Das heutige kommunistische Regime in der UdSSR ist das konservativste der Welt. Sogar Chruschtschow erwies sich als zu revolutionär dafür. Es haben sich bei uns noch keinerlei gesellschaftliche Kräfte von Bedeutung formiert, die von den Machthabern unabhängig sind und diese zwingen könnten, Reformen einzuleiten.
Wie schnell sie sich herausbilden, hängt unter anderem vom Verhalten der Regierung und der internationalen Lage ab. in der gegenwärtigen Lage werden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Machthaber nicht zu entscheidenden Reformen veranlassen. Somit sind, so betrüblich das ist, baldige Verbesserungen, geschweige denn radikale Veränderungen nicht zu erwarten. Auf dem Hintergrund der allgemeinen Stagnation und Zersetzung kann nur ein langsames Anwachsen unabhängiger gesellschaftlicher Kräfte erhofft werden. Bis jetzt haben sich nur die Konturen dieser erstarkenden gesellschaftlichen Kräfte abgezeichnet: nationale und religiöse Bewegungen, die Bürgerrechtsbewegung (vor allem in der Intelligenzija) und Ansätze einer Arbeiterbewegung.«
124
So bedeutete in meiner damaligen Vorstellung diese »Übergangs«- oder Vorbereitungsperiode »den Kampf der gesellschaftlichen Kräfte im Land für ihre Selbständigkeit, einen Kampf, durch den der Totalitarismus immer kleiner und die Demokratie immer größer wird, bis schließlich gar keine Revolution mehr nötig ist. Das heißt, daß aus meiner Sicht diese Übergangsperiode bereits begonnen hat.«1)
Unsere Aufgabe bestand also darin, diese Bewegung mit ihrer Tradition der Gewaltlosigkeit zu vergrößern und zu stärken und ihre Anerkennung und Unterstützung durch den Westen zu erreichen, damit im Augenblick der finalen Krise des Systems eine Kraft gebildet werden konnte, die einen möglichst schmerzlosen und unblutigen Übergang gewährleistete. Darauf waren alle unsere Anstrengungen sowohl in der UdSSR als auch in der Emigration gerichtet. Natürlich konnte damals niemand alle Wendungen und Varianten der Entwicklung voraussehen, aber selbst jetzt, da ich den späteren Gang der Ereignisse kenne, sehe ich keinen schwerwiegenden Fehler in meinen Erwägungen.
Es gab keine andere zivilisierte Lösung dieses Problems, durch die einerseits schreckliches Blutvergießen und andererseits ein langsames Verfaulen und Absterben des ganzen Landes hätte vermieden werden können, als eine friedliche Revolution. Aber damit das geschehen konnte, mußte der Sowjetmensch wenigstens für einen Augenblick aufhören, Sowjetmensch zu sein. Er mußte der Verlockung widerstehen, sich anzupassen, mußte die Angst vor Repressionen überwinden, das heißt eine Anstrengung vollbringen, seine Wahl treffen, um ganz einfach ein Mensch zu werden.
Das wäre ungeachtet aller Repressionen wahrscheinlich so geschehen, wenn nicht Gorbatschows Trick mit der Perestroika gekommen wäre, die sich, wie anzunehmen ist, das weise ZK unter anderem als Mittel gegen eine solche Entwicklung ausgedacht hatte. In der Hoffnung, das System mit Hilfe sehr verspäteter und halbherziger Reformen retten zu können, verlor es die Kontrolle über den von mir beschriebenen Prozeß. So endete das kommunistische Regime ebenso unrühmlich, wie es begonnen hatte; es verwickelte sich in Verschwörungen, versank in Putsche und weihte das Land dem Verfall und Chaos. Denn die »Reformen« Gorbatschows sollten die Formierung ebenjener unabhängigen gesellschaftlichen Kräfte verhindern, die in der Übergangsperiode die Stabilität hätten gewährleisten können.
125
Es ging nicht darum, gezielt irgendwelche fiktiven oder von oben kontrollierten Organisationen zu gründen, wie die »Volksfronten« des KGB und die ultranationalistischen Schreckgespenster — das hat ohnehin nichts bewirkt und wird auch nichts bewirken. Das Regime war zum Untergang verurteilt, aber bevor es den Geist aufgab, leistete es sich noch eine letzte Gemeinheit — das Land durch die Vorspiegelung einer leichten Genesung ohne Mühen und Opfer völlig zu ruinieren. Zu sehen, welchen Erfolg dieser Betrug besonders bei der Intelligenzija hatte (das einfachere Volk begegnete den Tricks Gorbatschows mit äußerstem Mißtrauen), war deprimierend, schlimmer als der ganze Perestroika-Betrug der sowjetischen Führer.
Was war von den letzteren schon zu erwarten. Kommunisten sind nun einmal Kommunisten mit der für sie typischen Überzeugung, daß sie bei einiger Geschicklichkeit die Wirtschaft überlisten, das Volk für dumm verkaufen, die Geschichte an der Nase herumführen und selbst wie im Schlaraffenland leben können, solange ihnen keiner auf die Schliche kommt. Aber als ich sah, wie leicht und gern die Intelligenzija an die Möglichkeit einer Rettung »von oben« glaubte, ließ ich den Mut sinken. War es denn immer noch nicht klar, daß aus dem Schoß dieser Partei, die ein halbes Jahrhundert lang mit Vorbedacht Karrieristen und Emporkömmlinge in ihre Reihen aufgenommen hatte, keinesfalls eine Erneuerung kommen konnte? War es nicht offensichtlich, daß das von ihnen in die Katastrophe geführte Land in erster Linie vor ihnen und nicht mit ihnen gerettet werden mußte?
Eigentlich war den Intellektuellen das alles klar. Alles war doch in den sechziger Jahren in den Moskauer Küchen durchgesprochen worden. Nur daß eben von allen sozialen Gruppen in der UdSSR die Intelligenzija die mieseste und die am besten gefütterte war, so daß sie, wie der Professor Sinowjew, die Sowjetmacht »vorzog« (wobei sie sie ausgiebig beschimpfte). Und nun — o welches Glück! — erlaubte ihnen der Herr endlich die Selbstdarstellung in der Presse. Wie sollte man sich da zurückhalten? Man konnte nicht anders, als den Herrn loben.
126
Einerseits muß man dem Geschick der sowjetischen Führer Respekt zollen, die es fertigbrachten, am Rande des Abgrunds den »Block der Kommunisten und Parteilosen« zusammenzuzimmern (und das auch noch angesichts der antikommunistischen Stimmungen), andererseits muß man sehen, daß die russische Intelligenzija nicht das getan hat, was Tschechow dereinst von ihr gefordert hatte — die Sklavengesinnung tropfenweise aus sich herauszupressen. Auf jeden Fall ließ sie sich durch die genehmigte Glasnost ebenso leicht zu Komplizen der Macht machen, wie der russische Pöbel seinerzeit durch Lenins Hetzparole »Raubt das Geraubte!« Die scheinbare Gefahr der Rückkehr der »alten Herren« machte sowohl diese als auch jene zu gefügigen Werkzeugen in den Händen der kommunistischen Demagogen. Die Ursünde der Gorbatschowschen »Freiheiten« bestand darin, daß siegeschenkt waren. Ein Geschenk braucht man sich nicht zu erkämpfen. Es ist wie Diebesgut. Es kann jederzeit wieder weggenommen werden. Wie hätte man an Alternativen denken können — Hauptsache, der Herr würde nicht zurückkommen und das Volk auspeitschen.
Um es in dem hierfür passenden Jargon auszudrücken: Gorbatschows Glasnost hat die Intelligenzija mehr versaut als die Zensur Breschnews. Wie schlimm es früher auch war, in der Gesellschaft wurden trotzdem bestimmte Kriterien des Anstands bewahrt, damals gab es auch noch moralisch gesunde Menschen. Dann brachen besonders üble Zeiten an, in denen sich das Kranke durch nichts mehr vom Gesunden unterschied, weil alle Unterscheidungskriterien der edlen Sache der »Rettung der Perestroika« vor den mythischen »Konservativen« zum Opfer gefallen waren. Alle wurden plötzlich zu großen Politikern, und die Kompromisse mit dem eigenen Gewissen wurden ehrfurchtsvoll »politische Kompromisse« genannt.
Die uneingeschränkte Unterstützung Gorbatschows durch den Westen förderte die ohnehin schon verwickelte Situation im Lande, bis sie sich zur völligen Hoffnungslosigkeit komplizierte. In jener Zeit der Krise war für sehr viele Menschen in der kommunistischen Welt, die nicht gewohnt waren, selbständig zu denken, die »Meinung des Westens«, das heißt in Wirklichkeit die Meinung des westlichen Establishments, eine ebenso unumstößliche Wahrheit wie die Heilige Schrift für den Gläubigen.
127
Der Westen hatte Gorbatschow zum Helden und seine Perestroika zur Demokratie erklärt, und wer in Rußland wäre so vermessen gewesen, das zu bestreiten?
Es gab im Westen genügend Leute, die an die Märchen Gorbatschows glaubten. Die Männer der Perestroika gaben sich auch wirklich Mühe — sie halfen mit, daß die Mauer in Berlin niedergerissen wurde, zogen die Truppen aus Afghanistan ab, strichen den Artikel 6 aus der Verfassung, der den Führungsanspruch der KPdSU in Staat und Gesellschaft festgeschrieben hatte, gaben den »Archipel GULAG« heraus und sperrten sogar in den letzten paar Jahren niemanden mehr ins Gefängnis. Was hätten sie denn noch tun können?
»Ach«, sagte man mir, »Sie haben zuviel unter ihnen gelitten. Sie können nicht objektiv sein. Es muß doch eine Grenze geben, bei deren Überschreitung die Sowjetmacht aufhört, Sowjetmacht zu sein, und die Kommunisten aufhören, Kommunisten zu sein, und unsere Feindschaft gegen sie in Sympathie umschlagen muß.«
Was hätte ich darauf erwidern sollen? Wie kann man Leuten, die nie im Kommunismus gelebt haben, erklären, daß der Kommunismus weniger ein politisches und auch nicht einmal so sehr ein verbrecherisches System, sondern vielmehr eine Massenkrankheit, eine Art Pestepidemie, ist. Auf die Pest ist man nicht zornig, mit ihr zerstreitet und versöhnt man sich nicht. Man erkrankt an ihr oder wird von ihr verschont. Also gibt es auch keine Möglichkeit, die Pest »umzugestalten« oder zu reformieren. Man muß unter Aufwendung seines ganzen Lebenswillens von ihr genesen. Wer den Kampf gegen sie aufgegeben hat und in Apathie verfallen ist, geht unter.
Die gedankenlose Euphorie des Westens machte die letzte Chance für den Sieg über den Kommunismus und mit ihr die letzte Hoffnung auf eine Genesung Rußlands zunichte. Es war so, als ob die Alliierten am Ende des Zweiten Weltkriegs keine bedingungslose Kapitulation gefordert, sondern sich mit einer Perestroika, das heißt einer gewissen Liberalisierung des NS-Regimes, begnügt hätten. Wie sähe Europa heute aus? Gewiß gäbe es keine Demokratie, sondern — wie man heute den Zustand der ehemaligen kommunistischen Länder so schön bezeichnet — die »post-totalitäre Periode«.
Marschall Petain wäre ein Held, der Frankreich »gerettet« hätte, und die Kämpfer der Resistance wären verantwortungslose Abenteurer, die durch ihren Extremismus lediglich den vernünftigen »Reformern« in Vichy das Leben schwermachten.
Jetzt, da die Geschichte ihr Urteil gesprochen hat, habe ich es nicht mehr nötig zu beweisen, wer recht hatte.
Das kommunistische Regime ist, trotz der Anstrengungen, es zu retten, zusammengebrochen, womit ebendas bewiesen wurde, was der Fisch dem Ichthyologen zu sagen versucht hatte — das System war altersschwach und nicht zu reformieren, sondern es konnte (und mußte) liquidiert werden, und die atomare Bedrohung würde nur mit ihm zusammen verschwinden. Verschwunden sind auch die im Westen so beliebten kommunistischen Reformer mit ihren Friedensnobelpreisen, ohne ihr »sozialistisches Modell des Marktes« entwickelt zu haben. Wer erinnert sich jetzt noch an sie?
Geblieben aber ist das zerstörte Land ohne Zukunft und Hoffnung auf Erlösung. Auf den Ruinen der Vergangenheit treiben nun Banden von Marodeuren ihr Unwesen, und die Masse der vielen Millionen seiner verelendeten Bewohner streicht geduckt und teilnahmslos um die Überreste ihrer Wohnungen herum. In ihren Augen ist keine Spur von Reue, ja nicht einmal ein Ansatz von Nachdenklichkeit oder ein Anzeichen des Bemühens, das Geschehene zu begreifen, sondern nur dumpfe Fassungslosigkeit und Angst, wie bei Menschen, die ein Erdbeben überlebt haben.
»Warum? Wofür? Es war doch alles so gut ...« Solange sie nicht begreifen, daß sie niemanden außer sich selbst anklagen müssen, da sie selbst diese Wahl getroffen haben, und solange sie die Ursache ihres Unglücks in allem möglichen suchen — in einer Weltverschwörung, in Fremdstämmigen, in einer mystischen Vorbestimmung —, nur nicht bei sich selbst, werden sie sich nicht auf ihre eigenen Kräfte besinnen, mit denen sie das Leben von neuem beginnen können, sondern werden ewig auf Hilfe, auf Gnade und auf ein Wunder warten.
128
#
Bukowski-1995